Der missverstandene Film
„Lolita“ aus dem Jahr 1962 ist ein frühes Werk von Stanley Kubrick, entstanden in der Reihenfolge nach „Paths of Glory“ und „Spartacus“ und vor „Dr. Strangelove“ und „2001“. Es wurde vom Publikum gemischt aufgenommen und sorgte als Verfilmung des Skandal- Romans von Vladimir Nabokov selbst für einen Skandal. Das Thema, die Beziehung zwischen einem erheblich älteren Literaturprofessor und einem im Film etwa 15jährigen Mädchen, galt damals, in den frühen Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts vor allem in den Vereinigten Staaten als schändlich. Aus meiner Analyse[1] geht jedoch hervor, dass die dargestellte Beziehung von Kubrick keineswegs verherrlicht oder auch nur gutgeheißen wird. Von daher wurde der Film in meinen Augen völlig zu Unrecht gescholten. Die Empörung sollte sich nicht am Film entzünden, sondern an der dargestellten gesellschaftlichen Realität.
Im Gegensatz zu vielen späteren Werken des Regisseurs, v.a. dem visionären „2001“, wird in „Lolita“ die Geschichte weniger über formalisierte und stilisierte Mittel erzählt, sondern in erster Linie über das Verhalten der Personen. Die ästhetische Gestaltung unterstützt die von den Darstellern präsentierte Handlungsebene, erzählt jedoch keine eigene, zusätzliche Geschichte, wie es in anderen Filmen der Fall ist. Deshalb beschränke ich mich in meiner Analyse in erster Linie auf die Darstellung der Charaktere und die Beziehung der Personen zueinander. Die auch in diesem Film reichlich vorhandenen gestalterischen Details untersuche ich genau dann, wenn ich sie für besonders aussagekräftig halte.
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Aufstieg und Fall: Die Struktur
Der Film „Lolita“ hat eine Länge von 2 Stunden und 27 Minuten. Die Handlung erstreckt sich über einen Zeitraum von vier Jahren, wobei der wesentliche Teil sich innerhalb eines Jahres ereignet.
Nach dem Vorspann gibt es eine knapp zehnminütige Sequenz, in deren Verlauf Humbert Humbert seinen Gegenspieler Clare Quilty ermordet. Am Ende des Films wird diese Sequenz erneut aufgegriffen, aber dieses Mal nur kurz angedeutet. Dieser Teil umrahmt den eigentlichen Hauptteil des Filmes, der in der zwölften Minute mit dem textlichen Hinweis „4 years earlier“ beginnt.
Der Hauptteil besteht aus einer Vielzahl von kleineren oder größeren Episoden und wird strukturiert durch mehrere Zeitsprünge. Im ersten Teil werden die Hauptfiguren des Films vorgestellt: Humbert Humbert, Charlotte Haze und ihre Tochter Dolores, genannt Lolita, sowie Clare Quilty. Humbert zieht bei Charlotte ein, um Lolita nahe sein zu können. Die Beziehungen dieser drei Personen zueinander werden in unterschiedlichen Situationen vorgestellt. Clare Quilty taucht hier mehrmals kurz auf: sein Name wird in Gesprächen erwähnt, Charlotte trifft ihn auf einem Ball, und schließlich ist sein Foto in Lolitas Zimmer zu sehen. Für Humbert hat jedoch keine dieser Situationen eine Bedeutung.
Dieser Teil endet, als Lolita ins Feriencamp geschickt wird und Charlotte Humbert eine schriftliche Liebeserklärung macht. In der 46. Minute erfährt der Zuschauer, dass die beiden mittlerweile verheiratet sind und dass Lolita immer noch im Camp ist. Es sind also offenbar wenige Wochen vergangen. Als Charlotte berichtet, dass sie Lolita in ein Internat geben will, kommt es zum Streit. Kurz darauf liest sie Humberts Aufzeichnungen und erkennt seine wahren Motive. Sie läuft aus dem Haus und wird von einem Auto getötet. Humbert hat nun das alleinige Sorgerecht für Lolita, holt sie aus dem Camp ab und verbringt mit ihr eine Nacht im Motel. Es wird angedeutet, dass die beiden sich sexuell nähern. Als Lolita erfährt, dass ihre Mutter tot ist, verspricht sie, bei Humbert zu bleiben. Er scheint sein Ziel erreicht zu haben.
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(0:03:54)
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(0:18:24)
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(0:50:10)
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(1:33:59)
Der folgende Teil beginnt mit einem Zeitsprung von sechs Monaten (1:34:00). Es wird deutlich, dass Lolita sich in der Beziehung unwohl fühlt und ausbrechen will. Die beiden streiten sich mehrmals heftig. Schließlich beschließt Humbert, dass sie die Stadt verlassen. trotz anfänglicher Ablehnung stimmt Lolita nach einem Telefonat zu. Im Laufe der mehrtägigen Autofahrt wird Lolita krank und kommt ins Krankenhaus. Als Humbert sie einige Tage später dort abholen will, ist sie verschwunden.
Nach drei Jahren meldet sich Lolita (2:12:00), woraufhin Humbert zu ihr fährt. Sie teilt ihm mit, dass sie ihn nur benutzt und nie geliebt habe und dass Clare Quilty sie damals aus dem Krankenhaus geholt habe. Als Lolita sich weigert, zu ihm zurückzukehren, fährt Humbert zu Quilty und erschießt ihn. Im Epilog erfährt der Zuschauer, dass Humbert für diesen Mord ins Gefängnis kommt und dort an einer Thrombose stirbt.
Kubrick verwendet den klassischen Aufbau einer Tragöde: Nach der Exposition, der Vorstellung der Charaktere und Beziehungen, kommt es mit einigen Verwicklungen zum Höhepunkt – in diesem Fall Lolitas Versprechen, bei Humbert zu bleiben. Doch hieran schließt sich der Fall an, die Abwendung und Flucht Lolitas. Nach einem letzten kurzen Hoffnungsschimmer, dem Besuch bei Lolita, kommt es zum Finale. Humbert hat Lolita endgültig verloren und fühlt sich vor allem von Quilty betrogen und gedemütigt, so dass er beschließt, ihn zu ermorden. Er selbst stirbt im Gefängnis.
Der Aufbau hat starke Parallelen zu „Dr. Strangelove“, den Kubrick drei Jahre später dreht. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass bei Lolita schon zu Beginn das Ende vorweggenommen wird, während bei „Dr. Strangelove“ lange Zeit unklar bleibt, wie der Film enden könnte. Beide Filme bedienen sich jedoch der Komik als prägendem Element, so dass man in beiden Fällen vom Genre einer Tragikomödie sprechen kann.
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(1:51:18)
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(2:24:11)
Aktion und Reaktion: Die Wendepunkte
Humbert Humbert ist ein Mensch, der kühl kalkuliert und gewissenhaft plant, um seine Ziele zu erreichen. Er will die Mitmenschen so manipulieren, dass sie seinen Interessen dienen. Aber genau diese Plä- ne werden immer wieder durchkreuzt, weil sich seine „Mitspieler“ nicht so verhalten, wie er es erwartet. Dieses Muster zieht sich durch den gesamten Film und zeigt sich besonders deutlich in der Anfangssequenz.
Humbert fährt mit einem Revolver zu Quiltys Haus, findet ihn dort, zieht sich Handschuhe an und will mit ihm reden, „bevor wir anfangen“ (0:03:50). Er lässt ihn einen vorgefertigten Text vorlesen, der seine Anklage enthält. Clare Quilty jedoch lässt sich auf dieses Spiel nicht ein und stellt seine eigenen Regeln auf. Statt auf Humbert einzugehen, fordert er ihn zum Pingpong-Spiel auf. Er ignoriert seine Fragen und bringt ihn schließlich sogar dazu, mitzuspielen. Humbert versucht jedoch weiter, seinen Plan zu verfolgen und holt den Revolver hervor. Quilty lässt sich daraufhin in einen Sessel fallen, wo Humbert ihm den Text gibt. Doch statt ihn einfach vorzulesen, macht sich Quilty lustig. Kurz darauf steht er wieder auf und zieht sich Boxhandschuhe an. Humbert gibt seinen ersten Schuss ab, woraufhin Quilty ihn auffordert, nicht mit Tod und Leben rumzuspielen, sich dann ans Klavier setzt und Musik macht. Als Humbert dann noch mehrmals schießt, flieht Quilty die Treppe hoch, wird dort jedoch endgültig getroffen.
Clare Quiltys Verhalten in dieser Situation ist absurd, doch es spiegelt sehr gut das Absurde in Humbert Humberts Verhalten. Durch seine Reaktionen macht er deutlich, dass die Forderungen und Pläne seines Gegners nicht zum gewünschten Ziel führen können. Humbert ist von diesem Verhalten sehr irritiert und verliert zunehmend die Kontrolle. Am Ende wird aus der geplanten inszenierten Hinrichtung ein wildes Abknallen.
Auch in den übrigen Szenen ist immer wieder zu beobachten, dass Humbert sehr planvoll und durchdacht vorgeht, am Ende dann aber die Situation doch nicht nach seinen Wünschen und Überlegungen abläuft.
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(0:10:06)
[...]
[1] Ich beziehe mich in meiner Analyse auf die deutsche DVD-Version aus der „Stanley Kubrick Collection“. Der Film wurde gegenüber der Kinoversion um einige Minuten gekürzt.
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