Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Grundlagen der Bulimia nervosa
Begriffsdefinition und Diagnosekriterien
Essverhalten und Maßnahmen zur Gewichtskontrolle
Folgen
Epidemiologische Daten
Ätiologische Theorien
Der Ansatz von Hilde Bruch (1973)
Der Ansatz von Boskind-White/White (1983)
Der Ansatz von Schulte/Böhme-Bloem (1991)
Der Ansatz von Laessle (1994)
Sexueller Missbrauch als Risikofaktor für Bulimia nervosa?
Sexueller Missbrauch und Bulimia nervosa (Welch/Fairburn)
Sexueller Missbrauch bei Essgestörten (Waller)
Differentielle Folgen von sexuellem Missbrauch (Richter-Appelt)
Sexuelle Kindesmisshandlung und die Entwicklung von Essstörungen (Teegen/Cerney-Seeler)
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die Idee zu der vorliegenden Arbeit, die sich mit der Frage befassen wird, ob ein direkter Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und der Entwicklung einer Essstörung besteht, entstand während der Vorbereitungen einer Diplomarbeit zum Thema „Interventionen bei innerfamilialem sexuellen Missbrauch - Möglichkeiten und Grenzen einer systemischen Sozialarbeit“.
Im Rahmen dieser Vorbereitungen und der damit zusammenhängenden Lektüre einer Vielzahl von Texten zum Thema „Sexueller Missbrauch“ wurde deutlich, dass kein sogenanntes Missbrauchssyndrom existiert, sondern dass die verschiedenen Autorinnen und Autoren z.B. bezüglich der Folgen eines sexuellen Missbrauchserlebnisses für die weitere Entwicklung der Betroffenen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Ein Seminar, das sich u.a. mit dem Thema „Essstörungen - Der eigene Körper als Objekt“ befasste, gab letztlich den Ausschlag, sich mit den Zusammenhängen der beiden Sachverhalte auseinander zu setzen.
Im ersten Abschnitt der vorliegenden Arbeit werden die Grundlagen des bulimischen Syndroms erläutert. Ausgehend von einer Begriffsdefinition und einer Aufzählung der Diagnosekriterien nach DSM-IV werden zunächst das Essverhalten der an Bulimia nervosa erkrankten Personen bzw. deren Maßnahmen zur Gewichtskontrolle beschrieben. Einige Ausführungen zu den physischen und psychischen Folgeerscheinungen sowie zur Epidemiologie der Bulimia nervosa ergänzen diesen Abschnitt.
Im zweiten Abschnitt der Arbeit werden einige der Theorien, die sich mit der Entstehung der Erkrankung befassen, aufgegriffen und erläutert. Der Fokus liegt hierbei auf psychoanalytisch orientierten Modellen, die jedoch durch ein von Laessle (1994) formuliertes, ganzheitlicheres Modell ergänzt werden.
Im letzten Abschnitt werden einige Untersuchungen referiert und - wenn möglich - verglichen, um abschließend eine Antwort auf die bereits formulierte Frage geben zu können: Besteht ein direkter Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch in der Kindheit und der Entwicklung einer Essstörung?
Grundlagen der Bulimia nervosa
Begriffsdefinition und Diagnosekriterien
Der Begriff „Bulimie“ stammt aus dem Griechischen und kann mit „Stierhunger“ übersetzt werden.
Während das Erbrechen aufgenommener Nahrung im antiken Rom langanhaltende und vor allem lustvolle Fressorgien erst ermöglichte, wurde ein solches Verhalten bereits im Mittelalter als krankhaft bezeichnet. Doch erst seit 1979 steht der Begriff „Bulimie“ nicht mehr nur für ein Symptom der Anorexia nervosa, sondern bezeichnet nunmehr eine eigenständige Erkrankung. Die offiziellen Diagnosekriterien sind unter anderem im DSM-IV festgehalten und sollen im folgenden nach Vanderlinden (1995) zitiert werden:
A. Wiederholte Episoden von Freßanfällen mit beiden folgenden Charakteristiken:
(1)in einer bestimmten Zeitspanne (z.B. 2 Stunden) Verzehr einer Essensmenge, die bedeutend größer ist als die Menge, die die meisten anderen Menschen in einerähnlichen Zeitspanne und unterähnlichen Umständen zu sich nehmen würden; und
(2)ein Gefühl von Kontrollverlust hinsichtlich des Eßverhaltens während dieser Episode (z.B. das Gefühl, nicht mit dem Essen aufhören zu können oder die Kontrolleüber Qualität und Quantität des Essens zu verlieren).
B. Wiederholtes unangemessenes Kompensationsverhalten, um eine Gewichtszunahme zu verhindern, zum Beispiel: selbstinduziertes Erbrechen, Gebrauch von Abführmitteln, harntreibenden Mitteln oder anderen Medikamenten, Fasten oder exzessive körperliche Betätigung.
C.Durchschnittlich mindestens zwei Freßanfälle und unangemessenes Kompensationsverhalten pro Wocheüber einen Mindestzeitraum von drei Monaten.
D.Das Selbstwertgefühl wird unverhältnismäßig stark durch die Figur und das Körpergewicht beeinflußt.
E. Die Symptome treten nicht während einer Episode der Anorexia nervosa auf.
(Thies 1998, Seite 5; vgl. Waadt 1992; Focks/Trück 1987; Kinzl 1997)
Diese Diagnosekriterien ermöglichen es, zwischen Symptom und Syndrom zu unterscheiden. Während Bulimie als Symptom die unkontrollierte Aufnahme großer Nahrungsmengen meint, die jedoch auch durch organische Ursachen sowie durch bestimmte neurologische Erkrankungen bedingt sein kann, bezeichnet der Begriff „Bulimia nervosa“ das Syndrom und damit die Kombination aller fünf Diagnosekriterien. Dabei wird die Bulimia nervosa zusätzlich in „purging“-Typ, d.h. die Gewichtskontrolle findet durch Erbrechen bzw. die Einnahme von Abführmitteln statt, sowie „nonpurging“-Typ, d.h. die Gewichtskontrolle wird durch Fasten bzw. übermäßige körperliche Aktivität erreicht, unterteilt. (vgl. Kinzl 1997)
Im Zuge der Diagnostik werden drei Schweregrade unterschieden:
1. Ein bis zwei Heißhungeranfälle pro Woche, wobei die Krankheitsdauer mindestens sechs Monate beträgt, keine schwerwiegenden psychischen Veränderungen vorliegen, keine Suizidgefahr besteht und die Betroffenen zu einer Therapie bereit sind.
2. Tägliche Heißhungeranfälle, wobei die Krankheitsdauer ein bis zwei Jahre beträgt, mittelschwere psychische Symptome mit Phasen der Depression und Suizidgefahr bestehen und die Betroffenen eine Therapie - falls sie eine solche bereits in Anspruch genommen haben - abgebrochen bzw. ohne Erfolg abgeschlossen haben.
3. Mehrere Heißhungeranfälle pro Tag in Kombination mit dem Missbrauch von Alkohol und/oder Medikamenten, wobei erhebliche Depressionen und hohe Suizidgefahr sowie ein hoher Leidensdruck bestehen und die Betroffenen eine klinische Behandlung in Anspruch nehmen müssen. (vgl. Uexküll 1996, Seite 619f)
Nachdem nun die Definitionskriterien der Bulimia nervosa dargestellt wurden, werden im nächsten Abschnitt einige dieser Kriterien erneut aufgegriffen und detailliert beschrieben. Diese ergänzen sich zum sogenannten „Circulus vitiosus“.
Essverhalten und Maßnahmen zur Gewichtskontrolle
Ein Merkmal der Bulimia nervosa ist das stark kontrollierte Essverhalten. Das - in der Regel normale - Körpergewicht soll auf diese Weise gehalten bzw. minimiert werden. Dieses gezügelte Essverhalten initiiert den sogenannten „Teufelskreis der Bulimie“, wie er unter anderem bei Thies (1998, Seite 6) beschrieben wird. Demnach führt das Fasten und/oder exzessive Sporttreiben zu Hunger, Frustration, Müdigkeit sowie zu physischer und psychischer Deprivation. Trotz des Hungers versuchen die Betroffenen, die dadurch ausgelöste hohe Empfänglichkeit für Nahrungsreize zu kontrollieren und nehmen lediglich kleinste Nahrungsmengen zu sich. Die Aufnahme „verbotener“ bzw. hochkalorischer Nahrungsmittel versuchen sie zu vermeiden. Gelingt ihnen dies nicht, entsteht ein Gefühl der Angst und der Schuld bzw. ein „Alles-oder-nichts-Denken“, das letztlich den Heißhungeranfall auslöst.
Der Heißhungeranfall ist - wie bereits erwähnt - eines der Hauptmerkmale der Bulimia nervosa. Er kann unter anderem durch Gefühle der Einsamkeit, Stress, Zustände innerer Leere, Wut, Verlassensängste, Traurigkeit, Frustration, Unzufriedenheit oder aber durch Hunger bzw. Appetit ausgelöst werden. (Thies 1998, Seite 8; vgl. Focks/Trück 1987) Während eines solchen Heißhungeranfalls nehmen die Betroffenen hochkalorische, leicht essbare und kaum zubereitete Nahrung in großen Mengen zu sich. Dabei handelt es sich um besonders ungesunde, fett-, kohlehydrat- und eiweißreiche Nahrung. Die aufgenommene Kalorienmenge schwankt dabei zwischen 1.100kcal und 15.000kcal (vgl. Laessle 1994) bzw. bis zu 55.000kcal (vgl. Focks/Trück 1987).
Auch die Dauer eines Heißhungeranfalls variiert vom kurzen, anfallartigen Verschlingen der Nahrung bis hin zu geplanten, Stunden andauernden Ritualen. Bei diesen empfinden die Betroffenen zu Beginn des Heißhungeranfalls häufig gar ein Gefühl der Lust an der Zubereitung der Nahrung sowie am Essen selbst. Diese Wirkung lässt jedoch nach. Im weiteren Verlauf des Heißhungeranfalls hat die Nahrungsaufnahme lediglich noch eine beruhigende Wirkung. Die Betroffenen nehmen den Geschmack der Nahrungsmittel nur noch sehr eingeschränkt wahr und achten vor allem darauf, während des Heißhungeranfalls reichlich Flüssigkeit zu sich zu nehmen, die ein selbstinduziertes Erbrechen im Anschluss erleichtern soll. (vgl. Focks/Trück 1987) Gegen Ende bzw. nach dem Heißhungeranfall verspüren die betroffenen Personen ein stakres Völlegefühl, Magendrücken bzw. Unwohlseins, welches ein Gefühl der Schuld bzw. der Angst vor der Gewichtszunahme auslöst.
Diese Gefühle führen zu einem weiteren Merkmal der Bulimia nervosa - dem selbstinduzierten Erbrechen. Es beendet den Heißhungeranfall und führt dazu, dass die negativen emotionalen und physischen Folgen des Heißhungeranfalls nachlassen. Während es zu Beginn der Erkrankung nur unter Zuhilfenahme von Brechmitteln (Abführmittel, Appetitzügler, Diuretika oder Gegenstände) stattfinden kann, läuft es nach einiger Zeit beinahe schon reflexartig ab. (vgl. Waadt 1992)
Doch trotz der für die Betroffenen zunächst positiven Wirkung des selbstinduzierten Erbrechens kommt es auch nach dieser Handlung zu Selbstvorwürfen und Gefühlen von Scham, Schuld und Hilflosigkeit, denn dieses Verhalten - wie übrigens auch das während eines Heißhungeranfalls gezeigte Verhalten - passt weder in das Selbstbild der Betroffenen, noch handelt es sich dabei um eine sozial anerkannte Verhaltensweise. Demgegenüber ist das Fasten sozial nicht nur anerkannt, sondern wird auch - vor allem von Frauen - als adäquates Handlungsschema angesehen, das es ihnen ermöglicht, dem in der Gesellschaft vorherrschenden Schlankheitsideal zu entsprechen. Deshalb beschließen die Betroffenen nach dem Heißhungeranfall und dem anschließenden Erbrechen meist, sich erneut an ihren übertriebenen und unrealistischen Diätvorschriften zu orientieren - ein zum Scheitern verurteiltes Selbstkontrollprogramm.
Ein letztes Merkmal der Bulimia nervosa, das auch als auslösender Faktor des eben beschriebenen Teufelskreises bezeichnet werden könnte, ist die zumeist veränderte Körperwahrnehmung der Betroffenen. Sie verfügen nicht mehr über Hunger- und Sättigungsgefühle bzw. nehmen diese nicht mehr wahr und empfinden den eigenen Körper als unförmig, aufgeschwemmt, fett, unattraktiv und abstoßend. (vgl. Focks/Trück 1987; vgl. Waadt 1992)
Weiss et al. (1994) bemerkenübereinstimmende Aussagen in der Literatur, daßsich bulimische Frauennie für dünn genug halten, ihr Wunschgewicht unter dem Idealgewicht liegt, während sie sich zumeistschwerer einschätzen als sie tatsächlich sind.(Thies 1998, Seite 9)
Neben der veränderten Körperwahrnehmung findet sich in der Literatur kein Hinweis auf eine sogenannte bulimische Persönlichkeit. Dennoch beschreibt z.B. Thies (1998, Seite 12) unter Berufung auf einige Studien die betroffenen Frauen als perfektionistisch und leistungsorientiert. Sie haben zudem eine hohe Sensibilität für die Erwartungen, die Andere an sie richten, sind abhängig von der Anerkennung dieser anderen Personen und fühlen sich gleichzeitig von diesen Menschen kontrolliert. Als weitere psychische Charakteristika nennt Thies die Konfliktvermeidung bzw. die indirekte Konfliktbewältigung als häufig zu beobachtende Handlungsschemata betroffener Personen. Zu dieser Aufzählung fügt sie Kontaktprobleme, eine niedrige Frustrationstoleranz sowie Unbeherrschtheit als weitere Merkmale hinzu.
Folgen
Als Konsequenz des typischen Essverhaltens entstehen für die Betroffenen häufig nicht nur gesundheitliche Schäden. Vielmehr wirkt sich dieses Verhalten auch - entsprechend dem Schweregrad der Erkrankung - auf andere Lebensbereiche aus.
Zunächst werden an dieser Stelle jedoch einige der medizinischen Folgen beschrieben, wie sie unter anderem bei Focks/Trück (1987), Waadt (1992), Laessle (1994) und Thies (1998) genannt werden. Demnach führt das häufige Erbrechen dazu, dass der Säuregehalt im Mund ansteigt. Dies bewirkt eine Schädigung der Zähne bzw. des Zahnschmelzes, die durch den Missbrauch von Laxantien, die auf die Kalksubstanz des Zahnes wirken, noch verstärkt wird.
Doch nicht nur die Zähne, sondern auch die Speicheldrüsen werden vom Magensaft angegriffen. Es kommt deshalb häufig zu Entzündungen und Schwellungen dieser Speicheldrüsen sowie zu Schwellungen des Gesichtes.
Ebenfalls durch das selbstinduzierte Erbrechen und den gleichzeitigen Laxantienmissbrauch werden Störungen des Mineralstoffhaushaltes, die eine Herzmuskelschwäche bzw. Herzrhythmusstörungen hervorrufen können, ausgelöst. Hinzu kommen Müdigkeit, eine erhöhte Infektionsanfälligkeit sowie eine Schilddrüsenunterfunktion, die Haarausfall und Hautveränderungen mit sich bringt. Vor allem der Kaliummangel verursacht außerdem Muskelschwäche, Verwirrtheit, Krämpfe etc.
Als Folge des Heißhungeranfalls kommt es meist zu einer akuten Magenerweiterung, was bei einigen Betroffenen eine Ruptur des Magens nach sich zieht. Die Nahrung wird langsamer transportiert und der Magen entleert sich verzögert. Dies kann im weiteren Verlauf zu einer Ruptur der Speiseröhre führen.
Letztlich bringt das bulimische Verhalten bei den meisten betroffenen Frauen Zyklusschwankungen mit sich, die nicht nur als physische Folgen, sondern zugleich auch als ein die psychischen Folgen auslösender Faktor bezeichnet werden können.
Wie bereits erwähnt wirkt sich das gestörte Essverhalten der Betroffenen auch auf andere Lebensbereiche sowie auf ihre Psyche aus. Einige dieser Auswirkungen werden im folgenden beschrieben, wobei der Fokus auf den Ausführungen von Focks/Trück (1987) liegt. In einer hier zitierten Untersuchung (Langstorff 1985) werden Minderwertigkeitsgefühle sowie die Furcht vor der Entdeckung des abnormalen Essverhaltens als Hauptgründe für die soziale Isolation der Betroffenen identifiziert.
Eine weitere Folge der Bulimia nervosa ist demnach der psychische Druck, der sich bei den Betroffenen z.B. aufgrund finanzieller Probleme aufbaut. (vgl. auch Thies 1998; vgl. auch Waadt 1992)
Focks/Trück gehen zudem noch einmal auf die ständige gedankliche Beschäftigung mit der Nahrungszubereitung und dem Essen sowie auf die Häufung der Ess-Brech-Anfälle ein, die neben den bereits an anderer Stelle beschriebenen Charakteristika der bulimischen Person die interpersonellen Beziehungen und damit häufig nicht nur das Alltags- und Arbeits-, sondern auch das Sexualleben der Betroffenen stark beeinträchtigen. (vgl. auch Thies 1998) Diese Auswirkungen des bulimischen Verhaltens auf alle Lebensbereiche der Betroffenen begünstigt das Auftreten von Depressionen, Stimmungsschwankungen, Schuldgefühlen, Suizidgedanken sowie den Missbrauch von Drogen und Alkohol etc. (vgl. Waadt 1992; vgl. Laessle 1994; vgl. Thies 1998)
Epidemiologische Daten
Die Angaben der in der vorliegenden Arbeit zitierten AutorInnen sowohl bezogen auf das Alter der betroffenen Personen als auch auf die Häufigkeit der Erkrankung liegen bisweilen weit auseinander, was vor allem auf die Unterschiede in Fragestellung und Definitionskriterien sowie auf die jeweilige untersuchte Stichprobe zurückzuführen ist. Focks/Trück (1987) weisen zudem darauf hin, dass genaue Zahlen schwer zu ermitteln sind, da viele der betroffenen Personen keine medizinische bzw. psychologische Hilfe in Anspruch nehmen.
Während exakte epidemiologische Daten fehlen, sind sich die AutorInnen zumindest darüber einig, dass hauptsächlich Frauen an einer Bulimia nervosa erkranken. Sie führen diese Beobachtung darauf zurück, dass das Schönheitsideal vor allem von Frauen verlangt, ihr Gewicht zu kontrollieren bzw. zu reduzieren. Ein diesem Ideal entsprechendes Aussehen gewährt den Frauen nicht nur soziale Anerkennung, sondern es ermöglicht ihnen auch ein berufliches Weiterkommen - möglicherweise einer der Gründe dafür, dass die Bulimia nervosa vor allem bei Frauen mit hohem Bildungsgrad auftritt (vgl. Thies 1998; vgl. Focks/Trück 1987).
Die Angaben deuten nun darauf hin, dass etwa 1% bis 8% der 18 bis 30jährigen Frauen an einer Bulimia nervosa erkranken. Thies (1998) geht davon aus, dass die Erkrankung dabei im 14.Lebensjahr zum ersten Mal auftaucht, sich bis zum 18.Lebensjahr manifestiert und ab dem 23.Lebensjahr meist eine Behandlung eingeleitet wird. Focks/Trück (1987) hingegen geben ein Einstiegsalter von 16 bis 21 Jahren an. Waadt (1992) geht ebenfalls davon aus, dass etwa 80% der betroffenen Frauen vor dem 22.Lebensjahr erkranken, wobei der Bulimia nervosa häufig eine Anorexia nervosa vorauszugehen scheint.In der klinischen Stichprobe ergab sich eine mittlere Krankheitsdauer von mehr als 5 Jahren, bevor der erste Behandlungsversuch unternommen wurde. (...) Die bulimische Symptomatik verläuft in vielen Fällen intermittierend, d.h. Phasen mit ausgeprägter Symptomatiküber Monate und Jahre hinweg wechseln sich mit nahezu symptomfreien Perioden ab.(Waadt 1992, Seite 16; Auslassung K.M.)
Einige der AutorInnen gehen davon aus, dass die Prävalenz der Bulimia nervosa in den vergangenen 20 Jahren deutlich angestiegen ist. Ob dies tatsächlich zutrifft, oder ob dieser beobachtete Anstieg lediglich mit einem vermehrten öffentlichen bzw. professionellen Interesse erklärt werden kann, bleibt offen.
Nachdem bis zu diesem Punkt der vorliegenden Arbeit die wichtigsten Grundlagen der Bulimia nervosa dargestellt wurden, wird im folgenden Abschnitt der Fokus auf den diversen Modellen, die sich mit ihrer Entstehung befassen, liegen.
Ätiologische Theorien
Die in der vorliegenden Arbeit zitierten AutorInnen nennen unterschiedliche Theorien zur Entstehung der Bulimia nervosa. Sie verweisen hierzu unter anderem auf die Ansätze von Hilde Bruch (1973), von Boskind-White und White (1983) oder entwickeln eine eigene Theorie. Die meisten dieser Theorien gehen davon aus, dass vor allem traumatische Erfahrungen mit der Mutter einen wesentlichen prädisponierenden Faktor der Bulimia nervosa darstellen. Im folgenden werden nun einige der Ansätze näher erläutert.
Der Ansatz von Hilde Bruch (1973)
Hilde Bruch geht davon aus, dass eine spezifische Störung der frühen Mutter-Kind- Interaktion die Basis für die Entstehung einer Essstörung bildet. Die Mutter reagiert nicht angemessen auf die Bedürfnisse und Impulse des Säuglings (z.B. Hunger, Müdigkeit etc.) und steht somit einer Bedürfnisbefriedigung im Wege. Dies hat nicht nur negative Folgen für die Wahrnehmung und Differenzierung der physiologischen Bedürfnisse, sondern auch für die Entwicklung der Selbstwahrnehmung und des Selbstwertgefühls. Die Kinder entwickeln eine sogenannte Körperschemastörung, fühlen sich fremdbestimmt. Ihnen fehlen Authentizität und Autonomie. Dadurch wird die Bewältigung pubertärer Aufgaben erschwert. Durch Einstellungen und Verhaltensweisen der Mutter wird der pubertäre Konflikt hinsichtlich der Geschlechtsidentität, der Sexualität sowie dem Verhältnis zum anderen Geschlecht zusätzlich verstärkt. Ein angstauslösender Konflikt - wie z.B. eine Trennung der Eltern oder auch Bemerkungen über die Entwicklung des Körpers - kann in dieser kritischen Phase zu einer Regression auf die orale Ebene führen. Dabei kann es zur Symptombildung kommen. Die Symptome sind dann als Rache bzw. Vergeltungsmaßnahme an der Mutter zu verstehen und geben der Tochter ein Gefühl der Selbstkontrolle und der Ich-Identität, was die Aufrechterhaltung der Symptome bedingt.
Hilde Bruch geht damit nicht nur davon aus, dass die Art der Wahrnehmung von Bedürfnissen im Rahmen eines sozialen Lernprozesses stattfindet, sondern hebt auch die Relevanz dieses Lernprozesses für die spätere Entwicklung der Autonomie- und Individuationsgefühle hervor. Allerdings fehlt dem Ansatz Hilde Bruchs der gesellschaftshistorische Zusammenhang, weshalb die Schuld für die Entstehung einer Essstörung lediglich an die Mutter delegiert wird. (vgl. Focks/Trück 1987, Seite 51f)
Der Ansatz von Boskind-White/White (1983)
Auch Boskind-White/White gehen in ihrem Ansatz auf die Interaktion zwischen Mutter und Kind ein, die vor allem von der Unzufriedenheit und Frustration der Mütter gegenüber ihrer eigenen Lebenssituation bzw. -geschichte geprägt ist. Um die Ursachen dieser Unzufriedenheit zu eruieren, nehmen die Autoren eine soziologische Analyse vor, die die Stellung der Frau in der Gesellschaft verdeutlichen soll. Demzufolge stiegen in den vergangenen Jahrzehnten die Ansprüche an die Fähigkeiten einer Frau: sollte sie sich noch in den 50er Jahren in eine (ökonomische) Abhängigkeit vom Mann begeben, wird bereits in den 60er Jahren von ihr verlangt, sich intellektuell zu bilden und gleichzeitig den damaligen Weiblichkeitsidealen zu entsprechen. In den 70er Jahren wird nun vor allem von denjenigen Frauen, denen im Rahmen ihrer Sozialisation Abhängigkeit und Passivität vermittelt wurden, ein selbstbestimmter Lebensstil erwartet. Diesen Ansprüchen nicht genügen zu können, führt bei den meisten Frauen zu Unzufriedenheit und Frustration. Sie geben diese Gefühle an die Tochter weiter, die sich nun für das Wohlbefinden der Mutter verantwortlich fühlt und sich Gefühle wie z.B. Ärger und Wut der Mutter gegenüber nicht zugesteht.
Dieser Fokus auf sozialen Faktoren führt dazu, dass sich Boskind-White/White auch mit der Interaktion zwischen Vater und Kind auseinandersetzen. Die Autoren gehen davon aus, dass der Vater von den Kindern meist als physisch und emotional abwesend erlebt wird, weshalb sie verstärkt nach einer vertrauten Beziehung zu ihm suchen. Die Unterordnung der Töchter unter eine traditionelle Weiblichkeitsrolle und damit die Negierung eigener Bedürfnisse ist hierfür charakteristisch.
Die durch die Erziehung geförderte und während der Adoleszenz zunehmende Abhängigkeit von derMeinung anderer verwehrt den Mädchen jeglichen Zugang zu eigenen Gefühlen und Wünschen, wodurchlaut Boskind-White/White in besonderem Maße das Heranwachsen der Bulimarektikerinnen gekennzeichnet ist. In der vernachlässigten Entwicklung von Selbstvertrauen und Autonomie sehen die Autoren die Entstehung extremer Angst vor Zurückweisung und Ablehnung, besonders durch Männer,begründet.“(Focks/Trück 1987, Seite 55)
Boskind-White/White machen die Annahme, das Erlangen des gewünschten Gewichtes könne alle Probleme lösen, und die damit verbundenen ersten Diätversuche als Auslöser der Bulimia nervosa verantwortlich. Wird das Bedürfnis nach Zuneigung und Anerkennung auch dann nicht befriedigt, versuchen die betroffenen jungen Frauen, ihrem Ziel mittels intellektueller Leistungen näher zu kommen. Gelingt ihnen dies nicht, hilft vielen die Nahrungsaufnahme, die entstandene Frustration abzubauen. Danach sehen sie sich gezwungen, einer Gewichtszunahme und damit erneuten Frustrationen vorzubeugen, indem sie selbstinduziert erbrechen. Damit schaffen sich die betroffenen jungen Fraune einen Bereich, in welchem sie selbst die Kontrolle verlieren und zurückgewinnen können.
Der Ansatz von Schulte/Böhme-Bloem (1991)
Auch diese Autoren fokussieren in ihrem Ansatz auf die Interaktion zwischen Mutter und Kind. Sie gehen davon aus, dass vor allem in den ersten Lebensmonaten der Nahrung bzw. der Nahrungsaufnahme und deren Begleitumständen eine wichtige Rolle beigemessen werden muss, denn:Frühe Erfahrungen von Geliebtwerden sind frühe Erfahrungen von Genährtwerden(Schulte/Böhme-Bloem 1991, Seite 68). Des weiteren weisen sie darauf hin, dass vor allem die Geburt einer Tochter die junge Mutter häufig emotional stark belastet. Sie wird - unmittelbarer als bei der Geburt eines Sohnes - noch einmal mit der eigenen (geschlechtlichen) Entwicklung sowie mit dem Verhältnis zur Mutter konfrontiert, mit denen sie eventuell negative Gefühle verbindet, die sie dann unbewusst auf den Säugling überträgt. Dies ist vor allem im Rahmen des Stillens möglich.
Negative Gefühle können hier jedoch auch entstehen, wenn die junge Mutter das Gefühl hat, den Säugling nicht ausreichend mit Nahrung versorgen zu können, weil dieser besonders gierig bzw. hungrig erscheint. Dies(...) mobilisiert bei der Mutter Angst, das Kind nicht sättigen zu können oder - in weitergehender Gleichung - es nicht aufziehen, ihm nicht gerecht werden zu können, als Mutter zu versagen(Schulte/Böhme-Bloem 1991, Seite 68f). Beisst sich der Säugling in einer zweiten Stillphase, in der keine Milch mehr fließt, gar fest, ist die Mutter gezwungen, ihn zu verlassen, um sich selbst zu schützen. Für den Säugling bedeutet diese erste Erfahrung: Immer wenn sich das Mädchen in der phantasierten Fremdwahrnehmung des anderen zu viel genommen hat oder zukünftig nehmen wird, mußes den Beziehungsabbruch befürchten, (...).(Schulte/Böhme-Bloem 1991, Seite 71)
Diesen Erfahrungen in der oralen Phase folgt die Zeit der Übergangsobjekte. An dieser Stelle verweisen die Autoren auf Hirsch.
Auch dieser geht in seinem objektbeziehungstheoretischen Ansatz besonders auf die Interaktion zwischen Mutter und Kind ein. Die Mutter muss demzufolge die Bedürfnisse und Körperzustände des Kindes zunächst erkennen und darauf adäquat reagieren, d.h. sie muss das Kind berühren, im Arm halten, es wiegen und so eventuell beim Kind vorhandene Spannungszustände bewältigen helfen. In der Loslösungsphase bzw.genauer imÜbergang von der Differenzierungs- zurÜbungsphase(Hirsch 1998, Seite 222)
muss nun die tatsächliche Anwesenheit der Pflegeperson nach und nach gelockert und die entstehende Lücke durch die Phantasietätigkeit des Kindes gefüllt werden. Dies geschieht mit Hilfe von Symbolen (z.B. Daumenlutschen), Übergangsobjekten (z.B. Teddybär) bis hin zu reifen sprachlich-gedanklichen Symbolen. Hirsch geht außerdem davon aus, dass sogenannte „Körpersensationen“ - er setzt diesen Begriff für Reize visueller, akustischer, kinästhetischer sowie viszeraler Art ein - dem Kind helfen, sich selbst bzw. den eigenen Körper wahrzunehmen und damit eine (kurzzeitige) Abwesenheit der Mutter zu überbrücken. Eventuell vorhandene Spannungszustände werden dann auch vom Kind selbst nicht mehr körperlich, sondern nunmehr psychisch empfunden.
Findet eine derartige Entwicklung nicht statt, weil z.B. die Autonomiebestrebungen des Kindes von der Mutter unterbunden werden, kommt es zu einerDissoziation von Selbst undKörperselbst, die in Belastungssituationen immer wieder auftaucht bzw. auf die regressiv zuAbwehrzwecken zurückgegriffen werden kann(Hirsch 1998, Seite 96).
Schulte/Böhme-Bloem verstehen nun - ebenso wie Hirsch - im Fall der Bulimia nervosa die Nahrung als Ersatz bzw. Übergangsobjekt für das Mutterobjekt:
Das Essen bietet für die bulimische Frau in einzigartiger Weise die Möglichkeit, die aus ihrerLebensgeschichte resultierenden intrapsychischen Konflikte(scheinbar!) zu bewältigen. RestriktivesHungern würde ihr schwachesÜber-Ich nicht zu kontrollieren vermögen (...). Das reine hyperorektischeHineinstopfen des Essens hingegen könnte insofern kein entsprechendes Symptom sein, da es die ungeheure und schon sehr früh angelegte Spaltung in der Beziehung- symbolisiert im Akt derNahrungsaufnahme - nicht aufnimmt oder löst. Der dialektische Prozeß zwischen Aufnehmen,Verschlingen und Zerstören auf der einen Seite und Schlechtsein, Vergiftetsein und Ausspucken auf der anderen ist es, der den Grundkonflikt der bulimischen Frau widerspiegelt.(Schulte/Böhme-Bloem 1991, Seite 104; Auslassung und Anmerkung K.M.)
Der Ansatz von Laessle (1994)
Laessle geht - wie übrigens u.a. auch Uexküll (1996), Thies (1998) oder Waadt (1992) - von einer plurikausalen Pathogenese aus. Er nennt zunächst einige prädisponierende Faktoren. So versuchen z.B. die meisten Frauen, einem soziokulturell vorgegebenen Schlankheitsideal zu entsprechen, darüber ihren Selbstwert zu definieren und Anerkennung von anderen zu erfahren. Hinzu kommen Lernerfahrungen bzw. individuelle Faktoren, die dazu führen, dass Probleme bzw. negative Gefühle schon in frühen Phasen der Entwicklung mit Hilfe der Aufnahme von Nahrung (z.B. einer Tafel Schokolade) bewältigt werden. Andere Problemlösestrategien stehen den betroffenen Mädchen deshalb auch später nicht zur Verfügung und Hunger- und Sättigungsgefühle werden nur noch sehr eingeschränkt wahrgenommen. Weitere individuumsspezifische Risikofaktoren, die eine Person besonders anfällig für die Entwicklung einer Eßstörung machen sollen, sind (Garfinkel & Garner, 1986): (1) Besondere Schwierigkeiten bei der Entwicklung von Autonomie und Identität; (2) Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung und Beurteilung des eigenen Körpers sowie bei der Differenzierung innerer Zustände und Gefühle(...); (3) Eine zwanghafte, perfektionistische Persönlichkeitsstruktur, die charakterisiert ist durch eine ausgeprägte Abhängigkeit von externen Standards; (4) Kognitive Charakteristika (...), die darauf schließen lassen, daßdie kognitive Entwicklung in bestimmten Bereichen auf der Ebene des präkonzeptuellen Denkens verhaftet ist.(Laessle 1994, Seite 370; Auslassungen K.M.) Auch spezifische Interaktionsmuster in der Familie, die geprägt sind von Verstrickung, Rigidität, Überbehütung, Konfliktvermeidung und dem Mangel an Konfliktbewältigung sowie einige biologische Faktoren - z.B. ein genetisch bedingter relativ niedriger Energieverbrauch, der zu einer Gewichtszunahme trotz normaler Nahrungsaufnahme führt - können als weitere prädisponierende Faktoren einer Essstörung bezeichnet werden.
Laessle geht zudem davon aus, dass auslösende Ereignisse in ein Ätiologiemodell der Bulimia nervosa integriert werden müssen. Hierzu zählt er nicht nur sogenannte kritische Lebensereignisse, die die betroffenen Mädchen Anforderungen aussetzen, denen sie zu diesem Zeitpunkt nicht gewachsen sind, sondern auch eine strikte Reduktionsdiät sowie übermäßige körperliche Aktivität, die dazu führen, dass eine verringerte Kalorienzufuhr bzw. eine Mangelernährung chronifiziert wird.
Schließlich weist Laessle darauf hin, dass auch diejenigen Faktoren, die zu einer Aufrechterhaltung des symptomatischen Verhaltens, d.h. des Essanfalles und des anschließenden selbstinduzierten Erbrechens, beitragen, in den Ansatz einzubeziehen sind. Hierzu zählt er neben den psychologischen und biologischen Konsequenzen der Mangelernährung, die bereits an anderer Stelle beschrieben wurden, das gezügelte Essverhalten, das zu einer physiologischen und psychologischen Deprivation führt. Diese hat eine gestörte Regulation von Hunger und Sättigung zur Folge, durch die - unter dem Einfluss disinhibitorischer Bedingungen (soziale Stressoren) und der kognitiven Beeinträchtigung der affektiven Labilität - die Essanfälle begünstigt werden. Im Anschluss an den Essanfall befürchten die betroffenen Frauen eine Gewichtszunahme, der sie mit Hilfe von Laxantien, exzessiver Bewegung oder selbstinduziertem Erbrechen entgegentreten. (vgl. auch Waadt 1992)
Ein weiterer Faktor, der zur Aufrechterhaltung der Symptomatik beiträgt, ist die durch das Erbrechen herbeigeführte Angstreduktion.Eßattacken vermindern kurzfristig Spannungs-und Frustrationsgefühle und werdenüber negative Verstärkung langfristig aufrechterhalten. (...) Es kann davon ausgegangen werden, daßmit zunehmender Krankheitsdauer Eßanfälle als„Copingstrategie“ immer fester etabliert werden und es parallel dazu zu einem weiteren Verlernen angemessener Streßbewältigungs- und Problemlösungsstrategien kommt.(Waadt 1992, Seite 24; Auslassung K.M.)
Die in diesem Teil der Arbeit referierten Ätiologiemodelle sowie die zuvor genannten Aspekte der Bulimia nervosa konnten zeigen, dass vor allem die Interaktions- bzw. Beziehungsformen innerhalb der Familie Auswirkungen auf die Entwicklung des Körperbildes und der Autonomie der betroffenen Person zu haben scheinen. Davon ausgehend, dass der Körper zudemder Orientierungspunkt für die Umweltwahrnehmung, der Mittelpunkt subjektiven Erlebens, das Bezugsfeld des Befindens, das Ausdrucksorgan und die Artikulationsstelle zwischen Selbst und Umwelt(Dörr 1999, Seite 1) sowieAusdrucksfeld der (unbewußt) subjekthaften Reaktion auf soziale Sinnbezüge(Dörr 1999, Seite 9) ist, wird deutlich, dass den Symptomen der Bulimia nervosa eine symbolische Bedeutung zukommt. Einige AutorInnen erforschen in ihren Untersuchungen deshalb, ob ein direkter Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch in der Kindheit und Essstörungen besteht. Einige dieser Untersuchungen werden im nun folgenden letzten Abschnitt der Arbeit abschließend referiert werden.
Sexueller Missbrauch als Risikofaktor für Bulimia nervosa?
Nahezu alle im Rahmen dieses Kapitels zitierten AutorInnen gehen davon aus, dass sexueller Missbrauch eine spezifische Belastungssituation darstellt, die - tritt sie bei disponierten Personen auf - zum Beginn einer Essstörung beitragen kann. Sie weisen jedoch des weiteren darauf hin, dass auch andere traumatische Ereignisse und negative Beziehungserfahrungen die Entwicklung einer Vulnerabilität begünstigen, da sie die Entwicklung des Selbstwertgefühls sowie der sozialen Kompetenz beeinträchtigen. (vgl. u.a. Schmidt/Humfress 1996 sowie Kinzl 1997) Sie gehen zudem davon aus,dass sexuelle Grenzverletzungen nicht als isolierbare pathogene Ereignisse, sondern ihrerseits als Symptom einer gestörten Familiendynamik aufzufassen sind(Willenberg 2000, Seite 55; vgl. auch u.a. Kinzl 1997).
Im folgenden werden nun die Ergebnisse einiger Untersuchungen, die sich mit dem Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und Essstörungen befassen, im Detail referiert, um die zuvor gemachten Aussagen zu untermauern.
Sexueller Missbrauch und Bulimia nervosa (Welch/Fairburn)
Die Autoren versuchen in ihrer Studie von 1994, herauszufinden, ob das Risiko, eine Essstörung zu entwickeln, ansteigt, wenn eine Person als Kind sexuell missbraucht wurde, ob ein solcher Anstieg auf die Entwicklung einer Essstörung beschränkt ist oder eventuell auch andere psychiatrische Störungen betrifft und ob sich Personen aus einer klinischen Gruppe von solchen aus der Normalbevölkerung bezüglich ihrer Missbrauchsgeschichte unterscheiden. Hierzu vergleichen sie eine Gruppe von 50 Bulimikerinnen mit einer Kontrollgruppe, die entweder aus 100 nicht essgestörten Personen oder aber aus 50 Psychiatriepatientinnen bzw. aus 50 Bulimiepatientinnen, die in einer Klinik stationär untergebracht sind, besteht.
Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass sowohl Bulimikerinnen (26%) als auch Psychiatriepatientinnen (24%) häufig angeben, in ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch mit Körperkontakt erlebt zu haben, während die Werte bei nicht essgestörten Personen (10%) sowie bei Bulimiepatientinnen (16%) deutlich niedriger liegen. Die Angaben der Bulimikerinnen (16%) zu Fragen nach wiederholtem sexuellem Missbrauch entsprechen denen der Bulimiepatientinnen (16%). Demgegenüber liegen die Werte der Psychiatriepatientinnen mit 24% deutlich höher, während die der nicht essgestörten Personen mit 4% deutlich darunter liegen.
Ein ähnliches Bild ergibt sich bezüglich der Angaben zu sexuellem Missbrauch vor dem 12.Lebensjahr. Die Angaben der Bulimikerinnen (14%) entsprechen ungefähr denen der Bulimiepatientinnen (12%). Die Werte der Psychiatriepatientinnen liegen hier mit 16% jedoch nur knapp darüber, während die der nicht essgestörten Personen mit 6% deutlich darunter liegen.
Die beiden Autoren kommen zu dem Schluss, dass zwischen sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und der Entwicklung einer Essstörung kein kausaler Zusammenhang besteht - wenn auch in einigen (Einzel-)Fällen der sexuelle Missbrauch der Auslöser gewesen sein mag. Jedoch gehen sie nach einer Diskussion ihrer Ergebnisse davon aus, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit generell für die Entwicklung einer psychiatrischen Erkrankung verantwortlich gemacht werden kann.
Sexueller Missbrauch bei Essgestörten (Waller)
Der Autor führte 1992 eine Untersuchung durch, in der er den Zusammenhang zwischen dem Schweregrad der bulimischen Symptomatik und der Art des sexuellen Missbrauchs eruierte. Dabei teilte er 40 Patientinnen mit Bulimia nervosa unterschiedlichen Schweregraden zu, je nachdem ob sie vor oder nach dem 14.Lebensjahr, durch verwandte oder unbekannte Personen und mit oder ohne Gewaltanwendung sexuell missbraucht wurden. Diese Patientinnen bat er, ein sogenanntes Esstagebuch zu führen, in welchem die Essanfaälle und das Erbrechen registriert werden.
Eine Auswertung dieser Aufzeichnungen ergab, dass Frauen mit schweren Missbrauchserfahrungen deutlich häufiger Essanfälle angaben als jene, die nicht sexuell missbraucht worden waren, wobei die Angaben derjenigen Patientinnen, die innerfamiliärem sexuellem Missbrauch ausgesetzt gewesen waren, mit durchschnittlich 15x pro Woche am höchsten ausfielen. Ähnlich verhielt es sich mit den Angaben zum selbstinduzierten Erbrechen, wobei hier kein gravierender Unterschied zu den anderen Patientinnengruppen bestand.
Waller selbst geht davon aus, dass die von ihm eingeführten Kriterien, die eine Unterteilung in Schweregrade möglich machen sollten, offenbar nicht ausreichen, um das Missbrauchsgeschehen angemessen zu erfassen. Er deutet unter anderem an, dass z.B. wiederholte Missbrauchserfahrungen (durch einen oder verschiedene Täter) bzw. die Dauer des Missbrauchs ebenfalls eine Essstörung auslösen könnten.
Differentielle Folgen von sexuellem Missbrauch (Richter-Appelt)
In einer von der Autorin 1995 durchgeführten Untersuchung geht es darum, zu zeigen, inwiefern Adoleszente, die in der Kindheit körperliche und/oder sexuelle Misshandlung erfahren haben, sich untereinander, vor allem aber von hinsichtlich Missbrauch und Misshandlung unauffälligen Kontrollpersonen unterscheiden. Hierzu nehmen 616 Frauen (Durchschnittsalter 24.6 Jahre) sowie 452 Männer (Durchschnittsalter 24.4 Jahre), die alle an Hamburger Universitäten studieren, an einer Fragebogenuntersuchung teil, wobei unter anderem Fragen zu Problemen und Krankheiten in der Kindheit bzw. im Jugend- und Erwachsenenalter sowie Fragen nach der Partnerschaftsbeziehung der Eltern bzw. allgemein zu den innerfamiliären Beziehungen in der Herkunftsfamilie im Vordergrund stehen.
Vor allem in der Gruppe der Frauen zeigt sich, dass häufig sexueller Missbrauch und körperliche Misshandlung gemeinsam auftreten. Die meisten dieser Frauen geben an, seelisch vernachlässigt worden zu sein. Ähnliche Angaben finden sich auch in der Gruppe der Männer.
Des weiteren geben vor allem in der Kindheit sexuell missbrauchte und gleichzeitig körperliche misshandelte Frauen an, vor dem 12.Lebensjahr vor allem unter Angstträumen und Essproblemen gelitten zu haben und aggressiv gegen Gegenstände und andere Personen gewesen zu sein sowie gestohlen zu haben. Auch 25% der „nur“ sexuell missbrauchten Frauen geben an, unter Angstträumen gelitten zu haben. Vor dem 12.Lebensjahr sexuell missbrauchte Frauen machen häufig Angaben zu sexueller Unzufriedenheit (171), körperlichen Beschwerden (169), Suizidgedanken (157) und sexuellen Problemen (137) nach dem 12.Lebensjahr. Viele beginnen in dieser Zeit offenbar mit dem Suchtmittelkonsum oder bilden eine Essstörung - anorektisches (40) oder bulimisches (28) Verhalten bzw. eine Adipositas (37) - aus.
Die Ergebnisse weisen vor allem auf einen Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch in der Kindheit und Suchtmittelmissbrauch hin.Drogen und Alkohol lassen Scham, Einsamkeit oder Schmerzen vergessen, rauben aber auch die Fähigkeit, Gefühle bewußt zuerleben.(Richter-Appelt 1997, Seite 210) Sie lösen damit die Anspannung, mindern die Ängste und helfen den betroffenen Kindern dabei, die Schuldgefühle abzubauen. Einen Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und der Entwicklung einer Essstörung kann diese Untersuchung jedoch nicht nachweisen. Allerdings weist die Autorin auf andere Studien hin, die von einem solchen Zusammenhang nicht nur ausgehen, sondern hierfür zudem Erklärungsansätze liefern: Essen zur Verringerung der körperlichen Attraktivität oder zur Spannungsreduktion.
Sexuelle Kindesmisshandlung und die Entwicklung von Essstörungen (Teegen/Cerney-Seeler)
Im Rahmen der Vorbereitungen zu ihrer Untersuchung formulieren die Autorinnen folgende Fragen:Wie häufig berichten Frauen, die sichüber sexuelle Mißhandlung in der Kindheit bewußt sind,über Eßstörungen? Unterscheiden sich Frauen, die im Kontext und in der Folge dieser Mißhandlung Eßstörungen entwickeln, hinsichtlich 1. der Schwere der sexuellen Traumatisierung, 2. zusätzlicher Belastungen in der Ursprungsfamilie,3. ihrer Bewältigungsstrategien im Kindes- und Jugendalter, 4. aktueller komorbider Störungen?(Teegen/Cerney-Seeler 1998, Seite 15) Sie entwickeln einen Fragebogen zum Thema „Sexuelle Misshandlung im Kindesalter und Folgeschäden“, den sie unter anderem in einer Frauenzeitschrift abdrucken lassen. Insgesamt 541 Frauen werden nach der Beantwortung dieses Fragebogens drei unterschiedlichen Gruppen zugeteilt - essgestörte (149) bzw. ehemals essgestörte (105) Frauen sowie Frauen, die keinerlei Angaben zu Essstörungen machen (287).
Die Autorinnen ermitteln, dass die betroffenen Frauen etwa im Alter von 7 Jahren zum ertsen Mal sexuellen Missbrauch erlebten. Dieser dauerte durchschnittlich 6.6 Jahre an und fand in nahezu der Hälfte aller Fälle familienintern statt. In 59% der Fälle wurden die Kinder von mehreren TäterInnen sexuell missbraucht, wobei die meisten der betroffenen Frauen über oralen, analen bzw. vaginalen Geschlechtsverkehr (67%), Zwang zum Berühren der Geschlechtsteile des Täters (61%) und unangenehme Blicke und Bemerkungen (60%) berichteten.
57% der betroffenen Frauen gaben an, dass in ihrer Ursprungsfamilie elterliche Konflikte häufig vorkamen, wobei diese in den meisten Familien offenbar negiert (65%) bzw. gewalttätig (40%) oder aber mittels einer Parentifizierung der Kinder (58%) reguliert wurden. Einige der betroffenen Frauen geben außerdem an, dass der Vater bereits als Kind selbst körperlichen Misshandlungen ausgesetzt (38%) bzw. die Mutter selbst körperlich (37%) oder sexuell (31%) missbraucht worden war.
Bei den meisten (81%) der befragten Frauen kam es offenbar im Zuge der Bewältigung des sexuellen Missbrauchs zu einer Dissoziation von Gefühlen und Körperempfindungen. 67% gaben an, keine Hilfe gesucht zu haben. Weitere 27% berichteten über Suizidversuche. Jeweils 23% entschieden sich für die Flucht vor den Eltern bzw. für den Missbrauch von Drogen, Medikamenten oder Alkohol. Lediglich in 4% der Fälle wird von einem Psychiatrieaufenthalt gesprochen.
Die Autorinnen kommen zu dem Ergebnis, dass vor allem diejenigen Frauen, die von ihnen der Gruppe der essgestörten Frauen zugeordnet werden, häufiger Angaben machen, die auf eine schwerwiegende Traumatisierung, auf eine dysfunktionale bzw. missbrauchende Familie sowie auf eine Re-Viktimisierung hinweisen. Zudem berichteten diese Frauen häufiger über aktuelle - zum Teil schwerwiegende - komorbide Symptome. Ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und der Entwicklung einer Essstörung kann jedoch auch in dieser Untersuchung nicht nachgewiesen werden.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich in den referierten Studien keine signifikant höheren Werte zur Prävalenz sexueller Missbrauchserfahrungen in der Kindheit von Bulimiepatientinnen als innerhalb der Kontrollgruppen finden. Auch Pope/Hudson (1992) stellen dies in ihrem Überblicksartikel fest, in dem sie vor allem amerikanische Studien referieren. Sie kommen zu dem Schluss, dass Ergebnisse, die einen solchen Zusammenhang dennoch vermuten lassen, häufig auf methodische Fehler der jeweiligen Untersuchung (z.B. eine misslungene bzw. fehlende Randomisierung der Stichprobe) zurückzuführen sind. Zudem greifen sie einige Studien auf, die sich mit sexuellem Missbrauch in der Gesamtbevölkerung befassen. Die hier ermittelten Werte entsprechen denen aus den Studien mit Bulimiepatientinnen, was darauf schließen lässt, dass zwischen sexuellem Missbrauch in der Kindheit und der Entwicklung einer Essstörung kein kausaler Zusammenhang herzustellen ist.
Literaturverzeichnis
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- Kathrin Mohl (Autor), 2002, Essstörungen - Sexueller Missbrauch als Risikofaktor für die Entwicklung der Bulimia nervosa?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106660
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