In der Arbeit wurde sich den Einstellungen gewidmet, die Muslime in Deutschland zum Judentum haben. Die wesentliche Forschungsfrage ist dabei, welche Einstellungen zum Judentum unter "deutschen Muslimen" vorherrschen und welchen Argumentationsmustern und Erklärungsansätzen etwaiger Antisemitismus zugrunde liegt.
Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. Im ersten Schritt erfolgt die inhaltliche Einführung in die Thematik, wozu der Begriff Antisemitismus zunächst definiert und anschließend der Forschungsstand zum Thema vorgestellt wird. Der zweite Teil umfasst die theoretische Einbettung. Da Antisemitismus ein vielschichtiges Phänomen ist, werden die Erscheinungsformen und deren jeweilige Verbreitungsgeschichten in diesem Teil der Arbeit ausführlich behandelt. Nachfolgend werden theoretische Erklärungsansätze zur Entstehung des Antisemitismus unter Muslimen vorgestellt. Das Herzstück der Arbeit ist der dritte Abschnitt: In einer qualitativen Studie wurden junge Muslime im Rahmen von leitfadengestützten Interviews hinsichtlich ihrer Einstellungen zum Judentum befragt.
Die befragten Muslime wurden systematisch ausgewählt und sind unter 30 Jahren alt. Sie haben allesamt keine eigene Migrationserfahrung und ein verhältnismäßig hohes Bildungsniveau. Beschäftigt wurde sich demnach mit jungen Deutschen, die dennoch eine Subgruppe darstellen. Welche Einstellungen haben folglich Menschen zum Judentum, die an einer Schnittstelle zwischen zwei Lebenswelten stehen? Junge Menschen, die einerseits in einer Gesellschaft sozialisiert wurden, die aufgrund der historischen Vergangenheit Deutschlands den Anspruch darauf hat, einen sensiblen und pflichtbewussten Umgang mit dem Judentum und dessen Anhängern zu lehren? Gleichzeitig aber auch einem Umfeld zugehörig sind, das aufgrund politischer Konflikte im Nahen Osten die Tendenz hat, antisemitische Einstellungen zu haben? Genügen etablierte Antisemitismusformen und Erklärungsansätze um das Phänomen zu erklären? Können Aussagen darüber getroffen werden, welche Verhaltens- und Denkweisen über das Judentum aus welcher Lebenswelt adaptiert werden?
Letztlich wird in der Studie weitaus mehr thematisiert als die Frage, ob die Befragten antisemitische Einstellungen haben und welchen Erklärungsansätzen diese zugrunde liegen. Die Analyse gibt letztlich Hinweise darauf, warum Argumentationsmuster aus der einen Lebenswelt angenommen und aus der anderen abgelehnt werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Forschungsstand
3. Theoretische Erscheinungsformen des Antisemitismus
3.1 Religiöser Antisemitismus
3.2 Rassistischer Antisemitismus
3.3 Sekundärer Antisemitismus
3.4 Antizionistischer Antisemitismus
3.5 Wann ist Kritik antisemitisch?
3.6 Zwischenfazit
4. Warum sind Muslime antisemitisch?
5. Methodik
5.1 Forschungsansatz
5.2 Interviewleitfaden
5.3 Stichprobe
5.4 Durchführung der Erhebung
5.5 Auswertungsverfahren
5.6 Methodische Reflektion
6. Ergebnisse
6.1 Beschreibung der Stichprobe
6.2 Wissensbestände
6.3 Antisemitische Einstellungen
6.3.1 Sekundärer Antisemitismus
6.3.2 Rassistischer Antisemitismus
6.3.3 Antizionistischer Antisemitismus
6.3.4 Positive Beispiele
6.4 Erklärungsansätze
6.4.1 Eigene Diskriminierungserfahrungen
6.4.2 Identifikation und Solidarisierung mit muslimischer Gemeinschaft
6.4.3 Sozialisationserfahrungen
6.4.4 Der rote Faden
6.5.5 Ausnahmen, die die Regel bestätigen
7. Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
A1. Arbeitsdefinition „Antisemitismus“
A2. Interviewleitfaden
A3. Kurzfragebogen
A4. Transkriptionsregeln
A5. Interviewtranskripte
A5.1 Transkript B1
A5.2 Transkript B2
A5.3 Transkript B3
A5.4 Transkript B4
A5.5 Transkript B5
A5.6 Transkript B6
A5.7 Transkript B7
1. Einleitung
Eigentlich ist dieses Szenario derart unangenehm und beschämend, dass man sich kaum traut, darüber zu berichten. In Berlin flieht eine Jüdin, an deren Schlüsselanhänger ein Davidstern hängt, aus einem Kiosk. „Verpiss dich, du Judenschlampe!” schreit der Verkäufer, der die Dame sogleich mit Müll und Kronkorken bewirft. Als der aggressive Mann hinter der Theke hervortritt und sich der Frau nähern will, flüchtet diese. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine Erzählung von einem Zeitzeugen des Dritten Reiches. Diese Situation entstammt auch keinem Geschichtsbuch. Dieser antisemitische Vorfall fand im September 2018 in einem Spätkauf in Berlin-Neukölln statt (RIAS/VDK 2019: 25).
Die Recherche- und Informationsstelle „Antisemitismus Berlin“ meldet, dass antisemitische Vorfälle in der Hauptstadt von 2017 auf 2018 um 14 Prozent angestiegen sind (ebd.: 4). Der bundesweite Vergleich zeigt eine ähnliche Tendenz (Jansen 2019). Antisemitische Straftaten in Deutschland stehen zudem oftmals im zeitlichen Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten. Die Täter sind häufig junge Männer, deren Migrationshintergrund in einer muslimisch geprägten Region liegt. Zwar sind Muslime nicht die einzigen Täter1, dennoch sind sie im Vergleich zu anderen Tätergruppen überrepräsentiert. Der Blick auf andere europäische Länder untermauert diesen Befund (Kiefer 2006: 277). Auch warnen Schulen und Jugendeinrichtungen vor den antisemitischen Einstellungen muslimischer Jugendlicher (Holz/Kiefer 2010: 137).
Der Zugang, den Muslime in Deutschland zum Judentum haben, ist aus diesem Grund ein aktuelles Thema mit einer erheblichen gesellschaftlichen Relevanz. Daher wurde sich in der vorliegenden Arbeit den Einstellungen gewidmet, die Muslime in Deutschland zum Judentum haben. Die wesentliche Forschungsfrage ist dabei, welche Einstellungen zum Judentum unter „deutschen Muslimen” vorherrschen und welchen Argumentationsmustern und Erklärungsansätzen etwaiger Antisemitismus zugrunde liegt .
Die Arbeit gliedert sich dabei in drei Hauptteile. Im ersten Schritt erfolgt die inhaltliche Einführung in die Thematik, wozu der Begriff Antisemitismus zunächst definiert und anschließend der Forschungsstand zum Thema vorgestellt wird. Der zweite Teil umfasst die theoretische Einbettung. Da Antisemitismus ein vielschichtiges Phänomen ist, werden die Erscheinungsformen und deren jeweilige Verbreitungsgeschichten in diesem Teil der Arbeit ausführlich behandelt. Nachfolgend werden theoretische Erklärungsansätze zur Entstehung des Antisemitismus unter Muslimen vorgestellt. Das Herzstück der Arbeit ist der dritte Abschnitt: In einer qualitativen Studie wurden junge Muslime im Rahmen von leitfadengestützten Interviews hinsichtlich ihrer Einstellungen zum Judentum befragt, wobei die Analyse der Gespräche im empirischen Teil präsentiert wird.
Basierend auf dem theoretischen Abschnitt der Arbeit gibt es für die Forschungsfrage folglich bereits wissenschaftliche Evidenz. Daher stellt sich die Frage, welchen sinnstiftenden Beitrag diese Studie zu der Debatte beitragen kann. Im Rahmen dieser Arbeit wurde sich mit einer äußerst spezifischen Stichprobe beschäftigt. Die befragten Muslime wurden systematisch ausgewählt und sind unter 30 Jahren alt. Sie haben allesamt keine eigene Migrationserfahrung und ein verhältnismäßig hohes Bildungsniveau. Beschäftigt wurde sich demnach mit jungen Deutschen, die dennoch eine Subgruppe darstellen.
Welche Einstellungen haben folglich Menschen zum Judentum, die an einer Schnittstelle zwischen zwei Lebenswelten stehen, welche einen gänzlich anderen Umgang mit dem Judentum pflegen? Junge Menschen, die einerseits in einer Gesellschaft sozialisiert wurden, die aufgrund der historischen Vergangenheit Deutschlands den Anspruch darauf hat, einen sensiblen und pflichtbewussten Umgang mit dem Judentum und dessen Anhängern zu lehren (Zeit Online 2019)? Gleichzeitig aber auch einem Umfeld zugehörig sind, das aufgrund politischer Konflikte im Nahen Osten die Tendenz hat, antisemitische Einstellungen zu haben (Holz/Kiefer 2010: 137)?
Daher stellen sich als weitere Forschungsfragen: Genügen etablierte Antisemitismusformen und Erklärungsansätze um das Phänomen zu erläutern, oder müssen für diese spezielle Stichprobe neue generiert werden? Können zudem Aussagen darüber getroffen werden, welche Verhaltens- und Denkweisen über das Judentum aus welcher Lebenswelt adaptiert werden? Letztlich wird in der Studie weitaus mehr thematisiert als die Frage, ob die Befragten antisemitische Einstellungen haben und welchen Erklärungsansätzen diese zugrunde liegen. Die Analyse gibt letztlich Hinweise darauf, warum Argumentationsmuster aus der einen Lebenswelt angenommen und aus der anderen abgelehnt werden.
Im Anschluss an den empirischen Teil wurden die Forschungsfragen in einer umfassenden Schlussbetrachtung beantwortet, wobei sowohl der theoretische Hintergrund als auch die eigens generierten Ergebnisse zusammengefasst und in Beziehung zueinander gestellt wurden.
Zuletzt soll erwähnt werden, dass der Hintergrund der Auseinandersetzung mit der Thematik gewiss nicht jener ist, muslimischen Antisemitismus hervorzuheben. Bereits vor Beginn dieser Arbeit war mir bewusst, dass es Muslime mit antisemitischen Einstellungen gibt, aber dass ebenso Muslime existieren, die dem Judentum mit großem Respekt und Wertschätzung begegnen. Genau aus diesem Grund wurde sich in dieser Arbeit mit den Einstellungen zum Judentum beschäftigt - womit ich mich von einer Weltanschauung distanzieren möchte, die impliziert, dass Antisemitismus unter Muslimen der Normalzustand sei.
2. Forschungsstand
Bevor im folgenden Kapitel der Forschungsstand zum Thema der Arbeit präsentiert wird, bedarf es zunächst einer Definition des Antisemitismus-Begriffes. Unter Antisemitismus werden sämtliche Erscheinungsformen der Judenfeindlichkeit verstanden. In dieser Arbeit soll sich dabei auf die Definition von Helen Fein (1987) berufen werden, die Antisemitismus definiert als:
„eine anhaltende latente Struktur feindseliger Überzeugungen gegenüber Juden als Kollektiv, die sich bei Individuen als Haltung, in der Kultur als Mythos, Ideologie, Folklore sowie Einbildung und in Handlungen manifestieren [...], die dazu führen und/oder darauf abzielen, Juden als Juden zu entfernen, zu verdrängen oder zu zerstören” (Fein 1987, zitiert nach Kiefer 2006: 282).
Antisemitismus beschreibt demnach nicht nur eine Abneigung gegen Personen jüdischen Glaubens, sondern gegen das Judentum und „das Jüdische” im Allgemeinen2.
Abgrenzung
Antisemitismus weist sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten mit anderen Formen von Fremdenfeindlichkeit auf, wie etwa der Hetero- oder Islamophobie. Alle genannten Konzepte können als Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gelten, denn sie haben die Aversion einer spezifischen Menschengruppe gemeinsam (BMI 2017: 28). Von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wird gesprochen, sobald „Personen aufgrund ihrer gewählten oder zugewiesenen Gruppenzugehörigkeit als ungleichwertig markiert und feindseligen Mentalitäten der Abwertung und Ausgrenzung ausgesetzt [werden]” (Heitmeyer 2005: 14).
Dennoch unterscheidet sich Antisemitismus in wesentlichen Punkten von anderen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und weist besondere Merkmale auf. Antisemitismus kann sowohl im Kontext mit Diskriminierung auftreten als auch Teil einer spezifischen Weltanschauung sein. Zu Zeiten des Nationalsozialismus durchdrang Antisemitismus alle Gesellschaftsschichten und alle Bereiche des alltäglichen Lebens. Demnach ist auch die Folgewirkung des Antisemitismus im Vergleich mit anderen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit eine besondere: Eine „historische Singularität” (BMI 2017: 28) stellt neben dem systematischen Mord an Juden durch ein politisches Regime auch die hohe Anzahl der Opfer des Holocaust dar (ebd.).
Empirische Befunde
Der Islam ist die größte religiöse Minderheit in Europa, wobei circa 70 Prozent aller europäischen Muslime in Deutschland, Frankreich und Großbritannien leben (Jikeli 2015: 8). Deren Migrationshintergrund liegt mehrheitlich im Nahen Osten, Nordafrika, Südosteuropa und Südostasien (Stichs 2016: 5). Wie eingangs geschildert, sind die Täter antisemitischer Straftaten in Deutschland besonders häufig junge Männer, deren Wurzeln in einem muslimisch geprägten Land liegen (Kiefer 2006: 277). Fraglich ist, ob dies den Schluss zulässt, dass junge Muslime in Europa antisemitischer gesinnt sind als nichtmuslimische Vergleichsgruppen.
Im folgenden Abschnitt werden empirische Arbeiten vorgestellt, in denen die Einstellungen jener Muslime zum Judentum erforscht wurden, die in Europa leben. Dabei finden sowohl quantitative als auch qualitative Arbeiten Berücksichtigung, um dem Leser einen möglichst umfassenden Einblick in aktuelle empirische Befunde zu geben.
Koopmans (2015) beschäftigte sich mit religiösem Fundamentalismus unter Muslimen und Christen in mehreren europäischen Ländern. Weiterhin widmete er sich den Beziehungen und etwaigen Feindschaften der Stichprobe mit relevanten Fremdgruppen, darunter auch Juden (Koopmans 2015: 33). Um besagte Feindschaft zu messen, wurde das Item „Jews can not be trusted” genutzt. Während neun Prozent der befragten Christen dem Item zustimmen und damit antisemitische Einstellungen aufzeigen, zeigen Muslime einen höheren Grad an Antisemitismus. Hier stimmen rund 45 Prozent dem Statement zu (ebd.: 47). Die Ergebnisse einer quantitativen Studie von Brettfeld und Wetzels (2007) korrespondieren mit jenen von Koopmans (2015). Auch hier zeigen Muslime stärkere antisemitische Neigungen als Nichtmuslime (Brettfeld/Wetzels 2007: 275).
Koopmans (2015) konnte gleichzeitig zeigen, dass es innerhalb der Gruppe der Muslime signifikante Unterschiede gibt, was deren antisemitische Einstellungen betrifft. Zum einen zeigen Muslime, die in zweiter Generation in Europa leben, weniger antisemitische Tendenzen als Muslime der ersten Generation (Koopmans 2015: 48). Hinzukommend haben alevitische Muslime schwächere antisemitische Einstellungen als Sunniten. Innerhalb der sunnitischen Gruppe haben Türken stärkere antisemitische Tendenzen als Marokkaner (ebd.: 48). Der Vergleich der Länder zeigt eine ähnliche Diskrepanz zwischen den Gruppen (ebd.: 53).
Ähnliche Ergebnisse generierten die Autoren einer Studie des Pew Research Centers (2006). Diese ermittelten im Jahr 2006, welche Einstellungen Muslime und Nichtmuslime zueinander haben. Zu diesem Zweck wurden Erhebungen in mehreren Ländern durchgeführt, darunter die Vereinigten Staaten, diverse europäische Länder, sowie muslimisch geprägte Länder im Nahen Osten und Asien (Pew Research Center 2006: 2). Um die Einstellungen zum Judentum zu untersuchen, beinhaltete der Fragebogen eine Frage zur Meinung über Juden, bei der die Teilnehmer ihre Haltung auf einer vierstufigen Likertskala einordnen sollten (ebd.: 42). Die Sicht europäischer Muslime unterscheidet sich der Studie zufolge erheblich von der jener Muslime, die im Nahen Osten und in Asien beheimatet sind. Zwar sind europäische Muslime tendenziell negativer gegenüber Juden gestimmt als Nichtmuslime, dennoch aber deutlich positiver als Muslime in Nahost und Asien (ebd.).
Zu demselben Ergebnis kommt Staetsky (2017), der Antisemitismus in der britischen Gesellschaft mithilfe eines ähnlichen Forschungsdesigns untersuchte. Antisemitische Einstellungen sind unter muslimischen Briten bis zu viermal höher als unter Nichtmuslimen. Doch während in der muslimisch geprägten Welt die Mehrheit der Befragten eine negative Auffassung von Juden hat, zeichnet sich unter Muslimen in Großbritannien ein deutlich positiveres Bild ab (Staetsky 2017: 6).
Qualitative Arbeiten
Mit dem Ziel, antisemitische Einstellungen in Schulen zu erforschen, initiierten Wolfram Stender und Guido Follert (2010) Gruppendiskussionen mit Schülern und Einzelgespräche mit Lehrern. Dabei wurden die Schüler in drei Subgruppen unterteilt. Jene der deutschen, der türkisch-arabischstämmigen, sowie aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden Jugendlichen. Die Gespräche über das Judentum sind in allen drei Gruppen von antisemitischen Stereotypen geprägt. Die sowjetischen Jugendlichen äußern im Vergleich mit den anderen beiden Gruppen die radikalsten antisemitischen Stereotype. Im Gegensatz dazu erweisen die Jugendlichen der beiden Vergleichsgruppen eine höhere Sensibilität für das Thema, was sich durch eine ausweichende und zurückhaltende Reaktion bei Fragen zum Thema Judentum äußert (Stender/Follert 2010: 3).
Sina Arnold und Günther Jikeli führten zwischen 2004 und 2006 diverse leitfadengestützte Interviews mit jungen Berlinern muslimischen Hintergrunds. Die Studie zielte darauf ab, einen Einblick in die Frage zu gewinnen, wie antisemitische Denkmuster unter den Befragten geäußert werden und welchen Ursachen diese zugrunde liegen. Ein weiterer Aspekt der Studie waren teilnehmende Beobachtungen von Treffen in einem Kreuzberger Jugendclub (Arnold/Jikeli 2008: 106). Antisemitische Einstellungen treten in der Stichprobe in verschiedener Intensität und Form auf, auch wenn die Mehrheit deutlichen Antisemitismus zeigt. Ebenso beobachteten Arnold und Jikeli mehrere Erscheinungsformen des Antisemitismus zugleich. Juden werden gehasst, „nur weil sie Juden sind” (ebd.: 107). Häufig werden Juden als Kollektiv wahrgenommen und es mangelt an Differenzierungen zwischen „Juden” und „Israelis” (ebd.). Auch werden die Stereotype geäußert, dass Juden besonders geizig, wohlhabend, einflussreich und an einer langen Nase zu erkennen sind (ebd.: 109). Antisemitische Einstellungen mit Bezug auf die Rolle Israels im Nahostkonflikt ist besonders präsent. Dabei wird nicht nur mehrfach dem Staat Israel das Existenzrecht abgesprochen. Einige Befragte unterstützen Selbstmordattentate in Israel (ebd: 115f.).
In einer quantitativen Studie aus Deutschland, in der Muslime und Nichtmuslime unter anderem zu ihren Einstellungen zum Judentum befragt wurden, konnten ähnliche Beobachtungen gemacht werden. Hier kamen die Autoren zu dem Schluss, dass Muslime andere Formen des Antisemitismus äußern als Nichtmuslime. Muslime neigen eher dazu, die Politik der Nationalsozialisten mit der israelischen Politik zu vergleichen. Im Gegenzug neigen nichtmuslimische Deutsche eher dazu, das Sprechen über den Holocaust als lästig zu empfinden (Mansel/Speiser 2013: 239ff.). Den einzelnen Erscheinungsformen des Antisemitismus wird sich im dritten Kapitel differenziert gewidmet.
Einfluss des Bildungsniveaus
In der Studie von Arnold und Jikeli (2008) äußert ein Jugendlicher mit Abitur seine antisemitische Weltanschauung relativ gedämpft und weniger aggressiv (Arnold/Jikeli 2008: 111). Jikeli, der 2015 in einer weiteren qualitativen Studie junge muslimische Männer zu ihren Einstellungen zum Judentum befragte, beobachtete auch in dieser Arbeit, dass sich die Art, auf die die Befragten ihren Antisemitismus äußern, je nach Bildungshintergrund unterscheidet. Interviewpartner mit Abitur und studierende Muslime äußern ihre antisemitischen Gedanken auf eine sozial verträglichere Art. Etwa, indem kein offener Hass auf Juden kommuniziert, sondern stattdessen auf antisemitische Verschwörungstheorien verwiesen wird (Jikeli 2015: 236). Jikeli selbst schränkt die Repräsentativität seiner Ergebnisse jedoch ein und empfiehlt, das Thema in einem quantitativen Kontext zu beleuchten (ebd.).
Die Ergebnisse einer quantitativen Studie aus Belgien jedoch geben Hinweise darauf, dass antisemitischen Einstellungen in keinem Zusammenhang mit einem niedrigen Bildungsgrad oder sozialer Benachteiligung stehen (Vettenburg et al. 2011, zitiert nach Jikeli 2015: 44).
Es lässt sich festhalten, dass es an empirischen Arbeiten mangelt, in denen sich explizit mit dem Zusammenhang zwischen Antisemitismus und dem Einfluss des Bildungsniveaus auseinandergesetzt wird, so dass in dieser Hinsicht keine eindeutige empirische Evidenz vorliegt.
Zusammenfassung
Antisemitismus ist in Europa heute kein bloßes Phänomen unter Migranten aus muslimisch geprägten Herkunftsländern, sondern auch unter anderen Migrantengruppen allgegenwärtig. Überdies ist Antisemitismus nicht nur ein Phänomen in migrantischen Milieus (Stender/Follert 2010: 3). Insgesamt kritisieren Holz und Kiefer (2010), dass bislang über jene Form des Antisemitismus, der in Europa unter Muslimen beobachtet wird, nur wenig bekannt ist und dass es an wissenschaftlichen Studien zum Thema mangelt. Angesichts dessen, dass aus Schulen und Jugendeinrichtungen vor eben diesem Antisemitismus gewarnt wird, beschreiben die Autoren dies als einen „unhaltbare[n] Zustand” (Holz/Kiefer 2010: 137).
Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass Muslime antisemitische Einstellungen offener kommunizieren als Nichtmuslime. Quantitative Arbeiten deuten an, dass Muslime teilweise besonders starke antisemitische Tendenzen haben. Doch dass daraus der Schluss gezogen werden kann, dass Muslime tatsächlich antisemitischer eingestellt sind, ist fraglich. Denn es gilt zu kritisieren, dass es bislang an quantitativen Studien zum Thema mangelt, in denen die Autoren explizit zwischen verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus differenzieren. Die Ergebnisse qualitativer Studien, wie von Arnold und Jikeli (2008) sowie Mansel und Speiser (2013), deuten an, dass sich Antisemitismus unter Muslimen und Nichtmuslimen unterscheidet. Daher sollten Fragebögen, mithilfe derer die Intensität des Antisemitismus gemessen werden soll, verschiedene Formen des Antisemitismus entsprechend abdecken. Besagte Erscheinungsformen werden im folgenden Kapitel umfassend thematisiert.
3. Theoretische Erscheinungsformen des Antisemitismus
Es gilt zwischen folgenden vier „Idealtypen” der Judenfeindlichkeit zu differenzieren: Dem religiösen, dem rassistischen, dem sekundären sowie dem antizionistischen Antisemitismus. Dabei wird letztere Form auch „neuer Antisemitismus” genannt (Benz 2005: 20; Kiefer 2006: 282). In den folgenden Abschnitten sollen die vier Erscheinungsformen definiert werden. Weiterhin soll erläutert werden, inwiefern diese in Europa beziehungsweise in muslimisch geprägten Gesellschaften auftreten.
3.1 Religiöser Antisemitismus
Der Antijudaismus beziehungsweise religiöse Antisemitismus beschreibt eine religiös motivierte Form der Judenfeindlichkeit. Dabei handelt es sich um eine Herabsetzung und Ablehnung des Judentums und Bestandteile des jüdischen Glaubens.
Verbreitung
Diese Form des Antisemitismus existierte in Europa insbesondere im Mittelalter. Formen des Antijudaismus treten dabei bereits an Stellen im Neuen Testament auf, in denen Juden als „Söhne des Teufels” diffamiert werden (Pfahl-Traughber 2017: 85). Der Entstehung und Verbreitung des christlichen Judaismus war unter anderem die Lehre Martin Luthers zuträglich, in der das Christentum als unantastbar galt und alle Andersgläubigen als gottlos herabgesetzt wurden. Luther rief dabei zwar nicht zur Vernichtung von Juden auf, hatte sehr wohl aber Bestrebungen, Juden zum Christentum zu bekehren (Pfahl-Traughber 2002: 34f.). Im Zusammenhang mit dem Thema dieser Arbeit stellt sich die Frage, ob auch der Islam Antisemitismus schüren kann. Eine Koranstelle, in der Juden in einem negativen Licht dargestellt werden, basiert auf einem Konflikt zwischen jüdischen Stämmen und dem Propheten Mohammed in Medina. Es wird beschrieben, dass Angehörige Mohammeds im Verlauf dieser Auseinandersetzung durch Juden zu Tode gekommen sind. Teilweise wird diese Stelle als Wurzel des religiösen Antisemitismus unter Muslimen genannt (Holz/Kiefer 2010.: 135). Dennoch liefert der Koran, der in Versen und Suren verfasst und daher interpretativ zu lesen ist, ein ebenso „verwirrendes“ Muster an Aussagen, die sich einerseits befürwortend und andererseits ablehnend zum Judentum positionieren. Einige Koranstellen mit Bezug zum Judentum werden von manchen Gelehrten gemäßigter interpretiert als von anderen (ebd.). Letztlich kann festgehalten werden, dass - insofern antisemitische Einstellungen mit dem Islam gerechtfertigt werden - diese nicht den religiösen Botschaften an sich, sondern den Interpretationen einzelner Religiöser geschuldet sind (ebd.).
3.2 Rassistischer Antisemitismus
Im Gegensatz zum religiösen Antisemitismus wird unter der rassistischen Judenfeindlichkeit eine Haltung verstanden, in der Juden als minderwertig charakterisiert und der vermeintlich überlegenen „Rasse”, die der Arier, untergeordnet ist. Die Wurzeln dieser Weltanschauung liegen in der Rassentheorie des 19. Jahrhunderts, deren Kernthese ein Kampf zwischen Rassen um die Vorherrschaft ist. Unter dieser Prämisse entstand eine vermeintliche Feindschaft zwischen Germanen und Juden. Gleichzeitig entwickelte sich damit eine Weltanschauung, an der sich später die nationalsozialistische Rassentheorie orientierte. Juden wurden hier als Wurzel allen Übels gesehen, weshalb es das Judentum und seine Anhänger zu bekämpfen und eliminieren galt (Kiefer 2006: 282f.). Die Grundlage für dieses Weltbild entstand bereits im Mittelalter. Damals etablierten sich Vorwürfe des Ritualmordes sowie der Brunnenvergiftung durch Juden (ebd.: 282). Die Mythologie der Brunnenvergiftung impliziert den Vorwurf, Juden würden sich kollektiv zur Vergiftung von Brunnen und damit zum Mord an nichtjüdischen Mitbürgern verabreden (Pfahl-Traughber 2017: 86).
Eine Abzweigung des rassistischen Antisemitismus ist eine politisch und sozial motivierte Form der rassistischen Judenfeindlichkeit. Dabei wird Juden ein spezifischer sozialer Status zugeschrieben, woraus die rassistische Annahme resultiert, Juden seien überdurchschnittlich häufig im Handel und in Finanzgeschäften tätig sowie entsprechend einflussreich und wohlhabend (Pfahl-Traughber 2017: 85). Die Ursprünge dieser Form des Antisemitismus finden sich abermals im Mittelalter. Da Juden einst Berufe im Handwerk untersagt wurden, wichen diese häufig auf eine Tätigkeit im Handel oder Geldverleih aus. Als Folge dessen galten Juden unter ihren Mitbürgern als habgierige und reiche „Wucherer” (ebd.).
Wer rassistische antisemitische Einstellungen hat, betrachtet Juden demnach als ein homogenes Kollektiv, das über immense soziale und politische Macht verfügt. Ein Kollektiv, das gemeinsam handelt und die weltweite politische Vorherrschaft anstrebt, weshalb vermutet wird, dass „jüdische Einflüsse” Wirtschaftskrisen oder Kriege begünstigen (ebd.).
Verbreitung
Der Islamforscher Bernhard Lewis beschreibt in seinem Werk „The Jews of Islam”, dass sich im Mittelalter zunächst ein friedliches Zusammenleben von Juden und Muslimen (Lewis 1984: 56f.) entwickelte. Rassistischer Antisemitismus etablierte sich in der muslimisch geprägten Welt seit dem 19. Jahrhundert. Die ideologische Grundlage basiert auf europäischen antisemitischen Schriften (Holz/Kiefer 2010: 110). Als die bekannteste antisemitische Hetzschrift gelten „Die Protokolle der Weisen von Zion”, wobei es sich um ein als Fälschung identifiziertes Pamphlet aus dem 20. Jahrhundert handelt, das über die Inhalte eines angeblichen Treffens jüdischer Weltverschwörer berichtet. „Die Protokolle” stellten dabei einst eine Legitimationsgrundlage für die Politik der Nationalsozialisten dar. Auf die Inhalte bezogen sich in jüngster Vergangenheit außerdem arabische Machthaber wie Muammar al-Ghaddafi (ebd.: 110). Ebenso publiziert das arabischsprachige Fernsehen zum Teil Inhalte, die antisemitischer Natur sind und durch „die Protokolle” inspiriert zu sein scheinen. Dazu zählt beispielsweise eine syrische Serie, die im Jahr 2003 ausgestrahlt wurde und auf besonders perfide Art auf klassische antisemitische Mythen zurückgreift: Hier werden Juden als Ritualmörder dargestellt, die mit dem Blut ihrer christlichen Opfer Matzen3 backen (ebd.: 129).
3.3 Sekundärer Antisemitismus
Ende der 1980er Jahre wünschten sich Umfragen zufolge mehr als die Hälfte der Deutschen, einen Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit und die damit verbundenen Verbrechen an Juden zu ziehen. Die Mehrheit vermutete zudem, dass „die Juden” zu ihrem eigenen Vorteil „die Deutschen” stets an deren Schuld erinnern (Bergmann/Erb 1991: 260). Diese Meinungswerte haben sich bis heute nur geringfügig verändert (Bergmann 2008: 498f). Jene Form der Judenfeindlichkeit wird als sekundärer Antisemitismus bezeichnet und entstand nach dem Holocaust. Sekundärer Antisemitismus wird durch den Versuch charakterisiert, mittels Abweisen von Schuld und Relativierung mit der nationalsozialistischen Geschichte abzuschließen, indem „die Opfer von damals als die Täter von heute” (Holz 2005: 59) identifiziert werden. Ilka Quindeau bezeichnet dies als einen „Schuldabwehrantisemitismus” (Quindeau 2007: 162) beziehungsweise als einen „Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz” (ebd.).
Verbreitung
Der sekundäre Antisemitismus ist in Deutschland heutzutage die weitverbreitetste Form der Judenfeindlichkeit und keinem spezifischen politischen Spektrum zuzuordnen. Die Leugnung des Holocaust, also die Annahme, eine Vernichtung von Juden hätte während des Nationalsozialismus nicht stattgefunden, ist dabei eine besonders extreme Form des sekundären Antisemitismus und am ehesten in rechtsextremistischen Kreisen anzutreffen (Pfahl-Traughber 2017: 88). Formen des sekundären Antisemitismus finden sich teilweise auch in muslimisch geprägten Gesellschaften. Hierbei spielt allerdings nicht das Motiv der „Schuldabweisung“ eine Rolle, vielmehr wird der Holocaust verharmlost oder geleugnet und als Legitimationsgrundlage für die Gründung Israels bezeichnet (Pfahl-Traughber 2017: 87f.)
3.4 Antizionistischer Antisemitismus
„Zionismus” umfasst die Bestrebung, einen jüdischen Nationalstaat zu errichten. Da dies mit der Staatsgründung Israels umgesetzt wurde, beschreibt der Begriff „Antizionismus” dementsprechend die Delegitimierung und Ablehnung Israels. Antizionismus ist nicht stets antisemitisch, ist es jedoch dann, wenn einer antizionistischen Einstellung judenfeindliche Motive zugrunde liegen. Antizionismus und Antisemitismus gilt es demnach strikt voneinander abzugrenzen, wenngleich sich diese Haltungen teilweise überschneiden (Pfahl- Traughber 2017: 88).
Verbreitung
Die großflächige Verbreitung des antizionistischen Antisemitismus begann mit der Staatsgründung Israels im Jahre 1948 und wird durch einzelnen Etappen des Nahostkonfliktes weiterhin begünstigt (Holz/Kiefer 2010: 110). Antizionistischer Antisemitismus ist in der muslimischen Welt die am weitesten verbreitete Form der Judenfeindlichkeit und wird durch die mediale Darstellung des Israel-Palästina-Konfliktes enorm begünstigt. Dabei treten abermals arabischsprachige TV-Sender hervor. Antisemitische und antiisraelische Propaganda ist dabei nicht nur Teil vieler Unterhaltungsshows, sondern ebenso Teil der Berichterstattung über den Nahostkonflikt. Digitale Aufzeichnungen über einzelne Etappen des Nahostkonfliktes, die in TV-Sendern wie Al-Jazeera ausgestrahlt werden, sind mit Vorsicht zu genießen. Analysen haben gezeigt, dass in diesem inhaltlichen Kontext teils manipuliertes und propagandistisches Material publiziert wird (ebd.: 129). Die Verbreitung antisemitischer Inhalte durch die Medien beschränkt sich dabei nicht auf arabischsprachige Länder. Eine türkische Kinoproduktion, deren Produzenten über vier Millionen Zuschauer in der Türkei verbuchen konnten, handelt von einem jüdischen Arzt, der irakischen Kriegsopfern Organe entnimmt und diese nach Israel versendet (ebd.: 132). Solche einschlägigen Inhalte können mit wenig Aufwand auch in Europa gesehen und „im Umfeld migrantischer Muslime ausgestrahlt und vermarktet werden” (ebd.: 133), worauf europäische Aufsichtsbehörden für das Satellitenfernsehen bis dato nur wenig Einfluss üben können (ebd.: 132f.).
Die Besonderheit des antizionistischen Antisemitismus besteht darin, dass die Übergänge zwischen antisemitischen Äußerungen und der Kritik an der Politik des Staates Israels mitunter fließend sind. In Einzelfällen obliegt es individuellen Einschätzungen, ob eine Äußerung oder Handlung antisemitisch oder als legitime Kritik am Staat Israel einzuschätzen ist (BMI 2017: 27).
3.5 Wann ist Kritik antisemitisch?
In theoretischer Form lassen sich diese Übergänge und Differenzierungen jedoch definieren. Nathan Sharansky (2004) hat mit der Methode des 3-D-Tests für Antisemitismus ein Verfahren entwickelt, mit dem Antisemitismus von Kritik am Staat Israel abgegrenzt werden soll. Antisemitismus liegt dann vor, wenn mindestens eines der folgenden drei Kriterien erfüllt wird.
Zum einen die Dämonisierung: Kritik ist dann antisemitisch, wenn der Staat Israel dämonisiert wird, beispielsweise indem die Politik Israels mit jener der Nationalsozialisten verglichen wird. Das zweite D umfasst Doppelstandards, die laut Sharansky dann vorliegen, wenn Israel selektiv und anders als andere Staaten behandelt wird. Exemplarisch nennt Sharansky in diesem Zusammenhang Resolutionen der Vereinten Nationen gegen Israel aufgrund von Menschenrechtsverletzungen, die gegen andere Staaten wie China oder den Iran nicht verhängt wurden. Letztlich die Delegitimation, die dann besteht, wenn dem Staat Israel das Existenzrecht abgesprochen wird (Sharansky 2004: 3f.).
Die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit erarbeitete 2005 die Arbeitsdefinition „Antisemitismus”, die auf dem 3-D-Test nach Sharansky basiert (European Forum of Antisemitism 2019). Der innovative Teil der Arbeit ist eine Vielzahl aktueller Beispiele aus dem öffentlichen Leben, die unter Berücksichtigung des individuellen Kontextes als antisemitische Verhaltensweisen oder Handlungen gelten können. Dazu gehören neben Offensichtlichkeiten wie dem Aufruf zur Tötung von Juden beispielsweise auch, Israel durch die Verwendung von Symbolen und Bildern zu beschreiben, die in Verbindung mit Antisemitismus stehen (ebd.). Der Anhang A1 umfasst die vollständige Liste der Beispiele. Sowohl der 3-D-Test von Sharansky als auch die Ausarbeitungen der Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit werden im Zuge meiner eigenen Analysen zu Rate gezogen.
3.6 Zwischenfazit
Antisemitismus hat eine spezifische Struktur. In der „klassischen Weltordnung” stehen sich gegensätzliche Gruppenkonstrukte, wie beispielsweise Völker, Rassen oder Religionen gegenüber. So begegnen etwa Christen den Muslimen oder die Deutschen den Franzosen. Die Besonderheit am Antisemitismus ist, dass Juden hier nicht nur Angehörige einer bestimmten Religion, eines Volkes oder einer Rasse sind. Juden verkörpern alles zugleich und sind eine Figur des „Dritten”, die der klassischen Struktur der Gegensatzpaare nicht entsprechen (Holz/Kiefer 2010: 122). Sie werden als Akteure gesehen, die die klassische Weltordnung dezimieren (Messerschmidt 2010: 123f.). In anderen Worten: „ Da „der Jude“ in die Position des Dritten gerückt wird, ist der moderne Antisemitismus genuin transnational, trans-rassisch bzw. trans-religiös und im gleichen Atemzug und aus dem gleichen Grund heraus national, rassisch bzw. religiös.” (ebd.: 123).
Antisemitismus hat in der muslimischen Welt keine religiösen Wurzeln. Vielmehr hat dieser durch den Nahostkonflikt Einzug in die muslimisch geprägte Welt gefunden. Der Antisemitismus, der heutzutage in diesem Teil der Welt beobachtet wird, ist letztlich ein Produkt aus dem nationalsozialistischen Europa des 20. Jahrhunderts (Holz/Kiefer 2010: 109f.).
In Deutschland fand die Judenfeindlichkeit mit dem Holocaust weder ihren Beginn, noch ihr Ende. Antisemitische Stereotypen, Mythen und Diskriminierungen entstanden teilweise bereits im Mittelalter (Pfahl-Traughber 2017: 85). Dabei ist Antisemitismus heutzutage in sämtlichen gesellschaftlichen Schichten in Deutschland vertreten, wenngleich sich die Motive und Ausgestaltungen unterscheiden. Dementsprechend existieren der sekundäre Antisemitismus in der „Mitte der Gesellschaft”, der sich durch die Abwehr oder die Relativierung des Holocaust kennzeichnet und rechtsextremer Antisemitismus, dem sekundäre oder rassistische Motive zugrunde liegen können. Als weitere Quelle des Antisemitismus in Deutschland können Teile der muslimischen Bevölkerung genannt werden (Wetzel 2014: 1f.; Holz/Kiefer 2010: 133). Theoretische Erklärungen dafür, warum Antisemitismus insbesondere in diesem Teil der Bevölkerung präsent sind, werden im folgenden Kapitel vorgestellt.
4. Warum sind Muslime antisemitisch?
Personen, deren Wurzeln in einem muslimisch geprägten Land liegen, machen in westlichen Gesellschaften teilweise Erfahrungen mit Diskriminierung. In Deutschland etwa nehmen sie im Vergleich mit Deutschen ohne Migrationshintergrund und mit Migranten aus einer anderen Herkunftsregion durchschnittlich niedrigere Positionen auf dem Arbeitsmarkt ein und sind häufiger erwerbslos (Tucci 2008: 203). Diskriminierungserfahrungen betreffen dabei auch andere Bereiche des Lebens. In einer europaweiten Studie berichten ein Drittel aller befragten muslimischen Frauen, die ein Kopftuch tragen, dass sie bereits Demütigungen oder Belästigungen in der Öffentlichkeit ausgesetzt waren (FRA 2017: 44).
Hinzu kommen rechtspopulistische Parteien, die den Islam explizit als Gefährdung für den inneren Frieden bezeichnen oder gar betonen, der Islam gehöre nicht zu Europa (AfD 2017: 44f.). Auch wenn eine Partei wie die AfD betont, „rationale Religionskritik” (ebd.: 44) und keine islamophoben Einstellungen vertreten zu wollen, liegt die Vermutung nahe, dass Muslime diese Polemik als frustrierend und einschüchternd wahrnehmen. Paradoxerweise erfahren Juden, die genauso wie Muslime eine Minderheit in Europa repräsentieren und sich daher zunächst in der gleichen Ausgangssituation befinden, diese Diskriminierung nicht. Rechtspopulistische Parteien in ganz Europa werben heutzutage gar um die Stimmen jüdischer Wähler. Im Zuge antisemitischer Attentate, die in Frankreich von Islamisten verübt wurden, wirbt beispielsweise die Front National um jüdische Stimmen (Rosbach 2016).
Wetzel (2014) spricht in diesem Zusammenhang von einem Ungleichgewicht und einer „Verschiebung” des Feindbildes, welches sich nach dem Dritten Reich in Deutschland etabliert hat. Dieser Umstand kann laut der Autorin Missgunst, Neid und Angst seitens muslimischer Bürger schüren - Gefühlszustände, die wiederum einen Nährboden für die Entstehung antisemitischer Einstellungen darstellen (Wetzel 2014: 8).
Theorie der Eigen- und Fremdgruppe
Als Reaktion auf die Diskriminierung, die viele Muslime in Europa erfahren, ist es naheliegend, dass diese sich nicht mit ihrer europäischen Heimat identifizieren. Sie identifizieren nicht „die Deutschen” oder „die Franzosen” als ihre Eigengruppe, sondern jene Individuen, die dieselbe gesellschaftliche Marginalisierung erfahren (Wetzel 2014: 8).
Das Konzept der Eigen- und Fremdgruppe basiert auf der Social Identity Theory, die durch Tajfel und Turner (1979) begründet wurde. Der Theorie zufolge definieren sich Menschen zum einen über ihr Selbstkonzept und zum anderen über ihre soziale Identität. Die soziale Identität wiederum wird bestimmt durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, was in einer Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdgruppe mündet (Tajfel/Turner 1979). Tajfel et al. (1971) konnten in umfangreichen Experimenten zeigen, dass Mitglieder der Eigengruppe bevorzugt und als sympathischer betrachtet, Mitglieder der Fremdgruppe hingegen diskriminiert und degradiert werden (Tajfel et al. 1971).
In Anwendung auf europäische Muslime und die Frage, inwieweit dies der Entstehung von Antisemitismus zuträglich ist, lautet die Theorie, dass europäische Muslime sich mit dem Leid palästinensischer Muslime identifizieren und daher diese als ihre Eigengruppe sehen. Folglich wenden sie sich gegen den israelischen Staat, dessen Streitkräfte schuldig am Leid ihrer Eigengruppe zu sein scheinen, was sich teils antisemitisch ausdrückt. Der Autor einer Studie aus Norwegen spricht in diesem Zusammenhang von einem Gefühl des „religiösen Altruismus” (Thomas 2016: 13) unter Muslimen. Dadurch entsteht auch die Annahme, Juden seien die „natürlichen Feinde” der Muslime. Mit Verweis auf besagte Feindschaft haben Studien gezeigt, dass einige Muslime annehmen, andere Muslime seien grundsätzlich judenfeindlich gesinnt (z.B. Jikeli 2015: 220f.).
Sozialisationserfahrungen und der Habitusbegriff
Als weitere Erklärung zur Entstehung von Antisemitismus unter Muslimen in Europa zählt die Annahme, dass Judenfeindlichkeit in muslimisch geprägten Freundeskreisen und Familien tradiert wird. Antisemitismus sei dementsprechend das Produkt einzelner Sozialisationserfahrungen. In einer qualitativen Studie, in denen junge Muslime zu ihren Einstellungen zum Judentum befragt wurden, nennen diese explizit ihr soziales Umfeld als Wurzel ihrer Ablehnung von Juden. Auch wird von einigen Befragten die Angst geäußert, im eigenen Freundeskreis als „Judenfreund” zu gelten. Gruppendiskussionen in muslimisch geprägten Freundeskreisen haben zudem gezeigt, dass „Du Jude” häufig ein gängiges Schimpfwort ist. Zum anderen wird diese antisemitische Polemik von anderen Gruppenmitgliedern adaptiert. Hinzukommend äußern einige Muslime die Gewissheit, ihre Familien würden einen jüdischen Partner an der Seite ihrer Kinder strikt ablehnen (Jikeli 2015: 217ff.).
Basierend auf diesen Beobachtungen ist es naheliegend, dass antisemitische Einstellungen in diesen Kreisen einen Habitus darstellen können. Der Habitusbegriff, der durch Pierre Bourdieu geprägt wurde, wird definiert als ein Bündel von Normen und Verhaltensweisen, „deren Internalisierung zugleich der sozialen Distinktion zwischen sozialen Klassen dient“ (Nauck 2011: 74). In anderen Worten beschreibt der Habitus demnach ähnliche Verhaltensund Denkmuster, die Personen einer bestimmten sozialen Gruppe miteinander teilen. Im Kontext dieser Theorie folglich Verhaltens- und Denkmuster, die antisemitischer Natur sind. Eingangs wurde bereits geschildert, dass in dieser Arbeit Muslime hinsichtlich ihrer Einstellungen zum Judentum befragt wurden. Ein Teilaspekt der Analyse war zudem die Frage, auf welchen Erklärungen Antisemitismus basiert und ob die theoretischen Erklärungen aus diesem Kapitel auch auf die Stichprobe dieser Studie zutreffen. Bevor die Auswertungen präsentiert werden, wird im folgenden Abschnitt jedoch zunächst die Methodik der Studie dargestellt.
5. Methodik
Im ersten Schritt sollen der Forschungsansatz sowie der Aufbau des Interviewleitfadens vorgestellt werden. Im Anschluss daran werden die Kriterien für die Stichprobenziehung und das Auswertungsverfahren präsentiert.
5.1 Forschungsansatz
Den Kern dieser Arbeit stellt die qualitative Befragung in Deutschland geborener Muslime hinsichtlich ihrer Einstellungen zum Judentum dar. Der Studie kommt ein explorativer Charakter zu, was der geringen Anzahl empirischer Daten zum Thema geschuldet ist. Der qualitative Forschungsansatz wurde mit der Methode des problemzentrierten Interviews angewendet. Diese Befragungsmethode lässt den Interviewten möglichst frei zu Wort kommen und soll einem offenen Gespräch weitgehend ähneln. Der Vorteil an diesem Verfahren liegt darin, dass die Befragten ihre subjektiven Einstellungen äußern und in diesem Kontext selbständig größere Strukturen und Zusammenhänge entwickeln können. Dies zielt unter anderem auch darauf ab, ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Interviewer und dem Befragten herzustellen. Somit eignet sich dieses Verfahren insbesondere dann, wenn ein gesellschaftlich sensibles Thema erforscht werden soll. Es ist zu erwarten, dass die Antworten im Rahmen eines problemzentrierten Interviews ehrlicher und offener sind als im Rahmen eines Fragebogens. Die Interviewerin führt zu Beginn des Interviews eine bestimmte Problemstellung ein, auf die im Laufe des Gesprächs immer wieder Bezug genommen wird. Im Vorfeld wurde das Thema der Befragung bereits theoretisch analysiert und im Zuge dessen ein Interviewleitfaden erstellt (Mayring 2016: 47).
5.2 Interviewleitfaden
Mithilfe dieses Leitfadens soll der Gesprächsverlauf strukturiert werden. Die Interviewten werden auf die Fragestellung hingelenkt, sollen diese allerdings ohne Antwortoptionen beantworten. Zu Beginn des Leitfadens steht eine allgemeine Einstiegsfrage in die Thematik, mit welcher zunächst geprüft werden soll, ob die Fragestellung für den Befragten von Relevanz ist. Danach folgen Leitfragen in einer thematisch sinnvollen Reihenfolge, sowie eventuelle Formulierungsalternativen und Gegenfragen. Die Vorteile des Leitfadens liegen in dessen Anpassungsfähigkeit und der Freiheit des Interviewers. Es besteht weder die Pflicht, die Fragen in der exakten Reihenfolge zu stellen, noch müssen alle Fragen aus dem Leitfaden tatsächlich gestellt werden. Ebenso besteht die Möglichkeit, spontane Fragen, die sich aus der Gesprächssituation heraus ergeben, zu ergänzen (Mayring 2016: 46ff.).
In Anlehnung an Corrigan et al. (2003), die sich im quantitativen Rahmen auf die Diskriminierung psychisch Erkrankter beziehen, siedelt sich der Leitfaden in dieser Studie auf drei Ebenen an (Corrigan et al. 2003: 167): einer kognitiven, einer emotionalen, sowie einer behavioralen Ebene. Das Modell von Corrigan et al. dient dabei jedoch lediglich der groben Orientierung, was dem gänzlich anderen Forschungsansatz geschuldet ist.
Auf der kognitiven Ebene sollten die Wissensbestände der Befragten ermittelt werden. Auf der emotionalen Ebene wurden Fragen gestellt, von denen erwartet wurde, dass deren Antworten diskriminierende oder stereotypisierende Einstellungen4 gegenüber Juden, sowie Erklärungen für dessen Entstehen offenbaren können. Auf der behavioralen Ebene des Fragebogens wurden den Interviewten hypothetische Fall-Vignetten gestellt. Damit sollte analysiert werden, inwieweit sie ein Verhalten zeigen würden, welches das Judentum und dessen Anhänger ablehnt oder aber unterstützt. Anders als Corrigan et al., die mithilfe eines Drei-Ebenen-Modells den Einfluss der jeweiligen Ebenen aufeinander quantitativ untersuchten (ebd.: 167), wurde dieser Einfluss hier nicht ermittelt. Daher wurde beispielsweise nicht analysiert, inwieweit antisemitische Einstellungen beeinflusst werden, wenn die Befragten mit Wissen über das Judentum ausgestattet werden. Ziel der Dreistufigkeit war es im Kontext dieser Studie, einen möglichst vielschichtigen Einblick in die Einstellungen der Befragten zu erlangen. Der Interviewleitfaden, dem die Befragungen zugrunde liegen, befindet sich als Anhang A2 am Ende dieser Arbeit.
5.3 Stichprobe
Die Anzahl der Befragten beträgt N=7, weshalb der Arbeit die Repräsentativität abgesprochen werden muss. Die Stichprobenziehung erfolgte zum einen mithilfe der Gatekeeper-Methode. Gatekeeper sind Personen, die den Zugang zum Forschungsfeld erleichtern können, da sie sowohl über Wissen als auch Kontakte verfügen (Mayer 2013: 46). Als Gatekeeper agierte in dieser Studie eine Studierende, die sich ehrenamtlich in der Islamischen Hochschulvereinigung Köln engagiert. Hinzukommend wurden Interviewpartner durch eine direkte und persönliche Ansprache rekrutiert. Hierzu wurde sich in oder vor Räumlichkeiten der Universität zu Köln, wie der Universitätsbibliothek und der Mensa, positioniert. Es wurde dabei eine Gesprächssituation mit Personen initiiert, die meiner intuitiven Einschätzung nach in die Stichprobe passten. In Abschnitt 5.6 wird Kritik an dieser Methode geübt, gleichzeitig aber auch deren Vorteile hervorgehoben. Um einen Effekt der sozialen Erwünschtheit zu vermeiden, wurde die Absicht erläutert, eine Studie zu den Einstellungen junger Menschen zum Judentum durchzuführen. Dass dabei explizit Muslime von Interesse sind, wurde zunächst nicht angegeben.
Im Vorfeld wurden Kriterien für die Auswahl der Interviewpartner erstellt. Diese Auswahlkriterien können der Tabelle 1 auf Seite 20 entnommen werden. Das Ziel war es, eine möglichst homogene Stichprobe hinsichtlich Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Migrationshintergrund und Konfession auszuwählen. Homogenität wurde in diesem Zusammenhang angestrebt, um Verzerrungen zu minimieren, die auf individuellen demographischen Faktoren basieren.
Tabelle 1: Kriterien für die Auswahl der Befragten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung
5.4 Durchführung der Erhebung
Die Orte, an denen die Interviews stattfanden, wurden so ausgewählt, dass diese für die Befragten möglichst einfach zu erreichen waren. So ergaben sich als Treffpunkte Räumlichkeiten der Universität zu Köln, Cafés in der Kölner Innenstadt, sowie die privaten Wohnungen der Befragten. Zu Beginn des Interviews wurde darauf hingewiesen, dass ein vertraulicher Umgang mit dem Datenmaterial gewährleistet wird. Ferner wurden die Befragten um ihre Erlaubnis gebeten, das Interview aufzunehmen, zu welchem Zweck ein iPhone 7 verwendet wurde. Die Gespräche fanden zwischen dem 04. Februar und 18. März 2019 statt, dauerten im Durchschnitt etwa 15 Minuten und wurden in Deutscher Sprache geführt. Im Anschluss daran wurde gemeinsam ein Kurzfragebogen (Anhang A3) ausgefüllt5.
5.5 Auswertungsverfahren
Im Nachgang wurden die Interviews vollständig transkribiert, Namens-, Orts- und andere sensible Daten anonymisiert und die Audiodatei gelöscht. Das verwendete Verfahren orientierte sich dabei am Transkriptionsverfahren nach Kallmeyer und Schütze (1976) (Anhang 4). Da im Fokus der Arbeit die inhaltlich-thematische Ebene der Befragung steht, wurde im Rahmen der Transkription eine Sprachglättung vorgenommen. Grammatikalische Fehler und dialektische Aussprachen finden keine Berücksichtigung; etwaige Satzabbrüche, Pausen und Betonungen sind entsprechend gekennzeichnet.
Für die Auswertung der Gespräche wurde das Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2016) herangezogen. Diese Methode stellt ein regel- und theoriegeleitetes Verfahren dar, das es ermöglicht, umfangreiche, qualitative Datenmengen sinnvoll zu bearbeiten und dabei nah am ursprünglichen Text zu bleiben. Im Rahmen der Analyse soll ein reduzierter Korpus erstellt werden, der ein Abbild des Kernmaterials darstellt, was durch eine induktiv-deduktive Kategorienbildung geschah. Einerseits wurden im Vorfeld Kategorien gebildet, die sich am theoretischen Hintergrund der Thematik orientieren. Andererseits wurden Kategorien hinzugefügt, die sich im Zuge der Bearbeitung des Materials ergaben und relevant zur Beantwortung der Forschungsfrage erschienen (Mayring 2016.:114ff.).
Die Auswertung wurde durch die Software MAXQDA in der Version 18.0.0 erleichtert, die eine computergestützte Analyse qualitativer Daten ermöglicht. Somit wurden prägnante Textstellen codiert und den entsprechenden Kategorien zugeordnet.
5.6 Methodische Reflektion
In Abschnitt 5.3 wurde verdeutlicht, dass mir die Kritikwürdigkeit der Rekrutierungsmethode, Personen basierend auf ihrem Aussehen anzusprechen, durchaus bewusst ist. Was sich in diesem Zusammenhang jedoch als hilfreich erwiesen hat, ist meine persönliche Nähe zum Feld. So stellte ich fest, dass mein eigener Migrationshintergrund eine Eisbrecher-Funktion innehatte. Der Vorteil lag darin, dass rasch ein Vertrauensverhältnis zwischen den Befragten und mir hergestellt wurde, da ich darauf verweisen konnte, dass mir die Sensibilität der Thematik aus persönlicher Erfahrung bekannt ist. Einer der Interviewpartner wies mich im Gespräch darauf hin, dass es ihm besonders leicht falle, mit mir über die Thematik zu sprechen, da wir denselben Migrationshintergrund teilen6.
6. Ergebnisse
In den folgenden Abschnitten werden die Ergebnisse der Studie vorgestellt. Die Darstellung erfolgt dabei in chronologischer Reihenfolge. Zunächst wird die Stichprobe beschrieben und erläutert, welche Wissensbestände die Befragten über das Judentum haben. Im Anschluss daran wird vorgestellt, welche Antisemitismusformen beobachtet wurden und auf welchen Erklärungen die zuvor beschriebene Judenfeindlichkeit basiert. Weiterhin wird eine Aussage darüber getroffen, welche Verhaltens- und Denkmuster über das Judentum aus welcher Lebenswelt adaptiert werden. Letztlich werden mögliche Gründe diese Beobachtung genannt.
6.1 Beschreibung der Stichprobe
Die Tabelle 2 verschafft einen Überblick über die Interviewten. Wie in Kapitel 5.3 bereits geschildert, sind alle Befragten männlich, gehören dem muslimischen Glauben an und wurden in Deutschland geboren. Alle leben in zweiter Generation in Deutschland und beide Elternteile sind jeweils immigriert. Diese Merkmale wurden als Auswahlkriterien bereits in Kapitel 5.3 genannt und sind daher in Tabelle 2 nicht erneut erfasst.
Tabelle 2: Beschreibung der Stichprobe
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung
Die Stichprobe ist weitgehend homogen. Die Befragten sind zwischen 21 und 29 Jahren alt und habe mindestens die Hochschulreife erlangt. Drei der sieben Interviewten haben bereits einen Universitätsabschluss, die anderen vier befinden sich derzeit inmitten ihres Erststudiums. B2 hat einen Bachelorabschluss und studiert einen Masterstudiengang. B4 und B6 haben einen beziehungsweise zwei Universitätsabschlüsse und sind berufstätig. Bezüglich des Migrationshintergrundes ist die Stichprobe dahingehend homogen, dass die Wurzeln aller Befragten in einem muslimisch geprägten Land liegen. Abweichungen liegen in den Herkunftsregionen. Die Vorfahren stammen in drei Fällen ausschließlich aus dem Nahen Osten: aus Syrien, Palästina und dem Iran. Drei der Befragten haben einen Migrationshintergrund in einer anderen Herkunftsregion. B1 im Kosovo, B2 in Algerien und B4 in der Türkei. B7 hat einen türkischen Vater und eine syrische Mutter, die dem Nomadenvolk der Beduinen angehört. Abgesehen von B6 und B7 gehören alle Befragten dem sunnitischen Islam an. B6 ist schiitischer Muslim und B7 ist alevitisch. Als Muttersprache wurde in keinem der Fälle die Deutsche Sprache genannt, sondern jeweils die Sprache des Elternhauses. B7 spricht mit Türkisch lediglich die Sprache des Vaters. Die Muttersprache von B2 ist neben Arabisch auch Französisch, was der Kolonialvergangenheit Algeriens geschuldet ist.
6.2 Wissensbestände
„Und dann (..) gibt's ja auch noch dieses Bar Mitzvah. Und ich hab' die Vermutung, also ich glaube, da wird man zum Mann (?) (lacht)”7
Ein Überblick über die Wissensbestände der Befragten wurde sich zum einen hinsichtlich des Wissens über das Judentum verschafft. Zudem anderen wurde nach Wissensbeständen über den Staat Israel gefragt, da auf Grundlage der Theorie die Erwartung bestand, Antisemitismus könne sich im Kontext der israelischen Politik äußern. Die Thematik „Israel” musste aufgrund der Sensibilität der Materie inhaltlich neutral eingeführt werden, was dadurch geschah, dass die Befragten zunächst erläutern sollten, was sie über Israel wissen und damit assoziieren. Um einen grundsätzlichen Einstieg in die Gesprächssituation zu finden, wurde in allen sieben Interviews zunächst ermittelt, ob die Befragten Kontakt zu Juden pflegen.
Jüdische Kontakte
Mehrere der jungen Männer geben an, Juden aus ihrem persönlichen Umfeld zu kennen. Drei der Befragten erläutern, gemeinsam mit jüdischen Kindern die Schule besucht zu haben8. Während B7 seit Jahren mit Juden befreundet ist, bejaht auch B6 die Frage, ob er Juden kennt - lacht dabei allerdings mehrfach. Dies vermittelt den Eindruck, Kontakte mit Juden seien für ihn derart normal, dass ihn die Frage irritiert9. Ein anderer Befragter ist sich unsicher, ob er Juden kennt. So äußert er die Vermutung, mit Jüdisch sein würde heutzutage oft die Angst einhergehen, von der deutschen Gesellschaft stigmatisiert zu werden, weshalb eine jüdische Konfession „ eben oft unter den Teppich [..] gekehrt wird”10. Andere Befragte wie B1, die angeben, in ihrem direkten Umfeld keinen Kontakt zu Juden zu haben, begründen dies nicht mit einer grundsätzlichen Ablehnung ihrerseits, sondern damit, dass es sich „ einfach nicht ergeben hat”11. B2 und B3 äußern explizit den Wunsch, Juden kennenzulernen12.
Kenntnisse
Wissensbestände über jüdische Sitten, Bräuche und Feiertage sind unter allen Befragten vorhanden, wenn auch unterschiedlich detaillierter Natur. Mehrere der Interviewten wissen, dass das Judentum die älteste aller monotheistischen Religionen ist13. B6 bezeichnet im Zuge dessen Juden als die „ natürlichen Vorfahren”14 der Muslime. Einige wissen um die Tora als „ heilige Buchform”15, ergänzten diesen Wissensbestand allerdings nicht mit weiteren Details über die Aufbewahrung, Beschriftung oder Verwendung der Torarolle. Jüdische Symbolik, die teilweise erwähnt wurde, sind die Kippa und der Davidstern16. B5 erklärt, dass orthodoxe Juden eine spezifische „ Tracht”17 tragen. Jüdische beziehungsweise hebräische Ausdrücke, die im Laufe der Gespräche in einem humoristischen Kontext auftraten, waren der Trinkspruch „ L'Chaim!”18 und der Titel des hebräische Kinderliedes „ Shalom Chaverim”19. Häufig wird die auf Frage, welche jüdischen Sitten und Bräuche bekannt sind, auch der Schabbat genannt. Dazu wird erklärt, dass praktizierende Juden freitags und samstags nicht arbeiten und „ keinen Strom”20 verwenden. B4, der vor einigen Jahren nach Israel reiste, erzählt im Zuge dessen von seinen Impressionen vom Schabbat und ergänzt, an dem Abend fußläufig unterwegs gewesen zu sein, da keine öffentlichen Verkehrsmittel fuhren21.
B7 erläutert, dass sich praktizierende Juden koscher ernähren. Er ergänzt, dass Juden „ nicht auf Porzellan essen dürfen sondern nur auf Glas”22. Er weiß demnach oberflächlich über jüdische Speisegesetze Bescheid, wobei er jedoch keine weiteren Angaben bezüglich erlaubter Lebensmittel oder den Gesetzen der Herstellung machte. Dass praktizierende Juden einer Fastenzeit nachkommen, wurde ebenfalls mehrfach genannt. B5 äußert dies jedoch nur als Vermutung23.
Als sie zu ihrem Wissen über das Judentum befragt wurden, erwähnen einige Befragte den Holocaust. Näher spezifiziert wird dies von B6, der erklärt, es sei aufgrund des Dritten Reichs eine „ besondere Verantwortung, [..] gewisse Menschen [..] zu schützen”24.
[...]
1 Aus Gründen der Leserlichkeit werden in der vorliegenden Arbeit die männlichen Personenbezeichnungen verwendet. Dabei sind - soweit nicht anders spezifiziert - stets alle Geschlechter gemeint.
2 Die Begriffe „Antisemitismus” und „Judenfeindlichkeit” werden in dieser Arbeit synonym verwendet.
3 Ungesäuertes Brot, das praktizierende Juden an Pessach essen.
4 Unter Diskriminierung wird in dieser Arbeit soziale Diskriminierung verstanden, „eine rein kategoriale Benachteiligung von Personen aufgrund einer (meist negativen) Beurteilung” (Galliker/Wagner 1995: 32). Stereotype werden in dieser Arbeit definiert als Merkmale, die als charakteristisch für soziale Gruppen oder einzelne Mitglieder dieser Gruppe angesehen werden (Stangor 2009: 2).
5 Die ausgefüllten Kurzfragebögen befinden sich vor den jeweiligen Interviewtranskripten.
6 B6, Z.934ff.
7 B3, Z. 268f.
8 B4, Z.398 / B7, Z.951 / B3, Z.257ff.
9 B6, Z.784
10 B2, Z.162f.
11 B1, Z.22
12 B2, Z.225f. / B3, Z.377ff.
13 B2, Z.166 / B6, Z.794ff.
14 B6, Z.880
15 B2, Z.162
16 B1, Z.34 / B7, Z.964
17 B5, Z.643
18 B7, Z.960
19 B6, Z.934
20 B5, Z.609
21 B4, Z.431ff.
22 B7, Z.958ff.
23 B5, Z.611
24 B6, Z.833f.
- Citar trabajo
- Sarah Boualani (Autor), 2019, Zwischen "L’Chaim!" und "Free Palestine!". Eine qualitative Analyse der Einstellungen junger Muslime zum Judentum, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1066515
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