Im Zentrum dieser Untersuchung stehen die Inszenierung von Flucht in den Spielfilmen von Joel und Ethan Coen und die Bedeutung der Fluchten für die Handlung und den besonderen Konflikt des einzelnen Filmes sowie für eine ,,Weltsicht" der Coens.
Unterschieden wird bei der Untersuchung nach ,,äußeren Fluchten", die in einer mechanisch-physischen Handlung im Film dargestellt werden, und nach ,,inneren Fluchten", die sich auf psychische und kommunikative Vorgänge beziehen.
Untersuchungsmaterial sind die Spielfilme von Joel und Ethan Coen, bis einschließlich "Fargo" (1996). Dabei erhebt diese Untersuchung keinen Anspruch auf Vollständigkeit der Auswahl von szenischen Beispielen aus den betreffenden Filmen. Eine Auswahl unter den rund 25 verschiedenen Ausschnitten erfolgte nach den Gesichtspunkten der besonderen Anschaulichkeit für ein bestimmtes Darstellungsschema und der Originalität oder Attraktivität der Inszenierung.
Der fliehende Held (oder Anti-Held) den die Coens in ihrem filmischen Universum kreieren und in immer abgewandelter Form wieder auftauchen lassen, wird hierbei als Triebfeder der Handlung enttarnt - ein Paradoxon, dass manche filmische Konvention auf den Kopf stellt und in Kombination mit dem formalen Einfallsreichtum seiner Schöpfer sicher zum Erfolg der Filme bis zum neuesten Oscargewinner "No Country for Old Men" beigetragen hat.
Inhaltsverzeichni
1. Einleitung
2. Die Autorentheorie
3. Der fliehende Held als Triebfeder der Handlung
4. Die formale Gestaltung der Flucht
4.1 Dasshot/reverse-shot-Muster
4.2 Die Flucht als Fehlen
4.3 Flucht als „Entrückung“ in die Weite des Raumes
4.4 Andere Möglichkeiten der Inszenierung (Mischformen und Abweichungen)
5. Der fliehende Held im filmischen Universum
6. Schluß
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Im Zentrum dieser Untersuchung steht die Frage nach der Inszenierung von Flucht in den Spielfilmen von Joel und Ethan Coen, nach der Bedeutung der Fluchten für die Handlung und den besonderen Konflikt des einzelnen Filmes und für eine „Weltsicht“ der Coens, besser: eine Einstellung zu ihren Figuren und deren Schicksal, wie sie in den Publikationen von Peter Körte und Georg Seeßlen, bzw. Annette Kilzer und Stefan Rogall1 vorgeschlagen wird.
Unterschieden wird bei der Untersuchung nach „äußeren Fluchten“, die in einer mechanisch-physischen Handlung im Film dargestellt werden, und nach „inneren Fluchten“, die sich auf psychische und kommunikative Vorgänge beziehen. Die Darstellung der zweiten Kategorie läßt sich häufig erst sicher als Flucht entschlüsseln unter Berufung auf die Thematik des Films und den Kontext der jeweiligen Situation.
Untersuchungsmaterial sind die Spielfilme von Joel und Ethan Coen, wobei der letzte, „The Big Lebowsky“ nicht berücksichtigt wird, da er der Autorin, im Gegensatz zu den anderen sechs Filmen, nicht auf Videoband zur Untersuchung zur Verfügung stand.
Dabei erhebt diese Untersuchung keinen Anspruch auf Vollständigkeit der Auswahl von szenischen Beispielen aus den betreffenden Filmen. Eine Auswahl unter den rund 25 verschiedenen Ausschnitten erfolgte nach den Gesichtspunkten der besonderen Anschaulichkeit für ein bestimmtes Darstellungsschema und der Originalität oder Attraktivität der Inszenierung.
Die Unterscheidung des formalen und inhaltlichen Gehaltes der ausgewählten Szenen und eine Ordnung nach diesen Gesichtspunkten, bringt eine für filmanalytische Hausarbeiten unübliche Vorgehensweise mit sich, die hier jedoch bewußt gewählt wurde:
Da die untersuchten Beispiele aus sechs verschiedenen Spielfilmen stammen, zunächst aber nach formalen Gesichtspunkten untersucht werden, entfällt eine Beschreibung der inhaltlichen Zusammenhänge der einzelnen Filme. Eine Kenntnis der Filme muß für das Verständnis der Ausführungen vorausgesetzt werden. Im letzten Teil, wo eine Zuordnung von Inhalt und Form erfolgt, werden lediglich die für diese Untersuchung relevanten inhaltlichen Komponenten behandelt, um nicht die Gliederung unnötig zu verkomplizieren und den Umfang extrem auszudehnen.
Die Termini der Filmanalyse sind - soweit möglich - in deutscher Sprache verwendet. Wo eine bessere Verständlichkeit, bzw. eine genauere Bezeichnung einzelner Elemente dadurch erreicht werden kann, werden die englischen Begriffe verwendet. Die Filmtitel sind als englische Originaltitel angegeben. Nur wo der deutsche Verleihtitel abweichend lautet, wird er, wenn er zum ersten Mal erwähnt wird, in Klammern hinzugefügt.
2. Die Autorentheorie
In der neueren Filmkritik (vor allem in populären Druckmedien) ist es üblich geworden, eine Reihe von Werken an den vorangegangenen Filmen ihrer Regisseure zu messen. Dabei beziehen sich sowohl Filmkritiker, als auch - analytiker - ob bewußt oder zufällig - in ihrer Vorgehensweise auf eine Theorie und einen filmanalytischen Ansatz, der erstmals in den Fünfziger Jahren von Autoren, die für die französische FilmzeitschriftCahiers du Cinemaschrieben, vertreten wurde. Die sogenannte „Autorentheorie“, auchpolitique des auteurs oderauteur theorygenannt, wurde entwickelt, um die Filme des Hollywood- Kinos der Dreißiger und Vierziger Jahre, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg in europäischen Kinos zu sehen waren, als Kunstwerke und nicht nur als reine Kommerzprodukte zu würdigen.2
Grundlegende Annahme war, daß innerhalb des Studio-Systems in Hollywood, der Einfluß bestimmter Regisseure - als Autoren - auf die Filme, an denen sie mitwirkten, als eigene „Handschrift“ sichtbar blieb.3
Natürlich bestehen die Bedingungen der großen Zeit der Hollywood-Studios, die David Bordwell und Kristin Thompson als „serial manufacture“4 beschreiben, in denen „skilled specialists collaborate to create a unique product while still adhering to a blueprint prepared by management“5, heute nicht mehr unverändert fort. Die gegenwärtigen Produktionsbedingungen bedeuten eher, daß „American production companies [...] do not manufacture films so much as acquire them. Each film is planned as a unique ,package‘, with director, actors, staff and technicians gathered specially for that project.“6, wobei die Beteiligten zu einem großen Teil Freiberufler sind, die sich für das jeweilige Projekt vertraglich verpflichten.
Daneben existierenindependent-Produktionen, die zwar in einer ähnlich organisierten Weise wie die „großen“ Produktionen arbeiten, aber dadurch mit einem wesentlich geringeren Budget auskommen, daß sie Amateure beschäftigen, die ihre Arbeitskraft kostenlos zur Verfügung stellen.7
Die Coens befinden sich, wie einige andere der in Europa so hoch geschätzten amerikanischen Filmemacher, in einer prekären Situation zwischen Unabhängigkeit und Einbindung ins System [...]. Sie besitzen nach wie vor das Privileg, begünstigt gewiß durch ihre Mehrfachfunktion als Writer/Director/Producer, bis zum letztendlichen Schnitt jedes ihrer Produkte zu kontrollieren, auch wenn sie für die Major Companies arbeiten.8
So kann man ihnen eine „Autorenschaft“ ihrer Filme unterstellen. Zumal sie (im Sinne der Autorentheorie) unter Bedingungen der Arbeitsteilung ihre Filme produzieren, also im Organisationsstil durchaus den Studio-Produktionen, wie sie heute üblich sind, ähneln. Die Möglichkeit einer Prägung durch eine eigene „Handschrift“ ist unter den beschriebenen Voraussetzungen besonders groß.
Wie sehr die Annahme einer Autorenschaft sich verfestigt hat, zeigt sich darin, daß Monographien über die beiden Brüder Titel tragen wie „Das filmische Universum von Joel und Ethan Coen“9 oder Kapitel enthalten, die im Untertitel „Auf Spurensuche in Coen County“10 genannt werden. Die Erkenntnisse dieser Publikationen legen den Sinn eines autorentheoretischen Zugangs nahe.
Wird in den beiden schon erwähnten Monographien der Versuch unternommen, die gesamte Filmsprache der Coens zu entschlüsseln, so soll die Untersuchung der Fluchtdarstellungen einerseits diese Systematik benutzen, andererseits das „Sprachsystem“ der Coens ergänzen, bzw. in einer bestimmten Richtung vertiefen.
3. Der fliehende Held als Triebfeder der Handlung
Auffällig häufig fliehen Menschen in den Filmen von Joel und Ethan Coen. Manchmal werden sie von anderen Menschen verfolgt, die ihnen nach dem Leben trachten oder auch nur nach Hab und Gut, manchmal fliehen sie vor einem Phantom ihrer Phantasie, vor bestimmten Lebensumständen, aber immer ist es eine Situation, mit der sie nicht zurechtkommen und derer sie sich durch Flucht zu entledigen versuchen. Die Betonung liegt hierbei auf „entledigen“ und „versuchen“, denn ein Entkommen, geschweige denn eine Lösung bietet die Flucht keineswegs.
Die Entdeckung der inneren Fluchten bedarf genaueren Hinsehens und der Interpretation bestimmter Zeichen. Auch die äußeren Fluchten tragen zu dieser Interpretation bei und - das wird noch zu zeigen sein - häufig bilden sie sogar die Darstellung der inneren Fluchten. Umgekehrt formuliert: Die inneren Fluchten der Figuren setzen die äußere Handlung in Gang.
Stellt man die These auf, daß der „Held“ der Coen-Filme als Triebfeder der Handlung fungiert, so kommt man zu dem Schluß, daß durch die innere Flucht des „Helden“ vor der Konfrontation mit sich oder mit der Reflexion über sich, die äußeren Fluchten ausgelöst sind. Sein inneres Getriebensein treibt so die Handlung voran. Die Flucht des Helden ist dabei nicht die Lösung eines Problems, sondern wird statt einer Lösung gewählt.
Wenn man sich nun langsam durch die verschiedenen Schichten von außen nach innen vorarbeitet, d.h. zuerst die äußeren Fluchten, die filmisch umgesetzt werden, danach die selteneren Darstellungen von inneren Fluchten untersucht, so kann man aus den hier entdeckten Mustern Rückschlüsse auf die (innere) Flucht des Coen-Helden ziehen, die der Handlung zu Grunde liegt und den Hauptkonflikt des Filmes auslöst und bedingt.
4. Die formale Gestaltung der Flucht
Zunächst interessiert also die filmische Darstellung der äußeren Fluchten. Drei Grundschemata lassen sich erkennen, daneben existieren Darstellungen, die darin nicht eingeordnet werden können, so weit das jeweilige Schema auch gefaßt sein mag. Sie enthalten andere Aspekte, die aber nicht so häufig auftreten, daß daraus gleich ein eigenes Schema gestaltet werden kann. Oder sie sind einfach so kunstvoll und raffiniert aus mehreren Formen zusammengesetzt, daß man ihnen durch die Einordnung in ein Schema nicht gerecht werden kann.
4.1 Das shot/reverse-shot-Muster
Es existieren Darstellungen der Flucht alsshot/reverse-shot-Komposition von Fliehendem und Verfolger. Bestimmendes Kriterium ist in dieser Kategorie die Montage der Einstellungen, die aufshot/reverse-shot-Aufnahmen und dem Prinzip des „erblickten Blicks“11 basiert.
Perspektivische Kriterien können die Montage unterstützen. So wird zum Beispiel durch die zentralperspektivische Ansicht eines langen Raumes die Richtung der Flucht betont. Der lange Flur des Hotels „Earle“ in „Barton Fink“ ist ein gutes Beispiel dafür. Durch die zentralperspektivische Anordnung der Szenerie, bei der die Kamera meistens in der Mitte des Ganges positioniert ist, entsteht der Eindruck eines überlangen Raumes. Unterstrichen wird dieser Eindruck durch die Linien, die die Fußleisten und die Reihe der Flurleuchten bilden. So ist die Bewegungsrichtung schon durch die Architektur der Szenerie vorgegeben, ebenso durch die Flammen, die sich in Laufrichtung an den Wänden ausbreiten. Sie begleiten den Verfolger Charlie auf gleicher Höhe und erhellen den Hintergrund. Die Flucht wird symbolisch fortgesetzt durch die Flammenspur, die weiter im Hintergrund in Laufrichtung auf den Wänden des Flures entlang züngelt, wenn im Vordergrund der fliehende Polizist Deutsch angeschossen am Boden liegt.
Eine ähnliche Wirkung der Filmarchitektur wird in „Raising Arizona“ („Arizona Junior“) benutzt. Der Gang hinter der Bank, durch den Ed mit Nathan jr. vor dem Biker Leonard Smalls flieht, hat zu beiden Seiten einen Bretterzaun, der in seiner Einförmigkeit die Länge des Ganges betont. Hier ist der zentralperspektivische Fluchtpunkt der Ausweg und die Rettung für Ed und das Baby.
Auf- und Untersicht können die Machtverhältnisse zwischen Fliehendem und Verfolger und damit deren Siegeschancen verdeutlichen. So sieht der Zuschauer in „Barton Fink“ abwechselnd den fliehenden Polizisten Deutsch und seinen Verfolger Charlie jeweils in halbnahen Aufnahmen, aber Deutsch ist immer in einer leichten Aufsicht gezeigt, deren Winkel verstärkt wird, sobald er angeschossen und wehrlos am Boden liegt. Dadurch erscheint Deutsch schon allein durch die Einstellung als der Unterlegene.
Eine weitere Rolle bei der Definition der Machtverhältnisse spielt die Einstellungsgröße. Charlie wirkt in den Totalen am Anfang der Fluchtszene gerade dadurch bedrohlich, daß er im Hintergrund des langen Raumes kaum zu erkennen und damit schlecht einzuschätzen ist, während die Nahaufnahmen Deutsch geradezu auf den Leib kriechen, so daß man buchstäblich jeden Schweißtropfen erkennen kann und der Polizist wehrlos ausgeliefert erscheint.
Dagegen wird Ed in einer Totalen fliehend im Hintergrund gezeigt. Die subjektive Kamera aus Sicht des Bikers betont hier den Abstand, der zwischen dem Verfolger und der Fliehenden noch existiert und läßt damit die Möglichkeit eines glücklichen Ausgangs der Flucht für Ed wahrscheinlich erscheinen.
Auch die Position der Kamera im Verhälthis zur gefilmten Figur ist von Bedeutung. Deutsch ist beim Wegrennen von hinten zu sehen, die Kamera verfolgt ihn also geradezu, und später, sobald sich der Abstand zwischen den Kontrahenten verringert hat und sie Charlies subjektive Sichtweise zeigt, sieht man dadurch, wie sehr Charlie dem Polizisten im Nacken sitzt, die Richtung der Kamerabewegung gleicht der Laufbewegung der Protagonisten.
Da sichpoint of view shotsvon beiden Beteiligten der Flucht finden und keine Totale der gesamten Szenerie mit sämtlichen Akteuren eingesetzt wird, entsteht der Eindruck der Beteiligung des Zuschauers am Geschehen. Der Ausgang der Flucht bleibt ungewiß, es sind noch verschiedene Variationen möglich, wenn auch durch die erwähnten Mittel eine Chancenverteilung vorgenommen wird.
Eine interessante Variante des Prinzips vonshotundreverse-shotbietet Martys Flucht vor Ray (und Abby) in „Blood Simple“ („Blood Simple - Eine mörderische Nacht“).
Zunächst wird der Zuschauer in die Szene geradezu hineingesogen, durch einen Einsatz derShakicam, eine eigens vom langjährigen Kameramann der Coens, Barry Sonnenfeld, entwickelte Kamerakonstruktion, die sehr schnelle Fahrten über große Distanzen ermöglicht12. Durch dieShakicam-Fahrt über den Rasen auf Abby und Marty zu ist die Aufmerksamkeit der Zuschauer ganz auf den Kampf zwischen ihnen gerichtet; die anschließenden Nah- und Großaufnahmen von Köpfen, Händen und Füßen der beiden machen es unmöglich, eine Übersicht über den Kampf zu gewinnen.
Die folgendeshot/reverse-shot-Darstellung von Martys Flucht beginnt mit einer halbnahen Aufnahme von Ray, der aus der Tür seines Bungalows tritt. Nun wird aber die zu erwartende Kombinationen der Aufnahmen von Ray als Verfolger und Marty als Flüchtendem variiert: Durch Zwischenschnitte wird das „Streitobjekt“ der beiden, Abby, zu dieser Rivalität in Beziehung gesetzt. Sie steht zwischen den beiden Männern. Die Zwischenschnitte sind jeweils Nahaufnahmen von Abbys Gesicht. Abbys Kopfbewegungen nach rechts zu Marty oder nach links zu Ray geben jeweils den nächsten Schnitt vor und wirken dabei wie Zeichen für die Unentschlossenheit dieser Figur zwischen den beiden Männern.
4.2 Die Flucht als Fehlen
Die zweite Darstellungsform bezieht sich auf einen Gesichtspunkt der Ausstattung: Die Flucht einer Figur wird durch das Fehlen dieser Person am vorher noch eingenommenen Platz gezeigt, wobei eine eigene Codierung eine bestimmten Requisits entstehen kann. In den folgenden Beispielen handelt es sich dabei um einen Vorhang vor einem geöffneten Fenster oder um einen Duschvorhang. Die verschiedenen Möglichkeiten der Bedeutung dieses Requisits sind allerdings beachtenswert.
Eine Kamerafahrt ist notwendig, um von einer Totalen oder Halbtotalen de Raumes, in dem die Figur vorher gezeigt wurde, zu einer Nahaufnahme de Platzes zu gelangen, auf dem sie sich vorher befand. Die Betonung dieses Platzes kann auch mittels eines Schnitts erfolgen, der eine Nahaufnahme dieser Stelle direkt an die vorausgegangene Einstellung - meistens die Aufnahme einer Person, die in den Raum blickt - anschließt.
Ein nahezu klassisches Beispiel einer solchen Darstellung bietet eine Szene in „Miller`s Crossing“. Dane, der Handlanger des Gangsterbosses Johnny Casper, verfolgt Verna, Geliebte von Caspers Gegner Leo. Er muß zunächst Vernas Aufpasser zur Strecke bringen. Als Dane sich danach Verna zuwenden will, zeigt zunächst eine Totale den leeren Raum, in dem Verna sich vorher noch befand. Die Kamera fährt langsam in den Raum hinein und schwenkt leicht nach links in Richtung Fenster. Eine Nahaufnahme von Danes Gesicht mit ebenso nachdenklichem wie verschlagenem Ausdruck folgt. Eine langsame Fahrt von einer halbnahen in eine nahe Aufnahme vom geöffneten Fenster bringt die wehenden Vorhänge ins Bild und deutet Vernas Fluchtweg an.
Durch eine solche Darstellung wird eigentlich nicht die Flucht an sich gezeigt, sondern ihr Ergebnis, das (glückliche) Entkommen. Zumindest bekommt der Zuschauer die „fertige“ Situation am Ort, von dem geflohen wird präsentiert. Die weitere Fluchthandlung findet nun anderswo statt.
Dermatch cutmit einer Überblendung von den Vorhängen an Vernas Fenster zu denen in Tom Reagans Appartement suggeriert, Verna habe sich zu Tom, dem Vertrauten von Leo, geflüchtet. So würde die Fluchthandlung durch denmatch cut fortgeführt. Die Verbindung der beiden Sequenzen ist hier allerdings viel subtiler: Dane versucht bei seinem „Besuch“ bei Verna, den Aufenthaltsort ihres Bruders Bernie herauszufinden. Bernie aber sitzt in der anschließenden Sequenz in Toms Wohnung. Der Anschluß betont somit gleichzeitig Vernas Flucht, denn obwohl die visuelle Verbindung der beiden Räumlichkeiten durch die Überblendung der beiden ähnlichen Nahaufnahmen erreicht wurde, ist die Entkommene hier nicht aufzufinden, auch die Flucht vor den Blicken der Zuschauer ist ihr geglückt.
In „Fargo“ sind die Ausstattungsmerkmale Fenster und Vorhang getrennt. Jean Lundegaards spektakuläre Flucht im eigenen Haus vor ihren Kidnappern findet mit dem Einbruch von Carl und Gaear ins Bad der Lundegaards ein vorläufiges Ende. Eine Halbtotale zeigt im Hintergrund das geöffnete Fenster. Man darf annehmen, daß Jean hier entkommen konnte. Es folgen Einstellungen von Gaear, der im Spiegelschränkchen über dem Waschbecken nach Salbe für seine von Jean blutig gebissene Hand sucht.
Was auf den ersten Moment wie ein retardierendes Moment für die Darstellung der Fluchthandlung wirkt, erweist sich dann als Auflösung. Eine Nahaufnahme mitover- shoulder- shotzeigt in der linken Bildhälfte gleich zweimal die Spiegelung von Gaears Gesicht, rechts daneben die des zugezogenen Duschvorhangs, noch weiter rechts davon einen Teil von Gaears Hinterkopf. Auf der Tonebene wird parallel zu Gaears Blick auf den Vorhang im Spiegel durch den Ton eines fallenden Wassertropfens mit unnatürlich starkem Hall die Aufmerksamkeit auf die Dusche gelenkt. Mit Gaears Kopfdrehung schwenkt die Kamera nach rechts frontal auf sein Gesicht. Angeschlossen ist eine Nahaufnahme des Duschvorhangs, begleitet von Jeans Schrei. Ein Schnitt schließt eine Nahaufnahme der Vorhangstange an, von der der Vorhang abreißt und die nächste halbnahe Aufnahme zeigt Jean, wie sie in den Vorhang gewickelt Gaear anspringt und danach auf die Kamera zurennt, so daß das ganze Bild weiß wird.
Die Dopplung des Motivs durch die Aufspaltung in Fenster und Vorhang oder Vorhang und Vorhang im Spiegel macht hier den Reiz der Darstellung aus. Dabei kann Jean den Vorhang nicht überwinden, sondern fällt ihm letztendlich zum Opfer. So ist die Verwendung des geöffneten Fensters als Motiv der geglückten Flucht wieder aufgehoben. Die Handlung wird so lange retardiert, bis die nicht ganz geklärte Fluchtsituation sich schließlich in einem der Motive buchstäblich verfängt und damit zunächst sogar das Bild „trübt“. So entsteht ein Spiel mit der Erwartung des Zuschauers, die durch den vorgetäuschten Gebrauch von konventionellen visuellen Mitteln in die Irre geführt wird.
Eine ähnliche Verfremdung der Darstellungskonvention benutzen die Coen schon in „Blood Simple“. In der Schlußsequenz, in der Abby vor dem Detektiv, der sie erschießen will durch ihre Wohnung flieht, sieht man schließlich auch das Bad, in dem sich Abby kurz zuvor noch aufgehalten hat, und den Verfolger, der es betritt. Aber in diesem Fall zeigt eine Totale in extremer Aufsicht „nicht nur einen kompletten Überblick über den Raum, sondern vermittelt eine Distanz zum Geschehen, die den Zuschauer verunsichert“13, weil die Kamera und damit die Erzählperspektive kurz aus dem Geschehen herauszutreten scheint, sie „beobachtet“ „dokumentarisch“14. Und was sie da beobachtet ist so etwas wie eine Bestandsaufnahme der möglichen Fluchtwege (und Kommentar zur Darstellungskonvention): der zugezogene Vorhang der Dusche, das geöffnete Fenster. Noch in der Aufsicht wird das erste Motiv enttarnt: der Detektiv öffnet den Duschvorhang, die Wanne dahinter ist leer. Also wendet er sich dem Fenster zu, durch das Abby - wie der Zuschauer später erfährt - wirklich geflohen ist.
4.3 Flucht als „Entrückung“ in die Weite des Raume
Die dritte Art der Darstellung benutzt den Bildausschnitt als definierende Kriterium: Die fliehende Figur wird in einemextreme long shotin die Weite des Raumes gleichsam entrückt. Das bietet die Möglichkeit, eine Flucht - nicht nur ihr Ergebnis - in einer einzigen Einstellung zu zeigen.
Für die Inszenierung von H.I.s Flucht nach dem Überfall auf einen Supermarkt in „Raising Arizona“ genügt ein einzigerextreme long shotaus der Vogelperspektive. In der Mitte sieht man auf dem ansonsten leeren Parkplatz H.I.s Fluchtauto. H.I. betritt das Bild auf der Mitte des unteren Bildrandes, er blickt sich ständig um und versucht hektisch, in das Auto zu steigen, kann aber die Tür nicht öffnen. Also beginnt er schließlich, in Richtung des oberen Bildrandes zu laufen.
Die extreme Aufsicht bietet hierbei die Möglichkeit, sowohl die Entfernung der Figur von einem Ort in einem einzigen Bild auszudrücken, als auch die Bewegungen der fliehenden Figur nahezu mikroskopisch zu observieren.
Der Ausgang des Streites zwischen Jerry und seinem Schwiegervater Wade in „Fargo“ stellt auf diese Weise eine innere Flucht dar. Eine Nahaufnahme zeigt Jerry wie er seinen Blick nach unten senkt. Die nächste Einstellung ist einextreme long shotaus extremer Vogelperspektive. Man erkennt zunächst nur eine weiße Fläche mit einem annähernd geometrischen Muster aus kleinen schwarzen Flächen darin. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die Fläche als verschneiter Parkplatz mit eingeschneiten Blumenkästen und Auto. Schließlich betritt Jerry als winziger Punkt in der Mitte des unteren Bildrandes die Szenerie. Er ist „nur durch die Bewegung als Mensch zu erkennen“15, „ein Detail unter anderen“16.
War Jerry in der vorangegangenen Einstellung noch als Mensch zu sehen, der um seine Existenzberechtigung und die finanzielle Grundlage dieser Existenz kämpft, hat er nun - „gewissermaßen von oben mit seinen eigenen Augen“17 gesehen - resigniert und gibt den Kampf auf. Er flieht die weitere Konfrontation, bildlich dargestellt durch die enorme Entfernung, mit der Jerry nun betrachtet wird, die gleichzeitig als Hinweis darauf verstanden werden kann, wie weit er sich von sich selbst entfernt hat.
Die Einstellungsgröße - in diesem Fall besser durch die englischen Bezeichnungenlong shotbzw.extreme long shotbenannt - wird häufig durch einen Schwenk oder eine Rückfahrt der Kamera eingeleitet. Die Figur wird so dem Zuschauer entrückt, gleichzeitig ist ein Überblick über die und eine Orientierung in der Lokalität möglich.
In „Fargo“ ist es Gaears Flucht vor Marge, mit der er kurz vor Ende des Filmes seiner Verhaftung zu entgehen versucht. Die beiden Kontrahenten werden zunächst durchshotundreverse-shoteingeführt. Zu Beginn seiner Flucht ist Gaear in einer Nahaufnahme zu sehen, ein Schwenk nach rechts folgt seiner Laufrichtung auf die verschneite Eisfläche des Sees bis die Einstellung die Größe einer Halbtotalen erreicht hat.
Es ist der Beginn einer Flucht, der gezeigt wird, die Kamera „schwenkt sich auf die Flucht ein“. Aber gleichzeitig kann damit ein Kommentar zum Ausgang dieser Flucht verbunden sein, da im folgendenextreme long shotder Protagonist im Verhältnis zum Raum, in dem er sich befindet, sehr winzig erscheint und seine Chance, diesen Raum zu besiegen, damit recht gering eingeschätzt werden darf. Ein wirkliches Entkommen erscheint nicht möglich.
Die Sequenz endet später mit einer Panorama-Aufnahme, einemextreme long shot, der einen Überblick bietet: Links liegt Gaear im Schnee, von rechts geht Marge vorsichtig auf ihn zu. Beide sind nur als winzige Gestalten in einer weiten verschneiten und von Bäumen begrenzten Landschaft zu erkennen, die sich als unüberwindbar herausgestellt hat.
Ähnlich kommentiert ist auch die Flucht in „Raising Arizona“ schon bevor es im Bild - außer an der beachtlichen Weite des Raumes - zu erkennen ist, hier aber auf der Tonebene: Während H.I. noch um sein Auto herumtänzelt, hört man schon die Sirenen der anrückenden Polizeiwagen näherkommen. Die Flucht hat noch nicht richtig begonnen und ist schon wieder beendet.
Genauso sichert Bartons innere Flucht in die Tränen in „Barton Fink“ kein Entkommen. Nach der Abreise seines Freundes Charlie ist Barton mit seinem Schicksal allein gelassen. Halbnah ist das Bettfußende mit der abgezogenen, blutverschmierten Matraze als Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse der letzten Stunden zu sehen. Eine Rückfahrt der Kamera beginnt, Barton tritt von rechts ins Bild, setzt sich auf das Bett und beginnt zu weinen. Die Kamera entfernt sich immer mehr von ihm, läßt ihn also auch allein und zeigt mit der Rückfahrt gleichzeitig seinen Rückzug in die Tränen. Sobald die Einstellung die Größe einer Totalen erreicht hat, beginnt eine Überblendung auf eine Einstellung , die den schier unendlich langen Flur zeigt (siehe 4.1). Auch hier wird eine Rückfahrt eingesetzt, von Barton existiert nur noch sein Schluchzen auf der Tonebene begleitet vom Ton der flirrenden Geigen. Eine Schwarzblende beendet die Sequenz, Barton ist vollständig „entrückt“.
Auch die Bewegung der Kamera oder ihre Position kann einen Kommentar zum Ausgang der Flucht liefern. In „Miller`s Crossing ist in einemextreme long shot zu sehen, wie Bernie im Wald zwischen den Bäumen von Tom wegrennt. Er läuft dabei nach rechts vorne, die Kamera fährt nach rechts und zeigt ihn von vorne mit Tom im Hintergrund. Bernie scheint der Fluchtweg also fast abgeschnitten, so daß nicht eindeutig klar ist, ob der nächste Schuß, den man hört, von Tom nicht doch gezielt auf Bernie abgefeuert wurde. Doch in der nächsten Einstellung sieht man Bernie halbnah von hinten, und er rennt weiter, ist also nicht getroffen und kann vorerst entkommen.
In „Fargo“ wird Gaear auf diese Weise „gestellt“. Nach dem oben schon beschriebenen erstenextreme long shotwechselt die Kameraposition. Es folgt eine Totale, in der Gaear auf die Kamera zurennt, die Kamera scheint ihn überholt zu haben, im Hintergrund das Ufer, dessen Bäume das Bild bis zum oberen Rand füllen. Dort steht Marge und schießt. Gaear sinkt von einem Schuß getroffen zu Boden. Die Kamera ist ihm schon voraus und blickt sich sozusagen nach ihm um, dokumentiert dabei seine Niederlage. Entscheidend ist bei den sehr weiten Aufnahmen die große Schärfentiefe, die Einzelheiten des Bildes dokumentiert und gleichzeitig den Abstand der einzelnen Ebenen des Bildes betont und damit die distanzierte, unbeteiligte Sichtweise auf die Geschehnisse ermöglicht.
4.4 Andere Möglichkeiten der Inszenierung (Mischformen und Abweichungen)
Neben den genannten Formen existiert z.B. die Darstellung einer Flucht mit Hilfe einer Kamerafahrt, bei der die Kamera den Fliehenden begleitet, also an seiner Seite neben ihm her fährt.
Diese Möglichkeit haben die Coens in „Blood Simple“ für Rays abrupten Abbruch seiner „Beerdigungsfahrt“ für Marty gewählt. Nachdem Ray festgestellt hat, daß Marty noch lebt, zumindest stöhnt, sieht man in einemextreme long shot den Straßenrand im Dunkeln und die Rücklichter des bremsenden Autos, man sieht Ray aus dem Auto springen und nach rechts auf das dunkle Feld rennen. Die Kamera fährt mit ihm nach rechts, bleibt aber im gleichen Abstand, so daß sie die Flucht zu dokumentieren scheint. Den Eindruck der Beobachtung unterstützen die Lichtkegel der Scheinwerfer, die die Werbetafeln auf dem Feld anstrahlen, für die Szenerie aber den Anschein von Suchscheinwerfern erwecken und so Rays übertriebenen Eindruck von Verfolgtwerden unterstützen.
Eine Mischform aus den drei obengenannten Variationen bietet die Inszenierung von Norville Barnes` Flucht vor der Meute in „The Hudsucker Proxy“ („Hudsucker - Der große Sprung“).Shot/reverse-shot-Montagen von den Verfolgern, dem fliehendem Norville, den Verfolgern und weiteren Leuten, die sich in die Menge der Verfolger einreihen, werden ergänzt durch eine Filmarchitektur, die die perspektivischen Dimensionen einzelner Bilder betont und so den Eindruck der Verlorenheit Norvilles in dieser Flucht verstärkt. Dasselbe leistet die Aufsicht auf einenextreme long shoteines verschneiten Platzes, den Norville allein überquert.
Um insgesamt jedoch keine zu gute Orientierung im Raum zu bieten, wird durch starke Kontraste eine Verkleinerung des Bildausschnittes innerhalb der Bilder vorgenommen: Dunkle Wände an beiden Seiten des Bildes, die von den Häuserschluchten gebildet werden, durch die Norville flieht, lassen nur Ausschnitte am Ende der Gasse sichtbar, an denen die verfolgende Meute vorbeizieht. Die Bedrohung wirkt durch die Entfernung entpersonifiziert, die Focussierung durch die Ausschnitte betont aber geradezu ihre Präsenz, zugleich ist Norvilles Verwirrung angesichts der Unübersichtlichkeit des Ortes nachvollziehbar.
Das Ende der Flucht wird als Irritationsmoment inszeniert: Eine Nahaufnahme zeigt Norville wie er von links ins Bild fällt und am unteren Bildrand liegen bleibt. Die Kamera rollt nach rechts und die Halbtotale erklärt, daß es sich nicht um Norvilles Scheitern handelt, sondern daß er am Ziel, dem Hudsucker- Gebäude, angekommen ist und aufrecht an der Wand lehnt.
Eine weitere Mischform bietet die spektakuläre Jagd in „Raising Arizona“, bei der H.I. zunächst vor dem Angestellten des Supermarktes und den Polizisten, später vor einer Hundemeute und immer im Versuch seine Frau Ed einzuholen durch die verschiedensten Lokalitäten flieht.Shot/reverse shot-Aufnahmen, die teilweise von der extremen Schärfentiefe der benutzten Linse in Kombination mit starker perspektivischer Verzerrung in ihrer Absurdität und Überzeichnung profitieren, werden ergänzt durchextreme long shotsmit einer Rückfahrt der Kamera, in denen der Fliehende im Vordergund, die Verfolger im Hintergrund auf zwei fast getrennt wirkenden Bildern zu agieren scheinen. Die Fahrten derShakicamtagen wesentlich zum Eindruck der Dynamik bei, unterstützt auf der Tonspur von Gesang und vom Sound der Country-Gitarre, die schon den Vorspann des Films begleitet hat. Gerade die Tonspur macht es möglich, die Wirkung des retardierenden Momentes, das es auch in dieser Flucht gibt, noch zu steigern. Die Musik setzt aus, sobald H.I. den vermeintlich rettenden Garten erreicht hat. In einer Totale des dunklen Gartens gewinnt die Bedrohung eine besondere Macht, weil zunächst nur das verhaltene Knurren des Hundes und Kettenrasseln zu hören ist, die Lichtverhältnisse aber eine weitere Einschätzung nicht erlauben. Die weitere Verfolgungsjagd bietet Überraschungen und Wiederholungen, die von den unterschiedlichsten Bereichen der Filmgestaltung profitieren.
Ähnlich furios ist - ebenfalls in „Raising Arizona“ - die Flucht der Arizona- Babies aus ihrem Bett inszeniert. Hier bieten die subjektive Kamera in einem extrem niedrigen Blickwinkel, die an klassische Krimi-Soundtracks angelehnten Streicherthemen auf musikalischer Ebene und ein weiterer Einsatz derShakicameine Färbung der Fluchtdarstellung, die im Vergleich zu ihrem Inhalt in ihrer Dramatik übertrieben erscheint.
5. Der fliehende Held im filmischen Universum
Die weitere Analyse soll nun genauer untersuchen, inwiefern die Darstellung einer äußeren Flucht auf eine innere Flucht hinweist, ob vielleicht sogar eine innere Flucht Gegenstand der Darstellung ist, wie weit die Darstellung zum Thema des Films im Zusammenhang beiträgt und wo eine Einordnung in das schon erwähnte18 System, das den Coens häufig - und oft zurecht - unterstellt wird, möglich ist.
In den verschiedenen Darstellungen der Flucht lassen sich unterschiedliche Sichtweisen und damit verbundene Wirkungen ausmachen. So bewirkt das Muster vonshot/reverse-shoteine so starke Einbeziehung des Zuschauers in den Fortgang der Fluchthandlung, daß ihm durch dieses formale Ablenkungsmanöver kein Überblick in der Handlung möglich ist.
In „Barton Fink“ findet ein Einsaugen in den Wahnsinn des Protagonisten statt, das die Unterscheidung von der Realität der Handlung und Bartons Fiktion nicht nur unmöglich macht, sondern vielleicht auch unnötig, denn „Barton Fink lebt seinen Alptraum und findet nicht mehr zurück in die Wirklichkeit“19. Dieses zentrale Thema des Filmes beruht auf Bartons Flucht vor der Wirklichkeit seiner Situation, der Weigerung seiner Schreibblockade zu begegnen und dem Versuch, ihr mit Ausflüchten und durch Umwege zu entkommen.
Ähnlich geartet sind die Ausflüchte der Protagonisten in „Blood Simple“. Der „Entscheidungsnotstand“, in dem Abby sich schon zu Beginn des Filmes befindet und den die oben erwähnte Szene in der Unübersichtlichkeit der Situation visualisiert, verweist auf die allen Beteiligten eigene Art der Ausflucht vor Gesprächen, die irgendeine Klärung der Situation und ihrer zwischenmenschlichen Probleme herbeiführen könnten.
Diese Gespräche sind zwar vordergründig in den Therapiesitzungen de Gefängnispsychologen Doc Schwartz in „Raising Arizona“ angelegt, aber die daraus bezogenen „Weisheiten“ dienen lediglich der stupiden Wiederholung. Einer Konfrontation mit sich entkommt der Protagonist H.I., indem er sich impulsiv von spontanen Entscheidungen leiten läßt. So versucht er eine Flucht vor den betrüblichen Problemen der Gegenwart ebenso wie vor dem Eingeholtwerden durch seine Vergangenheit und den Schreckgespenstern der eigenen Phantasie. Eine Darstellung, die es dem Zuschauer nicht ermöglicht, die Konsequenzen von Handlungen zu überblicken, macht dies sichtbar.
In der Inszenierung der Flucht als Fehlen wird ein Zustand behauptet, der eine Sicherheit und die Abgeschlossenheit der Fluchthandlung suggerieren könnte, würde er nicht schon allein dadurch demontiert, daß die Konzentration der Darstellung sich von der Figur des fliehenden Menschen auf einen Gegenstand verlagert, mit dessen Symbolik sogar noch gespielt wird. Es erfolgt eine Ablenkung von der Flucht, bzw. von Gelingen und Mißlingen. In diesem Ausweichen steht der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt - schon im wörtlichen Sinn.
Verna als Person ist für den Bandenkrieg in „Miller`s Crossing“ nicht von Bedeutung, ihre Eigenschaft als Objekt dieses Krieges reduziert sie zu einer Sache. Und dieser Reduzierung entspricht Toms Einstellung ihr gegenüber, in der jede Gefühlsbindung unterdrückt wird. Der Eindruck der Entmenschlichung, den man von Tom erhält, bekommt seine Ausprägung in der Darstellung durch die Figur, die von ihm behauptet, er sei „a lie and no heart“20.
Die zweite Figur, die operationalisiert wird in einem Kampf des Protagonisten, ist Jean Lundegaard in „Fargo“, ein verfügbares Detail der für Konsequenzen blinden Machenschaften ihres Mannes. Und auch ihr Fluchtversuch findet seine Darstellung in der Verknüpfung mit dem Objekt.
Im Fall von Abby in „Blood Simple“ ist es die gesichtslose Verfolgung, die in solch einer Verknüpfung Ausdruck bekommt. Die fehlenden menschlichen Beziehungen dieses Filmes führen zu einer Verselbständigung der Handlung, so daß „jeder jeden für einen Mörder halten kann, während die wirklichen Morde gleichsam in Unkenntnis der Opfer/Täter-Beziehung begangen werden“21, so wie es in der Schlußszene im Badezimmer geschieht, die das Spiel mit den Objekten benutzt.
Als weitere Ablenkung des Zuschauers von der stringenten Verfolgung einer kausalen Handlungskette kann man die Mischformen in der Darstellung werten. Hier wird ein großangelegtes Szenario geboten, das ein Detail der Handlung - nämlich die Flucht - formal so stark betont, daß seine Gewichtung nicht im Verhältnis zur inhaltlichen Bedeutung steht; als bestes Beispiel dafür dient die Flucht der Arizona-Babies; ebenfalls durch die formale Ausführung von besonderem Gewicht ist die schon erwähnte Hunde-Jagd in „Raising Arizona“ und Norvilles Flucht in „The Hudsucker Proxy“. Hier wird durch die besonders raffinierte filmische Ausführung eine so starke Konzentration der Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Einzelhandlung der Flucht erreicht, daß für den übergreifenden Zusammenhang der Überblick fehlt.
Die Darstellung der Flucht als „Entrückung“ ermöglicht zwar einen Überblick über die dargestellte Situation. Die sichtbare Ausweglosigkeit zeigt die Flucht aber als eine Entfernung von den eigentlichen Zielen. Sie ist eine Ausflucht, die deswegen chancenlos verläuft, weil sie - selbst im Gelingen - eine falsche Veränderung bringt, die nicht das wirkliche Problem behandelt.
H.I. flieht in „Raising Arizona“ vor einer Situation, die ihm übermächtig gegenübersteht, da der „Sehnsucht nach Konformität“22 die „Natur, die mit der Macht unter einer Decke steckt“23, entgegengesetzt wird. Seine Träume werden nicht nur durch die Übermacht der Lokalität, die sich in der Panorama-Einstellung zeigt, zunichte gemacht, sondern ihnen steht sogar das personifizierte Schreckgespenst in Form des Bikers entgegen. Denn die ganze Handlung wird angetrieben vor H.I.s Flucht vor der Einsicht und Einschätzung seiner Situation und der Leugnung der eigenen Vergangenheit mit der daraus resultierenden Unterlegenheit.
In den weiten Aufnahmen der Schneelandschaft in „Fargo“ kommt diese Unterlegenheit wieder zum Ausdruck. Der Mensch (Jerry, Gaear oder die chancenlosen Zeugen des Polizistenmordes) erscheint als ameisenhaft winziges Detail im Schnee, dessen Aktionen von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Die von dieser Ohnmacht provozierte Gewalt24 kann keine Lösung bieten, sondern führt zu immer größeren Verwicklungen, ähnlich wie in „Miller`s Crossing“, wo sie die Situation zu beherrschen scheint und selbst die Bosse sich ihr unterordnen müssen, ganz zu schweigen von den „kleinen Männern“ wie Bernie, deren Auflehnung gegen das System symptomatisch ist für eine Taktik der Ausflüchte und Rückzüge ohne offene (gewaltlose) Konfrontation. Daß Bernie als kleine Figur in der Waldlandschaft präsentiert wird, erscheint zwangsläufig.
Auch „Barton Fink“ verdankt seine Inszenierung in der „Entrückung“ der Tatsache, daß er die Ausflucht statt des Eingeständnisses seiner Schreibblockade wählt. Dieses Leugnen wiederholt sich im Leugnen gegenüber den Polizisten. Bartons „Entrückung“ wird sinnigerweise in die Flucht ins Schreiben übergeleitet, von der man zunächst vermuten könnte, daß sie eine Lösung der Situation ermöglicht. Wie sich später zeigt, ist dies nur der Höhepunkt von Bartons Realitätsferne, mit der er sein Werk als Meisterwerk einschätzt, während andere es für wertlos halten.
Die Ohnmacht des „Anti-Helden“ der Coen-Filme ist häufig als Verkennen der Situation bezeichnet worden, wenn von der „Unüberwindbarkeit eines Schicksals, das die Figuren, ohne es zu wissen, selbst wählen“25, gesprochen wird, oder man ihnen „Ignoranz“26 und „naiven Glauben, mit Gewalt umgehen zu können und sie zu kontrollieren“27, attestiert. Es ist aber vielleicht nicht nur ein versehentliches Verkennen und eine falsche Einschätzung der Situation, sondern ein absichtliches Verdrängen, also die vielbemühte Ausflucht. Sie treibt die Handlung der Filme voran, denn die Flucht provoziert Verfolgungen, und die „Verfolgungen erzeugen Kinetisches“28.
Seeßlens Theorie vom Protagonisten der Coen-Filme, der in der „Figur des Sohnes in einen Raum des Vaters eindringt“29 und damit eine „ödipale Auseinandersetzung“30 mit diesem „Übervater“, der „immer als Vertreter einer Institution zu verstehen“31 ist, provoziert, kann ergänzt werden durch die These vom nicht gelösten Grundkonflikt des Helden mit dieser Vaterfigur. Seinen reinsten Ausdruck findet dieser Konflikt in „Fargo“, wo Jerry auf illegalem Weg versucht, sich in einem System des „Patriarchalen“32 zu etablieren, zu dem er „keinen legalen Zutritt findet“33. Dies ist das Modell der inneren Flucht des Helden vor der Konfrontation mit seinem Gegenüber - sei es nun eine Person oder die durch sie verkörperte Institution. Der Coen-Held wählt nicht den direkten Weg der Konfrontation zur Erfüllung seiner Bedürfnisse, er flieht die Konfrontation.
6. Schluß
In den Filmen von Joel und Ethan Coen lassen sich „Form und Inhalt [...] nicht voneinander trennen, sie bedingen sich gegenseitig“34, und so hat die Flucht des Helden vor der Konfrontation eine Korrespondenz in den formalen „Ausflüchten“:
So wie sich der Coen-Held aus der Situation herauswindet und von seinen Problemen ablenkt, sobald er damit konfrontiert wird, so lenkt teilweise die formale Gestaltung der Filme den Zuschauer ab und flieht vor der Eindeutigkeit der Darstellungskonvention und vor der Stringenz einer Handlung, die stattdessen immer weitere Haken schlägt. Oder die Inszenierung bietet eine Korrespondenz der dargestellten Entfernung mit der Entfernung des Protagonisten von seinen Wünschen und Zielen. Und je größer diese Entfernung wird, desto unwahrscheinlicher ist ein Erreichen dieser Ziele. Neue Ausflüchte sind vorprogrammiert.
Damit erweist sich der Coen-Held als Auslöser der Handlung und der durch sie bedingten Darstellung: Sein fehlender Überblick und die nicht vorhandene Souveränität verhindern eine Reflexion über seine Lage und die Erkenntnis seiner Situation mit den ihm gegebenen Möglichkeiten; er begreift nicht, wo der Ansatzpunkt für eine Veränderung sein könnte und wählt statt der Lösung einer Situation die Flucht daraus - im übertragenen, wie im wörtlichen Sinne.
Dieser spontane Ausbruch aus einer kausalen Handlungskette bedingt weitere Verzweigungen und Abweichungen, die in der Form als (seltenere) Darstellung der inneren Fluchten oder als (häufigere) Inszenierung von äußeren Fluchten des Helden oder anderer Figuren ihren Ausdruck finden.
Literaturverzeichni
Forschungsliteratur
Bordwell, David/ Thompson, Kristin: Film Art. An Introduction. 5. Edition. New York, etc.: McGraw-Hill, 1997.
Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. 2. Auflage. Stuttgart; Weimar, 1996.
Kilzer, Annette/ Rogall, Stefan: Das filmische Universum von Joel und Ethan Coen. Marburg: Schüren, 1998.
Körte, Peter/ Seeßlen, Georg (Hg.): Joel und Ethan Coen. Berlin: Bertz, 1998.
Mast, Gerald/ Cohen, Marshall (Hg.): Film Theory and Criticism.
Introductory Readings. 2. Edition. New York; Oxford: Oxford University Press, 1979
Filmographie
Coen, Joel, Regie.Blood Simple (Blood Simple - Eine mörderische Nacht).Spielfilm. River Road/ Circle Films. 1984.
Coen, Joel, Regie.Raising Arizona (Arizona Junior). Spielfilm. Circle Films. 1987.
Coen, Joel, Regie.Miller`s Crossing. Spielfilm. Circle Releasing. 1989/1990.
Coen, Joel, Regie.Barton Fink. Spielfilm. Circle Films. 1991.
Coen, Joel, Regie.The Hudsucker Proxy (Hudsucker - Der große Sprung).Silver Pictures/ Working Title Films. 1994.
Coen, Joel, Regie.Fargo.PolyGram Entertainment/ Working Title Films. 1995/1996.
[...]
1 Siehe: Literaturliste
2 vgl. Mast/Cohen (Hg.), S. 637
3 vgl. Mast/Cohen (Hg.), S. 638
4 Bordwell/Thompson, 1997, S. 11
5 ebda.
6 Bordwell/Thompson, 1997, S. 11 f.
7 vgl. Bordwell/Thompson, 1997, S. 23
8 Seeßlen, Georg, in:Körte/Seeßlen (Hg.), 1998, S.226
9 Kilzer/Rogall, 1998
10 Körte/Seeßlen (Hg.), 1998
11 Hickethier, 1996, S.145
12 vgl. Kilzer/Rogall, 1998, S.154-158
13 Rogall,Stefan, in: Kilzer/Rogall, 1998, S. 147
14 ebda.
15 Rogall, Stefan, in: Kilzer/Rogall, 1998, S. 149
16 ebda.
17 Reinecke, Stefan, in: Körte/Seeßlen, 1998, S.189
18 vgl.Körte/Seeßlen, 1998 und Kilzer/Rogall, 1998
19 Desalm, Brigitte, in: Körte/Seeßlen, 1998, S. 117
20 Verna über Tom Reagan in „Miller`s Crossing“
21 Seeßlen, Georg, in: Körte/Seeßlen, 1998, S. 52
22 Kriest, Ulrich, in: Körte/Seeßlen, 1998, S. 65
23 Kriest, Ulrich, in: Körte/Seeßlen, 1998, S.69
24 vgl. Reinecke, Stefan, in: Körte/Seeßlen, 1998, S. 173
25 Rogall, Stefan, in: Kilzer/Rogall, 1998, S. 24
26 Rogall, Stefan, in: Kilzer/Rogall, 1998, S. 27
27 ebda.
28 Seeßlen, Georg, in: Körte/Seeßlen, 1998, S. 246
29 ebda., S. 232
30 ebda.
31 ebda., S.250
32 Reinecke, Stefan, in: Körte/Seeßlen, 1998, S. 177
33 ebda.
34 Rogall, Stefan, in: Kilzer/Rogall, 1998, S. 22
- Citar trabajo
- M.A. Sibylle Meder Kindler (Autor), 1998, Die Inszenierung von Flucht und Verfolgung als Element der Filme von Joel und Ethan Coen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106467
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