Inhaltsverzeichnis
Einleitung
George Orwells Interpretation der Moskauer Schauprozeße
Über die Bedeutung von James Burnhams Buch „Managerial Revolution“ für die Entstehung von 1984
Nachwort
Literaturverzeichnis
Einleitung:
Zu den klassischen Texten nicht nur des 20.Jahrhunderts sondern der gesamten Menschheitsgeschichte zählt unbestrittenerweise das dystopische Werk Nineteen Eighty-Four aus der Feder des die Freiheit des Denkens bedingungslos verteidigenden britischen Schriftstellers George Orwell.
In der dritten Dekade unseres Jahrhunderts tritt ein vollständig neues politisch- ge- sellschaftliches Phänomen auf die Bühne der Weltgeschichte: Der Totalitarismus in Form des Nationalsozialismus und des Stalinismus. Auch wenn der Nationalsozialismus und der Stalinismus ideengeschichtlich die Endpunkte von weit in die Vergangenheit zurückreichenden ideologischen Entwicklungen darstellen, so sind doch qualitative Brüche zu ihren entfernten Ausgangspunkten zu konstatieren. Als immanenten und explizit selbsterwählten Wesenskern dieser totalitären Konzepte, die sich gemäß ihrem ideologischen Selbstanspruch für diametral entgegengesetzt hielten, de facto in ihren Anti-Humanität und Grausamkeit jedoch als zwei Seiten ein und derselben Medaille interpretiert werden können, ist der Anspruch hervorzuheben, das humanistische Erbe der Menschheit durch die Schaffung eines „ neuen Menschen“ zu überwinden.
Die vorliegende Betrachtung beschränkt sich auf den Hauptaspekt der Orwellschen Kritik, den Anteil des Stalinismus, wohlwissend, daß eine den Nationalsozialismus ausgrenzende Untersuchung, dadurch die gegenseitige Interdependenz ausblendend, Mängel beinhaltet.
Daran, daß Orwells Impuls, sich gegen totalitäres Systeme im Allgemeinen und das totalitäre Denken im Besonderen zu wehren, aus dem unmittelbaren Erleben des stalinistischen Terrors, einsetzend spätestens 1936 mit dem Spanischen Bürgerkrieg, entsprang, kann kein Zweifel bestehen. Er selbst schrieb:
„Jede Zeile einer ernsthaften Arbeit, die ich seit 1936 schrieb, schrieb ich direkt oder indirekt gegen den Totalitarismus und für einen demokratischen Sozialismus, so wie ich ihn verstand.“1
George Orwell verstand seine schriftstellerische Tätigkeit als eine Transformation seines politischen Interesses in künstlerische Strukturen; der Inhalt freilich - die Angriffe auf den Totalitarismus - blieb der gleiche. Dabei reagierte er auf konkrete historisch-politische Ereignisse. In einer fundierten, die politischen Hintergründe aufzeigenden Biographie über Orwell schreibt Hans-Christoph Schröder:
„[Es ist evident],daß Orwells Leben und seine literarischen und journalistischen Arbeiten überaus eng mit den historischen Ereignissen vorallem der dreißiger und vierziger Jahre unseres Jahrhunderts verbunden waren. Ohne eine genaue Kenntnis dieses zeitgeschichtlichen Hintergrundes sind sie nicht zu verstehen.“2
Diese Arbeit soll nun zeigen, daß es George Orwell in seiner Romandarstellung Nineteen Eighty-Four gelingt, die historischen Abläufe des stalinistischen Terrors in einen fiktiven Zukunftsstaat zu transformieren, die Tendenzen zu extrapolieren und damit die konkret beschriebenen Vorgänge aus einem zunächst zufällig erscheinenden Rahmen zu extrahieren und in die Notwendigkeit der inneren Logik eines totalitären Regimes zu bringen. Dabei soll auch Quellenmaterial über die Sowjetunion verwendet werden. Daß Orwell mit seinem Zukunftsstaat „Ozeanien“ auf die totalitäre Sowjetunion abzielte, ist erste Prämisse.
Dieser Arbeit liegt der selbstbeschränkende Anspruch zugrunde, nicht alle historischen Bezugspunkte und ihre literarische Verarbeitung durch Orwell empirisch und in ihrer Genese nachzuweisen. An zwei ausgewählten Anknüpfungspunkten, die Beeinflussung Orwells durch James Burnhams Buch „Managerial Revolution“ und die Beschreibung von Schauprozeßen, soll die historische Bedingtheit der Grundstruktur des Romans aufgezeigt werden. Eine den politischen Charakter des Romans ausblendende Lesart erfaßt notwendigerweise nicht dessen Kern. Über eine Rekonstruktion der zwei erwähnten Punkte soll gezeigt werden, daß Orwells Schreiben im Allgemeinen und im besprochenen Roman im Besonderen der Anspruch, Aufklärung über das wahre Wesen des stalinistischen Kommunismus und den Totalitarismus zu vermitteln, zugrunde liegt. Im Nachwort der deutschen Ausgabe aus dem Jahre 1984 vergleicht Herbert W. Franke den Folterknecht O`Brien mit Leo Trotzki.3
Diese historische Unwahrheit zeigt die Notwendigkeit auf, die realen Bezugspunkte und -werte nachzuzeichnen. Die Lektüre dieses wichtigen und leider oft aus falschen Motiven politisch instrumentalisierten Buches kann davon nur gewinnen.4 Orwell selbst sah sich nach der Veröffentlichung von 1984 zu folgender Richtigstellung gezwungen, die jedoch im sich abzeichnenden Kalten Krieg überhört wurde:
„My recent novel is not intended as an attack on Socialism or on the British Labour Party (of which I am a supporter) but as a show-up of the perversions to which a centralised economy is viable and which have already been partly realised in Communism and Fascism.“5
Pars pro toto stehen die folgenden Punkte für die historische Bedingtheit eines politischen Buches, das helfen kann, sich durch eine literarische Transformation den Vorgängen in der Sowjetunion aus einem anderen Blickwinkel zu nähern.
George Orwells Interpretation der ‘Moskauer Prozeße’ in 1984:
Ein essentielles Merkmal von totalitären Regimen ist der Terror, dessen bedingungslose Ausführung durch die Permanenz, die Menschenverachtung und die Institutionalisierung gekennzeichnet ist, und der, die modernen Errungenschaften wie Massenmedien und Massenkontrolle nutzend, eine fundamental neue Qualität im Gegensatz zu autokratischen oder tyrannischen Gesellschaften der Vergangenheit darstellt. Der Grundtatbestand des Terrors tangiert und durchzieht die geknechtete Gesellschaft in allen Ebenen, lediglich die jeweilige Ausführung wird den konkreten Anforderungen gemäß transformiert. Damit wird ein Problem der totalitären Herrschaft gelöst, das Hannah Arendt beschrieb:
„Der totale Machthaber muß mit allen Mitteln die Bedingungen des Zerfalls, unter denen die Bewegung zur Macht gekommen ist, aufrecht erhalten und verhindern, daß das, was er dauernd versprochen hat, wirklich eintritt, nämlich eine Neuordnung aller Lebensverhältnisse und eine neue Normalität und Stabilität, die sich auf der Neuordnung gründet.“6
Der Beginn der Schauprozeße in der Sowjetunion 1936 rief im Ausland ungläubiges Erstaunen hervor, denn innerparteilich hatte Stalin spätestens seit der Ausweisung Trotzkis 1929 in die Türkei und der Kapitulation von Sinowjew , Kamenew und Bucharin keine Konflikte zu erwarten, ja selbst die internationalen Beziehungen waren günstig. Es ist offensichtlich, daß mit Kategorien der Vernunft jene Erscheinungen nicht zu erklären sind. Der permanente Terror, Ordnung und Stabilität verhindernd, erfüllt jedoch in der Logik des Totalitarismus eine systemrationale Aufgabe. Von diesen Grundgedanken als Prämisse ausgehend, ist es gut nachvollziehbar möglich, das im Roman Nineteen Eighty-Four explizierte Herrschaftssystem zu beschreiben und zu deuten. Dem Leser wird das ihm fremde Leben im Superstaat7 „Ozeanien“ durch die Augen des Protagonisten Winston Smith beschrieben, der, in London des Jahres 1984 lebend, durch seine Tätigkeit in einer staatlichen Stelle, dem „Ministerium für Wahrheit“, eine euphemistische Umschreibung für Geschichtsfälschung8, die Grundstruktur im System des herrschenden „Englischen Sozialismus“9 - so die offizielle Bezeichnung - durchschaut.
In die Atmosphäre des organisierten Haßes und des Mißtrauens, die auch die psychologischen und politischen Grundlagen resp. Resultate der Schauprozeße sein werden, wird der Leser durch eine mit „geradezu photorealistische[r] Wirklichkeitsnähe“10 dargestellten Beschreibung des sogenannten „Zwei- Minuten-Haß[es]“11 eingeführt. Es handelt sich um die obligatorischen Veranstaltungen, im Kollektiv „den ewigen Feind Goldstein“- eine Anspielung auf Trotzki12 - schreiend zu verdammen, wobei „ das Scheußliche an dem Zwei- Minuten-Haß war [...] ,daß man sich nicht entziehen konnte.“13 Robert Conquest beschreibt ein ähnliches Phänomen in der stalinistische Sowjetunion während einer obligatorischen Parteiversammlung:
„Der einzelne [...] sah sich mit riesigen Versammlungen konfrontiert, die danach riefen, die Oppositionsführer [Sinowjew, Kamenew und später Bucharin, Anm. C.K.] ‘wie tolle Hunde’ umzubringen,oder dem Gemetzel unter den Generälen [u.a. Tuchatschewski, Anm. C.K.] zuzu- stimmen.“14
Goldstein, der im Roman als diabolischer Anti-Held dargestellte „Urverräter“ , hatte die Reinheit der Partei besudelt. Ihm wurden alle Problem Ozeaniens zugeschoben. Beendet und die zur Raserei gesteigerte Verzweiflung der Versammelten auflösend, erscheint auf den omnipräsenten Teleschirmen das beruhigende Konterfei des Großen Bruders, dessen Beschreibung der Stalins bis in das kleinste Detail gleicht. An dieser Stelle ist die Funktion des Haßes konfus, sie wird nicht erklärt. Die Frage des „Wie“ des permanenten Terrors wird von Winston Smith, wie er selbst in seinem Tagebuch angibt, mit der Deskription des täglich Erlebaren beantwortet; um das „Warum“ zu begreifen, muß er allerdings unter der Folter des „Ministeriums für Liebe“ liegen. Im Verlaufe des Romans wird durch Winston Smiths Erinnerung die Vergangenheit der Partei und des Staates rekonstruiert, obgleich tendenziell in der offiziellen Geschichtsschreibung „[...] die Vergangenheit [...] getilgt, die Tilgung [...] vergessen [und] die Lüge Wahrheit [wurde].“15 Über ein ihm zufällig in die Hände gefallenes Foto, das eindeutig die Unschuld alter, ehemals führender Parteimitglieder nachwies, zeigen sich bedrohlich am Horizont die sich periodisch wiederholenden Schauprozeße und Säuberungswellen. Aus der retrospektiven Betrachtung wird deutlich, daß die Partei des Engsoz in den 1950er Jahren die Macht errang und sie durch die Elemination der äußeren Gegner konsolidierte. In der Mitte der 60er Jahre fanden parteiinterne Machtkämpfe statt, „bei denen die ursprünglichen Führer der Revolution ein für allemal beseitigt wurden.“16 Goldstein war geflohen - wie Trotzki - ,während man die Übrigen nach aufsehenserregenden Schauprozeßen, bei denen sie sich ihrer Verbrechen bekannten, hingericht hatte. Die letzten Überlebenden der früheren Parteiführung waren drei Männer namens „Jones, Aaronson und Rutherford“, deren Unschuld das Smith bekanntgewordene Foto bewies. Es ist evident, daß Orwell mit diesen Männern eine Parallele zu Sinowjew, Kamenew und Bucharin zog, die in den Moskauer Prozeßen 1936- 38 zu kriecherischen Geständnissen in der Illusion, ihnen das Leben zu lassen, gezwungen wurden, um sie schließlich doch wie „Hunde niederknallen“17 zu lassen. Anhand des rituellen Ablaufs dieser Verhandlungen ist der Bezug zu den historischen Abläufen unzweifelhaft nachzuweisen; folgen wir Orwells Darstellung: Zunächst wurden Aaronson, Rutherford und Jones 1965 verhaftet, sie blieben verschwunden, um bei der nächsten Verhaftung mit neuen, konstruierten und widersinnigen Vorwürfen konfrontiert zu sein. Ein mysthisches Unterwerfungsritual unter die Partei führte zu einer willkürlichen Begnadigung, doch nun waren sie innerlich gebrochene „Leichen, die darauf warteten, in ihre Gräber zurückgeschickt zu werden.“18 Die unberechenbare Willkür der Partei ist die letzte und absolute Kontinuität. Nach der zweiten Verhandlung, bei der sie sich neuen Delikten schuldig bekannten, wurden sie hingerichtet. Ein kurzer Sprung in die Geschichte der Sowjetunion zeigt den formal gleichen Ablauf: Die Inszenierung der Stalinschen Schauprozeße begann am 1.Dezember 1934 mit der Ermordung Sergej Kirows, dem Parteisekretär von Leningrad. Bis heute ist eine direkte Anordnung Stalins zu dem Mord nicht eindeutig nachweisbar. Der Ansicht, daß der Terror zeitlich mit der Ermordung Kirows sein unbegrenztes Ausmaß begann, ist auch Jewgenia Ginsbury.19 Bei den Untersuchungen über die Hintergründe des Mordes - daß der Mörder Nikolajew kein Einzeltäter gewesen sein konnte, lag auf der Hand - wurden ehemalige Mitglieder des sogenannten Leningrader Sinowjew-Blocks, einer antistalinistischen Opposition, involviert. Daraus entsprang die am 16. Dezember vollzogene Verhaftung Sinowjews und Kamenews, die am 15. und 16. Januar 1935 vor Gericht gestellt und zu einem moralischen, aber keinem organisatorisch-tatsächlichem Schuldgeständnis gezwungen wurden. Mit den erreichten Strafen, Sinowjew wurde zu zehn und Kamenew zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, konnte Stalin wie bei der Affäre um die Rjutin-Plattform 1933, als das Politbüro, obzwar aus Stalin ergebenen, so doch noch von letzten Skrupeln zurückgehaltenen Stalinisten bestand, noch keine Todesurteile durchsetzen. Diesen letzten Schritt vollzog er in dem im August 1936 begonnenem ersten Schauprozeß. Das Todesurteil wurde am 25.August 1936 nach einem fünftägigen Prozeß vollstreckt. Formal ist die Parallelität der angewandten „Salamitaktik“20 im von Orwell konstruierten Staat „Ozeanien“ gegen Rutherford, Jones und Aaronson einerseits und in der ehemaligen Sowjetunion andererseits gegen Sinowjew und andere offensichtlich. Diese hatten ihre politische Glaubwürdigkeit bereits nach ihrem Bruch mit der „Linken Oppposition“ 1929 verloren, als sie unter die Selbstachtung verleugnenden Reuebekenntnissen sich von Trotzki lossagten in der Hoffnung, in die Reihen der sie vorher ausschließenden Partei wieder aufgenommen zu werden. Ein wesentlicher, in der Psyche von lebenslänglichen Revolutionären gründender Faktor ist in der bedingungslosen Parteidisziplin zu sehen, eine Konsequenz des Leninischen „Demokratischen Zentralismus“. Orwell versteht es, diesen Aspekt als subjektive Grundlage einzuführen, auf der dann Totalitarismus möglich ist. Goldstein ist der scheinbare Autor des in Ozeanien verbotenen Buches „Theorie und Praxis des oligarischen Kollektivismus“. Dort wird das Phänomen des Kadavergehorsams mit einem neuen Denksystem erklärt:
„Einem Parteimitglied gegenüber gebraucht, bedeutet [ das Schlüsselwort Schwarzweiß, Anm. C.K.] die loyale Bereitschaft zu sagen, Schwarz sei Weiß, wenn die Parteidisziplin dies verlangt. Aber es bedeutet ebenfalls die Fähigkeit zu glauben, daß Schwarz Weiß ist und darüber hinaus zu wissen, daß Schwarz Weiß ist [...]“21 Damit trifft Orwell die Zentralstruktur des Totalitarismus, nicht ahnend, daß seine Überlegungen wortwörtlich von russischen Revolutionären ausgesprochen wurde. Entlarvend ist die offene Erklärung, zu Orwells Zeiten allerdings unveröffentlicht, von Pjatakow:
„Gemäß Lenin [...] basiert die komunistische Partei auf dem Prinzip des Zwangs, der weder Grenzen noch Hemmungen kennt. Und die Kernidee dieses Prinzips des grenzenlosen Zwanges ist nicht der Zwang selbst, sondern das Fehlen jeder nur vorstellbaren Begrenzung.“22 Er benutzt fast die gleichen Worte wie Orwell, um seine Unterwerfung unter die Partei zu rechtfertigen:
„Außerhalb der Partei könne es kein Leben für ihn geben und er sei bereit zu glauben,daß schwarz weiß und weiß schwarz sei, falls die Partei das verlange.“23 Diese, dem gesunden Menschenverstand unverständlichen Selbstopferungen waren wesentlich für die Schauprozeße, deren Angeklagten am lautesten nach Strafe schrien. Denn ebenfalls wie in der Sowjetunion waren die Deliquenten in Ozeanien letztendlich im Sinne des Systems geheilt, d.h. durch Folter vernichtet. Selbst der Protagonist Winston Smith erfuhr das, was O’Brien, der agent provocateur, in den Folterkammern zynisch beschrieb:
„Wir werden Sie so niederwerfen, daß sie nie wieder aufstehen. Sie werden Dinge erleben, von denen Sie sich in tausend Jahren nicht erholen können [...] Alles in Ihnen wird tot sein.“24
Nicht der materielle Mensch wird als Hauptgegner des Regimes in Ozeanien betrachtet, sondern der ketzerische Gedanke. Gemäß dem Anspruch der Partei, um ihre Gier nach der absoluten Macht zu befriedigen, wird alles kontrolliert und setzt das Regime sämtliche Mittel ein, jede Abweichung zu eliminieren. Dies kulminiert in der Konstruktion von Abweichungen, um den Terror in Permanenz zu installieren. Der Terror wird Zweck des Terrors.
„Man errichtet keine Diktatur, um eine Revolution zu garantieren, man macht die Revolution, um die Diktatur zu errichten. Das Ziel der Verfolgung ist die Verfolgung. Das Ziel der Folter ist die Folter.“25
Selbst die alten Revolutionäre hätten vor Gericht folgerichtig darum gebeten, erschossen zu werden. Das ist kein Beweis für eine Rechtmäßigkeit der Prozeße, sondern Hinweis für die ihnen innewohnende Tendenz: Auf Vernichtung des menschlichen Wesens gerichtet. Orwell, dessen Protagonist schließlich mit den Worten „Er liebe den Großen Bruder“26 in den geistigen Tod fällt, entlarvte die Grundlagen der totalitären Struktur in der Sowjetunion durch eine Verlängerung der Tendenzen unter „Reinraumbedingungen“. „Orwell hat das entscheidende Merkmal [...] des Totalitarismus, nämlich die Zerstörung autonomer Strukturen [...] mit äußerster Stringenz dargestellt.“27
Schauprozeße, das demütige Unterwerfungsritual und Irrsinn sind pars pro toto essentielle Merkmale totalitärer Diktaturen - das, was sich im Roman 1984 als überzogen liest, hat in der Sowjetunion bis 1953 resp. 1956, als der Totalitarismus auf dem XX. Parteitag der KPdSU durch einen autoritären Polizeistaat ersetzt wurde, tatsächlich stattgefunden
Über die Bedeutung von James Burnhams Buch „Managerial Revolution“ für die Entstehung von 1984:
Zwei Jahre nach Ausbruch des 2.Weltkrieges erschien in den Vereinigten Staaten das aufsehenerregende Buch „Managerial Revolution“ aus der Feder von James Burnham, eines ehemaligen Trotzkisten, der ein Jahr vorher, im Jahre der Ermordung Trotzkis, mit der trotzkistischen Bewegung gebrochen hatte. Das seit zwei Jahren bestehende Bündnis des faschistischen Deutschland mit der stalinistischen Sowjetunion gab der freien Welt Rätsel auf, denn ideologisch identifizierten sich beide Partner als diametral entgegengesetzt. Nun schien das den 2.Weltkrieg ermöglichende Bündnis eine neue Interpretation der Ideologien nötig zu machen. Selbst Trotzki sah sich zu einer Revision seines marxistischen Weltbildes gezwungen:
„Wenn es erwiesen ist, daß der gegenwärtige Krieg keine Revolution [...] hervorrufen wird, dann bleibt keine Alternative: der fortschreitende Verfall des Monopolkapitalismus, seine fortschreitende Fusion mit dem Staat und die Ersetzung der Demokratie [...] dort [...] durch totalitäre Regime.“28 Trotzki schwenkt deutlich auf die Linie der Mahner vor dem Totalitarismus ein. In dieser skeptischen Atmosphäre erschien Burnhams Buch, dessen Hauptthese, daß den kranken Kapitalismus nicht der utopische Sozialismus beerben werde, sonder eine neue, auf Kollektiveigentum basierende Ausbeutergesellschaft der Manager, eine weite Diskussion erfahren hat.
Burnham konstatiert zwar, daß die kapitalistische Gesellschaft einen Todeskampf schlage, doch die prognostizierte sozialistische Welt werde nicht kommen. Hauptsächlich begründet er dies empirisch mit dem Scheitern des sozialistischen Experiments in der Sowjetunion:
„Von den drei entscheidenden Merkmalen der sozialistischen Gesellschaft - Klassenlosigkeit, Freiheit und Internationalität - ist Rußland heute unermeßlich viel weiter entfernt als während der ersten Jahre der Revolution.“29
In dieser neuen Gesellschaft der Unfreiheit seien im embroyonalen Zustand bereits die Umriße der neuen Ausbeutung zu erblicken:
„Die Kapitalisten sind mit geringfügigen Ausnahmen aus der russischen Gesellschaft ausgemerzt worden [...] Trotzdem hat eine neue Klassenschichtung [...] bereits einen solchen Grad erreicht, daß sie an Schärfe derjenigen in kapitalistischen Gesellschaften gleichkommt oder diese sogar übertrifft.“30
In der Sowjetunion und dem faschistischen Deutschland seien Vorformen einer den Kapitalismus an Effizienz übertreffenden Gesellschaftsform von technokratischen Managern entstanden. Möglicherweise sei der Totalitarismus die Geburtswehe der neuen Ordnung. Tatsächlich vergrößerte sich die Bedeutung von Managern mit der Entfaltung des Finanzkapitalismus durch ihre Kontrolle, die Burnham zum entscheidenden Kriterium der neuen Wirtschaftsform macht. Die Spezialisierung der Wirtschaft erfordere dieses System. Entscheidend ist nun, daß die Nationalstaaten, ebenfalls als historisch mit dem Kapitalismus gewachsen mit dessen Zerfall auch durch neue Einheiten, die „Superstaaten“ ersetzt werden. Vor allem diese Idee und die von Burnham explizierte These, daß die Geschichte wesentlich eine Verschiebung von Macht und Privilegien ist, wird so deutlich von Orwell nach langem inneren Ringen aufgegriffen, daß Herbert Gross ihn seinem Buch „Manager von Morgen“ schreibt:
„Burnham gibt gleichsam die ‘geschichts-wissenschaftliche’ Grundlage für eine zur Vernichtung der menschlichen Freiheit führende totalitäre Ordnung, wie sie der britische Schriftsteller George Orwell in seinem neuen Roman 1984 in erschütternder und grauenvoller Perspektive gezeichnet hat.“31
Eindeutig revolutionäre Implikationen zeigen sich vor allem auf der Ebene der internationalen Beziehungen. So wie der Kapitalismus bereits ein Weltsystem sei, so wird die Herrschaft der Manager in den führenden Ländern dazu führen, die territorialen Zustände und sogar die Existenz von Nationalstaaten qualitativ zu verändern. Um die wichtigsten Schwerindustriegebiete, Japan, USA und Westeuropa, würden sich neue Superstaaten gruppieren, die zu den wesentlichen Akteuren des Weltgeschehens aufsteigen. Diese 1941, also im Jahre der ungebrochenen Expansion Deutschlands und Japans, aufgestellte These wird eindeutig auch von Orwell aufgegriffen. Er übernimmt die von Burnham angedeutete neue Weltkarte: „Eurasien umfaßt den gesamten nördlichen Teil der europäischen und asiatischen Landmasse [...] Ozeanien umfaßt die beiden Amerika [...] Ostasien [...] umfaßt China und [...] die japanischen Inseln [...]“32 Diese Prognose wird zwar durch die Niederlage Deutschlands widerlegt, doch die Scheinexistenz von Ostblock- staaten , die de facto in den Superstaat Sowjetunion eingegliedert sind, bestätigen diese Tendenz. Orwell lehnt so auch bei der Bewußtwerdung der nahen Niederlage Deutschlands Burnhams Positionen ab: „Burnhams earlier prophecy of a german victory in the war and the integration of Europe round the German nucleus, was falsified, not only in it s main thesis.“33
Doch unter dem Eindruck, daß sich selbst die demokratischen Staaten in diesem Krieg neuen manageriellen Methoden bedienen mußten, um Deutschland zu besiegen, kommt Orwell zu der pessimistischen Übernahme von Burnhams Konzept: „Germany, I suppose, will be defeated this year [...] Already, quite, visible and more or less with the acquiescence of all of us, the world is splitting up into the two or three huge superstates forecast in James Burnham’s ‘Managerial Revolution’ [...] And if the world does settle down into this pattern , it is likely that these vast states will permanently at war with one another, though it will not necassarily be a very intensive or bloody kind of war.[...] Maybe I am pessimistic. But ,at any rate those are the thoughts that cross my mind ( and a lot of other people’s too) every time the explosion of a V bomb booms though the mist.“34
Diese Gedanken können als Urzelle des Romans 1984 betrachtet werden. Ergänzt werden sie von einer politischen Lebensbilanz Orwells, auch gemäß Burnham: Daß sich die Geschichte als Geschichte von Kämpfen um Macht konstituiere.
„Von Anbeginn der geschichtlichen Überlieferungen [...] gab es auf der Welt drei Arten von Menschen: die Oberen, die Mittleren und die Unteren [...] die Grundstruktur hat sich nie gewandelt.“35
Unter „Reinraumbedingungen“ hat Orwell diese Strukturen zu ihrem denkbaren Ende geführt, die Welt von 1984; Daß Orwell damit Gedanken von Burnham übernahm, habe ich zu zeigen versucht.
Nachwort:
Was nun? Das faschistische Deutsche Reich und die stalinistische Sowjetunion sind auf dem „Müllhaufen der Geschichte“ gelandet, die totalitären Staaten durch den Drang der Freiheit zerstört oder Fossile einer vergangenen Zeit (Nord-Korea), doch das totalitäre Denken, die Neigung zu diesem, der ideologische Dogmatismus und die geistige Unmündigkeit, die zu verlassen Kant zur Aufgabe der Aufklärung erklärte, sind in unserem post-modernen Zeitalter weiterhin existent. Der Ruf nach einem „Ende der Geschichte“36 liegt nahe und ist vom philosophischen Standpunkt der ideellen Freiheit des Geistes gerechtfertigt, allein in der Wirklichkeit ist der menschliche Geist partiell durch sich selbst bedroht. In seinem theoretischen Anspruch, in der philosophischen Reflexion hat der Geist den Standpunkt des Sich-Selbst-Als-Frei-Wissend erreicht, um die Freiheit wirklich zu ergreifen, muß er den letzten Schritt wagen: Sich gegen die permanenten Bedrohungen dieser Freiheit wissend zu wehren. Der Drachen der Unfreiheit hat viele Köpfe, einer faucht nach dem „Großen Lauschangriff“, so wie jener auf der Stirn „Bild-Zeitung“ geschrieben stehen hat, so möchte der andere das verehrte Publikum, eine „Schöne neue Medienwelt“ versprechend vor den TV-Geräten beglücken, „thirteen channels of shit“37, mit denen wir uns „ zu Tode amüsieren“.38
Was bleibt, ist das Wissen, daß sich Freiheit auch prozeßual als Abwehr gegen dogmatisches, fremdgelenktes Nachplappern vollzieht. Zu wissen, daß das Denken eine empfindsame Pflanze des Geistes ist, mag als Schutzimpfung stehen. Die sich diesem Geiste verschriebenen Gedanken von Orwell können uns als Hilfe dienen. So bedeutet Philosophieren heute, sich kategorisch der Verteidigung der Freiheit zu verpflichten.Wir sehen in Orwells Augen und sehen einen Mahner und Aufklärer.
Literaturverzeichnis:
Orwell, George; Collected Essays; New York 1968
Orwell, George; 1984; Berlin 1993
Orwell, George; Gerechtigkeit und Frieden; Zürich 1982
Burnham, James; Das Regime der Manager; Stuttgart 1948
Kersting, Wolfgang; Wohlgeordnete Freiheit; Frankfurt a.M. 1993
Arendt, Hannah; Elemente und Ursprünge totaler Herschaft; München 1986
Conquest, Robert; Der große Terror; München 1992
Conquest, Robert; Stalin; München 1991
Williams, Raymond; George Orwell; New York 1971
Schröder, Hans-Christoph; George Orwell - eine intellektuelle Biographie; München 1982
Seehase, Georg (Hrsg.); Englische Literatur im Überblick; Leipzig 1986
Leonhard, Wolfgang; Am Vorabend einer neuen Revolution?; München 1975
Nebel, Gerhard; Tyrannis und Freiheit; Düsseldorf 1947
Trotzki, Leo; Leo Trotzki spricht zur Jugend; Essen 1975
Trotzki, Leo; Die permanente Revolution; Essen 1993
Abosch, Heinz; Trotzki und der Bolschewismus; Basel 1975
Gross, Herbert; Manager von Morgen; Düsseldorf 1952
[...]
1 George Orwell; Why I Write; in: Collected Essays; New York 1967; Bd.1; S. 5
2 Hans-Christoph Schröder; George Orwell - eine intellektuelle Biographie; München 1982; S.7
3 Herbert W. Franke; Nachwort; in: George Orwell; 1984; Berlin 1993; S.317
4 Kurz nach Erscheinen des Buches 1949 erfolgte diese Instrumentalisierung
5 George Orwell; Letter to Francis Henson; in: Collected Essays; Bd.4; S. 502
6 Hannah Arendt; Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft; Seite 621
7 Der Begriff „Superstaat“ nimmt das Konzept von James Burnham in dessen epochalem Buch „Managerial Revolution“ vorweg, das ich im zweiten Teil erläutern werde.
8 Daß gefälschte Fotos als Mittel einer verbrecherischen Politik bebraucht werden, zeigt u.a. Alain Jaubert in: Fotos, die lügen; Frankfurt am Main 1989
9 Die Konzeption eines „nationalen Sozialismus“ erinnert den aufmerksamen Leser unmittelbar an die nach Lenins Tod in der Sowjetunion ausgefochtene Kontroverse über die Bedingungen des Sozialismus. Während Trotzki, durchaus mit Lenin übereinstimmend, von der Notwendigkeit einer internationalen Revolution ausging (vgl. Leo Trotzki; Die Permanente Revolution; Essen 1993), so vertrat Stalin die für Marxisten absurd erscheinende Theorie, daß der Aufbau des Sozialismus in der isolierten UdSSR möglich sei. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen sich bekämpfenden Fraktionen wird eindeutig auch von Orwell aufgegriffen, u.a. in der Satire „Animal Farm“, hier bildet es das geistige Aroma zu den beschriebenen Schauprozeßen.
10 Nachwort der dts. Ausgabe ; George Orwell; 1984; S. 316
11 George Orwell; 1984; S.15
12 Der Name „Goldstein“ ist ein Kunstprodukt, resultierend aus Emma GOLDmann, einer amerikanischen Anarchistin, und Leo BronSTEIN, dem bürgerlichen Namen von Trotzki.
13 George Orwell; 1984; S.19
14 Robert Conquest; Der große Terror; München 1992; S. 292
15 George Orwell; 1984; S.78
16 George Orwell; 1984; S.78
17 so die Worte von Andrej Wyschinskij, des Generalstaatsanwaltes der UdSSR, in seinem Schlußplädoyer bei den Moskauer Prozessen
18 George Orwell; 1984; S. 80
19 vgl. Jewgenia Ginsbury; zit. in: Robert Conquest; Der große Terror; S.67
20 Unter „Salamitaktik“ ist die den Kommunisten zugeschriebene, stufenweise erfolgende und die wahre Absicht verbergende Taktik der gemäßigten Schritte zu verstehen.
21 George Orwell; 1984; S.213
22 Walentinow zitiert in Robert Conquest; Der große Terror; S. 136 f.
23 ebenda
24 George Orwell; 1984; S.259
25 George Orwell; 1984; S.266
26 George Orwell; 1984; S.299
27 Hans-Christoph Schröder; George Orwell; S. 252
28 Zitiert nach Heinz Abosch; Trotzki und der Bolschewismus; Basel 1975; S. 152f
29 James Burnham; Das Regime der Manager (dts.); S. 61
30 James Burnham; Das Regime der Manager; S. 61
31 Herbert Gross; Manager von Morgen; S. 21
32 George Orwell; 1984; S. 185f
33 George Orwell; Collected Essays; Bd. 3; S. 166
34 George Orwell; Collected Essaya; Bd. 3; S. 328
35 George Orwell; 1984; S. 184f
36 vgl. Francis Fukuyama; Das Ende der Geschichte; München 1992
37 Roger Waters (Pink Floyd); The Wall
38 vgl. Neil Postman; Amuse to Death
- Citation du texte
- Carsten Koenig (Auteur), 1997, Die der Freiheit verpflichtete Totalitarismuskritik von George Orwell und ihre historischen Bezugspunkte im Roman 1984, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106831
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