Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Lebensweltliche Sportpädagogik - Lebenswelt
2. Woran orientieren sich der Sport und die Sportpädagogik in der Erziehungsgegenwart?
3. Ist es erforderlich, der Lebenswelt die Sportwelt zu opfern? Müssen sich beide Betrachtungsweise ausschließen, gibt es nur ein Entweder-Oder. Einige Gedanken zur Positionsfindung:
4. Eine exemplarische Fallbeschreibung - von der Theorie zur Praxis
5. Schlussfolgerung:
Gedanken zu einer lebensweltlichen Betrachtungsweise der Sportpädagogik in Abgrenzung zu einer eher leistungsorientierten Sportpädagogik (bzw. sportartenorientierten Sportpädagogik)
Einleitung
Die Verfasserin fand ihre Motivation zu dieser Arbeit durch Auszüge aus Texten von D. KURZ und K. SCHERLER, die sich beide mit der Frage beschäftigen, woran sich der heutige (Schul) -sport orientieren solle bzw. womit er sich beschäftigen könne. Für KURZ1 gilt während der Schulzeit soviel Fähigkeiten und Fertigkeiten auszubilden, dass ein lebenslanges Sporttreiben möglich ist bzw. auch noch nach der Schulzeit angestrebt wird. Das Vermitteln der Sportarten steht im Vordergrund. Für SCHERLER2 steht die Entwicklungsmöglichkeit des Schülers als Zielbestimmung des Schulsportes im Vordergrund, mit dem Ziel jeweils ein Optimum an körperlichen und geistigen Fähigkeiten unter Beachtung emotionaler Besonderheiten zu erreichen.
Exkurs:
„Für die bildungspolitische Argumentation scheint es zunehmend auszureichen, den Schulsport im Kern daraus zu begründen, dass er einen Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit repräsentiert, dessen Umfang, Komplexität und Ambivalenz es verbieten, dass Schüler ihm unvorbereitet ausgeliefert werden.“ DIETRICH/LANDAU (74, 1990) Nach KURZ wird damit die Förderung der Handlungsfähigkeit im Sport als didaktische Leitidee angenommen.
KURZ blendet die eigenen Bedürfnisse, die eigenen Interpretationen und entwicklungstypischen Eigenheiten beim zu erziehenden Menschen, dem Kind, aus. Die Folge der konsequenten Orientierung am Sport ist, dass der Menschen nur als Sportler in den Blick gebracht wird, das entwicklungsfähige Kind als Noch-nicht-Sportler.
Grundlage von KURZ Aspekten ist die Geschlossenheit des Sportes und die derzeitige Erscheinung des Sports. „Was derzeit ist, soll sein.“ (75, 1990)
SCHERLER (20, 1975)3 ist der Meinung, dass das Kind durch die Motorik „seine Welt“ erfährt, erlebt und erfasst. Durch neue Bewegungen erschließt sich das Kind einen neuen, größeren Bewegungs- und Erfahrungsraum. Zentrale Begriffe SCHERLERS: Ich-Findung und Weltentdeckung sowie leibliche Entwicklung des Kindes. Das Kind braucht materiale Erfahrung, die es über gegenständliche Erfahrung sammelt in Form von Erkundungen, probierendem und experimentellem Handeln. Diese materialen Erfahrungen sind nicht möglich, wenn das Kind ausschließlich Wissen und Belehrung angeboten wird und ihm weder Entscheidungs- noch Handlungsspielraum gelassen wird. SCHERLER beschränkt seine Erfahrungsgewinnung des Kindes nicht auf die sportorientierten, formellen und in ihrer Nutzung dauerhaft vorbestimmten Bewegungsumwelten. Sein Ziel ist Umwelt als Bewegungsraum zu erschließen und die Nutzung vordefinierter Bewegungsräume zu erweitern.
Angeregt durch die Ausführungen SCHERLERS, stieß die Verfasserin auf den Begriff der Lebenswelt bzw. lebensweltlichen Sportpädagogik in dem Buch Sportpädagogik. Grundlagen. Positionen. Tendenzen. Rowohlt Verlag Hamburg 1990 von Knut Dietrich und Gerhard Landau. Dieses Buch dient als Grundlage für dieser Arbeit. SCHERLER kommt mit seinen Ausführungen einer lebensweltlichen Betrachtungsweise der Sportpädagogik nahe. Hierbei sei gesagt, dass es sich bei der Thematik der Lebenswelt in Zusammenhang mit der Sportpädagogik nicht um völlig neue Gedanken handelt, sondern sich bereits Elemente dieser pädagogischen Betrachtungsweise bei ROUSSEAU, den Philanthropen sowie bei SCHERLER finden, die die lebensweltliche Sportpädagogik aufgreift, gegen die sie sich aber auch abgrenzt. So wird z. B. bei Rousseau die (vermeintliche) Natur zum Maß aller Dinge der Erziehung. Damit löst sich eine lebensweltliche Betrachtungsweise von Rousseau, da die lebensweltliche Sportpädagogik das Subjekt in den Mittelpunkt stellt. Mit dieser Arbeit möchte die Verfasserin einen Einblick in ihre Gedanken über eine lebensweltlichen Sportpädagogik in Abgrenzung zu einer eher leistungsorientierten (sportartenorientierten) Sportpädagogik geben.
„Sportpädagogisches Denken sollte, um Einseitigkeiten zu vermeiden, Menschen in ihrer Beziehung zur Natur, zur Geschichte, zur Gegenwart und zur Zukunft betrachten.“ (DIETRICH/LANDAU 62, 1990)
„Pädagogik würde ihren Gegenstand verfehlen, wenn sie nur die institutionalisierten (geschlossenen) Formen der Erziehung wahrnähme und nicht beachtenswert fände, was sich in der (offenen) Auseinandersetzung von Menschen mit ihrer Umwelt an Entwicklungsförderung und -beschränkung ereignet.“ (80, 1990) Dies führt zum Begriff der Lebenswelt und der lebensweltlichen Sportpädagogik.
1. Lebensweltliche Sportpädagogik - Lebenswelt
„Erziehung muss sich in veränderten sozialen und geschichtlichen Situationen immer neu orientieren; sie dann die gesellschaftlichen Verhältnisse, deren Teil sie selber ist, nie als festen, unveränderlichen Bezugsrahmen annehmen, sondern als eine von Menschen geschaffene durch nachwachsende Generationen (und deren Erziehung) jeweils weiterzuentwickelnde Lebenswelt.“ (58, 1990)
Die Erziehungswirklichkeit der Gegenwart im Umfeld unserer gesellschaftlichen Lage muss neu analysiert werden. Dies bedeutet eben nicht nur allgemeine, überindividuell gültige Aussagen zu treffen, sondern diese zu ergänzen durch eine lebensweltliche Betrachtungsweise. Die lebensweltliche Betrachtungsweise meint, die Voraussetzung den Menschen in seiner individuellen Lage, in seiner für seine Erziehung grundlegenden Subjektivität wahrzunehmen und zu verstehen.
Nach SCHÜTZ (1975, 23)4 ist die alltägliche Lebenswelt „der Wirklichkeitsbereich, an dem der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. Die alltägliche Lebenswelt ist die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen kann und die er verändern kann, indem er in ihr durch die Vermittlung des Leibes wirkt. Zugleich beschränken die in diesem Bereich vorfindlichen Gegenständlichkeiten und Ereignisse, einschließlich des Handelns und der Handlungsergebnisse anderer Menschen, seine freien Handlungsmöglichkeiten. Sie setzen ihm zu überwindende Gegenstände wie auch unüberwindliche Schranken entgegen. Ferner kann sich der Mensch nur innerhalb dieses Bereiches mit seinen Mitmenschen verständigen, und nur in ihm kann er mit ihnen zusammenwirken.“ Dies verdeutlicht, dass der Mensch seine Erfahrungen in Situationen des Alltages macht. In Interaktionen mit anderen und in der Auseinandersetzung mit ihnen erfährt er seine Umwelt und sich selbst.
Mit dem Begriff der Lebenswelt gewinnen sportpädagogische Untersuchungen ihren empirischen Gehalt und zugleich auch ihren aktuellen Bezug. Aktuellen Bezug zu den Menschen in ihren jeweils gegebenen Lebensverhältnissen (in denen sie sich bewegen) und die es zu erziehen gilt.
Die Sportpädagogik gewinnt ein ganz anderes Gegenstandsverständnis, wenn nicht von „dem Sport“ ausgegangen wird, sondern von der Lebenswelt der Menschen allgemein. Das beinhaltet das Fragen nach jenen Bezirken und Regionen, in denen Leiblichkeit und Bewegung bedeutsam werden. Durch die Frage nach der Lebenswelt lässt sich erkennen, warum gerade so Menschen sich in ihrer Welt eingerichtet haben bis hin zur sportpädagogischen Frage, wie sich Menschen hinsichtlich ihrer Leiblichkeit, als „Bewegungswesen“ in ihrer Lebenswelt arrangieren. Zu dieser Lebenswelt gehören aber nicht nur jene Formen des Wissens, mittels derer die Menschen den „sinnhaften Aufbau ihrer sozialen Welt (SCHÜTZ/LUCKMANN 1975) stiften.“5 Vielmehr sind hier auch die objektiven Grundlagen der Lebenswelten wie die gesellschaftlichen Organisationen, die unsere Industriegesellschaft begründen bzw. denen unsere Gesellschaft folgt, von Bedeutung: „(…) Maßgaben, wie wir unsere Wohnstätten anlegen und einrichten, Raumplanungen vornehmen, Produktionsstätten einrichten, unsere Nahrungsversorgung (…). Die objektiven Grundlagen unserer Lebenswelten aber wirken nachweisbar darauf ein, wie sich Menschen leiblich erfahren können, welche Funktionen die Bewegungshandlungen im alltäglichen Leben haben, wo Handlungsspielräume eingeschränkt sind und gegebenenfalls angemessene neue Bewegungsformen entwickelt werden müssen“ (88, 1990)
Doch wie sieht die Realität derzeit aus?
Reduzierte sich der Gegenstand der Sportpädagogik auf den so genannten offiziellen Sport, so blieben neben Faktoren wie die sozialen Umfelder der Familie etc. auch die Sportszenarien, die die relative Einheit des in Verbänden organisierten Sportes verwischen, auf der Strecke. Gemeint sind z. B. das Radfahren, Wandern, Fitnessgymnastik u.v.m.
2. Woran orientieren sich der Sport und die Sportpädagogik in der Erziehungsgegenwart?
Unser Wissen und unser Bild sind geprägt von den Massenmedien, die den Leistungssport und seine Wettkämpfe in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung stellen. Dadurch wird eine Einseitigkeit des öffentlichen Bewusstseins von Sport aus geprägt. Die Lebenswelt des in erster Linie gelebten „offiziellen“ Sportes rückt in den Hintergrund. „Wenn man in diesem Sinne die Lebenswelt als Bewegungswelt wahrnimmt, lässt sich erschließen, wie Menschen im Medium der Bewegung ein spezifisches Mensch-Welt-Verhältnis konstituieren.“ (83, 1990)
Es werden eher die sozialen Umfelder der Familie, des Wohnens oder des Betriebes als Bedingungen für Körper und Bewegung bedeutsam.
„Autoren (wie Scherler), die von der menschlichen Bewegung ausgehen und anthropologisch fundiert argumentieren, betonen die Offenheit des Menschen mit seiner Möglichkeit, über das Medium der Bewegung vielfältige Erfahrungen zu machen.“ „Diejenigen, die eher vom Sport ausgehen (wie Kurz) oder konsequent zu ihm hinführen wollen (...), argumentieren gesellschaftlich funktional.“ (79, 1990) Laut DIETRICH/LANDAU (62, 1990) ist konsequent zu fordern, eigene Gegenstandsbestimmungen nicht losgelöst vom historischen und gesellschaftlichen Kontext, sondern in der Auseinandersetzung mit der derzeitigen pädagogischen Praxis und der Art ihrer theoretischen Reflexion vorzunehmen und zu begründen. Durch welche Strömungen, Einseitigkeiten und Entwicklungsprobleme wird die Sportpädagogik in der heutigen Zeit gekennzeichnet? Trotz seines vielfältigen Erscheinungsbilds gilt der Sport als ein geschlossenes Gebilde vom eigenem Wert, das sich von anderen gesellschaftlichen Bereichen abgrenzt. „Der Begriff der Geschlossenheit verweist auf die starke Normierung von Bewegungsräumen und Verhalten, der der Sportler in seinen Handlungen folgt.“ (79, 1990) Von der Sportpädagogik wird erwartet, Erziehungsfragen aufzugreifen, die im Rahmen des institutionalisierten Sportes auftreten.
Wer an die Welt (der Erziehung), in die das Kind hineinwachsen soll, über die Welt des Sportes herantritt, beschreibt den Weg der Erziehung eher als einen Sozialisationsprozess und geht vom System des Sportes aus und beschreibt zum näheren Verständnis seiner Position als Gegenstand bzw. Ausgangspunkt seine Sozialgeschichte, die tatsächlich zum Sport hinführt. Im Rahmen dieser Arbeit kann dieser Weg der Historie jedoch nicht beschrieben werden.
Laut DIETRICH/LANDAU (87, 1990) werden sich in diesen Prozess eingelagerte Lehre und Unterricht konsequent auf die Handlungskompetenz im Sport ausrichten; wie wir das alle kennen oder kennen gelernt haben.
Nach DIETRICH/LANDAU (64, 1990) war es der Einfluss des Deutschen Sportbundes (DSB) auf die politischen Träger des öffentlichen Schulwesens, der den Sport als Gegenstand der Pädagogik machte und der diese Wendung zum Sport hin herbeigeführte Auch auf die Forschungsförderung wirkte der DSB stark ein. So ist die einzige speziell der Forschungsförderung der Sportwissenschaft dienende Institution, das Bundesinstitut für Sportwissenschaft, vornehmlich für die Forschung des Leistungsportes zuständig und wird deshalb im starken Maße unter diesem Interesse gelenkt. „Damit ist indirekt auch die Förderung sportpädagogischer Forschung auf das Gegenstandsgebiet des Wettkampf- und des Leistungssport ausgerichtet worden.“ (65, 1990)
„Dies gilt vor allem für den institutionalisierten Wettkampfsport, der solcherart geradezu zum normativen Bezugspunkt für sportpädagogisches Denken wird.“ (79, 1990)
„Wer umgekehrt vom Kind als einem Bewegungswesen ausgeht, ist zuallererst auf eine anthropologische Betrachtung angewiesen, die entwicklungstheoretische Erörterung nutzt, um eher eine entwicklungstheoretische Position zu erarbeiten.„ (87, 1990)
Hierbei steht das Kind, wie es über seine Bewegung seine Welt in Erfahrung bringt und dabei zu einer Persönlichkeit wird, im Mittelpunkt. Die zu erkundenden Formen der Welterschließung findet in der Regel die meiste Aufmerksamkeit und dafür werden günstige äußere Bedingungen geschaffen.
3. Ist es erforderlich, der Lebenswelt die Sportwelt zu opfern? Müssen sich beide Betrachtungsweise ausschließen, gibt es nur ein Entweder-Oder. Einige Gedanken zur Positionsfindung:
Die Verfasserin dieser Arbeit geht davon aus, dass geklärt ist, welche Handlungen bzw. welche Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt dem Sport zugerechnet wird und welche der in diesem Sport vorfindlichen Ereignisse sich als erzieherische bezeichnen lassen. Dies ist die soziale Wirklichkeit, von der dann die erzieherische Wirklichkeit bestimmt wird in Abhängigkeit von der lebensweltlichen Betrachtungsweise.
In der derzeitigen Sportpädagogik werden beide Ansätze bereits verfolgt, jedoch mit dem Nachteil, dass sie in der Regel getrennt voneinander entwickelt werden und kontrovers diskutiert werden. Dadurch entsteht eine Sportpädagogik entweder „vom Sport aus“ oder „vom Kind aus“. Jedoch sollte eine Sportpädagogik nicht von zwei Seiten aus betrachtet werden? Dies setzt voraus, dass Ausgangspunkt sowie Ziel der sich bewegende Mensch ist. D. h. der Mensch in seinen Lebenswelten wie z. B. in Betrieb oder Familie, da er auch dann ein Bewegungswesen bleibt, wenn er auch nicht gerade in den eigens für Sport präparierten Lebensräumen handelt. Denn die uns zusätzlichen wichtigen Formen der Bewegungskultur konstituieren sich dagegen im Lebensalltag der Menschen selbst. „Sie unterliegen komplexeren Regeln, bringen eigene soziale Gebilde hervor und folgen im Vergleich zum institutionalisierten Sport anderen Sinnorientierungen und Wertsystemen.“ (87, 1990)
Die soziale Realität setzt aber auch auch voraus, dass sich eine Sportpädagogik den sich bewegenden Menschen bezogen auf alle Formen des Sportes betrachtet. Könnte es diese Vereinigung von der Welt des Sportes mit der Welt, „der die subjektiven Momente von sich bewegenden Menschen beachtet, sie vor dem Hintergrund ihrer Lebenssituationen deutet und zur Entwicklung der Lebensverhältnisse unserer Gesellschaft in Beziehung setzt.“ (87, 1990) Eine lebensweltliche Betrachtungsweise (der Sportpädagogik) ist es nur dann, wenn anthropologische mit gesellschaftlichen Aspekten ein gemeinsames Dasein finden. Wo in der Lebenswirklichkeit des Menschen und aus ihr heraus wird Bewegung, Spiel und Sport hervorgebracht? Dort, wo sich die Auseinandersetzung von Mensch und Gesellschaft selbst vollzieht. „Die für uns relevante Erziehungswirklichkeit wird dort am angemessensten erfasst werden, wo sich Menschen in unmittelbarer Interaktion mit den bereits vorgegebenen sozialen Strukturen (Organisation) auseinandersetzen.“ (82, 1990)
Da sich die Sportpädagogik unter der Bezeichnung „Theorie der Leibeserziehung“ als Berufswissenschaft für Sportlehrer entwickelt hat und es u. a. galt, (wie in anderen Schulfächern auch), didaktische und methodische Grundlagen zu schaffen und konzeptionell auszuarbeiten, entstand ein Konzept, was den Sport als Maßstab für pädagogische Zielsetzungen ansieht. Diese Zielsetzungen finden sich im Vermitteln von Fähigkeiten und Fertigkeiten, folglich in spezifische Kenntnissen, um ein lebenslanges Sporttreiben zu ermöglichen. Der Mensch wird als Bewegungskörper betrachtet. Durch Konzepte dieser Arte schließt man Individualität, die sich an Physis, Psyche, Entwicklung, Genetik und auch Fakten wie Umfeld, Sozialisation und vieles mehr manifestiert, aus und setzt die gleiche Gültigkeit für alle Menschen voraus.
DIETRICH/LANDAU (81, 1990) beschreiben dieses Phänomen Mensch auch als „Bewegungswesen“, d. h. die Art, wie der Mensch sich selbst über seine Bewegung der Welt vermittelt und wie er diese erfährt und begreift. „Erst ein Rückbezug solcher Betrachtungen auf gesellschaftliche Gegebenheiten macht die Chancen, Bedingungen und Forderungen deutlich, die sich dem Menschen in seiner Welt eröffnen oder sich ihm begrenzend entgegenstellen.“ (81, 1990)
DIETRICH/LANDAU (80 + 81, 1990) weisen daraufhin, dass es nicht reicht nur anthropologische Betrachtungen über den Menschen anzustellen und auch nicht nur gesellschaftliche/funktionale Betrachtungen zu machen und somit die Organisation des Sportes und den Sport an sich zum Gegenstand der Erziehungswirklichkeit zu machen, wenn man davon ausgeht, dass sich Erziehung in der Auseinandersetzung zwischen der Person und der Gesellschaft vollzieht. Jedoch wird das konkrete Dasein im Alltag der Menschen missachtet, weil zu leicht von dem einem oder anderen gesprochen wird: der Mensch oder die Gesellschaft. Dies führt laut DIETRICH/LANDAU (81, 1990) zu Idealisierungen.
Diese Idealisierungen und diese Einseitigkeit gilt es aufzuheben und sich an der Realität zu orientieren, was Mensch und Gesellschaft zusammen ausmachen, um einen Wirklichkeitsbereich zu schaffen bzw. diesen zu erfassen, d. h. die Sportpädagogik muss sich in ihren lebensweltlichen Betrachtungen den Interaktionen im Medium der Bewegung unmittelbar zuwenden.
4. Eine exemplarische Fallbeschreibung - von der Theorie zur Praxis
„Nachfolgende Fallbeschreibung (…) steht exemplarisch dafür, dass eine sportpädagogische Einschätzung der Bewegungsproblematik eines Menschen nur im Rückbezug auf dessen Alltagsleben erfolgen kann und auch entsprechendes Einflussnehmen nur in Kenntnis des gesamten Bewegungslebens sinnvoll zu treffen ist.“ (278, 1990)
LUTHER/RÖTHIG (1983, 88-91)6 beschreiben folgendes Exempel, wobei die Verfasserin dieser Arbeit das Beispiel stark gekürzt z.T. stichpunktartig wiedergibt.
„Damir ist noch nicht schulreif“
Damir, 1971 in Jugoslawien geboren, kommt mit 1,25 Jahren mit seiner Mutter nach Deutschland, die ihrem Mann folgt, der bereits sei 17 Jahren in Deutschland als Schweißer arbeitet. Seit dem 2. Lebensjahr wohnt Damir und Familie im 7. Stock eines achtstöckigen Wohnhauses in einer Großstadt. Alter zur Zeit der Aufnahme 7,5- 7,9 Jahre (sechs Wochen vor dem Übergang ins 1. Schuljahr der Regelschule) bei einer Größe von 135 cm und 45 kg (entspricht der Durchschnittsgröße eines 10j. und dem Durchschnittsgewicht eines 13j.). Laut Schulreifetest im Alter von sechs Jahren wird Damir für nicht schulreif erklärt, da er stark übergewichtig ist und aufgrund seiner körperlichen Unbeholfenheit. Den Eltern wird geraten Damir für zwei Jahre in einen Kinderhort zu geben, an denen eine Vorschule angeschlossen ist, um die Defizite auszugleichen; die Einschulung also zu verschieben.
Zur Bewegungstheorie Damirs lässt sich sagen:
Seit dem 2. Lebensjahr lebt Damir mit Eltern in der Zweizimmerwohnung. Bis zum Alter von drei Jahren schläft er im Kinderbett im Zimmer der Eltern. Danach auf Liege im abgeteilten Wohnzimmer. Von zwei bis fünf kann er die Wohnung nur mit Eltern verlassen. Mutter fing erst an zu arbeiten, als Damir sechs wurde. Die Mutter kompensiert ihr Heimweh und ihre Einsamkeit, indem sie sich sehr intensiv mit Damir beschäftigt (Spielen und Deutsch lernen). Sie verwöhnt ihn u. a. mit Süßigkeiten.
Damirs Unbeholfenheit im Vergleich zu seinen Mitspielern aus dem Hort ist offenkundig und es herrscht ein großer Abstand in Form von Defiziten zwischen dem Bewegungskönnen Damirs und dem der anderen Kinder. Diese Defizite zeigen sich bei Bewegungsaufgaben sowie beim Spielen. Damir muss zum Lösen der Bewegungsaufgaben aufgefordert werden, da er sich von sich aus diesen Aufgaben nicht stellen möchte. Damirs Abweichen vom normalen körperlichen Erscheinungsbild der Altersgruppe fällt dem Schularzt auf: dein Übergewicht sowie der noch dem Kleinkindstadium verhafteten Motorik. Als motorisch zurückgebliebenes Kind wird er der Kindergärtnerin anvertraut, die ihn als bewegungsgehemmtes Kind wahrnimmt und deren Aufgabe es ist, Damir an die Altersnorm heranführen soll.
Sowie der Blickwinkel des Arztes und der Kindergärtnerin haben gemeinsam, dass das Kind auffällt, weil es von der Altersnorm (Bewegungs- und Körpernorm) abweicht. Aufgrund der Beurteilung führt diese Normabweichung, die am Erscheinungsbild festgemacht wurde, zu der Aussage, Damir sei noch nicht schulreif sowie zu der Empfehlung, in für zwei Jahre in einen Hort zu geben. Es fragt sich jedoch, ob solche, aus speziellen Perspektiven vorgenommenen Diagnosen dem Kind wirklich gerecht werden und auch helfen können.
Laut DIETRICH/LANDAU (280, 1990) greifen phänotypische Betrachtungsweisen zu kurz., da sie an der Tatsache vorbeigehen, dass Körper- und Bewegungsentwicklung nicht unabhängig von Lebenshintergründen der betroffenen Individuen verlaufen. Bewegungs- und Lebensgeschichte sind vielmehr untrennbar miteinander verknüpft, so dass Erklärungen zum festgestellten Phänomen auf die Analyse der jeweiligen Lebenswelt angewiesen sind.
5. Schlussfolgerung:
Im Falle Damirs waren seine Lebenshintergründe sehr detailliert bekannt. „Das Wissen um bewegungsbiographische Details verdeutlicht den besonderen Bruch, den Damit zu bewältigen hat, wenn er aus der Normalität seiner Familie in die Normalität der Altersgruppe bzw. der Institution Schule eintritt.“ (281, 1990)
Dieses Wissen verhindert eine allzu voreilige therapeutische Maßnahme. Vielmehr verdeutlicht der Fall Damirs wie wenig Wissen über die lebensweltliche Einbettung für das Problem bewegungs- und körperbiographische Entwicklung im Allgemeinen vorhanden ist. DIETRICH/LANDAU (281, 1990) sind der Meinung, dass die Sportpädagogik sowie die Menschen, sich mehr um jene in den Lebenswelten bestehenden objektiven Bedingungen (Wohn- und Verkehrskonzept) sowie um deren subjektive Deutung und Verarbeitung seitens der Subjekt.
Es wird klar, dass es nicht reicht, wenn wir von dem bedeutsamen Ausschnitt unserer Gesellschaft, dem Sport, ausgehen und ihm erzieherische Bedeutung trotz seiner gesellschaftlichen Funktionalität verleihen. Am Beispiel Damirs bekommt die Wichtigkeit dieser Überlegungen noch einmal große Bedeutung; es zeigt uns wie es aufgrund von Einseitigkeiten bei der Betrachtung des Gegenstandes der Sportpädagogik zu „Opfern“ kommen kann, die nicht unbedingt in der Form aufgrund ihrer Lebenswelt und Körperlichkeit die logische Folgerung sein müssen. Menschen werden in dem Fall dann dadurch kategorisiert, das sie die Anforderungen erfüllen oder nicht. Erfüllen sie diese eben nicht und man beurteilt dies nur an dem Fakt des Könnens bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten und beleuchtet nicht evt. Ursachen, führt dies nicht zu einer Behebung bzw. Behandlung von Defiziten, individuellen Problemen oder Förderung von Stärken, sondern lediglich zu Maßnahmen, die Menschen in leistungsfähig oder nicht-leistungsfähig einteilen und diese gemessen an den Anforderungen, die für jeden gelten sollen.
Ich gehe da konform mit den Worten von DIETRICH/LANDAU (71, 1990), dass, wer am Sport - und am derzeitigen öffentlichen Bewusstsein über ihn - ansetzt und dann konsequent die sportlichen Bewegungsfertigkeiten, wie sie sich zu den einzelnen Sportdisziplinen gruppieren, zum primären Bezugspunkt macht, Gefahr läuft, Sport als festen, unwandelbaren Kulturbestand und als pädagogische Norm festzulegen. Dabei würde der Vorgang aus dem Blick verloren, in dem Sport unter sich wandelnden äußeren Bedingungen jeweils neu von Menschen hervorgebracht werden muss.
Der Wirklichkeitsbereich wird auch nicht ausreichend erfasst, wenn am einzelnen heranwachsenden Menschen angesetzt wird und seine Art der Welterschließung im Medium der Bewegung zum Gegenstand erklärt wird.
Für DIETRICH/LANDAU (80, 1990) heißt das nicht, dass damit die grundlegende anthropologische Bedeutung der menschlichen Bewegung für den erziehungsbedürftigen Menschen verkannt würde. Denn die Kinder wachsen in eine Bewegungskultur hinein, die wertvolle Erfahrungen und Kulturschöpfungen vieler Generationen enthält. Wichtig ist dabei, dass man der Faszination der Umwelterkundungen von Kindern nicht erliegt, damit diese nicht als Beispielfall förderlicher Entwicklungssituationen gesehen werden, denn man „mag leicht übersehen, dass Kinder nur scheinbar ihre Welt originär, unverstellt und in je eigenem Zugriff in Erfahrung bringen.“ (88, 1990)
Vielmehr muss Erziehung nicht allein nur auf die institutionelle (geschlossene) Erziehung (Schule) reduziert werden. Was außerhalb in den (offenen) Auseinandersetzungen von Menschen mit ihrer Umwelt in Form von Entwicklungsförderung und -beschränkung geschieht, ist auch von großer Relevanz. Aktueller Bezugspunkt für Erziehung ist zwar der Sport als ein Ausdruck dieser sich historisch wandelnden Bewegungskultur, jedoch wird seine pädagogische Relevanz nur dann ausarbeitet werden können, wenn der Sport als der menschlichen Bewegung zugrundeliegenden spezifischen Erscheinungs- und Ausdrucksform begriffen wird.
Eine Form des polarisierenden Denkens hat in der Geschichte der Theorie der Leibeserziehung bis zur heutigen Sportpädagogik die fachliche Diskussion immer wieder bestimmt. Ein allgemeineres Begreifen des Sport als handelnde Auseinandersetzung mit seiner spezifischen Umwelt, vermag die Türen zum Verstehen der historischen Besonderheiten dieser Form des menschlichen Bewegens zu öffnen.
„Die Sportpädagogik hat sich lange zu sehr darauf beschränkt, Konzepte für das Lehren und Lernen eingeführter Sportarten in der Schule zu entwickeln. Mit den dort gewonnenen Erkenntnissen lassen sich aber die Körper- und Bewegungsprobleme, so wie sie sich heute stellen, nicht mehr angemessen erfassen und lösen. Es geht hier deshalb um ein erweitertes Verständnis; die rasante Entwicklung und gesellschaftliche Bedeutung des Sports in der modernen Welt zwingen zu einer neuen Standortbestimmung.“ (Amazon Internet-Buchrezension, http://www.amazon.de)7
Wäre da eine lebensweltliche Betrachtung von Sportpädagogik nicht ein auszubauender und fortführender Ansatz?
[...]
1 Zitiert nach: Skript der Vorlesung des Proseminars Sportpädagogik, S. 42, 2001
2 Zitiert nach: Skript der Vorlesung des Proseminars Sportpädagogik, S. 43, 2001
3 Zitiert nach: DIETRICH, K./LANDAU, G.: Sportpädagogik. Grundlagen. Positionen. Tendenzen. Rowohlt Verlag Hamburg 1990
4 Zitiert nach: DIETRICH/LANDAU (59, 1990)
5 Zitiert nach: DIETRICH/LANDAU (88, 1990)
6 Zitiert nach: DIETRICH/LANDAU (278, 1990)
7 http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3932079108/qid=1018630128/sr=8-2/ref=sr_aps_prod_2_1/028- 5018546-5527703)
- Quote paper
- Andrea Moebius (Author), 2002, Gedanken zu einer lebensweltlichen Betrachtungsweise der Sportpädagogik in Abgrenzung zu einer eher leistungsorientierten Sportpädagogik (bzw. sportartorientierten Sportpädagogik), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106688
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