Gliederung:
1.Auroras Anlaß (Erich Hackl)
2.Der fremde Freund - Drachenblut (Cristoph Hein)
3.Kassandra (Christa Wolf)
4 Wie kommt das Salz ins Meer (Brigitte Schwaiger)
5.Malina (Ingeborg Bachmann)
1.Auroras Anlaß von Erich Hackl
››Bewundernswert ist die artistische Sicherheit, mit der
Erich Hackl zu Werke geht, ist die Präzision, mit der dieser Schriftsteller Auroras Abenteuer protokolliert - auf eine Weise, die uns, wenn der Aberwitz mit solcher Beiläufigkeit zur Sprache findet, nachhaltig in die größte Spannung versetzt. So dass wir fast nicht glauben möchten, dass sie sich tatsächlich zugetragen hat, diese Geschichte.‹‹
Frankfurter Allgemeine Zeitung Über den Autor:
Erich Hackl wurde am 26. September 1954 in Steyr in Oberösterreich geboren. Er besuchte das Gymnasium in Steyr, danach studiert er Hispanstik und Germanistik in Salzburg, Salamance und Malaga. 1977-1979 war er Lektor für deutsche Sprache und österreichische Literatur an einer Universität in Madrid. 1979 machte Hackl die erste Reise nach Lateinamerika. Seither hat er zahlreiche Reisen nach Kuba, Uruguay, Argentinien und in andere lateinamerikanische Länder gemacht. 1979-1980 war er Lehrer für Spanisch und Deutsch in Wien. Von 1981-1990 unterrichtete Hackl am Institut für Romantik der Universität Wien. 1982-1983 leistete er seinen Zivildienst beim Österreichischen Informationsdienst für Entwicklungspolitik. Seit 1983 lebt Erich Hackl als freiberuflicher Schriftsteller und Übersetzer in Wien. Hackl ist verheiratet und hat 2 Kinder.
Inhalt:
Ort des Geschehens ist Spanien. In ihrer Kindheit merkt Aurora, dass die Rolle der Frau in Spanien sehr unbedeutend ist und dies weiterhin so bleiben wird, wenn sich nicht etwas ändert. Als junge Frau wird sie von niemanden ernst genommen, auch dann nicht, als sie eine Anzeige aufgibt, in der steht, dass sie ein Kind möchte, aber keinen Mann und prompt melden sich einige Herren. Aurora entscheidet sich für einen Priester, denn sie glaubt, er hat die besten Erbanlagen. Neun Monate später bekommt sie eine Tochter namens Hildegart, Frauenliteratur die sehr von ihrer Mutter gefördert wird. Mit vier Jahren besucht Hildegart schon die Schule und mit dreizehn Jahren studiert sie und schließt sich der sozialistischen Jugend an, mit der sie großes Ansehen erlangt. Dabei wird sie von ihrer Mutter gedrillt. Die Monarchie wird mit der Hilfe beider Frauen gestürzt. Aurora glaubt das Ziel ihrer Wünsche erreicht zu haben doch plötzlich und unerwartet stellt sich Hildegart gegen sie, sie möchte nun ihr eigenes Leben führen und nicht das Werkzeug ihrer Mutter sein. Bald sieht Hildegart aber ein, dass sie nur ein Werk ihrer Mutter Aurora ist und an ihrer Aufgabe gescheitert ist. Gemeinsam beschließen sie, dem Leben Hildegarts ein Ende zu machen. Nur Aurora kann das, denn sie hat das „Werk“ erschaffen und nur sie kann es auch wieder zerstören. In der Nacht erschießt sie Hildegart mit vier Schüssen. Am Morgen danach wird sie abgeführt und einige Zeit später in ein Irrenhaus in Gempozuelos gebracht. Dort fristet ihr restliches Leben.
Interpretation:
Die Geschichte basiert auf wahren Gegebenheiten und ist wirklich passiert.
Man könnte die Geschichte als verrückt einstufen, doch tragisch ist sie auf alle Fälle. Der Autor Erich Hackl möchte mit diesem Buch zeigen, dass man ein Kind wie Hildegart nicht wie enen Roboter vorprogrammieren kann. Das geht vielleicht ein paar Jahre gut, bei Hildegart sogar neunzehn, doch spätestens dann möchte das Kind sein eigenes leben führen und nicht mehr von der Mutter bevormundet werden. Am Ende der Geschichte wird Hildegart klar, dass sie das alleinige Werk ihrer Mutter ist, erschaffen von ihr und auch vernichtet. Hackl zeigt sehr deutlich diese Mutter-Tochterbeziehung und auch, dass Aurora oft in einem Käfig voll Selbstdisziplin und Selbstverwirklichung gefangen ist und aufgeben möchte. Die Momente der Schwäche sind jedoch nur kurz und selten.
Die zweite Problematik dieses Buches ist die politische und gesellschaftliche
Rolle der Frau in Spanien. Es ist selten der Fall, dass Frauen gebildet sind, meistens sind sie nämlich Arbeiterinnen in irgendwelchen Fabriken. Auch sonst ist die Frau in Spanien dem Mann unterworfen und darf nur das machen, was ihr vom Mann aufgetragen wird. Gerade dies wollte Aurora mit ihrer Tochter Hildegart ändern, was auch zu funktionieren schien, jedoch mit Hildegart eine zeitlang verhindert wurde. Der Stein war aber schon ins Rollen geraten und die Emanzipation der Frau schritt vorwärts. Heute kann man sagen, dass sich die Situation der Frau in Spanien gebessert hat und das sicher auch ein Verdienst von Aurora und Hildegart war.
Der fremde Freund
Inhaltsangabe mit Angaben zu Autor und Titelgeschichte Christoph Hein, Autor der Novelle ,,Ein fremder Freund - Drachenblut", wurde am 8. August 1944 in Heinzendorf (Schlesien) geboren und gehört zu den heute bedeutendsten und bekanntesten DDR-Autoren. Seine Jugend verbrachte er zum Teil in einem Internat in Westberlin, bevor er nach dem Mauerbau bei seiner Familie in Frauenliteratur Ostdeutschland blieb. Obwohl er bereits seit seiner Jugendzeit schrieb, begann er erst nach seinem Philosophie- und Logikstudium (1967 - 71) zunächst als Dramaturg und ab 1979 als freier Schriftsteller die Widersprüche der sozialistischen Regierung herauszustellen ohne den Sozialismus dabei abzulehnen. Für seine Arbeit erhielt er 1989 den Lessing-Preis und 1990 den Erich-Fried-Preis.
In seinen Werken (u.a. ,,Horns Ende", ,,Der Tangospieler") beschäftigt er sich mit der Figur des Intellektuellen und der Frage, ob revolutionäre Gedanken eine andere Zukunft als Erstarrung im System besitzen. Sein zweiter Prosatext ,,Der fremde Freund" (westdt. Titel aufgrund des Titelschutzes: ,,Drachenblut") verhilft ihm 1982 in der DDR und 1983 in Westdeutschland zum Durchbruch.
Die Novelle handelt vom Dahinleben der gewollt emotionslosen Ärztin Claudia und ihrer Beziehung zu sich selbst und zu den sie umgebenden Menschen. Aus Angst vor tiefer greifenden Problemen und einschneidenden, lebensverändernden Erfahrungen beschränkt sich Claudia auf ein Minimum an Intimität gegenüber ihren Patienten, ihren Eltern und ihren ,,Freunden". Auch zu ihrem Liebhaber Henry und ihrer Beziehung zu ihm, von der die Novelle im Rückblick erzählt, bewahrt sie stets Distanz. Für Henry empfindet sie kaum das Gefühl der Sympathie, er ist vielmehr regelmäßiger Bettgenosse ohne emotionale oder persönliche Ansprüche auf Claudias Innenleben. Als er eines Tages bei einer Kneipenstreiterei erschlagen wird, ist bei Claudia kaum eine Gemütsregung festzustellen. Sie fühlt einzig ein wenig Mitleid mit sich selbst, da ihr durch einen Besuch in ihrer Heimatstadt - bei dem auch ein Teil ihrer emotionalen Kälte erklärt wird - klargeworden ist, dass auch sie nicht ganz ohne Liebe leben kann und will. Nach Henrys Tod wappnet sie sich jedoch für den weiteren Kampf gegen den Wunsch nach Geborgenheit, und das Buch endet mit einem kühl-optimistischen ,,Ich habe es geschafft. Mir geht es gut" Formale Aspekte und ihre Wirkung Bevor ich auf formale Aspekte in der Gestaltung des Prosatextes eingehe, möchte ich zunächst den Gegensatz zwischen Autor und Erzähler verdeutlichen. Der Autor Christoph Hein lässt die Geschichte des ,,fremden Freundes" von einer Erzählerin berichten, um die Novelle verfremdet erscheinen zu lassen. Dies dient dazu, den Aspekt der Entfremdung der Menschen in der DDR noch deutlicher werden zu lassen. Denn schon durch den Gegensatz zwischen dem männlichen Autor und der weiblichen Erzählerin wird dem Leser keine eindeutige männliche oder weibliche Sicht der Geschehnisse gestattet. Der Leser kann sich so kaum in emotionale Nähe zur Handlung begeben, so dass ihm die Abkühlung der gesellschaftlichen bzw. zwischenmenschlichen Beziehungen im DDR-Staat verstärkt schmerzhaft bewusst wird.
Die Novelle ,,Der fremde Freund - Drachenblut" wird in der Ich-Form von der Lesers mit der Erzählerin zu schaffen. Die Erzählweise Claudias lässt den Leser zunächst in dem Glauben, es handele sich um eine Innensicht ihrer Erfahrungen. Dies stellt sich spätestens dann als Trugschluss heraus, als Claudia den Leser mit plötzlichen, unvermittelten Gefühlsäußerungen, z.B. ,,(...) ich sagte ihm, daß ich ihn sehr gern habe (...)", völlig überrascht. Dadurch wird noch deutlicher, dass niemand, auch nicht die vermeintliche Vertrauensperson Leser, in der Lage ist, den Schutzwall der Hauptperson (ihre ,,Drachenhaut") zu durchdringen. Der Leser bekommt nur eine Außenansicht des Geschehens, und alles scheinbare Vertrauen streift letztendlich höchstens die Oberfläche von Claudias Person oder Seele. Die Hauptperson stellt aufgrund der vorangegangenen Aspekte keine Identifikationsfigur dar. Der Leser bleibt daher auf Distanz zu der Figur. Dies wird durch Claudias auktoriales Erzählverhalten noch verstärkt. Durch den Erzählerstandort, der sich zwar in räumlicher Nähe zum Erlebten befindet, aber zeitliche und vor allem emotionale Entfernung vermittelt, bleibt dem Leser der emotionale Einbezug und Zutritt zur inneren Welt Claudias und der Handlung verwehrt. Claudia distanziert sich in ihrer Haltung vom Erlebten, sie verhält sich fast während der ganzen Novelle unbeteiligt, emotionslos, nahezu uninteressiert, als berichte sie die Geschichte einer Fremden.
In ihrer Erzählung verwendet sie sowohl indirekte als auch direkte Figurenrede (allerdings ohne Anführungszeichen), um den Leser bisweilen in die Handlung hineinzuversetzen, bevor sie ihn mit einem unvermittelten Gefühlseingeständnis oder einer Entscheidung wieder in seine ursprüngliche, vom Autor gewollte, distanzierte Teilnahmslosigkeit versetzt.
Ich glaube, behaupten zu können, dass alle formalen Aspekte in Heins Novelle dazu dienen, dem Leser die Handlung und die Figuren zu entziehen, um ihm die Situation der Charaktere unter dem DDR-Regime zu verdeutlichen. Wie Claudia oder auch Henry soll der Leser den gezwungenen Verrat an Freu(n)den und Idealen, und die daraus resultierende Entfremdung der Menschen von ihrem eigenen Leben spüren.
Titel und Prolog
In der DDR erschien Christoph Heins Novelle 1982 unter dem Titel ,,Der fremde Freund". Meiner Meinung nach passt dieser Titel außerordentlich gut zum Inhalt des Textes, da in diesem von der Distanz in der Beziehung zweier Menschen erzählt wird. Er wird dort bereits der Gegensatz deutlich, der sich wie ein Leitmotiv durch die Novelle zieht und von Rolf Michaelis sehr passend wie folgt zusammengefasst wird: ,,Freund und doch fremd, fremd und doch Freund". Für Claudia selbst ist keiner der Begriffe ohne den anderen möglich, denn sie hat nicht den Wunsch, sich jemandem anzuvertrauen oder den anderen kennenzulernen. Der Titel ist ein erster Hinweis auf Claudias Beziehung zu Henry: Ihr genügt das körperliche Verhältnis, da es sie nicht in Pflichten einbindet. Für sie wird die Beziehung zu einem Menschen und das Ertragen derselben erst durch Distanz möglich.
Dies wird auch im Prolog dargestellt, der ganz eindeutig zu dem Titel in Beziehung gesetzt wird, als Claudia ihren gesichtslosen Begleiter ohne Zögern als einen Bekannten oder einen Freund identifiziert. Sie möchte nicht, dass ihre Freunde ein ,,Gesicht", d.h. Sorgen, eine gewachsene Persönlichkeit etc. haben. Für sie genügt der äußere Eindruck, sie hat nicht den Wunsch, den anderen tiefer kennen zu lernen, indem sie ihm durch das Gesicht in die Seele blickt.
Der Prolog stellt laut Claudia nicht nur einen Traum dar, sondern den ,,Versuch einer Rekonstruktion". Während des Traumes beschäftigt sie sich zum letzten und einzigen Mal mit ihrer Beziehung zu Henry. Für den Leser bleiben ihre vagen Andeutungen zunächst unverständlich; erst nach der Lektüre der gesamten Novelle stellt er fest, dass ihm an dieser Stelle der einzige, wirkliche Einblick in Claudias Inneres und ihre wirren ,,Nicht-Gefühlen" zu ihrem ,,fremden Freund" gegeben wird. Der Titel ,,Drachenblut", unter dem das Buch in Westdeutschland erschien, spielt auf mystische Aspekte (Siegfried-Sage) an. Meiner Meinung nach ist dieser Titel eher unglücklich gewählt, da sich Claudia ihrer eigenen Aussage nach unempfänglich für alles Mystische, Märchenhafte, Nicht-Wissenschaftliche fühlt. Und doch führt sie selbst den Vergleich des Bades in Drachenblut an: ,,Ich habe in Drachenblut gebadet, und kein Lindenblatt ließ mich irgendwo schutzlos". Ihre Hülle dient als Schutzwall - einerseits empfindet Claudia dies als positiv, denn so können ihr weder Vergewaltigung, noch Ohrfeigen emotional etwas anhaben. Andererseits befürchtet sie, aus Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft in ihrer selbstgewählten Isolation zu ersticken. So wird bereits durch den Titel der Konflikt der Hauptfigur deutlich: eingepanzert in ihre ,,Drachenhaut" ist für Claudia keine Unzufriedenheit möglich, gleichzeitig lehnt sie jedoch auch ihre selbst gewählte Isolation vom Leben ab. Der ostdeutsche Titel ist, zusammenfassend gesprochen, passender für das Buch, da er sofort mit dem Prolog korrespondiert, und nicht wie der westdeutsche, eher reißerische Titel erst gegen Ende der Novelle verständlich wird.
Claudias Beziehung zu Henry
Die Beziehung zu Henry lässt sich aus Claudias Sicht in drei Phasen einteilen.
Die I. Phase beginnt im II. Kapitel mit dem unvermittelten Treffen von Henry und Claudia und endet im III. Kapitel. Während dieses Abschnitts besteht zwischen Claudia und Henry neben dem körperlichen Verhältnis keine emotionale Verbindung. Sie sehen als einzige ,,Brücke" zwischen sich die gegenseitige Befriedigung sexueller Bedürfnisse. Claudia gibt dem Leser gegenüber ein sehr offenes Eingeständnis dieser Fremdheit (,,... ich sagte, daß er mir sehr fremd sei. Er wollte wissen, warum ich das sage, aber ich gab ihm keine Erklärungen."). Sie geben sich keine Erklärungen - Kommunikation tritt an Wichtigkeit weit hinter den Geschlechtsverkehr zurück -, vielmehr ist Claudia ein bißchen stolz auf die Ungewöhnlichkeit der freiwillig erzwungenen Distanz und die Verantwortungslosigkeit gegenüber dem anderen. Beide fühlen sich nicht als Hälfte eines Ganzen, und jeder bleibt in seiner Haut für sich, da zumindest Claudia nicht den Wunsch verspürt, sich durch grenzenloses Vertrauen völlig zu offenbaren.
Henry und Claudia sind in dieser Phase zufrieden, weil keiner dem anderen Pflichten auferlegt.
Die II. Phase ist von Seiten Claudias von Unzufriedenheit geprägt. Sie beginnt im IV. Kapitel, als Claudia feststellt, dass Henry ohne Ankündigung verreist ist. Offensichtlich beginnt sie, an ihm zu hängen, so dass sie zum ersten Mal während ihrer Erzählung wirkliches ,,Leben" (Liebe und Liebeskummer) streift. Sie ist jedoch über sich selbst verärgert, da sie durch ihr Einsamkeitsgefühl ihre selbst getroffene Vereinbarung der Distanz bricht. Auch Henry wird bei seiner Rückkehr von ihr durch ihre Vorwürfe über seine unangekündigte Abreise enttäuscht. Als sie ihm spontan ihre Zuneigung bekundet, warnt er sie vor emotionaler Liebe zu ihm, denn er benötigt (benutzt) sie lediglich, um seine körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen. In dieser II. Phase wird also durch ihre eigenen aufkeimenden Emotionen ein innerer Angriff auf Claudias ,,Drachenhaut" geführt. Claudia fühlt sich durch ihre Sehnsucht beengt und sie versucht, ihre Gefühle unerkannt herauszulassen (Lachanfall unmittelbar vor der Vergewaltigung). Aber auch Henry beginnt unfreiwillig, seine Rücksichtslosigkeit gegenüber Claudia abzubauen. Dies wird deutlich, als er Claudia nach dem Beinah-Autounfall eine Ohrfeige gibt: er ist verärgert über sich, da er eine Sekunde zu lang an ihre Angst vor zu schnellem Fahren dachte und dadurch unaufmerksam wurde. Zusammenfassend lässt sich formulieren, dass die II. Phase das Bröckeln der gegenseitigen Distanz und damit einen neuen Abschnitt der Beziehung markiert. Claudia und Henry haben beide das Bedürfnis, sich gegenseitig weh zu tun, um ihre Unabhängigkeit zu betonen.
Die III. Phase beginnt im VII. Kapitel und markiert den letzten Abschnitt der Beziehung. Sie wird im XII. Kapitel der Novelle fortgesetzt und mit dem Tod Henrys beendet. Aus dem Neuen ist für beide ,,Partner" Gewohnheit geworden. Die regelmäßigen Treffen sollen für Claudia die Sicherheit bieten, die sie von Henry verlangt, als sie ihn bittet, sie nicht mehr mit unangemeldeten Besuchen etc. zu überraschen. Daher ist sie anders als in der I. Phase angekündigt, inzwischen mit dieser Art von Normalität zufrieden. In ihrer Beziehung selbst haben sich Henry und Claudia wieder auf ihr sexuelles Verhältnis rückbezogen. Jeder weiß, dass der andere Probleme hat, ist aber nicht weiter an den genauen Umständen interessiert. Trotz ihrer innerlichen Ängste sind sie zufrieden oder wollen zumindest so erscheinen. Ihr persönlichstes Gespräch besteht aus einem Ritual, bei dem alles vorgegeben ist: ,,Wie geht es dir?" - ,,Gut"). Aber die Perspektivlosigkeit der Beziehung und ihre Interesselosigkeit in Bezug auf eine gemeinsame Beziehung ist von beiden gewollt - sie leben zusammen in ihrer kleinen, heilen Welt und vielleicht wollen sie sich damit eine Entschädigung für ihre Kindheit verschaffen. Denn von Claudia wissen wir um ihre zerstörte Illusion des Erwachsenwerdens, Henry deutet an einer Stelle unangenehme Kindheitserlebnisse an. Henry und Claudia führen ein Theaterstück voll teilnahmslosen Glückes auf - obwohl sie beide wissen, dass ihre ,,Insel" schon längst voller Schwierigkeiten steckt. Beide versteifen sich jedoch auf ihr Nichtwissen- wollen.
Tod Henrys und Claudias Bewältigung seines Todes
Ebenso, wie sich die Beziehung zwischen Henry und Claudia in drei Teile gliedern lässt, ist es möglich, die Zeit nach Henrys Tod ebenfalls in drei Phasen zu unterteilen. In der I. Phase ist Claudia benommen - sie selbst gibt dem Leser eine Beschreibung ihres verwirrten Zustandes, als ihre Nachbarin ihr von Henrys Tod berichtet. Aber ihr ,,Emotionsschutzwall" hält den Verlust Henrys aus, auch wenn sich zunächst Risse im Panzer zeigen: Claudia hat das Bedürfnis, einen Entschluss zu fassen, aber nicht nur der Leser bleibt über das Motiv und das Thema dieses Entschlusses im Unklaren.
Auch Claudia ist ratlos, sie stellt erstmals wirklich erschrocken fest, dass ihr Henry bis auf Name und Körper völlig unbekannt ist. Ein wenig fühlt sie sich schuldig, meint ihm mit dem Beerdigungsbesuch die letzte Ehre erweisen und die Vertrautheit zeigen zu müssen, die sie mit dem Toten niemals hatte. Nach der Beerdigung versucht sie, sich persönlich an Henry zu erinnern, da ihr die Beerdigung keine Beruhigung gegeben hat. Doch der Versuch bleibt erfolglos. Schließlich reagiert Claudia auf ihre vertraute und normale Art: Sie verdrängt Henry aus ihrem Leben, indem sie das Nachdenken über ihre Beziehung und alles Ihn-betreffende einfach aufgibt. Dies fällt ihr relativ leicht, da Henry (sein Versprechen haltend) nicht überraschend stirbt. Claudia ist in diesem Punkt jedoch über sich selbst erstaunt, da sie seinen Tod weder geahnt noch befürchtet hat. Es lässt sich formulieren, dass Henrys Tod gewissermaßen in Claudias Augen die logische Fortsetzung der Beziehung ist: Zu der emotionalen Distanz im Leben kommt nun im Tode die räumliche und körperliche Entfernung.
Die II. Phase ist eine Zeit der Umgewöhnung. Claudia trauert nicht um Henry, da sie es als sinnlos empfindet, verspätete Verbundenheit mit dem Toten zu demonstrieren und den Wert ihrer Beziehung dadurch im Nachhinein scheinbar und unaufrichtig zu erhöhen. Das einzige ,,Gefühl", wenn dieser Ausdruck für Claudias Regung angemessen ist, ist reines Selbstmitleid. Trotz ihrer Vereinbarung scheint Claudia etwas wie Anspruch auf Henrys Gegenwart zu erheben, obwohl sie es vor sich selbst nicht zugibt. Sie erwähnt zwar ihren ,,schweren, süßlichen Wunsch, geborgen zu sein", lehnt ihn aber gleichzeitig ab. Ihr Sehnsuchtsgefühl ist körperlos, sie vermisst Henry nicht als Person, sondern eher als Zustand. Daher überlegt Claudia zeitweise, ob sie ein Kind adoptieren soll. In ,,sentimentalen Momenten" glaubt sie, durch ein Kind ins Leben zurückkehren und ihre Existenz mit Sinn füllen zu können. Sie erkennt jedoch, dass ein Kind ebenso wie Henry nur als Schauspieler in ihrem ,,Glückstheater" dienen würde und verwirft daher diesen Gedanken. Sie sieht sich selbst als Kopfmenschen, daher benutzt sie ihren Verstand gegen ihre aufkommenden Gefühle und ihre Einsamkeit, und zwingt sich zurück in ihr ,,Theaterstück" der ,,netten, sehr normalen Frau". Dies gelingt ihr letztendlich - auch allein.
Ein halbes Jahr nach Henrys Beerdigung hat Claudia in der III. Phase wieder ihren angestrebten Zustand des scheinbaren Glückes erreicht hat. Sie berichtet, dass sie wieder einen neuen Freund habe und einigermaßen zufrieden sei. Sie hat sich ihre neue - alte - Existenz (wieder) aufgebaut - ein neuer Freund ersetzt Henry und ohne, dass Claudia sich dazu äußert, ahnt der Leser, dass die neue Beziehung der zu Henry in Distanz und Gefühlskälte ähnlich ist. Trotz all dem hat Claudia während des
Verhältnisses zu Henry gelernt. Sie tut ihre Liebe zu ihrer Jugendfreundin nicht mehr als Kinderei ab, sondern gibt ehrlich zu, dass sie Katharina und ihre Vertrautheit vermisst. Sie trauert ganz offen ihrer Vergangenheit als sorgloses und impulsives Kind nach. Sie schätzt ihre Vernunft und ihre ,,Drachenhaut", aber gleichzeitig verspürt sie in ihrem Leben nach Henry eine Leere, an der sie zu ersticken droht: ,,Aus dieser Haut komme ich nicht mehr heraus. In meiner unverletzbaren Hülle werde ich krepieren an Sehnsucht nach Katharina". Claudia spürt die Widersprüche in ihrer Haltung zum Leben, doch schließlich verdrängt sie diese energisch wie alle anderen Schwierigkeiten mit tristem Alltag von ihrer ,,Bühne". Die Novelle endet mit ihrer unglaubwürdigen Aussage: ,,Meine Haut ist in Ordnung. (...) Alles was ich erreichen konnte, habe ich erreicht. Ich wüßte nichts, was mir fehlt. Ich habe es geschafft. Mir geht es gut".
Charakterisierung der Hauptfiguren
Claudias Leben und Verhältnis zu sich selbst (Veränderung der Lebenseinstellung): Claudia macht im Laufe ihres Lebens - zum Zeitpunkt der Handlung der Novelle ist sie neununddreißig, bzw. vierzig Jahre alt - mehrere Veränderungen ihrer Persönlichkeit und ihrer Lebenseinstellung durch.
Ihre Kindheit verbringt sie (bis zu ihrer Aufklärung) als glückliches, kleines Mädchen, zufrieden mit ihrem Leben. Claudia ist damals noch in der Lage, Mitmenschen zu vertrauen und bringt ihrer Jugendfreundin Katharina bedingungslose Liebe entgegen. Sie geht sogar so weit, sich mit dieser bis auf die Gottesvorstellung identifizieren zu wollen. Als kleines Mädchen hegt Claudia die große Hoffnung, ihren Traummann zu finden und ein Leben mit ihrer ,,großen Liebe" verbringen zu können. Mit der brutalen und rücksichtslosen Aufklärung durch ihre Mutter wird diese heile Welt voller Träume zerstört. Claudia verliert ihren Glauben an die Liebe und lehnt damit auch Erwachsen werden und Heiraten ab. Ihr werden ihr Lebensziel und ihr Traum vom emotionalen Daseinsglück genommen. Sie bekommt ein ,,verquastes Bild von Sexualität", das ihr jahrelang keine normale Beziehung zu Männern ermöglicht. In gewissem Maße ist die rein körperliche Beziehung zu Henry eine Folge dieser Einstellung: Da Claudia nicht mehr an die Liebe glaubt, ist für sie nur eine rein körperliche Beziehung möglich. Gleichzeitig beginnt sie, ihre Zuneigung und ihr Vertrauen zu ihren Eltern zu verlieren.
Dazu kommt, dass in dieser Phase ihre Freundschaft mit Katharina durch staatliche, öffentliche und schulische Einflüsse so weit untergraben wird bis Claudia ihre Freundin öffentlich beleidigt. Zurück bleibt bei beiden Mädchen unversöhnlicher Hass auf die andere. Danach ist Claudia nicht mehr in der Lage, sich einem anderen Menschen anzuvertrauen, da sie das Gefühl hat, sonst um sich selbst betrogen zu werden. Sie glaubt, dass jedes Vertrauen zu anderen letztendlich zerstört werden und sich nachteilig auswirken müsse. Daher zieht sie zur Zeit der Novellenhandlung für sich den Schluss: ,,Wahrscheinlich brauche ich keine Freunde". Zu diesem Zeitpunkt ist jedoch Claudias Bild von sich selbst noch in Ordnung. Dies wird erst zerstört, als sie von den Naziverbrechen ihres Onkels erfährt. Von diesem Zeitpunkt an verliert sie stetig an Selbstwertgefühl und klagt sich fortwährend für Verbrechen an, an denen sie keine Schuld trifft. Als ihr ein Mitschüler sagt, dass er sie deshalb für arrogant hält, reagiert Claudia zum ersten Mal in ihrer später typischen Weise: Sie beginnt zu schweigen. Zunächst geschieht dies als ,,äußeres" Schweigen, da sie andere nicht durch ihre Problemen stören will. Als dieses System scheinbar Wirkung zeigt, wendet sie das Schweigen auch ,,innerlich" an: Sie versteckt ihre Schwierigkeiten auch vor sich selbst, indem sie jegliche Gedanken daran ablehnt.
Claudia geht sogar so weit, diese Verdrängung als die Grundlage der gesamten
Zivilisation zu bezeichnen. Dabei bezieht sie ihr eigenes ,,Lebensprogramm" auf alle anderen Menschen, denn bei ihr selbst haben sich im Laufe der Jahre so viele Probleme angehäuft, dass sie unter ihnen ersticken würde, wenn sie ihnen die Möglichkeiten gäbe. Aber sie schützt sich mit ihrer ,,Drachenhaut" sowohl gegen Probleme von außen als auch gegen die Angst, die ihre Probleme von innen aufzubrechen droht. Daraus ergibt sich ihre Lebensanschauung: ,,Meine Träume können nicht mehr beschädigt werden, meine Ängste nicht mehr gelöscht". Claudia hat vollkommen resigniert und tarnt dies vor anderen und sich selbst als Maßnahme, um glücklich zu sein .
Erst mit Henry kommt ihr unerwünschtes Verlangen nach Geborgenheit und Glück wieder hoch, das nach seinem Tod in dem Wunsch nach einem Adoptivkind gipfelt. Gewissermaßen hat Henry Claudias letzte ,,Lebens-Geister" geweckt, die jahrelang unter der Last von Alltag und Verdrängen verborgen gewesen waren. Und doch ringt Claudia mit diesem Wunsch wie mit einem Gegner. Am Ende der Novelle hat sie ihn besiegt, und sie kann durch neues, inneres Schweigen beruhigt von sich sagen, dass sie es ,,geschafft" hat und es ihr wieder gut geht.
Veränderung des Verhältnisses zu Mitmenschen
Innerhalb von Claudias Leben treten zwei wichtige Änderungen in ihrem Verhalten gegenüber ihren Freunden und ihren Eltern ein, die letztendlich Claudias Kälte gegenüber ihren Patienten bewirken.
Als kleines Mädchen bringt Claudia ihren Eltern uneingeschränktes kindliches Vertrauen entgegen. Sie glaubt ihren Eltern alles, was diese ihr als Rat oder Anweisung auf den Weg geben - unabhängig davon, ob es ihre eigene Persönlichkeit 8 einschränkt oder wirklich nützlich ist. So lässt sie sich durch die brutale Aufklärung völlig einschüchtern und vertraut ihren Eltern aufgrund ihrer ,,Erfahrung". Später stellt Claudia jedoch fest, dass ihre Entwicklung regelrecht erdrückt wurde, indem sie sich als kleines Mädchen zum ,,Angstabladeplatz" ihrer Eltern machen ließ. Sie beginnt zaghaft zu rebellieren. Anders als Jugendliche, die diese Phase in der Pubertät durchleben und mit neuen Wertvorstellungen gegen ihre Eltern revoltieren, straft die erwachsene Claudia ihre Eltern mit Liebesentzug. Sie lässt sie nicht an ihrer Arbeit oder ihren Erlebnissen teilhaben, verweigert Besuche und Trost. Sie fühlt sich nicht verantwortlich oder verpflichtet gegenüber ihren Eltern, da diese ihrer Meinung nach ihre Jugend zerstört haben.
Ähnlich verändert sich Claudias Verhältnis zu ihren Freunden. Als kleines Mädchen ist sie in der Lage, ihre Freundin Katharina rückhaltlos zu lieben und ihr alles anzuvertrauen. Durch den Druck des Staates (ausgeübt durch Eltern, Lehrer und Mitmenschen) wandelt sich dieses Vertrauen zunächst in oberflächliche Freundschaft, bis Claudia Katharina schließlich offen verleugnet. Danach beginnt Claudias Verkapselung. Später ist sie nicht einmal in der Lage, sich für die Situation ihrer Freundin, die regelmäßig vergewaltigt wird, zu interessieren. Sie lehnt schon den Gedanken ab, dass sie selbst in der Lage sei, mit Worten oder Handeln zu helfen. Claudia macht sich selbst zur neutralen Beobachterin ihrer Umwelt. Dies wird auch dadurch deutlich, dass sie an einer Zeitung einzig die Annoncen interessieren, weil diese einen verpflichtungslosen Einblick ins Privatleben anderer ermöglichen. Später bereut Claudia die Trennung von Katharina und ihr Verhalten, jedoch ist sie nicht in der Lage, neue Freundschaften zu knüpfen. Dies zeigt sich, als sie im Urlaub bei Freunden das ,,schöne Mädchen" trifft. Claudia macht sich auch bei ihr nicht die Mühe, etwas über ihre Persönlichkeit herauszufinden oder mit ihr ins Gespräch zu kommen. Die reine Existenz der anderen genügt ihr. Auch oberflächliche, emotionslose Nachbarschaftsbekanntschaften werden von Claudia abgelehnt, da diese ihrer Meinung nach nur unnötige Verpflichtungen wie gezwungene, sinnlose Gespräche etc. mit sich führen.
Beide Veränderungen in Claudias Verhältnis führen dazu, dass ein sozialer Beruf der denkbar schlechteste Berufszweig für sie darstellt. Am liebsten würde Claudia ihre Patienten ohne persönlichen Kontakt mit Medikamenten versorgen. Sie möchte nur Wirkungen, aber keine Ursachen beseitigen, da dies ein persönliches Befassen mit dem Menschen hinter der Krankheit bedeuten würde. Claudia möchte jedoch ihr Inneres von fremden Problemen verschonen, da dies sonst ein zwangsweises Nachdenken oder Parallelen ziehen zu ihren eigenen Schwierigkeiten und deren Ursachen nach sich ziehen würde.
Elemente von Claudias Daseinsglück
Claudia strebt in ihrem Leben nicht direkt nach Glück, sondern vielmehr nach Zufriedenheit und Sorgenfreiheit, was für sie vor allem eine Existenz ohne Nachdenken bedeutet. Dieses Schweigen bezieht sich aus einer Distanz zu sich selbst. Diese Entfernung zu ihrer Person liegt wiederum im Verschweigen ihrer Probleme begründet, denn dadurch wird ein ,,Kennenlernen" der Person Claudia für alle unmöglich. Dies ist von Claudia beabsichtigt.
Um die Sicherheit ihrer ,,Drachenhaut", d.h. ihre Emotionslosigkeit, zu gewährleisten, lehnt Claudia jede Überraschung ab.
Sie benötigt keine Vertrauensbeweise - weder von Freunden noch von Fremden -, da dies für sie ebenfalls ein sich Anvertrauen zur Folge hätte. Für Claudia steht Vertrauen gleichbedeutend mit Selbstverrat, da sie als Kind durch das Vertrauen zu ihren Eltern in ihrer selbstständigen Entwicklung in Bezug auf Sexualität und Freundschaft gehemmt wurde.
Ihr Bedarf nach Liebe erstreckt sich lediglich auf den körperlichen Bereich - ihre Gefühls-,,Freiheit" ist für Claudia Lebensphilosophie. Trotz ihrer Versuche, sich von den Vorurteilen ihrer Eltern zu lösen, ist es ihr nicht möglich, einen Mann zu lieben. Also versucht Claudia durch rein körperliche, gewollt ,,ungewöhnliche" Verhältnisse zu Männern, wenigstens ihre Verachtung für die Moralvorstellungen ihrer Eltern deutlich zu machen. Ist ihr dieser Weg trotz Emotionsverdrängung (z.B. in ihrer Ehe oder bei ihrer Abtreibung) unangenehm, entzieht sie sich durch Körperflucht der Realität, anstatt das Problem direkt anzugehen. Ein wichtiges Element ihres gekünstelten Glückes ist für Claudia paradoxerweise ihre eigene ,,Normalität". Obwohl sie bei ihrer Beziehung zu Henry auf der Vermeidung von Alltäglichkeit besteht, beruft sie sich bei sich selbst auf ihre eigene Durchschnittlichkeit, sie hält sich für eine ,,nette, sehr normale Frau“. Dies betont sie immer wieder und klammert sich an diese Vorstellung von Ordnung, wenn Ereignisse wie die Vergewaltigung durch Henry drohen, ihre ,,Drachenhaut" zu zerstören. Zusammenfassen lässt sich Claudias ,,Glückstheater" in drei Begriffen: Schweigen, Misstrauen und Befriedigung körperlicher Bedürfnisse.
Lebenseinstellung und Bedeutung von Daseinsglück für Henry
Anders als Claudia, die längst unter ihrer ,,Drachenhaut" resigniert hat, ist Henry immer noch auf der Suche nach dem Lebensglück und dem Sinn seiner Existenz. Schon sein lebenskräftiger Name verdeutlicht seine Lebensanschauung. Am deutlichsten wird dieser Wunsch nach Er-Leben jedoch in seinem Ausspruch: ,,Ich lebe, aber wozu. Der ungeheuerliche Witz, daß ich auf der Welt bin, wird doch eine Pointe haben". Dabei hat er ständig Angst, etwas zu verpassen - Angst am Leben vorbei zu existieren. Er verachtet Menschen, die ihre Existenz mit Warten in Langeweile verbringen. Dies wird deutlich, wenn er mit Claudia über verschiedene Cliquen Jugendlicher spricht, die den beiden im Laufe der Novelle begegnen. Er versucht, Langeweile bei sich selbst zu vermeiden, daher kommt ihm auch die relativ ungewöhnliche Beziehung mit Claudia sehr recht. Mit ihr kann er seine sexuellen Bedürfnisse ausleben, ohne zu ihnen verpflichtet zu werden. Vermutlich hat er genau wie Claudia nicht das Verlangen nach ,,Alltäglichkeit". Dies spiegelt sich auch in dem stummen Abkommen wider, dass Henry und Claudia geschlossen haben: Sie wollen beide den anderen nicht mit eigenen Sorgen belasten oder gezwungenermaßen aufeinander Rücksicht nehmen. Henry ist seine Freiheit dabei fast noch wichtiger als Claudia, denn er reagiert empfindlich und verärgert, als sie ihn zum Beispiel nach seiner Reise fragt, wo er gewesen sei. Sein ,,Lebensziel" besteht nur darin, selbst nicht enttäuscht zu werden und niemand zu enttäuschen (das allerdings ohne sich selbst einzuschränken oder seine Persönlichkeit zu verändern).
Er sucht sein Glück im Augenblick : Was ihm in einem Moment als gut erscheint, genießt er - unabhängig davon, ob es im nächsten Moment ungünstige Auswirkungen hat. Wenn dem so ist, lebt Henry mit den Folgen, ohne sich zu beschweren oder nachträglich etwas verändern zu wollen. Er sucht keinen Tiefgang in seinen Handlungen und lässt Analysen anderer nicht zu. Ihm genügt zu wissen, was ihm gefällt, nicht warum.
Seine ,,Lebens-Freude" zeigt sich jedoch eher in ,,materiellen" als in emotionalen Erlebnissen. Henry sagt dazu über sich selbst, dass ihm Auto fahren sehr viel bedeute, weil er dabei das Leben spüre. Er hat Spaß daran, mit seinem Leben zu spielen, ,,seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen". An einer Beziehung zu einer Frau scheint ihm der sexuelle Aspekt am wichtigsten zu sein (wie durch seine häufigen Fragen danach deutlich wird), da er ihm ein unmittelbares Fühlen des eigenen Lebens ermöglicht.
Anders als Claudia sucht Henry keine Gründe für sein Verhalten. Claudia lehnt zwar ab, nachzudenken, aber sie schiebt all ihre Ängste und Verhaltensweisen doch auf ihre Kindheitserlebnisse (Aufklärung, Sportunterricht etc.). Henry ist mit dem, was er im Moment ist, zufrieden und versucht für sich das maximale ,,Erlebnis" herauszuholen. Er sucht nicht nach dem Schuldigen für seine Verhaltensweisen. Henry benötigt keine Gründe für sein Verhalten, ihm genügen kurzzeitige Momente des Leben-Fühlens.
Schlussteil
Daseinsglück oder Lebensverfehlung?
Auf die Frage, ob es sich bei Christoph Heins Werk um eine Verdeutlichung von Daseinsglück oder Lebensverfehlung handelt, gibt es keine eindeutige Antwort. Der Autor versucht vielmehr durch den Anschein von Daseinsglück die Verfehlung in Claudias Leben noch schonungsloser aufzudecken.
Claudia stellt sich dem Leser meist so dar, als sei sie mit ihrem Leben zufrieden, aber dieser Eindruck besteht für diesen bestenfalls am Anfang. Schnell findet er heraus, dass auch Claudia selbst mit ihrem Dasein alles andere als glücklich ist. Besonders deutlich wird dies nach Henrys Tod - plötzlich spürt Claudia ihre eigene Verlassenheit, wobei sicher nicht die Abwesenheit von Henry, sondern vielmehr die Abwesenheit jeglichen Lebenssinnes gemeint ist - und in ihrem Wunsch, Katharina wiederzusehen. Claudia mag zwar unter dem Schutz ihrer ,,Drachenhaut" scheinbar problemfrei existieren zu können - aber es bleibt bei einer ,,Existenz", und diese ist kaum als ,,Leben" zu bezeichnen. Der positivste Ausdruck, der sich auf Claudias ,,System" des Überlebens anwenden lässt, ist ,,Zufriedenheit", denn durch ihr inneres und äußeres Schweigen schafft Claudia sich einen trügerischen Seelenfrieden.
So wird in Heins Novelle die traurigste Form der Lebensverfehlung deutlich gemacht: Claudia kennt weder die negativen Seiten des menschlichen Lebens - da sie diese verdrängt - noch ist ihr wirkliche Freude bekannt. Sie weiß daher nicht, was ,,Leben" wirklich bedeutet. Sie balanciert stets auf dem schmalen Grad zwischen Verzweiflung über ihre Probleme und Wahnsinn durch die Verdrängung ihrer Schwierigkeiten. Durch diesen Balanceakt ist sie so in Anspruch genommen, dass sie Möglichkeiten, zum Leben zurückzukehren (Verliebtheit, Beziehungskrisen, Freundschaften etc.) überhaupt nicht wahrnehmen kann - oder könnte, wenn sie wollte. Vielmehr propagiert sie durch ihre Einstellung Daseinsglück durch Lebensverfehlung. Sie glaubt ihr ,,Leben" nur dadurch erhalten zu können, indem sie es ablehnt. Meiner Meinung nach will Christoph Hein den Leser mit seiner Novelle auf diese Haltung aufmerksam machen. Hein möchte ihn davon abhalten, seine Existenz zu einem emotionslosen Theaterstück der Zufriedenheit zu machen, da Hein selbst dieses ,,Glück" weder als zufriedenstellend noch als dauerhaft empfindet.
Christa Wolf - Kassandra
Autorin:
Christa Wolf schrieb diese Erzählung mit Hilfe vieler verschiedenen Quellen aus
längst vergangener Zeit. Hauptsächlich verwendete sie aber die Geschichte Orestie von Aischylos. 1983 erschien dann das Buch ,,Kassandra".
Inhalt:
Diese Erzählung spielt im altem Troja zur Zeit des Krieges zwischen Troern und Griechen. Die Hauptperson ist Kassandra, Tochter des Königs Priamos und Hohepriesterin des Gottes Apollon. Kurz vor ihrem Tod lässt Kassandra ihr Leben noch einmal Revue passieren und betrachtet es dabei kritisch. Die ganze Erzählung ist als innerer Monolog verfasst und gibt die Gedanken Kassandras wider. Es fängt damit an, dass Kassandra von dem Gott Apollon die Sehergabe erhält. Als sie sich seiner Liebe verweigert, straft er sie damit, dass ihren Prophezeiungen nie jemand Glauben schenken soll. Und dieser Fluch bewahrheitet sich auch. Kassandra war immer das Lieblingskind ihres Vaters. Ein guter König aber kein guter Kriegsstratege. Es ist wohl allein seine Schuld, dass Troja unterging. Er hätte den Krieg von Anfang an beenden können, ohne Blut zu vergießen. Sein Sohn Paris will die schöne Helena, des Königs Schwester, aus den Händen der Griechen befreien. Allerdings wird sie, bevor er wieder in Troja ist, von den Ägyptern entführt. Daraufhin ist der griechische König sehr erzürnt und will Helena von den Troern zurückholen. Nur weiß er nicht, dass Helena sich gar nicht in Troja befindet. Denn Paris und die ganze Königsfamilie hielten es streng geheim, um dem Ruf des Königshauses nicht zu schaden. König Priamos und seines Sohnes gekränkter Stolz, machen ihn und seine Gefolgsleute blind für das Offensichtliche. Troja kann nie gewinnen gegen eine solche Übermacht wie Griechenland. Als Kassandra den Krieg und den Untergang Trojas vorhersagt will ihr niemand glauben, genauso wie es Apollon prophezeite. Ihr über alles geliebter Vater lässt sie in eines der dunkelsten Verließe sperren die es in Troja gibt. Dort wird sie beinahe verrückt. Hier verlässt sie der Glauben an ihren Vater und weiß, dass es um Troja geschehen ist. Ihr Vater versucht mit allen Mittel sein Reich nicht zu verlieren. Er lässt sogar die Amazonen kommen um mit ihm gegen die Griechen und deren Held Achill zu kämpfen. Als sie sich in der Übermacht glauben, da die Griechen auf einmal das Festland verlassen und nur ein riesiges, hölzernes Ding stehen lassen, vergessen sie auf alle Vorsicht und holen es in die Stadt. Was sich als ein großer Fehler beweißt. Die letzte Hoffnung war ein befreundeter König, der aber zum Dank für seine Hilfe die Hand Kassandras verlangt. Er fällt nach der ersten Hochzeitsnacht im Kampf und Kassandra gebärt neun Monate später Zwillinge. Es folgt ein Gemetzel nach dem anderen. Die Trojaner haben nicht die geringste Chance sich gegen den mächtigen Gegner zu behaupten. In dieser grausamen Zeit zieht sich Kassandra von diesem Kriegsschauplatz mit anderen Frauen, die meisten waren Sklavinnen oder einfache Bäuerinnen, in die Wälder zurück. Dort lernt sie, dass es keinen Unterschied zwischen ihr und diesen armen Frauen gibt. Genau wie die anderen Frauen an ihre Freunde, so denkt auch Kassandra an ihren Geliebten Aineias, der versucht so viele Bürger wie möglich zu retten. Nur leider vergeblich. . Dieser Krieg vernichtet ganz
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Troja, nur wegen eines uneinsichtigen Königs der seinen Stolz bewahren will. Durch diesen Krieg verliert er fast alle seine Kinder, die für ihn ihr Leben geben um diesen aussichtslosen Krieg noch etwas in die Länge zu ziehen.
Charakterisierung:
Kassandra: Sie ist eine Außenseiterin. Nicht nur weil sie eine Priesterin ist, sonder auch weil sie die Sehergabe besitzt. Die meisten in ihrer Nähe haben Angst vor ihr. Nur ihre treue Ergebene Marpessa hält immer zu ihr und lehrt sie Dinge von denen sie nie zu träumen gewagt hätte. Kassandra will immer nur eines - die reine Wahrheit erfahren und sie verbreiten. Doch auch dieser Wunsch wird ihr durch ihren Vater, den sie über alles liebt, verwährt. Sie muss schwören, die Staatsgeheimnisse niemals irgendjemanden zu verraten. Sie hatte immer ein sehr inniges Verhältnis zu ihrem Vater. Doch dieses Vertrauen wurde durch den Krieg zerstört. Der König drängt ihr seinen Willen auf und sie ist nicht mehr länger seine Tochter sondern seine Untertanin. Nur durch die gelegentlichen Treffen mit Aineias merkt sie, dass sie noch ein Mensch ist, und keine vom Krieg geprägte Kreatur.
Marpessa: Sie steht immer zu ihrer Herrin, später Freundin, egal wie sonderbar sie sich benimmt. Marpessa weiß was sie will, und lässt sich auch nur schwer von ihren Vorhaben abbringen.
König Priamos: Er liebt seine Tochter Kassandra über alles. Doch er merkt, in den Anfängen des Krieges, dass sie eine große Gefahr darstellt. Seine Untertanen kämpfen nur weil sie an eine erfundene Geschichte glauben (die Befreiung der schönen Helena), würden sie herausfinden, dass dies alles eine Lüge ist würde es zu einem Aufstand kommen. So muss er Kassandra von den Leuten abschirmen. Er will immer nur seinen und den Ruf des Königshauses waren, und wie ein echter König wirken. Dabei übersieht er die Tatsache, dass ein echter König sein Volk wegen einer Lappalie nicht in den Tod schickt. Königin
Hekabe: Sie ist die eigentliche Herrscherin bis der Krieg ausbricht. Zuvor hatte sie alle Zügel in der Hand. Doch während des Krieges wird sie zu einem Zuschauer verbannt, und kann nichts unternehmen, was das Schicksal von Troja verändern könnte. Sie liebt ihre Tochter Kassandra genauso wie ihre anderen Kindern. Aber sie weiß, dass Kassandra anders ist, als ihre übrigen Kinder. Hekabe sagte: ,,Dieses Kind braucht mich nicht!", und damit hat sie Recht. Hekabe ist nie einer Meinung mit Kassandra, die des öfteren wilde Exzesse durchmacht um zu sich selbst zu finden. Kassandra muss ihren eigenen Weg gehen, und kann Rügen und Strafen ihrer Mutter nicht brauchen.
Interpretation:
Die Erzählung Kassandra von Christa Wolf stellt den Reflexionsprozess der
trojanischen Königstochter Kassandra zum Zeitpunkt ihres unmittelbar
bevorstehenden Todes dar. Kassandra, die Lieblingstochter des Königs Priamos von Troja, wird von Agamemnon, dem König der über Troja siegreichen Griechen, als Kriegsbeute nach Mykenae verschleppt. Im Anblick der Stadtmauern und sich ihres baldigen Todes gewiss erinnert sich die mit der Sehergabe bekleidete Priesterin. Ihre Jugend in Troja, ihre familiären und freundschaftlichen Beziehungen sowie der Krieg 13 gegen die Griechen und die damit einhergehenden Veränderungen der trojanischen Gesellschaft ziehen noch einmal an ihrem inneren Auge vorbei. Anlass für diese 1983 in beiden Teilen Deutschlands erschienene Erzählung waren die Eindrücke einer Griechenlandreise der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf. Das Studium antiker Texte und die Begegnung mit einer Kultur, die der Frau eine traditionell untergeordnete Stellung zuweist, inspirierte die 1929 in Landsberg an der Warthe geborene und heute in Berlin lebende Autorin. In den ebenfalls 1983 veröffentlichten Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra wird der Entstehungsprozess des Werkes anhand der Sammlung ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesungen dokumentiert. Gleichzeitig Dichterin und Mitglied der SED zu sein, wirkte sich auf das Schreiben Christa Wolfs aus. Der von ihr geprägte Begriff der ,,subjektiven Authentizität" beinhaltet, dass persönliche Erlebnisse stets die größte Geltung und Wahrheit haben für das Individuum ebenso wie für die Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Angst um atomare Aufrüstung und Atomkriege erschien Christa Wolf die antike Seherin Kassandra, deren Voraussagen niemand Glauben schenken wollte, in einem neuen Licht. Den (historischen) Hintergrund der Erzählung stellt der Trojanische Krieg dar, wie er aus der griechischen Mythologie überliefert ist: Nach zehnjähriger Belagerung gelingt es den Griechen schließlich mit einer List, Troja zu besiegen. In den Vordergrund treten die Figuren und deren Beziehungen zueinander, die durch die Ich-Erzählerin Kassandra charakterisiert werden. Dabei werden bewusst Veränderungen vorgenommen, um die zentralen Themen deutlich herauszustellen. Es geht Christa Wolf um die Rolle der Frau in einer von Männern beherrschten Gesellschaft und um das entsprechende Bild des Mannes. Sie äußert auch Überlegungen zur Notwendigkeit von Kriegen. Und nicht zuletzt spricht sie mit der Erzählung die Gefahr an, sich der Realität zu verschließen. Die Figur der Kassandra macht eine Entwicklung mit, die den Wandel der treuen Königstochter zur kritischen, selbständigen Frau darstellt. Sie verlässt die Scheinwelt des Palastes, erlebt die Veränderung der Menschen um sie herum während des Krieges und lernt gleichzeitig ein anderes, das wahre Leben kennen. Bei den Frauen, die außerhalb der Stadt am Fluss Skamander und am Berg Ida leben, erfährt sie neben Mitmenschlichkeit und Solidarität vor allem die Erkenntnis, ,,zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Leben." Von den Männern wird Kassandra nicht ernst genommen. Ihre Voraussagen werden nicht gehört, sie wird vergewaltigt, zur Heirat gezwungen und zum Objekt der Männerwelt gemacht. Lediglich Aineias, der sich von den übrigen Männern abhebt, kann ihre Liebe gewinnen. Im Gegensatz zu Kassandra spielt ihre hübsche Schwester Polyxena die Rolle der Verführerin. Sie macht sich bewusst zum Objekt männlicher Begierde um Beachtung und Macht zu erlangen, zerbricht aber daran und verfällt dem Wahnsinn. Ihre Gegenspielerin ist Penthesilea, die ihre Weiblichkeit leugnet und die Rolle des Mannes annimmt. Sie kämpft gegen die Männer, besiegt sie und fällt ihnen letztendlich doch zum Opfer. Anders als die historische Überlieferung kennt Christa Wolf in ihrer Erzählung keine Helden. Von Herrschaftssucht und Machtbegierde besessen sehen die ichbezogenen Männer der Antike ihren einzigen Sinn in der Kunst der Kriegsführung. Zwei, die sich an diesem Treiben nicht beteiligen, sind Aineias und dessen weiser Vater Anchises. Sie bleiben die einzigen durchweg positiv dargestellten männlichen Figuren der Erzählung und verkörpern mit Aineias, dem Geliebten Kassandras, den krassen Gegensatz zu ,,Achill, dem Griechenheld", der sich durch seine ,,Heldentaten" den Beinamen ,,das Vieh" verdient hat. In der Erzählung Kassandra wird der Irrsinn des (Trojanischen) Krieges darin deutlich, dass er lediglich um ein Phantom geführt wird. Der angebliche
Raub der schönen Helena, Frau des Spartaner-Königs Menelaos und Schönheitsideal der Antike, durch Paris, einen Bruder Kassandras, gilt als Auslöser der Auseinandersetzung. Und obwohl selbst die Führer Trojas wissen, dass sich Helena nicht in der Stadt befindet, wollen sie nicht einsehen, ,,dass ein Krieg, der um ein Phantom geführt wird, nur verloren werden kann". Dies alles sieht und sagt Kassandra voraus. Im Palast lässt sie der eigene Vater, König Priamos, wegen ihrer fatalen Vorhersagen einsperren. Man will Kassandra nicht hören, will der bitteren Realität nicht begegnen müssen und erklärt sie kurzum für verrückt. Kassandra findet kein Gehör in der von Männern dominierten Gesellschaft, sie kann keinen Einfluss auf ihre Umgebung nehmen. Die Sehergabe, die sie sich stets wünschte, stellt den Versuch dar, sich der Gesellschaft als Objekt zu entziehen. Für sie bedeutet Sehen gleichzeitig auch, sich ein Bewusstsein der Dinge zu bewahren, die Realität so zu erleben, wie sie tatsächlich ist. Diese Gabe verteidigt Kassandra bis zum Schluss und nimmt sie mit in den Tod.
Christa Wolf bereitet dem Leser mit ihrem besonderen Schreibstil zunächst einige Schwierigkeiten. In Kassandra wechseln die Erzählperspektiven ebenso wie die Erzählzeiten. Die Titelfigur führt einen inneren Monolog, der den Leser die gesamte Handlung erfahren lässt. Ein auktorialer Erzähler leitet diesen Monolog ein und beendet ihn auch. Innerhalb der Ich-Erzählung bewegt sich Kassandra ständig zwischen Gegenwart und Vergangenheit - nicht selten innerhalb eines Satzes. Unvermittelt werden ihre Gedanken, Gefühle und Berichte durch Voraussagen über die Zukunft unterbrochen. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft lassen sich kaum noch auseinander halten, sie verschmelzen miteinander. Die aus der griechischen Mythologie überlieferte Realität liest sich heute unter dem Einfluss persönlicher Erfahrungen neu. Für den Leser ergeben sich Parallelen zur heutigen Frauen- und Friedensbewegung, die von Christa Wolf durchaus erwünscht sind und die Absicht der Erzählung deutlich machen. Indem Kassandra ihr Leben rekapituliert, wird die Problematik der Frauengestalt aufgezeigt. Sie ist hilflos und hoffnungslos dem logischen Denken der Männergesellschaft ausgesetzt, aus dem die Konflikte Mann und Frau, Krieg und Frieden oder Leben und Tod entstehen. Kassandra entzieht sich diesem Denken auf ihre Art. Sie entsagt der Liebe zu Aineias und entscheidet sich schließlich für den Tod, der ihr zumindest erspart, ihre Erfahrungen mit dieser Gesellschaft noch einmal machen zu müssen. Trotz oder gerade wegen ihrer Hilflosigkeit hat sich Kassandra stets die Kraft bewahrt, die Verhältnisse zu analysieren. Daraus entsteht auch ihre Kultur- und Gesellschaftskritik. Das Heldentum ist für sie keines. Die Helden sind nichts weiter als Mörder. Und sie kritisiert die Notwendigkeit eines Feindbildes, ohne das sich ein Krieg überhaupt nicht führen lässt. Die Erzählung Kassandra von Christa Wolf bringt auf den ersten Blick einige Schwierigkeiten mit sich, die vor allem in der Erzählperspektive und im Schreibstil liegen. Weiterhin kann die große Distanz zur griechischen Geschichte einige Probleme hinsichtlich historischer Fakten bereiten. Das Werk bietet aber gleichzeitig auch die Möglichkeit der Identifikation mit der Titelfigur. Die Entwicklung der Kassandra und die Art der Darstellung als innerer Monolog lassen eine spontane Identifikation der Leserin ebenso wie des Lesers zu. Die notwendige Distanz zur eigenen Identität bleibt dabei gerade durch die Behandlung eines mythologischen Themas gewahrt. Die Parallelen zwischen antiker Mythologie und Gegenwart sind bei näherer Betrachtung verblüffend und machen das Buch auch deshalb so lesenswert.
Wie kommt das Salz ins Meer? von Brigitte Schwaiger
Zur Autorin:
Brigitte Schwaiger wurde am 6. April 1949 als Tochter eines Arztes in Freistadt/Oberösterreich geboren.
Nach ihrem Abitur studierte sie Psychologie, Germanistik und Romanistik in Wien.
Im Jahre 1968 heiratete sie einen Spanischen Tierarzt und Offizier. Sie lebte mit ihm einige Zeit in Mallorca und Madrid. Dort unterrichtete sie Deutsch und Englisch. Nebenher beschäftigte sie sich mit Malerei und Bildhauerei.
Nach ihrer Scheidung fing sie in Linz ein Studium an der Pädagogischen Akademie an und war beruflich als Schauspielerin, Regieassistentin und Sekretärin tätig. Seit 1975 lebt sie als freie Schriftstellerin in Wien.
"Wie kommt das Salz ins Meer" war ihr erster Roman. Er war ein Bestseller; innerhalb eines Jahres erlebte das Buch die 15.Auflage.
Zu dem Buch:
Brigitte Schwaiger ist ein sensibles Geschöpf, und hinter ihrem Bericht vom Zwangsläufigen Scheitern einer Ehe, hinter ihrer Schilderung einer in Klischees und Phrasen erstarrten Umwelt steckt ein verzweifeltes Bedürfnis nach echten Regungen, nach Gefühl, nach Wärme, nach Liebe - ein Bedürfnis, das sich als desto unerfüllbarer erweist, je gnadenloser sich die Erfüllung konsumgesellschaftlicher Scheinbedürfnisse ihrer Romanheldin aufgedrängt wird.
Niemand, am allerwenigsten ihr Ehemann, versteht sie, niemand kann sich ihre abweisende Verschlossenheit erklären, ihre Aufsässigkeit, ihre Undankbarkeit.
Wo sie doch alles hat, was man sich nur wünschen kann! Ihr Pech ist, daß sie sich das alles nicht wünscht.
Gibt es keinen Ausweg aus dieser Trostlosigkeit, keinen Ausbruch? Es gibt ihn nicht. Es gibt nur die Wahrnehmung dessen, was die anderen nicht wahrhaben wollen. Unmittelbar nachdem die traurige Heldin sich darüber klargeworden ist, daß ihre Ehe nichts taugt, vermerkt sie: "Mutter ist froh, daß ich eine gute Ehe führe." ... Aber da kommt noch etwas hinzu: ein trockener, alles eher als harmloser Humor, der unter dem Deckenmantel einer geradezu infamen Scheinheiligkeit um so spritziger zusticht ... Wahrscheinlich liegt in ihrer erstaunlichen Fähigkeit, Charaktere und Konflikte vom Sprachlichen her zu erfassen und zu präzisieren, Brigitte Schwaigers spezifische Stärke.
Sie hat nicht dem Volk aufs Maul geschaut, sondern dem Mittelstand auf den Mund, und was dabei herauskommt, ist auf amüsante Weise vernichtend, ist sozialkritischer als absichtsvolle Sozialkritik jemals sein könnte, und bezeugt einen produktiven Scharfblick, der zu den schönsten Hoffnungen auf allerlei Häßliches berechtigt.
Der Inhalt:
Der Roman beginnt mit dem Stichwort "Gutbürgerlich". Die Hauptperson ist genauso im gutbürgerlichen Milieu aufgewachsen wie Brigitte Schwaiger. Beide studierten Germanistik und wohnten in Linz.
Das Buch nimmt eben vor der Hochzeit der Ich-Erzählerin seinen Lauf. "Sie soll sich gefälligst chic anziehen, immerhin ist es ihre Hochzeit, und die hat man im Leben nur einmal!" Großmutter verlangt von ihr nicht viel, nur gutbürgerlich sollte sie sein. Dem Leser vermittelt sie jedoch das Gefühl nicht heiraten zu wollen, das sie es nur tun wird, um ihrer Eltern und Großeltern Wille. Auch zu Rolf, Ihrem zukünftigen Ehemann sagt sie vor der Trauung, das sie nicht sicher ist, ob sie reif genug sei den Bund der Ehe zu schließen. Sie will sich einfach nicht mehr nach den gutbürgerlichen Normen richten. Doch Rolf meint, "Ich pflege bei dem zu bleiben, was ich mir vornehme" ; er hat einfach nur Angst, seinen Ruf als angesehener Mann in der Gesellschaft zu verlieren.
Für ihn scheint alles perfekt zu sein. Rolf ist Diplomingenieur und ein idealer Schwiegersohn, im eigentlichen Gegensatz zur Ich-Person, die keinen Beruf hat. Ihre Aufgabe nach der Hochzeit wird sein, das sie sich um ihren Mann kümmert. Mit Leib und Seele. Sie hat dafür zu sorgen, das er ein gepflegtes Zuhause vorfindet wenn er von der Arbeit kommt, und sie muß ihn lieben. Er bringt das Geld nach Hause, sie erledigt den Rest. Einfach gesagt: sie ist jetzt Hausfrau.
Während der Hochzeitsfeier denkt sie an Albert, und wie schon es wäre jetzt nicht neben Rolf sondern neben ihm zu sitzen. Mit den beiden hat sie auch ihre Jugend verbracht. Im eigentlichen mag sie Albert lieber, hat ihn immer lieber gemocht, nur jener ist leider schon verheiratet, mit Hilde. Sie beobachtet ihn, und am Liebsten würde sie all dem entfliehen. Doch es ist zu spät. Sie hat "Ja" gesagt vor dem Priester und "Nein" gedacht: Sie hat gelogen.
Die Hochzeitsnacht würde sie am liebsten alleine verbringen. "Gib die Hoffnung nicht auf das er vielleicht doch noch einschläft bis du mit dem baden fertig bist". Unwillig mit Rolf zu schlafen, versucht sie in sanft abzuweisen, doch sie schämt sich für ihre Gefühle. Die Angst ist groß, ein Nein auszusprechen, doch die Schuld hat sie auf sich geladen, als sie es doch tut. Vielleicht hilft er ihr morgen, das sie diese Schuld aufteilen und allmählich freier werden und wieder atmen können, miteinander. Auf der Hochzeitsreise in Italien denkt sie zurück an ihre Kindheit, wie unbeschwert schön es damals war. Mit Sehnsucht erinnert sie sich an ein kleines, einfaches, unbekümmertes Mädchen. Doch das ist jetzt vorbei, Rolf verhält sich wie ein Lehrer zu ihr und kritisiert sie andauernd. Behandelt sie, als wäre er etwas Besseres. "Nein, nein, sagte er, um mit dir über Politik zu reden, da mußt du erst reifer werden!" Auch mit der Aussage "befaß dich mit der Gegenwart, werde endlich erwachsen" bezeugt er nur, das sich der Schranke noch weiter zwischen die beiden schiebt.
Die zwei Wochen in Italien versucht sie krampfhaft die Ursache ihrer heutigen Probleme zu finden. Früher sah man in ihr die Tochter eines Arztes, wurde immer gut versorgt, vielleicht auch ein bißchen zu sehr verwöhnt. Als sie das Studium vorzeitig beendete, kam Rolf als Vaterersatz in ihr Leben. Die Heirat mit Rolf war die letzte Chance um Status zu erlangen.
Zurück in Österreich kümmert sie sich um den Haushalt. Sie wird nicht als Mensch angesehen, sondern als Frau eines Diplomingenieurs. Mit Freude denkt sie zurück an die Zeit, als ihr Leben noch in Ordnung war, als sie Medizin studierte, weil ihr Vater sich das von ihr erwartete. Doch vor dem menschliche Körper versagte sie. Bevor sie Rolf traf studierte sie Germanistik und Jura, der aber meinte, sie solle besser "etwas Weibliches" tun, wie zum Beispiel Sekretärin. Aber der Ehrgeiz fehlte ihr. Mittlerweile haßte sie Rolf, schämte sich für ihn, doch sie wußte nicht was sie tun sollte.
Ihre Familie war immer sehr wichtig im Leben dieser Frau. Die Großmutter hat immer versucht, sie ins Klosterinternat zu stecken, da ihre Großeltern sehr traditionsbewußt und religiös waren. Sie erfuhr, das ihr Vater im Krieg ein Lazarett an der Front leitete und das sie noch immer sehr stolz auf den Besitz eines Exemplars von Hitlers "Mein Kampf" waren.
Eines Tages kommt Rolf mit einem jungen Hund namens Blitz nach Hause, doch im eigentlichen Sinn ist der Hund nur ein Kinderersatz. Irgendwie will sie kein Kind von ihm. Fühlt sich nicht wohl bei dem Gedenken, das Rolf das Kind vielleicht auch so erziehen würde wie den Hund. Er macht das mit Gewalt, weil... "bis so ein Vieh Stubenrein ist, heißt es nachhelfen. Verstehst du nicht, das er parieren muß ? Das geht nicht anders." Ansichtssache.
Eines Abends gibt es ein Essen mit Albert und Hilde. Zwischen Albert und der Ich- Erzählerin herrscht eine seltsame Spannung, die aber auf keinen Fall negativ aufzufassen ist. Im Laufe des Abends haben sie des öfteren intensiven Blickkontakt, eine unbeschreibliche Anziehung wirkt auf diese unglücklichen Seelen ein. Am Ende des Abends zählt Rolf alle positiven und negativen Aspekte auf, die ihm an ihr stören. Einer der wichtigsten Punkte ist auf jeden Fall wieder der unerfüllte Kinderwunsch Rolfs.
Es dauert nicht mehr lange bis sie sich in eine wildes Verhältnis mit Albert anfängt. Sie fühlt sich seit langem wieder mal total ausgeglichen und glücklich. Auch Rolf, der von all dem natürlich nichts weiß ist froh über die plötzliche Veränderung seiner Frau. Immer wenn sie mit Blitz spazieren geht begegnet sie Albert, und mit ihm wird der Waldspaziergang fortgesetzt. Bald kommen sie sich auch sexuell näher, doch sie fühlt sich noch immer ein wenig in sich selbst zurückverbannt. Wenn sie zu Albert geht, sagt sie ihrem Gatten, das sie zu Karl, einem guten Freund geht. Er ist Lehrer und setzt sich mit seiner ganzen Kraft für Kinder ein. Durch seinen Tatendrang hat er jedoch auch Probleme in der Schule weil er ganz offen die Mißstände kritisiert. Oft geht sie auch wirklich zu Karl, der ihr dann seine Gedichte und Geschichten vorliest. Eigentlich wäre er lieber Schriftsteller, aber soweit hat er es leider nicht geschafft. Vielleicht ist da auch seine Alkoholabhängigkeit Mitschuld. Die Verwandten der Ich-Person mögen Karl nicht. Ihre Eltern glauben, das sie eine gute Ehe führt, so auch als ihr Vater meint, das sie Erwachsen geworden sei. Früher wäre sie wie "aufgewirbelter Sand im Stürmischen Wasser" gewesen, im Gegensatz zu jetzt. wo das Wasser klar ist und der Sand sich gesetzt hat.
Einmal ist der Tag gekommen, an dem sie ihre Mutter fragte, ob alle Männer so wären wie Rolf. Sie brauchte eine erfahrene Person die ihr Rat gebe, denn sie wußte nicht mehr weiter. "Männer machen immer Veränderungen durch." Eine Welt brach für die Erzählerin zusammen, als Rolf im Versuch dem Hund irgend etwas unnötiges beizubringen, Blitz versehentlich in ein Auge schoß. Der Hund wird blind. Rennt gegen Mauern und versucht, indem er sein Auge an Gegenständen und Personen reibt das Augenlicht wiederzuerlangen. Rolf beschließt, daß der Hund getötet werden müsse, da er nur noch Probleme macht. Erwarteterweise flippt sie aus und die ganze Aktion endet in einem Hysterischen Anfall. Blitz war der einzige der sie verstand, er war ihr Schicksalsgenosse. Sie liebte ihn. Rolf kommt nicht zurecht mit ihrer Reaktion und schlägt sie ins Gesicht. Ab diesem Zeitpunkt ist es aus, sie kommt nicht mehr zurecht mit ihrem Leben. Den letzten Rest gibt ihr Albert, als er meint er will seine Ehe wegen ihr nicht aufs Spiel setzten. Sie ist enttäuscht wie nie zuvor, fühlt sich ausgenutzt, benutzt vom ersten Tag. Aus dieser Gefühlslage 18 heraus beichtet sie Rolf von ihrer Untreue. Auch ihm geht es jetzt schlecht. Er hätte sich das nie gedacht von seiner Frau. Nie. Die einzige Angst, die Albert hatte war, ist das er hoffte, daß niemand es Hilde sagen wird. Es herrschte totales Chaos.
Als sie Hilde nach einer Feier nach Hause führt nennt sie sie im betrunkenen Zustand Hure und eine Ehebrecherin. Sie schämt sich, fühlt sich noch einsamer und manchmal verlangt sie nach Blitz, dem einzigen Lebewesen, dem sie Vertrauen konnte.
Die Ehe wird immer schlechter und auch ihr seelischer Zustand ist äußerst bedenklich. Sie wird Valiumsüchtig und spielt immer öfter mit dem Gedanken sich das Leben zu nehmen.
"Rolf hat viele Rasierklingen. Einen Eimer holen, den Arm hineinlegen, dann kommt er heim und findet seine Frau teils neben, teils im Eimer." So auch als sie versucht sich ein Beispiel an Alberts und Hildes Ehe zu nehmen. "Ja, ich bin so dumm! Ich werde eure Spielregeln nie kapieren. Und im Winter kommt eine trübe Zeit, vielleicht bringe ich mich um." Doch eine innere Stimme hält sie immer wieder zurück. Mann bringt sich nicht um, nichteinmal alte, kranke Leute, die nichts mehr mitbekommen bringen sich um!
Wegen unergründlichen Beschwerden besucht sie den Arzt, doch sie hat den leisen Verdacht einer Schwangerschaft. Aber sie will es nicht einsehen, sie darf nicht schwanger sein! Kein Kind in diese brutale Welt! Alles, nur das nicht! Kurze Zeit später erfährt sie, daß sie seit zwei Monaten ein Kind unter ihrem Herzen trägt. Albert faßt den Entschluß den Schwangerschaftsabbruch selbst vorzunehmen, weil es sein Kind ist. Sie sieht Ralf und Albert als Mörder ihres Kindes und ihres Hundes. Sie bekommt immer mehr Angst vor Menschen. So auch als sie dies dem Psychiater erzählt: "Also, der Mann, den ich liebe, hat mein Kind umgebracht, mit einem Mann, den ich nicht ausstehen kann, bin ich verheiratet, der hat meinen Hund eingeschläfert, und ich will nicht mehr Leben, weil ich mich selbst nicht mehr ausstehen kann, das kribbeln unterm Kopf, wie Käfer zwischen Schädeldecke und Hirnhaut, und morgens wache ich auf, weil mein Herz unter einer Klaue zuckt, tagsüber möchte ich am liebsten irgendwo unter einem Teppich liegen, nachts wünsche ich mir nichts sehnlichster als einzuschlafen und nie mehr aufzuwachen, und ich schlafe so tief, daß ich erschrecke wenn ich plötzlich wieder da bin, weil das Herz so zuckt, und ich schwitze, sehen sie, ich transpiriere."
Den Gang zum Psychiater findet Rolf überflüssig. Er meint, sie brauche mehr Willensstärke und weniger Selbstmitleid. Als ihre Mutter das hört, schämt sie sich und will mit allen Mitteln verhindern, daß irgend jemand erfährt, was für eine Tochter sie hat.
An einem Dienstag kündigt er ihre Scheidung an. Sie weiß, daß sie Rolf verlassen muß, aber sie hat Angst vor dem Alleinsein. Immer wieder kommt die Frage in ihr auf wieso, sie ihn damals überhaupt geheiratet hat. Wahrscheinlich weil sie immer gern dazugehören wollte Alles war nur Schein gewesen. Vor dem Linzer Landesgericht wird die Ehe offiziell geschieden. Sie nimmt alle Schuld auf sich.
Nach der Scheidung führt sie Rolf mit dem Auto nach Hause. Ein unbeschreibliches Gefühl kommt in ihr Hoch. Sie spürt etwas, etwas ganz vertrautes, doch sie kann es nicht recht einordnen, will es nicht einordnen. Sie liebt ihn immer noch, jetzt wo sie 19 es nicht mehr muß. Sie möchte, daß er stehenbleibt und sie ganz zärtlich küßt. Sie hat ihn nicht gehaßt, sondern nur das, was sie aus ihm gemacht haben. Rolfs Mutter wird jetzt bei ihm einziehen und für ihn sorgen. Sie selbst will wieder bei ihren Eltern wohnen und arbeiten. Irgend etwas anständiges "etwas Weibliches, aber doch etwas wofür sich meine Eltern nicht schämen müssen.
Monate später, als sie in einem alten Fotoalbum blättert findet sie sich selbst als lachendes Baby und als kleines Mädchen wieder. Bilder ihrer Erstkommunion wecken Erinnerungen An eine längst vergessene Zeit. Damals hat sie nicht alles gebeichtet und fürchtete Gott ab diesem Zeitpunkt, während andere Kinder ihn liebten. Fotos von ihrem Kinderwagen geben ihr jetzt den Eindruck, las habe sie damals schon Langeweile versprüht. Wieder erinnert sie sich an die Stimme des Vaters, dem es immer gelang, sie ohne Widerspruch zu fotografieren. Alles war nur ein Trick.
Problematik:
Das Thema ist die Gutbürgerlichkeit.
Die Verwandten der Hauptperson finden nur die Gutbürgerlichkeit wichtig.
Weitere Themen sind die Unentschlossenheit und die Bequemlichkeit der Ich-Person. Sie weiß nämlich nicht was sie genau will und wählt immer den einfachsten Weg. Das Thema ist durch die Zeit beeinflußt. In der Zeit, als das Buch geschrieben wurde, erkannte man das Bedürfnis einer guten Ausbildung auch für Mädchen. In "Wie kommt das Salz ins Meer" zeigt Scwaiger, wie unglücklich man werden kann, wenn man keine richtige Ausbildung hat.
Charaktere:
Die Ich-Person
Ihr Name wird in dem Buch nicht genannt. Sie ist immer geneigt, den einfachsten Weg zu wählen. Obwohl sie intelligent ist, hat sie ihre Ausbildung nie beendet. Von niemandem wird sie als Person gesehen, nur als Tochter eines Arztes oder Frau eines Diplomingenieurs.
Rolf
Er ist gutbürgerlich und liebt die Ich-Person nicht wirklich, er will nur heiraten weil dies zu seinem Lebensstiel gehört. Er hat oft eine kühle, abweisende, vor allem besitzergreifende Art, die ganz deutlich beim Umgang mit dem Hund zu sehen ist.
Albert
Er hat ein Verhältnis mit der Ich-Person, aber er liebt sie auch nicht richtig. Später läßt er sie im Stich, weil ihm seine Familie mit den drei Kindern doch wichtiger ist. Anscheinend brauchte er nur etwas Abwechslung.
Karl
Er ist ein guter Freund der Ich-Person, aber er wird von ihrer Familie nicht akzeptiert. Sie war seine große Jugendliebe, doch diese blieb immer unbeantwortet. Er ist Alkoholiker und versucht sich später als freier Schriftsteller.
Großmutter
Sie ist sehr traditionsbewußt und religiös. Sie hat immer versucht die Ich-Person ins Klosterinternat zu stecken. War eine sehr hilfsbereite, fleißige Frau. Jeder mochte sie.
Mutter
Sie wird genauso wie ihre Tochter als Frau eines wichtigen Mannes gesehen. Sie ist auch sehr gutbürgerlich. Sorgt und pflegt ihren Mann. Sie liebt ihn sehr.
Vater
Er wird als wichtigste Person angesehen. Bei ihm muß immer alles stimmen. Wollte, daß seine Tochter in seine Fußstapfen steigt, und auch Medizin studiert.
Malina
Ingeborg Bachmann
,,Denn die Sprache ist für den Schreibenden nichts Selbstverständliches."
Allgemeines
Der 1971 als erster und einziger vollendete Teil des Todesarten-Zyklus veröffentlichte Roman „Malina“ von Ingeborg Bachmann hat nicht zu Unrecht vielerlei Lesarten und Interpretationen heraufbeschworen, besteht er doch aus einem Geflecht von unterschiedlichen literarischen und musikalischen Formen, philosophischen und psychologischen Theorien, aus religiös oder rituell geprägten Elementen, einer ausgefeilten Zahlensymbolik, poetischen Zitaten und verschiedenen Sprachen, historischen Zusammenhängen sowie aktuellen politischen Bezügen. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang die klassische Dreiecksgeschichte (zwei Männer, eine Frau), der Kriminalroman (,,Es war Mord."), das Kunstmärchen (,,Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran"), die Satire (das Mühlbauer-Interview; die Darstellung der ,,Künstlerkreise" in St. Wolfgang), Dialoge, Briefe, Monologe, librettoähnliche Passagen, Auflistungen von thematischen Sätzen und vieles mehr. Die unverkennbaren historischen und politischen Motive verdeutlichen, dass Ingeborg Bachmann, wie sie selbst festgestellt hat, mit dem Todesarten-Projekt auf der Suche nach dem ,,Virus Verbrechen" war, der nach dem Ende der NS-Zeit ,,doch nicht ... plötzlich aus unserer Welt verschwunden sein" konnte. Das Aufspüren von Mordschauplätzen, an denen kein Blut fließt, keine Anklage erhoben und kein Urteil gesprochen, aber dennoch unverkennbar gestorben wird, führte sie an die Tatorte alltäglichen Faschismus´, den sie vor allem auch in dem bestehenden gesellschaftlichen Mißverhältnis zwischen Männern und Frauen erkannte. Auch die immer wieder aufgeworfene Frage der biographischen Zusammenhänge ist zwiespältig beantwortet, einerseits ganz und gar verworfen und andererseits bis zur Ein-zu-Eins-Übertragung durchexerziert worden. Die Tatsache, dass Ingeborg Bachmann, die ,,das Erzählen von Lebensläufen, Privatgeschichten und ähnlichen Peinlichkeiten" eher ablehnte, „Malina“ als ,,Eine geistige, imaginäre Autobiographie." bezeichnet hat, spricht eine deutliche Sprache.
Eine oft vertretene Ansicht ist die, die Ich-Erzählerin und Malina zusammen als die eigentliche Hauptfigur zu betrachten, als ein auf den ersten Blick nicht klar abgegrenztes Individuum, dessen zwei ihm zugehörigen, im Roman durchaus unabhängig voneinander agierenden Spielfiguren lediglich unterschiedliche Aspekte ein und derselben Person darstellen. Entwicklungsgeschichtlich läßt sich Malina jedoch auch als eine Nachfolgepersönlichkeit denken, die aus dem Ich der Erzählerin erwachsen ist, eine erfundene Figur also, reine Fiktion und als solche von der Gunst seiner Erzählerin abhängig. Doch auch unter diesem Aspekt ist die schizoide Grundstruktur unverkennbar, die an keiner Stelle erklärt oder gar aufgehoben ist, sie wird im Gegenteil immer weiter ausgearbeitet, verfeinert und ansatzweise auf noch weitere ,,Personen" (Lina, Lily) übertragen.
Indizien für die Richtigkeit einer Doppelgängerkonzeption sind also vielfältig vorhanden. Ingeborg Bachmann selbst gibt eindeutige Hinweise darauf, sowohl indirekt in den Frankfurter Vorlesungen, wo sie von dem ,,Versuchsfeld Ich" spricht, als auch direkt auf „Malina“ bezogen, indem sie sich z. B. über die ,,Zwitterfigur" äußert, die ,,Ich-Figur", die einen männlichen ,,Doppelgänger" hat, sowie natürlich in „Malina“ selbst. Eine strikte Festlegung auf diese eine Lesart scheint bei der Vielschichtigkeit des Romans zwar unangebracht, ist aber doch für genauere Betrachtungen hilfreich und soll auch hier weitgehend zugrunde gelegt werden. Das Ringen um und mit Sprache steht im Zentrum des Romans, der ausschließlich aus literarischen Versuchen besteht. In unterschiedlicher Weise werden die Bemühungen der Ich-Erzählerin vorgeführt, die sich allerdings nicht ausschließlich auf das Gebiet des Schreibens konzentrieren. Intensive Ausarbeitungen (,,Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran") stehen neben reinen Skizzen (Listen, Satzgruppen, Briefe) und Erzählübungen (Die Geschichte des Briefträgers Otto Kranewitzer und die vom Tod Marcels). Doch auch Textpassagen, die scheinbar keinem eindeutig literarischen Bestreben zuzuordnen sind, lassen sich so interpretieren. Überall zeigt sich ,,schreibendes" Denken, Sehen, Fühlen und Wissen, die im Grunde zwangsläufige Lebensart einer Erzählenden, der gedankliche Alltag einer Schriftstellerin, die nicht zu Unrecht um den Fortbestand der Worte bangt. Und damit um ihre eigene Existenz.
Schreiben zu können ist gleichbedeutend mit der Fähigkeit, Wirklichkeiten zu erfassen und auszudrücken und der Ich-Erzählerin eine existentielle Grundbedingung. Diese allerdings ist in Gefahr geraten, einerseits durch eine raumgreifende Unfähigkeit der Ich-Erzählerin, die sich offensichtlich nur noch schwer im Leben zurechtfindet, andererseits durch die Wucht des zu bewältigenden Materials, die zu bezeugende Wahrheit, die sich in vielerlei Hinsicht als un(be)greifbar erweist. Auch die Unzulänglichkeit der Sprache selbst wird mehr und mehr zu einer besonders zwischen Malina und der Ich-Erzählerin kontrovers diskutierten Problematik. So ist die unüberwindbare Kluft zwischen Kunst und Leben, zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten beständig gegenwärtig und eines der zentralen Themen des ganzen Romans. Immer wieder wird die Frage nicht funktionierender Kommunikation aufgeworfen und die daraus resultierende Erfahrung unsagbarer Wirklichkeit variabel durchgespielt. Wie bei einem angestrengten Blick in eine Nebelwand verschwimmen mehr und mehr die Konturen, die Grenzen der Bilder wie der Worte, bis am Ende auch die unverzichtbare (?) Figur der Erzählerin spurlos verschwunden ist, scheinbar nie existiert hat.
1. Die Sprache der Liebe (vergessen)
Die Ich-Erzählerin trifft Ivan auf der Straße, folgt ihm und geht noch am selben Tag (heute!) ein Verhältnis mit ihm ein. Damit stürzt sie augenblicklich, noch vor der eigentlichen Begegnung, vor dem ersten Wort sogar, in bodenlose Abhängigkeiten.
Sie reduziert sich und ihr Leben auf ihr ,,Ungargassenland", in dem nur zwei Häuser stehen, seines mit der Nummer 9 und das ihre mit der Nummer 6. Darüber hinaus ist nichts mehr von Bedeutung, alles ist ausschließlich auf die nächste Verabredung, auf eine mögliche zufällige Begegnung oder ein herbeigesehntes, aber nicht unbedingt erfolgendes Telefonat ausgerichtet. Zwischen Warten und Rauchen und den wenigen, überwiegend enttäuschenden Treffen kreisen die Imaginationen der Ich- Erzählerin, immer in dem Bestreben, gedanklich die Eindeutigkeit der Beziehung herstellen zu können. Eine äußere Welt als Fixpunkt ist nicht mehr existent, stellt schlimmstenfalls eine Bedrohung dar, bestenfalls etwas ebenso Unwichtiges wie Unwirkliches, das es zu vergessen gilt.
Liebe
Die Fortdauer des Zustands ausgesprochener Unklarheit, in dem die Ich-Erzählerin sich aufhält, sowie die zum Teil demütigende Behandlung, die sie durch ihren Liebhaber erfährt, aber kaum noch wahrnimmt, sind selbst mit einer ersten verliebtheitsbedingten Verwirrtheit auf die Dauer nur schwer zu entschuldigen. Vielmehr scheint ein solches Verhalten einem tiefverwurzelten selbstquälerischen Prinzip zu entspringen.
Konträr zu den vielfach wiederholten Beschwörungen der Ich-Erzählerin, in Ivan einer einzigartigen, einer wahren Liebe begegnet zu sein, die Ewigkeiten überdauern wird, steht die Unverbindlichkeit des Mannes, der, vermutlich aus Bequemlichkeit, wegen der Nähe der beiden Wohnungen, der leichten Verfügbarkeit einer Frau nebenan, zunächst nicht geneigt ist, das Verhältnis sofort wieder aus den Augen zu verlieren. Sein Interesse an gelegentlichen Treffen ist aber eher gering, meist ist er zu müde, wenn er aber kommt, dann bleibt er nicht lang. Auch gemeinsame Unternehmungen sind selten und zeitlich knapp bemessen, lediglich das Schachspielen und Telefonieren beherrscht er meisterhaft und damit das taktische Spiel des Hinhaltens, das aber nach seinen Regeln und Gesetzen zu erfolgen hat, wie überhaupt die ganze Affäre.
Die Unmöglichkeit einer wirklichen Liebe tritt in den Passagen, in denen Ivan zugegen ist, überdeutlich zutage. Seine Haltung in bezug auf die Bücher der Ich- Erzählerin ist ebenso vernichtend wie seine Einstellung ihr selbst gegenüber, die er von Anfang an herrisch behandelt, mit der er spricht wie mit einem Kind, entweder beiläufig, belanglos oder aber befehlend. Dennoch bezieht er mitunter klar Stellung, auch wenn er nicht dazu aufgefordert wird (,,Ich liebe niemand. Die Kinder selbstverständlich ja, aber sonst niemand."), und immer wieder bekundet er deutlich sein Desinteresse. (,,... er geht besonders rasch zur Tür, wie immer ohne Gruß."; ,,...denn er wird nie wissen wollen, ...") Er schämt sich für nichts, weder für seine Neigung, Wirklichkeit einzig an ihrer Funktionalität zu messen, noch für seine demonstrativ zur Schau getragene Oberflächlichkeit. Sein Hauptinteresse gilt dem, was er ,,das Spiel nennt", und ,,im Spiel zu bleiben" verlangt er auch von der Ich- Erzählerin. Nicht zuletzt der Versuch, diesen strengen Vorgaben Ivans Folge zu leisten, stürzt sie im zweiten Kapitel in die Abgründe der Traumsequenzen. Illusion
Die unübersehbar vernichtende Komponente der ,,Liebesgeschichte" mit Ivan wird von der Ich-Erzählerin über weite Teile des ersten Kapitels kunstvoll überspielt, wohl wahrgenommen, aber unter größten Anstrengungen immer wieder bewußt auf die Seite geräumt. Hierbei kommt der Macht der Sprache und ihrer Vieldeutigkeit eine übergeordnete Bedeutung zu. Die Ich-Erzählerin beherrscht die Situation einzig aus dem Grund, dass sie sie unaufhörlich sprachlich zu fassen versucht. Indem sie einerseits gedanklich ein permanentes Sprechen und Deuten in sich austrägt, andererseits aber auch tatsächlich schreibt, sich zumindest bemüht, wenn auch vieles, insbesondere Arbeiten der Alltagssprache, entsetzt wieder verworfen werden, ermöglicht sie sich die einzige kontinuierliche Linienführung, der sie noch fähig ist. Die entscheidende Bedeutung, die paradoxer Weise ausgerechnet Ivan in diesem Zusammenhang zugesprochen wird, ist enorm. Einer solchen Überhöhung zu entsprechen scheint unmöglich. Selbst wenn Ivan, was nicht der Fall ist, davon wüßte, wäre die Aufgabe der Rettung eines Menschen, der Erhaltung seiner Sprachund Lebensfähigkeit in der Welt durch die lediglich projizierte Kraft der wahren Liebe (,,... Injektionen von Wirklichkeit.") kaum zu leisten.
Sprache ist der Schriftstellerin jedoch zwangsläufig weit über die Verbindung zu Ivan hinaus wichtig. Aus ihr, und nicht aus ihm, zieht sie die letzte Versicherung im Leben, ihre so gering bemessene Sicherheit. Mit Hilfe der Worte, derer sie nicht mehr fähig zu sein glaubt und die sie nur aus diesem Grund unablässig aus Ivan auszugraben versucht, erforscht sie ihr tägliches Erleben, folgt allen Widrigkeiten zum Trotz einer Sehnsucht nach Vollständigkeit. Die feste Überzeugung von der Existenz des Unsagbaren, mehr noch, der Übereinstimmung von Wahrheit und Klang im Kern der Sprache ist das tatsächliche Motiv ihrer Suche nach der wahren Liebe, deren Name letztlich auch anders lauten könnte als Ivan.
Sätze, Worte, Namen
Besonders im ersten Kapitel springt die Isolierung von Sätzen, die im Zusammenhang mit Ivan entstehen, und deren Kategorisierung und zwanghafte Festschreibung in regelmäßig auftauchenden Auflistungen ins Auge. (,,Immerhin haben wir uns ein paar erste Gruppen von Sätzen erobert, ...") Meist nicht mehr als Sprachfetzen, Satzanfänge, Satzenden und Halbsätze werden hier unter Rubriken zusammengefaßt, die z.B. Telefonsätze, Schachsätze, Kopfsätze, Beispielsätze, Lehrsätze, Müdigkeitssätze und Schimpfsätze heißen. Diese fleißige Sortierarbeit der einmal in die Welt gesetzten Wortgefüge bildet das Fundament, auf dem die Illusion einer funktionierenden Kommunikation ebenso gestellt werden kann wie die der Ewigkeit. In seinen Fragmenten ist Ivan bedingt tragfähig, tatsächlich getragen jedoch wird die Liebesillusion allein von der Bereitwilligkeit der Ich-Erzählerin. Dass sie dabei angewiesen ist auf eine, wenn auch geringfügige, Mitarbeit seinerseits, ist allen Beteiligten von Anfang an vertraut. (,,..., und wenn er keine Lust hat, mit mir Sätze zu bilden, stellt er sein oder mein Schachbrett auf, ... , und zwingt mich zu spielen.") Der alltägliche Kampf um diesen minimalen Beitrag ist unverhältnismäßig hart und die Ausbeute meist unzureichend oder aber unverdient. (,,Doch erwartet mich der höchste Preis dafür Fünf Stunden mit Ivan, das könnte reichen für ein paar Tage Zuversicht, ..."; ,,... es könnte Ivan sein, aber dann lege ich den Hörer leise nieder, weil mir für heute kein letzter Anruf erlaubt war.") Sätze über Gefühle gibt es dementsprechend nicht, ,,weil Ivan keinen ausspricht," und weil die Ich-Erzählerin ihrerseits, mit der Kraft des gesprochenen Wortes und vermutlich auch der tatsächlichen Einstellung Ivans vertraut, den grundlegenden ersten Satz nicht wagt. (..., ich muss den ersten Satz finden, ich bin nicht vorbereitet.") Auch einzelne Worte erhalten eine besondere Gewichtung. Sie werden den Personen als Besitz zugeordnet (,,..., es ist kein Wort von mir, es ist ein Wort von Ivan - ...") oder aber in ihrer Gesamtheit intensiv betrachtet und begutachtet. (,,..., über die Wörterbücher gebeugt, über die Worte hergemacht, wir suchen alle Orte und Worte auf und lassen die Aura aufkommen, ...")
Namen werden ähnlich, aber mit noch größerer Tragweite eingeschätzt, zum Teil ist es völlig unmöglich sie auszusprechen. Der eigene Name taucht nirgends vollständig auf, Briefe werden, wenn überhaupt, mit ,,Eine Unbekannte" unterzeichnet. Der Name des guten Virus der Liebe, der weit über die Grenzen des ,,Ungargassenlandes" hinaus allen Menschen helfen könnte, ist zwar bekannt, darf aber auf keinen Fall in Ivans Gegenwart genannt werden. Herr Ganz wird allein aufgrund der alltäglichen Ungeheuerlichkeit seines Nachnamens als unangenehm empfunden, so dass der Erträglichkeit wegen zumindest ein Buchstabe abgewandelt, besser aber gleich die ganze Person gemieden werden muss, da sich ein Ausweichen auf den Vornamen aus Gründen der Distanz ebenfalls als unmöglich erwiesen hat. Ivans Name dagegen wird zelebriert. (,,Sein Name ist ein Genußmittel für mich geworden.") Er wird oft und gern ausgesprochen, zumindest aber gedacht und auf diese Weise in der ganzen Stadt verteilt. (,,... ich sorge dafür, dass Ivans Name überall in der Stadt fällt, geflüstert und leise gedacht wird.") Einzig sein Name, dieses Wort darf unwidersprochen sein. (,,... wie könnte dieses Wort, das heute schon für die Zukunft steht anders heißen als Ivan.")
Telefon, Briefe, Interviews, Gerede
Die überlebenswichtigen Telefonate der Ich-Erzählerin sind ausnahmslos bruchstückhaft und unvollständig wiedergegeben, sie tauchen lediglich innerhalb der Auflistungen einzelner Sätze auf und sind keiner Person explizit zuzuordnen. Das Telefon an sich ist, ähnlich wie die Briefe, einerseits ein heiliges Objekt, andererseits aber nur schwer zu handhaben. Durch die Art und Weise seiner augenblicklichen Beschaffenheit, wie sehr sich die Schnur verdreht hat, wie schrill der Ton klingt - oder eben nicht klingt - und wie sich der Hörer anfühlt, sind Rückschlüsse auf das Funktionieren, bzw. Nichtfunktionieren der Kommunikation möglich. Unzählige Briefe sammeln sich auf dem Schreibtisch der Ich-Erzählerin und warten auf ihre Beantwortung, die letztendlich aber niemals erfolgt. Die Schriftstellerin, die mit dem Finden einer neuen Sprache, der Sprache der Liebe beschäftigt ist, hat ihr alltagstaugliches Sprachvermögen weitgehend eingebüßt. In ihrem fortwährenden Kampf um Ordnung auf diesem Gebiet, den sie mit Fräulein Jellinek austrägt, die ,,vor der Schreibmaschine sitzt und wartet, sie hat zwei Blätter eingezogen und ein Karbonpapier dazwischen," zeigt sich, dass es vor allem die Einengungen sind, die Erwartungen anderer, die es der Ich-Erzählerin unmöglich machen, die richtigen Worte zu finden. Wobei die Ursache des Versagens eher in einem Zuviel als in einem Zuwenig zu suchen ist.
In dem Mühlbauer-Interview wird diese unerträgliche sprachliche Diskrepanz, ,,die Schizothymie, das Schizoid der Welt, ihr wahnsinniger, sich weitender Spalt" mit satirischen Mitteln, aber auch in tragischer Weise vorgeführt. Dass sich das Unverständnis, auf das die Ich-Erzählerin in dem Frage-Antwort-Spiel trifft, in erster Linie als Inkompatibilität ihres sprachlichen Vermögens mit der wenig differenzierten Sprache der Printmedien erklären läßt, ist nur eine Seite der Medaille. Die andere beinhaltet wiederum die Unfähigkeit zur Kommunikation, das Zuviel an Wissen und das ,,Kranksein an der Zeit", in diesem Fall durch die Gepflogenheiten des Herrn Mühlbauer repräsentiert, das die Ich-Erzählerin ständig begleitet. Ihre Kapitulation erfolgt schließlich vor den Anforderungen der ,,Künstlerkreise" in St. Wolfgang, deren Gerede sie nicht anders als Lüge begreifen kann. Die offensichtlich nicht mehr vorhandene Übereinstimmung von Wort und Inhalt, von Tonfall und Geste, von Gesagtem und Gedachtem, vor allem aber die Selbstverständlichkeit dieser Mißverhältnisse, das alles ist ihr dermaßen unerträglich, dass sie fluchtartig die Rückkehr in die Einsamkeit und Tiefe ihres ,,Ungargassenlandes" antritt. Das schöne Buch Nachdem Ivan in den fragmentarischen Schreibversuchen der Ich-Erzählerin gestöbert und diese ebenso verworfen hat wie den gesamten Bestand ihrer Bibliothek (,,... diese Bücher sind widerwärtig."), entsteht paradoxerweise der Wunsch, ihm, der es sicherlich nie lesen wird, „Das schöne Buch“ zu schreiben.
Dieses Werk, das im krassen Gegensatz zu den unmittelbar zuvor verworfenen Ansätzen (TODESARTEN) steht und die reine Freude (ESULTATE JUBILATE) verkörpern soll, folgt einer ,,Eingebung", die nahezu wortwörtlich ausgerechnet von Ivan übernommen wird.
Als Ivan kurz darauf beiläufig erklärt, dass er niemanden liebe, folglich auch nicht die Ich-Erzählerin, und er bald danach etwas ausspricht, was einer Drohung gleichkommt (,,Ich lösche dir aber einmal alle Lichter aus, schlaf du endlich, sei glücklich."), stürzt das nur mühsam aufrecht erhaltene Bild, das die Schriftstellerin von ihm pflegt, nicht etwa in sich zusammen. Tatsächlich beginnt sie unbeirrt zu arbeiten, „Das schöne Buch“ zu verfassen. Wieder einmal tritt die Sprache ins Zentrum des Geschehens, soll retten, was nicht mehr zu retten ist, die Illusion der wahren Liebe bewahren.
,,Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran", die die Ich-Erzählerin
niederzuschreiben beginnt, finden sich als ein mehrseitiger vollständiger Teil sowie in einigen Fragmenten im ersten Kapitel. Bruchstücke, die als diesem Komplex zugehörig bezeichnet werden können, sind auch im dritten Kapitel vorhanden, und im zweiten Kapitel tauchen etliche der inhaltlichen Komponenten der Erzählung als Traumfragmente auf. Der Versuch: >Das schöne Buch<, den die dem Roman inhärente Kagran-Legende darstellt, zieht sich wie ein roter Faden durch das Denken der Ich-Erzählerin und läßt sich, neben dem märchenhaften Liebesabenteuer der Prinzessin und des Fremden, im Wesentlichen als eine Utopie von Sprache im weitesten Sinne lesen.
2. Die Sprache der Träume (erinnern)
Die Grundbedingungen des zweiten Kapitels sind deutlich von den bisherigen
Voraussetzungen abgesetzt. In einer knappen Vorrede wird alles Maß der Dinge ausdrücklich aufgehoben, die vertrauten Einheiten von Zeit und Raum sind nicht mehr greifbar, und auch die faktische Realität wird als nicht unbedingt gegeben angezeigt, ebenfalls ein Umstand, der bislang anders bestimmt war. Malina, der im ersten Kapitel nicht persönlich, nur indirekt in Erscheinung getreten ist, wird jetzt mit dem ersten Wort unmittelbar ins Zentrum gerückt, und die Ich-Erzählerin bestimmt, dass es sich im folgenden um ,,die Träume von heute nacht" handelt, die ihm rückhaltlos zur Kenntnis gebracht werden sollen.
Es soll also etwas zur Sprache gebracht werden, etwas Bestimmtes, wie überhaupt als zentrales Element des Romans immer wieder irgend etwas ganz Konkretes und dennoch nicht wirklich Greifbares endlich in Worte gefaßt werden muss. Der Kampf um das Finden und Aussprechen eben dieses einen, nicht genauer bezeichneten Sachverhalts ist die treibende Kraft, die tragende Komponente auch des zweiten Kapitels.
Wie bereits in der Geschichte der Prinzessin von Kagran ist hier ebenfalls das Sehen und Erkennen eng mit dem Wissen um die Wahrheit und mit der allein dadurch bestehenden Möglichkeit eines abschließenden Wortes verknüpft. (,, ... obwohl es mich anwidert, ihn anzusehen, muss ich es tun, wissen muss ich, ..., woher das Böse kommt, ...") Die Ich-Erzählerin verfolgt konsequent den Weg in die Tiefe, Abgründe auszuleuchten und sich auf diese Art Klarheit zu schaffen, Wahrheiten zu finden und auszudrücken, ist ihr einziges Bestreben. Um das ewig Verschwiegene begreifen zu können, nimmt sie vor allem auf sich selbst keine Rücksicht mehr, und letztendlich geht sie daran zugrunde, womit sie in gewisser Weise ihr Ziel erreicht hat. (,, ..., ich will, nur den Satz vom Grunde schreiben. Ich bin vernichtet ...") Sie zahlt den Preis der Einsamkeit für ihre Konsequenz, Ivan tritt die ganze Zeit nicht in Erscheinung, er taucht erst wieder auf, um sich endgültig zu verabschieden. Einzig Malina steht ihr in dieser Lage noch zur Seite und entwickelt zwangsläufig seine zwiespältige Rolle bis zur Perfektion.
Malina
Mit seinem plötzlichen Auftreten als eigenständige Person, im ersten Kapitel nur angedeutet, erst ganz am Ende angekündigt, übernimmt Malina entschieden seinen zentralen Part. Als Repräsentant einer mentalen Kontrollinstanz, die innerhalb der Ich-Erzählerin installiert ist, kommt ihm die lebenswichtige Aufgabe zu, in dem Gewirr übereinanderstürzender Träume, Bilder und Geschichten größtmögliche Eindeutigkeit zu schaffen, mit allen ihm zur Verfügung stehenden rationalen Mitteln für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Zwischen die einzelnen Traumpassagen geschaltet ist er es, der die Ich-Erzählerin im Leben hält, ihr zu trinken gibt, sich überhaupt um die notdürftige Abdeckung der grundlegenden Bedürfnisse ihrer physischen Existenz kümmert.
Er hört ihr aber auch zu, läßt sie reden, wenn sie reden muss, fragt nach, redet mit und gibt vor, genauer als sie zu verstehen, was er selbst gar nicht gesehen hat. Sehen aber ist die Grundvoraussetzung, um sagen zu können, die Sprache zu sprechen, die der Musik gleichkommt. Malinas Äußerungen dagegen sind knapp und präzise, wie es sich für einen Beamten des Heeresmuseums gehört. Besser als die Ich-Erzählerin scheint er zu wissen, wie die Worte gesetzt werden sollen, was gesagt sein muss, um eine Erleichterung der Situation zu erreichen. Und die Erfüllung eben dieser präzisen Vorgaben fordert er vehement ein, ohne jemals auch nur den geringsten Zweifel an der Richtigkeit seiner Strategie zu hegen.
Mitunter steht Malina auch nicht zur Verfügung, er schweigt, greift nicht ein, ist nicht einmal anwesend, sondern hat lediglich die Dinge bereitgestellt, die gebraucht werden. Doch mit seiner Abwesenheit kann die Ich-Erzählerin umgehen, besser als man erwarten würde. Sie schläft zwar nicht, weiß sich aber abzulenken, ist anschließend lediglich unzufrieden mit sich und mit ihm.
Die im Zusammenhang mit Malina erstmals auftauchende Dialogform ist von ausgesprochener Unausgewogenheit bestimmt. Zu behaupten, dass sich hier zwei Menschen verständigten, wäre vermessen, auch von gegenseitigem Verstehen kann nicht die Rede sein. Respektlos durchbricht Malina die noch gar nicht vollständig entfalteten Gedankengänge der Ich-Erzählerin, er wischt das eben Gesagte gnadenlos aus und setzt an die freigewordene Stelle seine nicht näher bezeichneten Erwartungen, die nur unter der Voraussetzung seiner Allwissenheit bestehen. Seine kurzen Fragen und analytischen Weisungen, in denen von Fürsorglichkeit keine Rede mehr sein kann, stehen im krassen Gegensatz zu dem Redefluß (auch dem ,,inneren Redefluß" der Träume) der zur Uferlosigkeit neigenden Ich-Erzäh-lerin, auf die dementsprechend sämtliche ,,Regieanweisungen", also die gefühlsbetonenden Momente bezogen sind. Aufgrund dieser bestehenden Ungleichheit wird der Dialog zum zusätzlich ausgetragenen Kampf, der aber, ähnlich wie die Liebesbeziehung zu Ivan, nicht thematisiert wird.
Malinas gottgleiche Allwissenheit, die grundsätzliche Verhörstruktur der Dialoge und die beständig wiederholte Aufforderung, selber zu denken und richtig zu denken und es dann ihm zu sagen, zwingt die Ich-Erzählerin einerseits dazu durchzuhalten, immer noch genauer hinzusehen, zu erkennen, was kaum zu ertragen ist. Um sich dem von Malina geforderten, aber auch von ihr selbst gewünschten Verstehen zumindest annähern zu können, ist das eine unumgängliche Voraussetzung. Andererseits jedoch findet eine Reduzierung ihrer Sichtweise, sowie auch ihrer Sprache auf Malinas verengte Vorgaben statt, und ihr verzweifelt zitiertes ,,KRIEG UND FRIEDEN" mutiert letztendlich zu einem sinnlos akzeptierten ,,Es ist immer Krieg der ewige Krieg." Das aber sind eindeutig Malinas Worte, nicht die ihren. Vor allem anderen besteht die sprachliche Taktik Malinas aus fein gearbeiteter Suggestion (,,... du warst einverstanden."), wenn auch die angestrebte Einflußnahme zunächst eindeutig der Rettung der Ich-Erzählerin dient, ihr Überleben in dieser Welt sichern soll. Wahrnehmung und Sprache sind aus diesem Grund jedoch auf das gerade noch erträgliche Maß eingeschränkt. Die Wahrheit aber, die in der Konzentration auf die Träume gesehen und gesagt werden soll, das erklärte Ziel der Ich-Erzählerin, wird voreilig einseitig, vor allem aber eindimensional gedeutet und auf eine dürftige Überlebensration zusammengegestrichen.
Schreibverbot
Je tiefer die Ich-Erzählerin offenen Auges in das Entsetzen der Erinnerung hinabsteigt und je klarer sie die umgebenden Machtstrukturen zu erkennen beginnt, desto gefährlicher wird sie für alles, was dem Vater zugehörig ist, desto härter werden auch die Maßnahmen, die gegen sie ergriffen werden müssen. Die Gefangenschaft, eine Art ,,Sicherheitsverwahrung", die der Ich-Erzählerin letztendlich, selbstverständlich auch ohne jegliche Begründung, angetan wird, scheint ihr jedoch wenn schon nicht gerechtfertigt so doch erträglich, solange sie glaubt, das Buch fertigschreiben zu dürfen. Erst als ihr auch diese Hoffnung genommen wird (,,...Schreiben für mich nicht zugelassen...") beginnt sie selbst, ihr Leben in Frage zu stellen. Nachdem sie, obwohl sie bettelt und bittet, nicht schreiben darf (- ihrem Vater nicht schreiben darf, was sicher auch nicht in ihrer Absicht gelegen haben dürfte, doch wem sollte man wohl sonst schreiben wollen -), ist sie vernichtet und beginnt sich zu vernichten, zu verwüsten, indem sie sich selbst das ihr zustehende Wasser verweigert.
Das Elend, ohne Stift und Papier zu existieren, die Qual, die Sätze aushalten zu müssen, ohne sie ausdrücken, aufschreiben zu dürfen, bedeutet jedoch einen Wendepunkt. Die Erkenntnis, dass am Grund der Sprache eine andere Substanz lebt als einzig die der Worte, manifestiert sich in den drei Steinen, die eine Botschaft tragen, über die der Vater keine Macht hat und die die Ich-Erzählerin in jedem Fall überdauern werden. Auch hier handelt es sich um eine Vision, die Sprache und Leben der Ich-Erzählerin enthält, eine staunende Eigendynamik jenseits der vielen Gewaltmanifestationen, ihnen allen beständig zum Trotz und unvernichtbar. Leben Mit der Gewißheit der drei Steine und deren zum Teil im Dunkeln liegenden Bedeutung besteht die Ich-Erzählerin die letzten verwirrenden Konfrontationen mit der Figur des Vaters. Mehrmals wiederholt sie ihm den einen, einzig wichtigen Satz, ihren unbeirrbaren Glauben an die eigene Existenz betreffend.
Konsequent spielt die Ich-Erzählerin die ganze Macht dieser Worte gegen den Vater aus, der daraufhin das Gesicht verliert, und aus der schnell wachsenden Distanz versteht sie, wer er ist. Damit ist die Bindung an ihn gelöst, er ist augenblicklich nicht mehr wichtig. Von Malina jedoch ist die Ich-Erzählerin nicht befreit (,,... wir kommen nicht voneinander los, ..."), er behält seine Position, besteht weiterhin auf der Ausformulierung von Gewalt.
Indem die Ich-Erzählerin dieser Forderung nachkommt, tritt sie in das dritte, eigentlich zerstörerische Kapitel ein. Den Staffelstab der Macht, den der Vater bereits zuvor von Ivan übernommen hatte, trägt von jetzt an Malina. Es gelingt ihm ohne Schwierigkeiten das Konzept des Überlebens zu installieren, wo noch wenige Worte zuvor nur von Leben die Rede war, und er weiß genau, was er damit tut. (,,Wenn man überlebt hat, ist Überleben dem Erkennen im Wege, ...")
3. Sprachverlust (erzählen)
Nachdem im ersten Kapitel der Schwerpunkt auf dem Kreisen der Ich-Erzählerin um Ivan und ihre Liebe zu ihm liegt, ist im abschließenden Kapitel ihre Doppelexistenz mit Malina ausführlich dargestellt. Vorwiegend in der Fortführung der Dialogform des zweiten Kapitels wird weiterhin um die Vorherrschaft gerungen, vor allem seinerseits das Erreichen einer Alleinvertretung in bezug auf die Wahrnehmung der Ich- Erzählerin angestrebt. Malina besteht auf der Festschreibung althergebrachter Statuten (,,Wer ein Warum zu Leben hat, erträgt fast jedes Wie.") und einer bedingungslosen Wirklichkeitsinterpretation durch niemand anderen als ihn selbst. Eine etwaige Infragestellung seiner Ansprüche ist er notfalls bereit mit - seinem und ihrem Temperament entsprechend - mäßiger körperlicher Gewalt zu verteidigen. (,,..., er könnte mich mit der Faust ins Gesicht schlagen, aber das wird er nicht tun, ... dann kommt ein flacher Schlag, ...") Ein solches Vorgehen ihrerseits, das grundsätzliche Ablehnen von Eindeutigkeit in welchem Bereich auch immer, bedroht seine eindimensionale Existenz als geistiger Ableger der Ich-Erzählerin. Diese wehrt sich zunächst erzählend, weigert sich standhaft, die Geheimnisse ihres Lebens (z.B. Ivan) Malinas rigorosem Urteil zu unterwerfen. Nachdem sie jedoch einmal von ihm geschlagen wird, verkehrt sich das Spiel in einen ernsthaften Kampf, in dem ihre einzigen Waffen im permanenten Rückzug, in der weiteren Verschleierung ihrer Person und ihrer Gefühle sowie in der Verkleidung ihrer Worte liegen. Letztendlich wird Schweigen als einziges Vokabular des Überlebens kenntlich. Die kurz zuvor noch so dominante Vaterfigur und alle damit zusammenhängenden Erinnerungen werden im dritten Kapitel nicht mehr erwähnt, nicht ein einziges Mal, und auch Ivan schrumpft auf ein normalsterbliches Maß zusammen, mutiert zunehmend zu einer, über die Vorgänge nur dürftig informierten Randfigur. (,,Ivan ist nicht mehr Ivan, ...") In die intensive Auseinandersetzung mit Malina fällt der endgültige Bruch des Liebesglücks, was, zusammen mit einem bereits zuvor erlittenen Verlust des Schreibens (,,... mein Buch, es ist mir abhanden gekommen, es gibt kein schönes Buch, ich kann das schöne Buch nicht mehr schreiben, ..."), zu dem allmählichen Zusammenbruch der Ich-Erzählerin, zu dem langsamen Zerfall all ihrer Illusionen, aber auch ihrer utopischen Visionen, erheblich beiträgt. In diesem Zustand, der von Malina nicht nur begrüßt, sondern massiv vorangetrieben wird, wortreich und zwingend zunächst (,,Töte ihn! töte ihn!"), dann mehr und mehr passiv und abschließend beinah schweigend, ist die Existenz der Ich-Erzählerin letztendlich keinerlei Gesten oder Worte mehr wert. (,,Bist du fertig?")
Leben = Schreiben
Die zunehmende Unfähigkeit Erinnern und Erzählen zusammenzubringen und das deutliche Empfinden einer dadurch unvermeidbaren eigenen Verlogenheit, sowie die wachsende Unmöglichkeit einen Standpunkt gegenüber der Welt einzunehmen oder gar Wahrheit mit Hilfe von Sprache zu übermitteln, das alles nimmt, neben den zuvor geschilderten Komponenten, den wesentlichen Teil im Verzweifeln der Ich-Erzählerin ein.
Ihre Existenzgrundlage innerhalb der Sprache beginnt in dem Ausmaß aufzureißen, in dem Malina die Autorität in Frage stellt, die sie unzweifelhaft repräsentiert, die Herrschaft nämlich, die sie als Autorin über ihre fiktiven Figuren und damit auch über ihn ausübt. Malina mißt ihre literarischen Bemühungen mit einem unzulänglichen Maß, dem seiner eigenen Unwissenheit um die Alltäglichkeit der Welt. Seine verschiedentlich durchscheinende Auffassung, die Ich-Erzählerin würde Leben und Schreiben nicht etwa nicht mehr zusammenbringen, sondern im Gegenteil hoffnungslos miteinander verwechseln, ist in dem Sinne als Schutzbehauptung zu verstehen, als er von eben dieser ihrer Fähigkeit abhängig ist und es immer bleiben wird. Der Grund seiner gut getarnten Sabotageakte liegt also in sich selbst verborgen (,,Es ist Malina, der mich nicht erzählen läßt."), in seiner Alltags- und Leblosigkeit, die mehr und mehr zu der allwissenden Überheblichkeit verkümmert, mit der er die Existenz der Ich-Erzählerin zunehmend attackiert.
Männergeschichten
Im Zuge des dritten Kapitels macht die Ich-Erzählerin verschiedene Versuche, Malina Geschichten zu erzählen, die auf ihre Richtigkeit hin nicht überprüfbar, sondern lediglich einem persönlichen Wahrhaftigkeitsanspruch verpflichtet sind. Diese Ansätze stellen das Bemühen dar, Alltagswelt auf ihren Wahrheitsgehalt zu testen, Erinnern und Erleben erzählend zusammenzufassen und sich auf die Art verständlich zu machen.
Schonungslos berichtet die Ich-Erzählerin von ihrem Hang zu Bauarbeitern und Briefträgern, über ihre Ansichten zu Männern im Allgemeinen wie auch im Besonderen und auch Bruchstücke der Kagran-Legende fließen immer wieder als Erzählfragmente ein, verbinden sich hier am deutlichsten mit ihrer Persönlichkeit. Alle diese Geschichten werden jedoch von Malina, der im Gegensatz zu Ivan durchaus versteht, systematisch blockiert, in ihre Bestandteile zerrieben und indirekt für null und nichtig erklärt. Die Ich-Erzählerin findet so zwangsläufig zu der Erkenntnis, nicht mehr erzählen zu wollen, nicht einmal dazu in der Lage zu sein, nicht so zumindest, wie es von ihr verlangt ist.
Vor dem eigentlichen Beginn des Erzählens also ist das Erzählen selbst bereits in Frage gestellt. Das Scheitern an der Sprache wird verdeutlicht in dem Verzweifeln an der Unwirklichkeit Malinas. (,,Ich verstehe Malina nicht, ..., er ist unmenschlich mit seinen Einflüsterungen, seinem Schweigen ...")
Inszenierung
Ein einziges Mal wird die Ich-Erzählerin körperlich von Malina angegangen; als sie ihm eine reale Existenz, das Vorhandensein einer ihm eigenen Vergangenheit, die konkrete Angst vor einem Unfall etwa oder vor dem Wasser oder aber vor Licht, alles Vorgänge, bei denen sie selbst nicht zugegen war, anzudichten versucht, verliert er über eine solche Anmaßung zunächst die Beherrschung, reißt sich dann aber zusammen und schlägt schließlich nur mit der flachen Hand zu. Im Anschluß an diese Tat bestehen die Dialoge zwischen beiden weiterhin fort, sie erhalten jedoch eine neue äußere Form, die einer Partitur gleicht und als inszeniert bezeichnet werden kann. Die ,,musikalischen Regieanweisungen" (z.B.: accelerando, crescendo, presto, più mosso, forte, ...), die nur für die Ich-Erzählerin selbst aufgeführt sind, tauchen hier zum ersten Mal auf. Auch die Ehrenbezeugungen gegenüber Malina nehmen Überhand, treten mitunter gehäuft direkt aufeinanderfolgend in Erscheinung. (z.B.: Höchst Ehrenwerter Malina, Exzellenz, Euer Gnaden, Herr von Malina, Eure Herrlichkeit und Allmächtigkeit, Euer Ehren, ...) Insgesamt betrachtet ist unklar, für wie echt die Worte der Ich-Erzählerin fortan genommen werden können, welchen konkreten Wahrheitsgehalt ihre Aussagen transportieren, ob sie nicht vielmehr in hohem Ausmaß von Schutzfunktionen geprägt sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Ich-Erzäh-lerin in einer Malina entsprechenden Tonlage singt, um der Gefahr zu entgehen, ist groß. Zumindest in den Dialogen steht unfraglich das Bestreben im Zentrum, sprachlich eine deutliche Distanz zwischen sich und ihn zu bringen. Mit Ironie und beständiger geistiger Flexibilität ist die Ich- Erzählerin bemüht, sich als un(an)greifbar darzustellen, sich auf keinen Fall festzulegen, also eine sprachliche Ungenauigkeit herzustellen. Auf dem Hintergrund des zuvor formulierten sprachlichen Anspruchs, der in einem krassen Gegensatz dazu steht, muss dieses jedoch mißlingen. Sie trägt Malinas Kleid, von dem sie immer wußte, dass es ihr unerträglich sein würde.
4. Das Rätsel der letzten zwei Seiten (schweigen?)
Für das Romanende sind verschiedene mögliche und unmögliche Lesarten präsentiert worden, die grundlegende Frage jedoch, wer der eigentliche Erzähler des Finales sei, bleibt ungeklärt. Die schlichte Annahme, dass es sich um Malina handeln müsse, da ihm von der Ich-Erzählerin zuvor mehrfach das Weitererzählen angetragen wurde (,,Übernimm du die Geschichten, aus denen die große Geschichte gemacht ist. Nimm sie alle von mir."), greift in jeder Hinsicht zu kurz. Auch die Äußerung Ingeborg Bachmanns, der gesamte Text sei auf die Gewinnung Malinas als zukünftigen Erzähler, als überlegene Figur, die aus Leben Kunst zu machen versteht, ausgerichtet, ist, zumindest im Wissen um die nur zu mutmaßende Tragweite einer solchen öffentlichen Einlassung, mit Vorsicht zu genießen.
Nach dem wortlosen Verschwinden der Ich-Erzählerin in dem sich seit langem langsam auftuenden Riss im Mauerwerk, beginnt Malina augenblicklich damit, die Spuren ihrer Existenz zu beseitigen, als hätte er nur darauf gewartet. Er zerbricht und zerreißt Dinge, die (zu) ihr gehören, er versteckt ihre Sachen oder wirft sie demonstrativ in den Papierkorb - auch die Schriften, die Briefe, das Vermächtnis der Schriftstellerin. Mehrfach verleugnet er seine frühere Mitbewohnerin am Telefon, womit er zum Teil strikt ihre vermeintlich klaren Anweisungen aus früherer Zeit befolgt. (,,Bitte, Ivan darf das nie erfahren, nie wissen ... versprich es mir, ..., Ivan darf nie, nie etwas wissen, ...", ,,..., er weiß nicht, was er Ivan sagen soll, ich höre das Telefon läuten. Sag ihm, sag ihm, bitte sag ihm! Sag ihm nichts. Am besten: Ich bin nicht zu Hause.") Keines ihrer Worte scheint er vergessen zu haben, andererseits jedoch hat er nicht im Geringsten verstanden. Das unvermeidliche Verfallsdatum eines wie auch immer formulierten „heute“ ist ihm als Historiker fremd. Auf den letzten zwei Seiten des Romans wird diese Unlogik, ja Sinnlosigkeit aller sprachlicher Bemühungen deutlich wie an keiner anderen Stelle vorgeführt. Angeblich ist Malina allein zurückgeblieben, er handelt autonom, zielgerichtet und ohne falsche Scham. Gleichzeitig aber wird er von außen betrachtet, er wird beobachtet, nahezu observiert, und Leser und Leserin werden somit Zeugen seiner radikalen Aufräumarbeiten und leichtfertigen Lügen.
Wer zwar alles sehen kann, aber nichts mehr hört, verfügt auch im herkömmlichen Sinn über eine nur unvollständige Wahrnehmung. Die Ansprüche jedoch, die die Ich- Erzählerin diesbezüglich an Sprache (=Leben!) richtet, sind von ungleich höherer Qualität, eine tiefe Vertrautheit mit Stimme und Klang markiert genau genommen nur den Auftakt ihrer Kunst. Malinas Sache ist eine Annäherung an diese Forderungen nicht, er wird ,,immer Distanz halten, weil er ganz Distanz ist." ,,Er webt nicht an dem großen Text mit, ..." und ,,er hat eine Tarnkappe, ein fast immer geschlossenes Visier." Grundsätzlich verfügt er über nahezu alle Eigenschaften, die ein angemessenes Fortführen der begonnenen Arbeit der Ich-Erzählerin durch ihn unmöglich erscheinen lassen.
Über die Bloßstellung Malinas hinaus wird auch nicht Vorhandenes beschworen. ES weiß, als der Täter den Tatort verläßt, Rettung und Hilfe als Bestandteil der Welt durchaus noch zu erwähnen, selbst wenn diese Dinge nicht mehr erreichbar sind. Die Welt aber existiert noch, ihr ist fortan die Ich-Erzählerin überantwortet, die aus ihrer Position heraus selbst nicht mehr handlungsfähig ist.
Mit einem Finale in einer derart ambivalenten Form wird verdeutlicht, dass mit dem Versagen der althergebrachten Sprache und dem Verlust der Figur der Erzählerin, ihrem Aufgehen in Verschwiegenheit noch lange kein Schweigen eintritt. Letztendlich ist ein Mord behauptet, eine ungesühnte Tat verübt, die zuvor angekündigt und akribisch beschrieben wurde. Die Suche nach dem Mörder und, was weit wichtiger erscheint, das Auffinden der Leiche beginnt erst mit dem letzten Satz.
Das Bachmann-ICH und die ICH-Erzählerin
Autobiographische Momente spielen in diesem Roman, wie im modernen Roman überhaupt, sicherlich eine Rolle, dennoch lassen sich genaue Übertragungen nur vermuten. Festgestellt werden muss jedoch, dass Ingeborg Bachmann und die Ich- Gestalt des Romans sich in keiner Hinsicht so eng zusammenfinden wie in ihrer Ausrichtung auf Sprache, ihrer grundsätzlich schreibenden Existenz, eine Übereinstimmung, die als nahezu deckungsgleich anzusehen ist. Im Vorkapitel, der Eröffnung des Romans, die den bis hierher erörterten drei Kapiteln vorgeschaltet ist, werden unverkennbar die Eckdaten einer literarischen Arbeit gesetzt. Ort, Zeit und die personale Ausstattung werden festgelegt und damit das Repertoire, das gespielt werden kann. Schon in der Vorstellung der Ich-Figur im Personenregister wird die biopraphische Nähe zu Ingeborg Bachmann deutlich. Beide sind Österreicherinnen, in Klagenfurt geboren, leben oder lebten einmal in Wien und sind, wie sich später herausstellt, schreibend tätig. Bis zum Beginn des ersten Kapitels läßt sich demzufolge nicht eindeutig festlegen, ob die Definition von Zeit, Ort und Malina durch das Bachmann-ICH oder bereits durch die ICH-Erzählerin geschieht. Die erörterte Materie könnte in gleichem Maße die Lebensreflektion eines fiktiven Ichs darstellen wie auch die Ausarbeitung von Erzählvoraussetzungen durch eine übergeordnete Instanz.
Das Bachmann-ICH setzt ein literarisches „heute“ fest und erklärt noch im selben
Satz, im selben Atemzug sozusagen, dass eine so eng gefasste Bedingung aus der
Perspektive einer Schriftstellerin nur schwer zu handhaben ist. (,,... vernichten müßte man es sofort, was über das Heute geschrieben wird, ...") Die ICH-Er-zählerin hingegen verzweifelt an der alltäglichen Schicksalhaftigkeit dieses „heute“, eines Tages ,,also, an dem etwas zu geschehen hat oder besser doch nicht geschieht." Die Beschreibungen Wiens, insbesondere der Ungargasse sind ebenso doppeldeutig zu begreifen. Sie verkörpern gleichermaßen die Erschließung der Örtlichkeiten bis in
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ihren historischen Zusammenhang wie auch eine Heimat, einen Raum für
Erinnerungen und Düfte, ein ,,Gefühl von Nachhausekommen". Selbst das Auftreten Malinas bleibt in dieser Hinsicht unbestimmt, eine Vorgeschichte mit ihm ist beiden Schriftstellerinnen gleichermaßen zugehörig. Das Bachmann-ICH beherrscht ihn als eine fiktive Person, ist in der Lage, ihn neu zu benennen und an den verschiedensten realen und irrealen Orten zu beheimaten. (,,...darum exilierte ich ihn aus Belgrad, nahm ihm seinen Namen, dichtete ihm mysteriöse Geschichten an, ... wenn ich besser gelaunt war, ließ ich ihn aus der Wirklichkeit verschwinden und brachte ihn unter in einigen Märchen ...") Gleichzeitig ist Malina jedoch auch ein Phantom, eine unwirkliche Angstfigur, die eigenwillig auftaucht und wieder im Nichts verschwindet, bis sie sich schließlich endgültig konkretisiert, den lange vorbestimmten Platz einnimmt. Die ICH-Erzäh-lerin ist es, die daraufhin bekennt, dass sie sich fühlt, ,,als hätte er mich ausgeschieden, einen Abfall, eine überflüssige Menschwerdung ...". Die Ausformung der Ich-Figur, das Erforschen ihrer Gedanken und Gefühle sowie die Recherchen ihre Vergangenheit betreffend werfen unvermeidlich das Thema der Erinnerung auf. (,,..., aber muss ich mich erinnern daran?") Ingeborg Bachmann widmet sich dieser, von ihr eindeutig auch mit historischem Gewicht belegten, Problematik seit jeher bewußt und intensiv, insbesondere das Todesarten-Projekt ist konsequent darauf ausgerichtet. Unter der Last der Vergegenwärtigung eines längst vergangenen „heute“, wie es von einer Schriftstellerin im Prozeß des Schreibens verlangt ist (ganz gleich, ob es sich dabei um ein fiktives oder ein ,reales „heute“ handelt), läßt sich gewissermaßen auch das Bachmann-ICH unter die (von ihr vorgegebenen) Menschen fallen, in die vorbestimmten Bedingungen eines noch nicht existierenden Romans. In diesem Sinne ist sie hier der ICH-Erzählerin nicht unähnlich, die an derselben Stelle erstmals zu Grunde geht. Zweifellos findet in diesem Moment eine punktuelle Verschmelzung der beiden (fiktiven?) Frauen statt, stellt sich augenblicklich die tragende Verbindung zwischen Leben und Kunst her, durch die auch imaginären Figuren Menschlichkeit verliehen werden kann. Insofern ist die eigentliche Ich-Erzählerin des Romans, die Figur, die von nun an autonom erzählen, sich erinnern und letztendlich wieder sterben wird, durch diese Fusion erst entstanden.
Die unvermeidlich sich aufdrängende Frage, welcher Gestalt Sprache tatsächlich ist, wie sie zu ihrem Gehalt jenseits der Syntax findet, wie die Brücke geschlagen wird, immer wieder aufs neue, zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten, zwischen dem Wort und seinem jeweils einmaligen Inhalt, so vielfältig er auch sein mag, muss zwangsläufig offen bleiben. In den zentralen Dialogen zwischen Malina und der Ich- Erzählerin schwingt immer auch die innere Zwiespältigkeit einer Schriftstellerin, eines Schriftstellers mit, die eine ständige Auseinandersetzung mit den vermeintlichen Gegensätze (ich + die Welt, innen + außen, ...) nach sich zieht. Innerhalb dieser Zerrissenheit tut sich letztendlich kaum eine Möglichkeit auf, die Grenzen der Sprache zu sprengen, um zumindest punktuell zu der existentiellen Substanz der Dinge jenseits der Worte vordringen zu können. Grenzenlosigkeit ist und bleibt eine Utopie.
- Citation du texte
- Rappold, Evelin (Auteur), 2002, Frauenliteratur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106425
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