Inhaltsverzeichnis
1. Was ist Entwicklung? Der Stand der Forschung
2. Begriffliche Grundlagen im Bereich der Entwicklungsproblematik
2.1. Entwicklungstheorien
2.2. Unterentwicklung: natürlichen Entwicklungshemmnissen, Psychologische Theorien, endogenen und exogenen Entwicklungshemmnissen
2.3. Entwicklung
2.3.1. Dimensionen des Entwicklungsbegriffs: Entwicklungsprozess, Entwick- lungsstand
2.3.2. Das Probleme der Erfassung von Entwicklung durch Indikatoren: BSP, Physical Quality of Life Index
2.3.3. Der Human Development Index der UNDP
2.4. Entwicklungshilfe
2.5. Entwicklungspolitik
3. Der Wandel der Entwicklungsparadigmen im 20. Jahrhundert
3.1. Die Imperialismustheorien
3.1.1. Paul Baran und die Neoimperialismustheorie
3.1.2. Kritik an der klassischen Imperialismustheorie
3.2. Die Modernisierungstheorien
3.2.1. Der Begriff der Modernisierung
3.2.2. Die Kernannahmen der Modernisierungstheorie
3.2.3. Die Kluft zwischen Moderne und Tradition: die Dualismustheorien
3.2.4. Das Credo aller Entwicklung: Wachstum als Entwicklungsmotor.
3.2.4.1. Die Wirtschaftsstufentheorie von Rostow
3.2.4.2. Die keynesianische Wachstumstheorie von Forbes-Harrod und Domar
3.2.4.3. Das neoklassische Modell von Heckscher und Ohlin
3.2.5. Die Theorie des sozialen Wandels
3.2.5.1. Kernbegriffe, Schwächen und Ideologien der Theorie des sozialen Wandels
3.2.5.2. Schwächen und Ideologien der Theorie des sozialen Wandels
3.2.6. Das Scheitern der Modernisierungstheorien
3.3. Der Strukturalismus
3.3.1. Die Kernthesen des Strukturalismus
3.3.2. Die Irrtümer des Strukturalismus
3.4. Die Dependenztheorien
3.4.1. Der Begriff der Abhängigkeit
3.4.2. Die Schulen der Dependenztheorie
3.4.3. Die wesentlichen Kritikpunkte an der Dependenztheorie
3.5. Die Weltsystemstheorie
3.5.1. Kritik an der Weltsystemtheorie
3.6. Der Erfolg der Entwicklungstheorien bis zu den 70ern: eine erste Bilanz
3.6.1. Die Dominanz der Wachstumsstrategien als entwicklungspolitische Praxis
3.7. Die 70er Jahre: Das neue Paradigma der Grundbedürfnisbefriedigung
3.7.1. Der Begriff der „absoluten Armut“
3.7.2. Entwicklung von unten: „self-reliance“
3.7.2.1. Die Rolle des Staates zur Umsetzung von „self-reliance“ - und deren Ablehnung durch die Eliten
3.7.2.2. Die Gründe für das Scheitern des „self-reliance“-Konzepts
3.8. Die Problematik der Formulierung von Entwicklungszielen
3.8.1. Was sind Grundbedürfnisse?
3.8.1.1. Auf welchem Weg sind die Grundbedürfnisse zu befriedigen?
3.8.1.2. Grundbedürfnisansatz ohne Entwicklungstheorie: eine Leerformel?
3.8.2. Das Problem der „gerechten Einkommensverteilung“?
4. Die Krise der Entwicklungsländer und der Entwicklungstheorien
4.1. Das wirtschaftliche Desaster der Dritte-Welt-Länder
4.2. Der entwicklungstheoretische Rückzug in den Elfenbeinturm
4.2.1. Wissenschaftstheoretische Gründe für das Scheitern der Entwicklungstheorien
5. Der Weg zum neuen Paradigma der „nachhaltigen Entwicklung“
5.1. Von der Infragestellung zur Differenzierung des Wachstumsparadigmas
5.2. Renaissance und Differenzierung der Modernisierungstheorien
5.3. Das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung“
5.3.1. „Nachhaltige Entwicklung“ - ein widersprüchlicher Begriff
5.3.2. Die nachhaltige Entwicklung als spezifische Variante der Modernisierungs- theorie
6. Entwicklungshilfe in der Praxis
6.1. Gründe für Entwicklungshilfe
6.2. Formen der Entwicklungshilfe
6.3. Instrumentarium der Entwicklungszusammenarbeit
6.4. Ansatzpunkte der nationalen Entwicklungspolitik
6.4.1. Methoden zur Initiierung von armutsreduzierendem Wachstum
6.4.2. Entwicklungsmaßnahmen im Bereich des Bildungswesens
6.4.3. Entwicklungsmaßnahmen im Bereich der Gesundheitsvorsorge
7. Fazit
8. Literaturangaben
„Entwicklung“ im entwicklungspolitischen Sinn
Eine ideologiekritische Analyse im Kontext der angewandten Ethik.
Von MMag. Harald A. Friedl
Hausarbeit im Rahme der SE zur „Praktischen Ethik“ bei o. Univ.-Prof. Dr. Kurt Weinke, SS 2002
1. Was ist Entwicklung? Der Stand der Forschung
Wovon ist die Reden, wenn vor dem Hintergrund der Verarmung zahlreicher Länder der Welt von „Entwicklung“ oder, etwas konkreter, von „Entwicklungshilfe“ gesprochen wird? Was soll da in welcher Richtung entwickelt werden?
Der Begriff der „Entwicklung“ ist so tief ins Bewusstsein der westlichen Welt eingegraben, dass er geradezu selbstverständlich ist. So spendet man etwa, um zur „Entwicklung“ eines Landes oder einer Bevölkerungsgruppe bzw. zur Bekämpfung der Armut beizutragen. Diesen Menschen soll es dadurch später „besser“ gehen. Fragt man allerdings danach, in welcher konkreten Hinsicht es den Menschen besser gehen soll - angesichts der überragenden Probleme, mit denen die westliche Welt aufgrund ihrer erfolgreichen und rasanten Entwicklung konfrontiert ist, so stößt man rasch auf Rat- losigkeit: Verkehrschaos, Umweltbelastung durch Nuklear-, Chemie- und anderen hoch entwickel- ten Industriezweigen, soziale Vereinsamung der Großstadtmenschen, Zusammenbruch der Schul- systeme und drohender Kollaps einer hochtechnisierten medizinischen Versorgung, um nur wenige Punkte zu nennen. Ist dies das Ziel von Entwicklung bzw. von Überwindung dessen, was aus land- läufiger Sicht als „Unterentwicklung“ bezeichnet wird?
Tatsächlich gibt es bislang keine umfassende, alle relevanten Aspekte einbeziehende Theorie der Unterentwicklung oder Entwicklung. Dies liegt u.a. am Problem der Theorienbildung in den Sozialwissenschaften, in der Multidimensionalität von Entwicklung sowie in der Multikausalität bei den Erklärungsansätzen.
Darüber hinaus ist es auch höchst wissenschaftstheoretisch problematisch, von den bislang ver- tretenen Entwicklungstheorien von Theorien im strengen Sinn zu sprechen, weil diese zumeist kei- nen universellen Gültigkeitsanspruch erheben und die enthaltenen Hypothesen zumeist nicht streng determiniert, sondern probabilistisch formuliert sind, Ausnahmen also zugelassen. Auch findet man unter den Entwicklungstheorien solche, die Erklärung, Prognose und Programme miteinander verbinden. Schließlich kranken einige dieser Theorien an ihrer mangelnden Falsifi- zierbarkeit, weil die beinhalteten Aussagen in der Realität kaum überprüfbar und widerlegbar sind (Wagner/Kaiser 1995 S. 27 ff.). So überrascht es nicht, wenn etwa Menzel (1992, S. 49) lakonisch feststellt, dass bis heute ungeklärt sei, wie die jeweiligen Entwicklungsvorhaben realisiert werden können.
Tatsächlich zeigt die Geschichte der entwicklungstheoretischen Diskussionen, dass „trotz eines re- gelmäßigen Paradigmenwechsel über die vergangenen Jahrzehnte keine wirklich erfolgreiche Ent- wicklungstheorie (hervorgebrachte wurde), die dem globalen Ziel „Entwicklung“ gerecht geworden wäre (...). Überall, wo im Sinne der einen oder anderen Entwicklungstheorie entwicklungspolitische
Maßnahmen ergriffen worden sind, sind diese schließlich gescheitert, wurden einer radikalen Wen- de unterzogen, schlugen an der Dissonanz von Anspruch und Wirklichkeit fehl oder wurden gewalt- sam beibehalten. So trat in den 80er Jahren neben die reale Krise der Dritten Welt auch eine Krise der Entwicklungspolitik respektive der ihr zugrunde liegenden Entwicklungstheorien." (Link 1996, S. 1996, S. 1)
Der bislang jüngste Paradigmenwechsel wurde zu Beginn der 90er-Jahre vollzogen, wobei der Ansatz der nachholenden Entwicklung auf Grund seiner bedrohlichen, ökologischen Effekte zumindest auf theoretischer Ebene aufgegeben und durch das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung“ ersetzt - mit der Hoffnung auf einen Ausweg aus dem ökologisch-ökonomischen Dilemma. Inwieweit diese Hoffnung realistisch ist, wird im Kap. 5 behandelt werden.
2. Begriffliche Grundlagen im Bereich der Entwicklungsproblematik
2.1. Entwicklungstheorien
Bei „Entwicklungstheorien“ handelt es sich grundsätzlich um Theorien über die Ursachen und über die Überwindung der Unterentwicklung von Ländern. Die gemeinsame Aufgabe der Entwicklungs- theorien ist es, die Determinanten des gegenwärtigen Entwicklungsstandes und jene des aktuellen Entwicklungsprozesses der Entwicklungsländer zu erkennen. Auf Basis dieser Erkenntnis sollen die Voraussetzungen zur Formulierung von erfolgsversprechenden Entwicklungsstrategien geschaffen werden (Hemmer 1988, S. 93).
2.2. Unterentwicklung
Unterentwicklung wird lediglich als ein Zustand von zu geringer Entwicklung (siehe nächster Punkt) verstanden. Als Ursache der Unterentwicklung wurden und werden zahlreiche, unterschiedlich kausal zusammenwirken Faktoren angenommen, deren Wirkungsweise zudem abhängig von vielfältigen historische Situationen sind. Diese werden grob in drei Gruppen unterteilt:
1. Unter natürlichen Entwicklungshemmnissen werden Faktoren wie die ungünstige geografische Lage, schlechte Ressourcenausstattung, negative Wirkungen des Klimas auf die Landwirtschaft u.ä. verstanden. Das diese sehr frühen Erklärungsansätze alleine jedoch nicht zur Erklärung von Unter- entwicklung hinreichen, beweist die widersprüchliche Verteilung der Entwicklungserfolge über die Erde. Daraus folgt, dass etwa klimatische Bedingungen wohl nur ein Element in der Kette von Ver- ursachungsfaktoren für Unterentwicklung seien können. Erst in Verbindung mit anderen Faktoren kann Unterentwicklung verfestigt oder Entwicklung behindert werden. So ist etwa in Ländern, die in extremen Klimazonen liegen und ein rasches Bevölkerungswachstum aufweisen, häufig ein
Raubbau an Wäldern für Brennstoffen oder als Einkommensquellen zu beobachten, was zu Bodenerosion, Desertifikation und damit zu weiterer Verarmung der Bevölkerung führt, wie dies im Sahel oder im Himalaya zu beobachten ist (Wagner & Kaiser 1995, S. 31 f.)
2. Psychologische Theorien wie jene von McClelland (1966) betrachten Unterentwicklung als Fol- ge des Fehlens des individuellen Bedürfnisses nach Leistungen zur Erreichung von Wohlstand. Sol- che Theorien lehnen sich zumeist an die soziologische Kapitalismustheorie von Max Weber (1905) an. In diese Kategorie fällt auch die Theorie von Lerner (1958), wonach traditionellen Gesellschaf- ten die Fähigkeit zur Empathie fehle, weshalb sie sich nicht mit modernen Aspekten ihrer Umwelt identifizieren könnten. Die Voraussetzungen dafür sei geistige Mobilität, die wiederum nur durch ein ausgebautes Schulsystem und Erwachsenenbildung vermittelt werden könne (Hinw. in Wagner & Kaiser 1995, S. 32 f.). Diese Theorien beruhen überwiegend auf dem Paradigma der Modernisierung, das in der Folge noch näher zu behandeln ist.
3. wird unter schieden zwischen endogenen und exogenen Entwicklungshemmnissen. In die erste Kategorie fallen Strukturfaktoren wie die jeweilige Wirtschaftsordnung, Machtverhältnisse und Einkommensverteilung bzw. dynamische Faktoren wie Misswirtschaft und Fehlplanungen, Bevöl- kerungswachstum, Umweltzerstörungen udgl. Als exogene Entwicklungshemmnissen werden Um- stände wie eine koloniale Vergangenheit, der Einfluss transnationaler Konzerne oder ungünstige außenwirtschaftliche Rahmenbedingungen wie z. B. Güteraustauschstrukturen betrachtet (Hauff & Werner 1993, S. 30 f.)
2.3. Entwicklung
"Entwicklung" ist ein in den verschiedensten Zusammenhängen verwendeter, entsprechend vieldeu- tiger, definitorisch kaum exakt fassbarer Begriff, der im Zuge diverser historischer Meinungs- und Ideologiestreitigkeiten vielfach widersprüchlich verwendet wurde (Nohlen & Nuscheler 1982, S. 48). Dies liegt freilich auch daran, dass der Begriff selbst sowie sein Gegenstand einer ständigen Veränderungen unterworfen ist. Und dennoch könne er nach der Ansicht von Carr (1981, S. 81 f.) trotz seiner Abhängigkeit von räumlichen und zeitlichen Dimension nicht einfach wertneutral gesetzt, sondern lediglich aus einer normativen Zielsetzung oder Vorstellung heraus definiert wer- den, denn jeder Versuch, einen abstrakten und übergeschichtlichen Maßstab aufzustellen sei an sich bereits unhistorisch.
Insofern ist „Entwicklung“ als normativer Begriff eng verbunden mit der Überwindung men- schenunwürdiger ökonomischer und sozialer Lebensumstände der armen Bevölkerungen, und darum zu verstehen als Prozess der umfassenden Verbesserungen von Lebensstandard und Lebensqualität aller Menschen (Todaro 1992, S. 620).
Nohlen (1993, S. 207) konkretisiert diese Auffassung, wonach das oberste Ziel die Versorgung aller Gesellschaftsmitglieder mit lebensnotwendigen materiellen Gütern und Dienstleistungen durch die selbstständige Entfaltung der Produktivkräfte innerhalb einer gesellschaftlichen und politi- schen Ordnung sei, die allen Menschen eines Landes Chancengleichheit einräumt, innenpoliti- sche Mitbestimmung ermöglicht und sie an gemeinsam geschaffenen Wohlstand partizipieren lässt. Dies spiegelt freilich ein prozessuales Verständnis, verbunden mit Begriffen wie Wirtschafts- wachstum, Industrialisierung, Agrarreform, Demokratisierung und Umverteilung sowie intakte Umwelt wider.
Wie bereits erwähnt, ist der Entwicklungsbegriff stets verbunden mit dem Gegenstück der mangelnden, ausgebliebenen Entwicklung. Diese Auffassung wurde vor allem in der Zwischenkriegszeit in abfälliger Weise für damalige koloniale Regionen verwendet, deren „unterentwickelte“ Bewohner zumeist als Synonym für "primitive" Gesellschaften galten (Gaisbauer, 1994, S. 6). Auch der später verwendeten Umschreibung der "unterentwickelten Länder" haftete dieser geringschätzige Beigeschmack an (Bergmiller et al. 1977, S. 17).
Entwicklung ist somit stets vor dem jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontext zu ver- stehen. Dies gilt insbesondere für die Tatsache, dass sich die jungen, unabhängig gewordenen Staa- ten in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht an ihren einstigen Mutterländern orientierten, was einen Prozess in Gang setzte, der zunächst vom Industrialisierungsgedanken geprägt wurde. Diese Leitbildfunktion der industrialisierten Staaten wurzelte darin, dass diese die grundlegenden ökonomischen Probleme der Entwicklungsländer wie Arbeitslosigkeit, absolute Armut und Anal- phabetisierung damals weitgehend gelöst zu haben schienen. Insofern lag es nahe, diesen vermeint- lichen Erfolg ihres Modelle durch die jungen Staaten zu kopieren (Wagner & Kaiser 1995, S. 6).
2.3.1. Dimensionen des Entwicklungsbegriffs
Hinter dem Entwicklungsbegriff verbergen sich mehrere Dimensionen, die jede für sich näher differenziert werden kann:
1. Dynamisch verstanden gilt Entwicklung als Prozess im Sinne einer intertemporalen Verbindung einer Vielzahl von Entwicklungsständen. Ein solcher Entwicklungsstand muss freilich inhaltlich ausgefüllt werden, um messbar zu sein.
2. Eine solche Momentaufnahme des Entwicklungsprozesses, der Entwicklungsstand, spiegelt das Lebensniveau wieder, das die Bewohner einer bestimmten Einheit realisiert haben. Dies ist abhän- gig von der Frage, welcher Lebensstandard für sie erzielbar sei, wozu gegenwärtige und zukünftige Lebensbedingungen als Maßstab dienen. Dazu müssen jedoch die Lebensbedingungen der Gruppe rationalisierbar, was wissenschaftstheoretisch unweigerlich das sog. „Indikatoren-Problem“ aufwirft (Wagner & Kaiser 1995, S. 7).
Wie der Begriff der „Entwicklung“, so ist auch der Begriff „Lebensniveau“ multi-dimensional. Diese verschienenen Ebenen des Begriffs sind zur Beschreibung und Messung von Entwicklung erfassbar und für analytische Zwecke zugänglich gemacht werden. Erstmals wurde dies mit dem UNOKatalog der Komponenten des Lebensniveau versucht, worin folgende Elemente enthalten sind (Hinw. in Wagner & Kaiser 1995, S. 8):
1. Gesundheit und Bevölkerungen
2. Nahrung und Ernährung
3. Erziehung und Bildung
4. Arbeitsbedingungen
5. Beschäftigungssituationen
6. Gesamtnachfrage und Ersparnisse
7. Transport
8. Wohnungen
9. Kleidung
10. Erholung und Freizeit
11. soziale Sicherheit
12. das menschliche Freiheit
Anhand dieses vierschichtigen Katalogs lässt sich bereits die Schwierigkeit der Messbarmachung eines jeweiligen „Entwicklungsstandes“ erahnen, weshalb so gerne auf den Faktor des Bruttosozial- produktes zurückgegriffen wird, der jedoch wenig aussagekräftig ist, wie nunmehr aufgezeigt wird.
2.3.2. Das Probleme der Erfassung von Entwicklung durch Indikatoren
In der weit verbreiteten Praxis wird Entwicklung oft nur als positives Ergebnis der Erhöhung des Bruttosozialprodukts pro Kopf betrachtet. Dass jedoch ein bloßes Wirtschaftswachstum allein noch keineswegs quasi automatisch zu „Entwicklung“ einer Gesellschaft beiträgt, wie noch näher zu er- läutern sein wird, erwies sich sehr rasch als Illusion. So wies Senghaas bereits 1974 (S. 8 f.) darauf- hin, dass trotz allem Wirtschaftswachstum zwischen verschiedenen Regionen, Gesellschaften und den damaligen politischen Blöcken nicht nur ein relatives Wohlstandsgefälle oder relative zivilisatorische Disparitäten zu beobachten seien, sondern dass die zunehmenden Verarmungsprozessen in der Dritten Welt "im Unterschied zu relative Armut eine elementare physische und psychische Verarmung " mit sich brächten. Tatsächlich ist die Verwendung dieses verkürzten Indizes in erster Linie Ausdruck der praktischen Schwierigkeit, die mit der Gewinnung von differenzierteren, aussagekräftigeren Indikatoren verbunden ist.
Dies beginnt bereits bei der Auswahl von Indikatoren. So müssen die relevanten Bezugsgrößen vergleichbar seien, was die Verfügbarkeit von Daten in jedem Land zu jedem Zeitpunkt voraussetzt, wobei die Datenqualität konsistent und vollständig und darüber hinaus die Datenquelle absolut zuverlässig sein muss. Diese Anforderungen sind in Entwicklungsländern kaum zu erfüllen. Theoretisch müsste mit einem ansteigenden Grad von Messfehlern umso mehr an Indikatoren herangezogen werden, um die Fehlerquellen zu substituieren (Wagner & Kaiser 1995, S. 9).
Dadurch wiederum wird das grundsätzliche Problem verschärft, wonach die verschiedenen Partial- indikatoren nicht unbedingt ein funktionales System darstellen. Jeder der Indikatoren kann im je- weiligen Land bei gleicher Höhe aufgrund unterschiedlicher kultureller Gegebenheiten etwas unter- schiedliches zum Ausdruck bringen. Diese praktischen Schwierigkeiten ließen den Wunsch nach einem einfacheren Maß für Entwicklungen aufkommen, das einfach zu interpretieren und zu erhe- ben ist, ohne mit zu großem Informationsverlust verbunden zu sein. Freilich kann ein solches Maß niemals wertfrei seinen.
Ein solches Maß wurde erstmals von Morris (1973) mit dem „Physical Quality of Life Index“ (PQLI) vorgeschlagen, der folgende drei Indikatoren berücksichtigt:
1. die Lebenserwartung nach dem ersten Lebensjahr
2. die Kindersterblichkeit, die eine Summe von Effekten aus Ernährung, Gesundheit, Einkom- men und Umwelt wiederspiegelt
3. die Alphabetenrate im Sinne eines "Partizipationsmaßes" der möglichen und tatsächlichen Teilhabe der Bevölkerung an der ökonomischen und soziologischen Entwicklung des Lan- des.
Der PQLI wurde von der OECD in modifizierte Form übernommen (Wagner & Kaiser 1995, S. 11).
2.3.3. Der Human Development Index der UNDP
Von der UNDP wurde Morris’ Ansatz zum Human Development Index (HDI) weiterentwickelt, der 1999 im Human Development Report als neuen, international anerkannte Messgröße vorgestellt wurde. Der HDI kombiniert
1. die Lebenserwartung bei Geburt, gewertet mit 1/3,
2. die Alphabetisierungsquote der Erwachsenen, gewertet mit 1/9,
3. die durchschnittliche Anzahl der absolvierten Schuljahren, gewertet mit 1/9, und
4. das modifizierte reales Pro-Kopf-Einkommen (1/3), und misst den Index auf einer Skala zwischen 0 und 1.
Zwar macht der HDI die Disparitäten zwischen den verschiedenen Gruppierungen innerhalb eines betrachteten Landes nicht erkennbar, allerdings können bei Vorhandensein entsprechender Daten gesonderte, spezifischere HDIs erstellt werden (geschlechtsspezifisch, regionalspezifisch etc.).
Der HDI hat große politische und akademische Aufmerksamkeit auf sich gezogen und scheint das wirtschaftliche Wachstum als alleiniges Entwicklungskriterium endlich abzulösen. Entwicklungen
in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen und zu quantifizieren, erscheint gegenwärtig jedoch noch „utopisch", wie Wagner & Kaiser (1995, S. 16) überzeugt sind.
2.4. Entwicklungshilfe
Entwicklungshilfe ist die Sammelbezeichnung für entwicklungsbezogene Leistungen staatlicher oder nicht-staatlicher Akteure aus den Industrieländern für Entwicklungsländer, geleistet in bilatera- ler Form von einem Staat an ein bestimmtes Land oder multilateral über internationale Organisatio- nen (Thiebaut 2000, S. 219 f.). Die verschiedenen Formen der Entwicklungshilfe werden in Kap. 6 behandelt.
2.5. Entwicklungspolitik
Darunter werden sämtliche Mittel und Maßnahmen verstanden, die von Staaten zur Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Entwicklungsländer ergriffen werden. Die jeweilige Entwicklungspolitik resultiert aus bestimmten theoretischen Paradigmen bzw. Entwicklungstheorien, wie sie im folgenden näher vorgestellt werden, sowie aus bestimmten Prämissen und Einsichten in die Entwicklungsproblematik, sowie auf politischen Zielsetzungen der jeweiligen Träger von entwicklungspolitischen Maßnahmen (Woyke 2000, S. 223 f.).
3. Der Wandel der Entwicklungsparadigmen im 20. Jahrhundert
Die Abfolge der Entwicklungsparadigmen im 20. Jahrhundert in gewisser Hinsicht ein Abbild der wechselnden Moden von diversen volkswirtschaftlichen und ideologischen Überzeugungen sowie den damit verbundenen politischen bzw. historischen Hintergründen. Insofern lassen sich - in historischer Abfolge betrachtet - folgende große Paradigmen unterscheiden:
Den Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinen sozialen Bewegungen in Europa und die weltweite Aus- dehnung des Kapitalismus prägten bis zur Mitte des Jahrhunderts die Imperialismustheorien. Diese wurden im Zuge der mehr oder minder erfolgreichen Dekolonialisierungsprozesse und vor dem Hinter- grund des wirtschaftlichen und militärischen Erfolgs der USA von den Modernisierungstheorien abgelöst. Als Reaktion auf das Ausbleiben der erhofften Erfolge der „nachholenden Entwicklung“ in den Ländern der Dritten Welt entwickelte sich in den 60ern und 70ern - ausgehend von Lateinamerika - eine Neuauflage der Imperialismustheorien in Gestalt des Strukturalismus bzw. der Dependenztheo- rien, die für eine Abkoppelung der nationalen Entwicklung vom Weltmarkt plädierten. Die Suche nach Lösungen für deren Schwachstellen mündete schließlich in das Paradigma der Weltsystemstheorie, die weitläufig als eine Vorläufer-Theorie zur Globalisierungstheorie betrachtet werden kann.
Mitte der 70er-Jahre wurde in Abkehr von den Großtheorien erstmals ein völlig neuer Ansatz vertreten, wonach die Grundbedürfnisbefriedigung der Bevölkerung im Sinne einer alternativen Entwicklung in den Mittelpunkt des Anliegens jeglicher Entwicklung gerückt wurde. Das Ausbleiben merklicher Erfolge dieser wie auch aller anderen Ansätze führte zur Rede von den 80er-Jahre als dem „verlorenen Jahrzehnt“, das schließlich - nicht zuletzt auch infolge des Scheiterns des „realen Sozialismus“ zum „Scheitern der großen Theorien“ mündete.
In diesem Umfeld wie auch als Antwort auf das erwachende Bewusstsein für die globale ökologi- sche Krise entstand zu Anfang der 90er-Jahre das neue Paradigma der„nachhaltigen Entwick-lung“, das erstmals auch ökologische Aspekte der Entwicklung mit einbezog und seither die akademische wie auch politische Diskussion beherrscht, ohne jedoch wesentlich zur Verbesserung der globalen Entwicklungsproblematik beigetragen zu haben.
3.1. Die Imperialismustheorien
Diese spezifische Ausprägung der Abhängigkeitstheorien wurde wesentlich von Lenin geprägt, der den Imperialismus in seiner Analyse als die höchste und letzte Stufe des Kapitalismus vor seinem Untergang charakterisiert hatte. Demnach würden sich Industrie- und Finanzkapital zu Monopolen konzentrieren und auf der Suche nach ausländischen Absatzmärkten und die kapitalistische Expan- sion durch Kapitalexport fortsetzen. Um die dabei erschlossenen Rohstoffquellen auch zu beherr- schen, sei diese Entwicklung mit der Tendenz zur politischen Kontrolle fremder Territorien, der
Kolonisation, verbunden (Lenin 1975, S. 20, 105. f.).
3.1.1. Paul Baran und die Neoimperialismustheorie
Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die koloniale Bewegungen erste Erfolge aufzuweisen begann, richtete sich die Imperialismusdiskussion zunehmend auf die Herausforderungen der weit verbreiteten und anhaltenden Armut in der Dritten Welt (Larrain 1992, S. 85). Hier trat besonders der US-Marxist Paul Baran mit seiner Untersuchung über die Ursachen dafür hervor, warum die „rückständigen“ kapitalistischen Staaten keinen Fortschritt im Sinne der kapitalistischen Entwicklungen aufweisen konnten, wie sie von der Geschichte anderer kapitalistischen Länder her bekannt waren. Baran sah den Grund für die Unterentwicklung der Dritten Welt im permanenten Transfer des in diesen Ländern erwirtschafteten Produktionsüberschusses in die Industrieländer, im verschwenderischen Verbrauchs des verbleibenden Rests durch die Eliten im Lande sowie im negativen Effekt, den das Auslandkapital auf diese Länder ausübe. (Baran 1973, 132 ff.)
Als Konsequenz ersetzte Baran die Konzeption des Kapitalismus als homogenes System durch jene eines heterogenen und hierarchischen Systems, innerhalb dessen entwickelte Staaten die weniger entwickelten Staaten unterwerfen würden (Baran & Zweezy 1968, S. 178). Dieses Gedankengut übte großen Einfluss auf die Vertreter der Abhängigkeitstheorien und der Weltsystemtheorien in den 60er und 70er Jahren aus (Larrain 1992, S. 115).
3.1.2. Kritik an der klassischen Imperialismustheorie
Die Imperialismustheorie vermochte wenig zum Verständnis der Entwicklungsproblematik beitragen, weil sich die Analysen des Imperialismus weitgehend auf koloniale Situationen beschränkten und insofern zu eindimensional waren. (Larrain 1992, S. 10)
Auch widersprach die Theorie des Kapitalexport den tatsächlichen Verhältnissen der damaligen Zeit, weil sowohl vor 1939 noch nach 1945 Exportkapital aus den Weltwirtschaftszentren kaum in die Dritte Welt, sondern hauptsächlich in semiperipheren Nationen floss. Letztlich haben freilich die Industriestaaten über die Repatriierung der Profite mehr Kapital aus den unterentwickelten Na- tionen abgezogen, also sie dort investiert hatten. Insofern ist die wachsende Kluft zwischen armen und reichen Ländern weniger das Ergebnis von Kapitalexport als jenes von Kapitalentnahmen.
Vor allem hatte sich die Analyse auf Prozesse des fortgeschrittenen Kapitalismus und den Entwick- lungstendenzen in Westeuropa konzentriert, wogegen die peripheren Länder und ihre Klassen-strukturen kaum untersucht wurden (Larrain 1992, S. 74 ff.). Dadurch entstand das Bild, dass jene Gesellschaften das hilflose Opfer externer sozialer ökonomischer Kräfte seien.
Und schließlich entpuppte sich der Imperialismus im Gegensatz zu Lenins Annahmen keineswegs als entartete Phase des Kapitalismus am Rande des Kollaps. Der Marxist Bill Warren hatte festgestellt, dass der Imperialismus vielmehr das Produkt junger und kraftvoller kapitalistischen Volkswirtschaften sei, die im internationalen Handel zueinander in Konkurrenzen treten (Warren 1980, S. 67 f.)
3.2. Die Modernisierungstheorien
3.2.1. Der Begriff der Modernisierung
Der Begriff der Modernisierung ist mit unterschiedlichen Vorstellungsinhalten verbunden, abhängig davon, ob aus Sicht der Soziologie, der Politologie, der Sozialpsychologie, der Ethnologie, der Ge- schichte oder der Ökonomie. In der Regel ist der Begriff jedoch mit dem Konzept des sozialen Wandels verbunden, das oft als Synonym für Entwicklungsprozesse der Entwicklungsländer ver- wendet wurde und wird.
Einige wichtige Elemente des Modernisierungsprozessen sind nach Myrdal (1974) Rationalität, sozio-ökonomische Entwicklung, Entwicklungsplanung, Produktivitätswachstum, Wachstum des Lebensstandards, sozialer wirtschaftliche Chancengleichheit, effizientere Institutionen, Verhaltensweisen, nationale Unabhängigkeit, Demokratie, Partizipation, sozialer Disziplin u.a. Huntington (1968) verbindet Modernisierung mit Staatenbildung, Parsons (1976) mit der Differenzierung von sozialen Funktionen und gesellschaftlichen Institutionen.
3.2.2. Die Kernannahmen der Modernisierungstheorie
Das Modernisierungsparadigma entstand in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg als Antwort auf die Suche nach Lösungen für die Armut und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, wie sie in den dekolonialisierten Ländern zunehmend in den Vordergrund traten, begleitet von chronischen Zah- lungsbilanzdefiziten, Inflation und weitreichender Arbeitslosigkeit. Kern der Aussage der Moderni- sierungstheorien war die Empfehlungen, die Mängel und Hindernisse in der Dritten Welt durch Modernisierungen, dem soziologischen Schlüsseltheorem von 1950 bis 1970, zu überwinden
Im Zuge dieser Lösungssuche entstanden zwei neue wissenschaftliche Disziplinen:
1. die Entwicklungsökonomie als Teildisziplinen der Modernisierungstheorien in den 50er Jahren: diese nahm die Kontinuität des weltweiten kapitalistischen Entwicklungsprozesses als selbstverständlich an und wollte beweisen, dass Dritte-Welt-Länder ihre Hemmnisse überwinden und dadurch im Rahmen einer kapitalistischen Entwicklungen dasselbe Entwicklungsniveau wie die entwickelten Staaten erreichen können (Larrain 1992, S. 85 ).
Dabei erreichte das Gedankengut von Keynes (1983) über Entwicklungspolitik durch staatliche Eingriffe besonderer Popularität. Keynes befürwortete zwar eine innenorientierte, außenwirtschaftlich durch handelspolitische Maßnahmen abzusichernde Wachstumsstrategie, ohne jedoch eine Weltmarktorientierung prinzipiell in Frage zustellen (Menzel 1992, S. 137).
2. Daneben entstanden die Modernisierungstheorien im engen Sinn, die eine kapitalistische Entwicklung einerseits als Mittel gegen die wirtschaftliche Rückständigkeit betrachteten, zum anderen als ein politisches Instrument der USA zur Lösung der Entwicklungsprobleme und damit zur Eröffnung einer Alternative für die neuen unabhängigen Nationen gegen über dem expandierenden marxistischen Modell der Sowjetunion.
In dieser Phase des entwicklungstheoretischen Diskurses waren es vor allem Wirtschaftswissenschaftler, die sich mit Fragen der Entwicklung der Dritten Welt beschäftigten, womit nachvollziehbar wird, warum Entwicklung zumeist mit wirtschaftliche Entwicklung gleichgesetzt wurde, und diese wiederum verstanden wurde als Synonym für wirtschaftliches Wachstum (Mabogunje 1980, S. 35). Diese Ideologie bestimmte das entwicklungspolitische Denken für den nächsten 20 Jahren.
Die Vertreter der Modernisierungstheorien gingen davon aus, dass die Ursache für die Unterentwick- lung der Dritten Welt endogene Natur sei, wie etwa traditionelle Wirtschafts- und Sozialstrukturen sowie traditionell-kulturelle Normen- und Wertsysteme, in wirtschaftlicher Hinsicht fehlender unter- nehmerischer Geist und mangelnde Leistungsmotivation, unzureichende institutionelle und politische Rahmenbedingungen wie etwa politische Partizipation, sowie ein schwacher Staat mit wenig Autorität und Steuerungskapazität (Nohlen & Nuscheler 1992, S. 34). Dieser Zugang führte zur Entstehung der Entwicklungssoziologie, wodurch erstmals das Verständnis für soziale und politische Prozesse und deren Einfluss auf ökonomische Entwicklungsprozesse wuchs (Larrain 1992 S. 86 f.). Dagegen blieben äußere Einflüsse und Rahmenbedingungen weitgehend unbeachtet.
Die Ideale der Modernisierung im Sinne eines nachhaltigen ökonomischen Wachstums waren nach den Vorstellungen von Gunnar Myrdal (1974) rationales Verhalten, sozioökonomische Pla- nung, soziale und wirtschaftliche Gleichstellung der Menschen, Gleichstellung hinsichtlich ihres Status, ihrer Möglichkeiten und Chancen, ihres Einkommens, Wohlstand und Lebensstandards so- wie Verbesserungen und größere Effizienz der Institutionen, außerdem eine positive Einstellung zur Förderung von wichtigen ökonomischer Komponenten wie Arbeitsleistung, Unternehmertum, effektiver Wettbewerb, höhere Produktivität und damit letztlich auch wirtschaftliche Entwicklungen (Todaro 1992, S. 123 f.)
Unter den Wissenschaftlern bestand damals weitgehende Übereinstimmung darin, dass Unterent- wicklung ein frühes Stadium jeder gesellschaftlichen Entwicklungen sei, ein vorübergehender Zustand einer traditionell geprägten Gesellschaft. Der Modernisierungsprozess würde aber die un- terentwickelten Gesellschaften aus einem statischen Stadium befreien und sie in einen dynamischen Prozess moderner Werte, Denk- und Verhaltensweisen und sozialer Strukturen überführen (Hauck 1988/89, S. 27 f.). Durch den Prozess der Imitation und Anpassungen würden diese Gesellschaften zunehmend von modernen und zeitgemäßen Einflüssen durchdrungen werden, sich zu einer moder- nen industriellen Gesellschaft entfalten und somit an die entwickelten Länder und Gesellschaften des Westens annähern.
Die Voraussetzungen für eine solche Entwicklung seien politische, ökonomische und gesellschaft- liche Maßstäbe des Westens, nämlich parlamentarische Demokratie und Unabhängigkeit, Wachs- tum, Industrialisierung, Technologie, Kapital Organisation etc. sowie ein soziales Wohlfahrtssystem udgl. Insofern übernahmen die abendländische Industrieländer ein Vorbildfunktion und einen Leit- bildcharakter für die nacheifernden Entwicklungsländer. auf diese Weise kehrte der Ethnozentris- mus aus der Imperialismustheorie in Gestalt des Eurozentrismus wieder zurück (Nohlen 1993, S. 478 f.). Dies erklärt auch die später gleichgesetzte Verwendung der Begriffe „Entwicklung“, „Mo- dernisierung“ und „Verwestlichung“.
3.2.3. Die Kluft zwischen Moderne und Tradition: die Dualismustheorien
In den ehemaligen Kolonialstaaten wurde rasch ein gravierender Gegensatz zwischen jenen Gesellschaftsbereichen und ökonomischen Sektoren offensichtlich, die entweder traditionell geprägt oder von modernen Elementen durchdrungen und dynamisiert waren. Auf der Suche nach Erklärungen für dieses Phänomen entstanden die Dualismustheorien.
1. Der ökonomische Dualismus bezeichnet die parallele Existenz eines traditionell gewachsenen Sektors und eines importierten modernen Sektors, der nach dem damaligen Verständnis die Entwick- lungschancen eines Landes repräsentiert. In den Entwicklungsländern sind diese Bereiche weitestge- hend voneinander isoliert, weshalb die vom modernen, dynamischen Sektor ausgelösten Impulse - entgegen den ursprünglichen Annahmen der Modernisierungsverfechter - nicht auf den traditionellen Sektor übertragen werden: Die erhofften Imitationseffekte im traditionellen Sektor bleiben somit aus. Dagegen lässt sich eigene dynamische Selbstverstärkung der Dynamik des modernen Sektors beo- bachten, weil Güter und Produktionsfaktoren in den Bereich des höheren Entwicklungsniveaus ab- wandern und somit dem traditionellen Sektor entzogen werden. (Hemmer 1988, S. 189 f.)
2. Der soziale Dualismus geht von der parallelen Existenz traditioneller (in den -traditionellen Ver- haltensweisen, , geringe Mobilität den) und moderner Herrschaftsstrukturen, Verhaltensmuster und Wertvorstellungen aus, wobei erstere verbunden werden mit statischer Sippenverbundenheit und geringer sozialer, geistiger und politischer Mobilität. Zudem ist der „soziale Dualismus“ auch die Bezeichnung des Gegensatzes zwischen den begüterten Klassen und der besitzlosen Masse, zwi- schen den westlich gebildeten Eliten und der Masse der Analphabeten (Nohlen & Nuscheler 1992, S. 43), einer typische Quelle für neue Formen sozialer Spannungen.
3. Der technische Dualismus beschreibt die getrennte Koexistenz von verschiedenen Produktionstechnologien als Folge des Imports westlicher Technologien, was zur deren wirtschaftlichen Dominanz führt, ohne den traditionellen Bereich zu durchdringen. Determinierend dafür sind die unterschiedlichen Produktionsbedingungen in beiden Sektoren: Während im traditionellen Sektor der Produktionsfaktor Arbeit bei gleichzeitigem Mangel an Kapital überwiegt, ist der moderne Sektor relativ kapitalintensiv (Hemmer 1988, S. 195 f.).
Allerdings leidet der moderne Sektor in den Entwicklungsländern typischerweise an zu geringer Kapi- talausstattung, was nur geringe Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet. Die überflüssigen Arbeitskräfte sind somit zur Ansiedelung in Slums oder zur Abwanderung in den traditionellen Sektor gezwungen. Dort wiederum gibt es nur begrenzte Möglichkeiten der Erweiterung von kultivierten Boden, weshalb neue Arbeitsplätze nur durch Substitution von Bodenkapital durch Arbeit geschaffen werden können. Das bedeutet, dass mit immer mehr Arbeit mit dem vorhandenen Boden immer weniger erwirtschaftet werden kann: es entsteht offene und versteckte Arbeitslosigkeit. Unter der Bedingung des anhaltenden Arbeitskräfteüberschuss besteht jedoch im traditionellen Sektor kein Anreiz zur Kapitalintensivie- rung oder zur Einführung neuer, effizienterer Techniken, weshalb die Arbeitsproduktivität niedrig bleibt. Gleichzeitig erhöht sich durch technischen Fortschritt im modernen Sektor der Angebotsdruck an freien Arbeitskräften im traditionellen Sektor zusätzlich (Wagner & Kaiser 1995, S. 40 f.)
4. Der regionale Dualismus beschreibt die parallele Existenz von Städten, die von Kapital und Wirt- schaftsdynamik durchdrungen sind, und von ländlichen Regionen, die von „Rückständigkeit“ geprägt sind. Gleichzeitig beschreibt der regionale Dualismus in globaler Hinsicht auch den Gegensatz zwi- schen industrialisierten Zentren wie Europa, Nordamerika und Japan einerseits, und der marginal de- finierten Peripherie in Gestalt der Entwicklungsländer (Nohlen & Nuscheler 1992, S. 43)
Zur Überwindung dieses Dualismus bzw. dieser Dualismen empfehlen die Modernisierungstheore- tiker kurz gesagt Akkulturation und Ausweitung des modernen Sektors. So wurde etwa eine stärke- re Integration der Entwicklungsländer in die internationale Arbeitsteilung befürwortet. Davon erwartete man sich eine von außen eingebrachte, positive gesellschaftliche Beeinflussung, die Be- schleunigung des Wirtschaftswachstums und damit schließlich die Einleitung einer nachholenden
Entwicklungen (Nohlen 1993, S. 478 f.), was dann zur Überwindung der dualistischen Strukturen beitragen würde. Als notwendige Beschleunigungsinstrumente wurden strukturelle Anpassungs- programme zur Reduktion des staatlichen Sektors und Erweiterung des unternehmerisch geprägten Privatsektors betrachtet, weshalb derartige Programme seit Ende der 70er Jahre zum Instrumentari- um der entwicklungspolitischen Strategie von Organisationen wie der Weltbank und des Internatio- nalen Währungsfonds zählten (Wagner 1993, S. 42) - mit durchaus ambivalentem Erfolg.
Die Kritik an der Dualismustheorie bezieht sich vor allem darauf, zu wenige Aspekte zur Erklärung von Unterentwicklung untersucht zu haben. Im übrigen erzeugten auch die Industrieländer im Pro- zess des ihres eigenen strukturellen Wandels permanent ihre jeweiligen sektoralen und regionalen Dualismus (Wagner & Kaiser 1995, S. 42). Somit liegt es nahe, das die dualistischen Phänomene nicht unbedingt die Folge von mangelnder Entwicklung, als vielmehr eine typische strukturelle Folge von Modernisierung und „Entwicklung“ sei, die durch eine differenzierte Interventions- weise auszugleichen wäre - etwa in Gestalt von regionsspezifischen Förderprogrammen im Stile der EU-Zielgebietsförderungen.
3.2.4. Das Credo aller Entwicklung: Wachstum als Entwicklungsmotor
Im UNO Bericht von 1951, dem Beginn einer Entwicklungspolitik im eigentlichen Sinn, wurde das Problem der Unterentwicklungen überwiegend als das Problem mangelnden Wirtschaftswachstums im Sinne von Pro-Kopf-Einkommen betrachteten. Demnach würden die gesellschaftlichen und politischen Problemen eines Landes durch Strukturwandel gelöst werden, wenn eine Volkswirtschaften nur ein hinreichendes Wirtschaftswachstum, ausgelöst insbesondere durch Industrialisierung, erfahre (Nohlen 1993, S. 206).
Diese einseitige Betonung der Wachstumszielsetzung und die weitgehende Vernachlässigung des Verteilungsziels, ganz abgesehen von Effizienzziel, schien gerechtfertigt durch die Überlegungen, dass nur bei einem rasch wachsenden Güterberg die Realisierung von Verteilungszielen möglich sei und dass die erhofften Wachstumsgewinne automatisch zu den ärmeren Schichten "durchsickern" würden (Wagner & Kaiser 1995, S. 90).
3.2.4.1. Die Wirtschaftsstufentheorie von Rostow
Einer der populären Verfechtern in der Wachstumstheorie war Walt Whitman Rostow mit seiner Wirtschaftsstufentheorie als ökonomische Ausprägung der Modernisierungstheorie, die davon ausgeht, dass alle Länder auf ihrem linearen Weg von Unterentwicklung zur Entwicklungen fünf geschichtliche Entwicklungsstufen durchlaufen würden. Nach dem Vorbild der entwickelten Länder könnten die traditionell geprägten Länder am raschesten ihre Unterentwicklung überwinden.
Die fünf Stadien, deren Spezifika hier nicht näher behandelt werden können, sind
1. die traditionelle Gesellschaft
2. die Übergangsgesellschaft
3. die Start- bzw. Take-off-Gesellschaft, in der sich der wirtschaftliche Aufschwung voll- zieht,
4. die reife Industriegesellschaft, in der die Ressourcen durch moderne Techniken effizient genutzt werden, und schließlich
5. die Massenkonsum-Gesellschaft (Rostow 1990, S. 9 ff.).
Für lange Zeit galt dieses Modell als absolute Wahrheit: Implizit wurde angenommen, dass alle
Staaten der Welt früher oder später diese Stadien zu durchlaufen hätten, womit das Postulat der nachholenden Entwicklungen gefestigt wurde (Gaisbauer 1994, S. 1994, S. 232).
Der Erfolg dieses Konzept lag wohl darin, dass es eine Vielzahl von Faktoren, auch solche kulturel- ler und technischer Art, integrierte. Das grundlegende Problem an diesem Konzept war das ihm zu Grunde liegende mechanistische Weltbild hinsichtlich der sich automatisch entfesselnden Eigen- dynamik sowie die mangelhafte Erklärung für längerfristige Unterentwicklung, den vernachläs- sigten externen Faktoren wie auch historischen Einflüssen. Insofern entspricht Rostows Konzept weniger einer Theorie als vielmehr einer Modernisierungsteleologie. So ermangelt diese Theorie auch einer Prozesseanalyse und der Erläuterung, über welche Interventionen die fünf idealtypischen Stufen erreicht werden können (Wagner & Kaiser 1995, S. 37 ff.). Tatsächlich fand der prognosti- zierte Take-off peripherer Volkswirtschaften zu einem sich selbst tragenden Wachstum lediglich in Ausnahmefällen wie in einzelnen Staaten Südostasiens statt (Menzel 1992, S. 35).
3.2.4.2. Die keynesianische Wachstumstheorie von Harrod und Domar
Die keynesianische Wachstumstheorie von Roy Forbes Harrod und Evsey Domar war die theoretische Grundlage für die meisten Entwicklungspläne der 50er und 60er Jahre. Sie ging davon aus, dass höhere wirtschaftliche Wachstumsraten vom Verhältnis der Sparquote zum Kapitalkoeffizienten bestimmt sei. Demnach könne nur eine höhere nationale Spar- und Investitionsneigung zu einer höheren stabilen Wachstumsrate führen, was wiederum die Voraussetzung für weitere Kapitalakkumulation und weiteres Wirtschaftswachstum sei (Harrod 1970, S. 51).
Für die Entwicklungsländer folgte daraus die Erkenntnis, dass vor allem deren mangelnde Ausstat- tung mit dem Produktionsfaktor Kapital und die daraus resultierende, niedrige nationale Spar- rate ein entscheidendes Entwicklungshemmnis sei. Somit würde die Wirtschaft durch die Beein- flussung der Sparrate oder der Investitionsquote quasi automatisch zu wachsen beginnen (Menzel 1992, S. 100 f.). Es müssten nur hinreichende Investitionen von außen zugeführt werden, wo- durch das Pro-Kopf-Einkommen steigen und ein sich selbst tragendes Wachstum auslösen würde, verbunden mit dem Wandel in der Produktionsstruktur, in weiterer Folge auch der Verhaltenswei- sen der Bevölkerung und somit des gesamten sozioökonomischen Gefüges (Nohlen 1993, S. 723 f.).
Die Schwäche dieses Konzepts liegt in der mangelnden Berücksichtigung der spezifischen Rah- menbedingungen des Vorbildes Europa: In jenen Länder nämlich, die nach dem Zweiten Weltkrieg vom Marschallplan profitiert hatten, waren die erforderlichen strukturellen, institutionellen und soziokulturellen Vorbedingungen bereits vorgelegen, um neues Kapital effektiv in höhere Pro- duktionsniveaus umwandeln zu können. Dass diese Voraussetzungen auch in unterentwickelten Ländern vorzufinden seien, war eine fatale irrtümliche Annahme (Todaro 1992, S. 67 f.).
Tatsächlich mangelte es diese Länder grundlegend an Humankapital in Form von technischen Fähig- und Fertigkeiten sowie Bildung. Diese Erkenntnis fand mit der gleichen Langsamkeit in die entwicklungstheoretische Diskussion Eingang, mit der sich auch Disziplinen wie Soziologie und Politologe mit derartigen Fragen zu beschäftigen begannen (siehe Kap. 3.2.5). Insofern sind die vorgeschlagenen Investitionen zwar eine notwendige, doch keine hinreichende Voraussetzung für Entwicklungen, abgesehen von den zusätzlichen Problem der Kapitalflucht und des Luxuskonsums (Nohlen 1993, S. 123 f.).
3.2.4.3.Das neoklassische Modell von Heckscher und Ohlin
In Anlehnung an das Prinzip der klassischen Außenhandelstheorie von Adam Smith und, in weiterer Folge, von David Ricardo plädierten Heckscher und Ohlin für eine internationale Arbeitsteilung, wobei Länder mit billigen Arbeitskräften bei der Herstellung arbeitsintensive Produkte wie Nahrungsmittel oder Rohstoffe über einen relativen Kosten- und Preisvorteil gegenüber Ländern mit relativ teurer Arbeitskraft verfügen. Durch die Spezialisierung solcher Staaten auf arbeitsintensive Erzeugnisse ließen sich im internationalen Handel kompatible Kostenvorteile erzielen. Dadurch würden letztlich alle Staaten im Zuge des wechselseitigen Austausches von Rohstoffen, Kapitalgütern, Technologien usw. profitieren (Menzel 1992, S. 92).
Wie die meisten der frühen Entwicklungstheorien krankte das neoklassische Modell an seinem Reduktionismus, nämlich der Vernachlässigung von Rahmenbedingungen wie der jeweilige Zugang zu technologischen Möglichkeiten und zu Kapital oder die jeweilige Rolle des Staates. Tatsächlich konnten nur wenige Länder - wie Südkorea oder Taiwan - durch die exportorientierte Industrialisierungsstrategie überdurchschnittlich hohe Wachstumsraten erreichen, während zahlreiche andere Länder wirtschaftlich stagnierten (Link 1996, S. 22).
3.2.5. Die Theorie des sozialen Wandels
Anfang der 60er Jahre mussten sich die Entwicklungstheoretiker eingestehen, dass die erwarteten wirtschaftlichen Erfolge ausblieben: Zumeist profitierte nur eine kleine Schicht in den Entwick- lungsländern, das Wachstum blieb auf wenige isolierte Wachstumspole beschränkt, und insbesonde- re der von Neoklassikern beschworene Exportsektor blieb ohne weiterreichende Beschäftigungsef- fekte. Augenscheinlich vergrößert dagegen die soziale Kluft in vielen Ländern der Dritten Welt.
Diese Problematik berief zunehmend die Nachbardisziplinen der Soziologie und Politologe auf den Plan, die die sozialen Verhältnisse in den betroffenen Ländern als Hemmnisse wirtschaftlichen Wachstums identifizieren und Lösungsvorschläge zu deren Beseitigung vorlegen sollten. Dies führ- te zu einer Differenzierung des Entwicklungsbegriffs, der nunmehr verstanden wurde als ökono- mische Komponente des gesamten Veränderungsprozesses im Sinne eines sozialen Wandels, begriffen als Modernisierung.
Erst durch Modernisierung entstehe das nötige soziales Umfeld, in dessen Zentrum sich der individuelle Produzent und Konsumenten befinde, deren wirtschaftliches Denken Voraussetzung für einen erhöhten Pro-Kopf-Output durch Effizienz sei. Diese Transformation des traditionellen Subsistenzbauern zum aufgeschlossenen und gebildeten freien Lohnarbeiter oder Unternehmer, also einem schöpferischen und unternehmerischen Menschen, sei Ausdruck eines Verhaltens, das sich an sozialen Werten wie Macht, Wohlstand, Respekt, Qualifikation, Aufklärung etc. orientiert (Lerner (1958), zit. in Mabogunje 1980, S. 38).
3.2.5.1. Kernbegriffe der Theorie des sozialen Wandels
Behrendt (1965), einer der damals führenden Theoretiker der Theorie des sozialen Wandels, prägte die Begriffe des Kulturwandels und der Akkulturation.
Kulturwandel bezeichnet Veränderungen der normativen Wertsysteme und Verhaltensmuster der Gesellschaftsmitglieder.
Akkulturation bedeutet die Indikation fremder Kulturelemente, wodurch die Struktur der Gesellschaft verändert werde. Dadurch werde ein Strukturwandel ausgelöst, der zur Modernisierung im politischen und institutionellen Bereich beitrage und zur Verbreitung neuer sozialer Errungenschaften führe (Behrendt 1965, S. 116 ff.).
Personelle Mobilität im Sinne zunehmender Individualisierung ist schließlich das Pendant zur ge- sellschaftlichen Modernisierung. Darunter wird 1. die physische Mobilität bis zur endgültigen Mig-ration der Bevölkerung vom Land in die Stadt als Vorbedingung für die Industrialisierung verstan- den, 2. die soziale Mobilität im Sinne des gesellschaftlichen Aufstiegs, ermöglicht durch den Bil- dungsinstitutionen, und 3. die psychische Mobilität im Sinne mentaler Flexibilität und geistiger Anpassungsfähigkeit an neuer soziale, ökonomischer und politische Bedingungen, dem Bindeglied für physische und soziale Mobilität. All diese Elemente kommen in den Phänomenen der Urbanisie- rung, Industrialisierung, Expansion des Bildungswesens und Alphabetisierung zum Ausdruck.
Aufgrund der Annahme, dass die traditionelle Kindererziehung einer der wichtigsten Barrieren für eine sozialen Wandel sei (Werner & Kaiser 1995, S. 33), wurde in der Folge die Förderung des humanen Kapitals in Gestalt des Bildungswesens für die Entwicklungspraxis zur obersten Priorität. Wo darüber hinaus Hindernisse für diese Modernisierung bestehen sollten, seien dies kulturbedingte Modernisierungsverweigerung, ethnische und regionaler Sonderinteressen etc., wurde für die Durchsetzung z. B. der Schulpflicht durch Gewalt plädiert (Goetze 1987, S. 366 ff). So schildert etwa Dayak (1996) das gewaltsame Einfangen von Nomadenkindern durch französische KolonialSoldaten in der Region Agadez des (heutigen) Staates Niger.
3.2.5.2. Schwächen und Ideologien der Theorie des sozialen Wandels
Die Schwäche dieser Theorie liegt nach Lachmann (1994 S. 70) in ihrer problematischen Überprüf- barkeit, weil quantitative Indikatoren für den sozialen Wandel nur beschränkt festzulegen sind. Vor allem aber verursachte der propagierte Import kultureller Wertvorstellungen aus dem modernen Westen in die Dritte Welt nicht nur erhoffe soziale Effekte, sondern auch massive soziokulturelle Probleme. In dieser Überbetonung von exogenen Einflüssen als Voraussetzungen für eine positive und dynamische Entwicklung liegt freilich die zentrale Problematik dieser Theorie (Link 1996, S. 23), die demgegenüber endogene soziokulturelle Strukturen a priori als negativ und hinderlich definiert.
Tatsächlich beruht die Entwicklungstheorie des sozialen Wandels auf einem höchst wertbehafteten Paradigma, wonach am Ende der Entwicklung die Moderne stehen solle, wie sie der westlichen Gesellschaft entspricht: kapitalistisch fundiert und liberal-konstitutionell organisiert mit einem un- verkennbar amerikanischen Gesicht. Nach dieser Auffassung bedeutet Entwicklung somit die Nachahmung von jenen Typen sozialer, ökonomischer und politische Systeme, die sich in Westeu- ropa und Nordamerika entwickelt hätten. (Nuscheler 1973, S. 250 f.). Diese wurden mit dem mo- dernen Sektor in den Entwicklungsländern identifiziert, wogegen das "Übel" der Unterentwicklung in der "Barbarei" des traditionellen Bereichs gesehen wurde (Gaisbauer 1994, S. 1994, S. 247).
Diese Verabsolutierung des westlichen Entwicklungsideals bezeichnete der mexikanische Soziologe Esteva von Entwicklungen als der Verrücktheit der Moderne, weil seit dem Zeitpunkt, als „Gott“ von der neuzeitlichen Philosophie durch den Evolutionsgedanken ersetzt wurde, der Menschen nun- mehr an einem durch die "natürliche" Entwicklung vorgegebenen Programm gemessen wurde. Damit wurde jegliche Abweichung von diesem Programm als pathologisches Verhalten qualifiziert. Diese Kritik bezog sich freilich auch auf die marxistischen Evolutionstheorien. Der Kolonialismus bedeutete die Erstellung und Verallgemeinerung von derartigen, durch bestimmte Interessen hervor- gerufene Denkmuster, wonach die moderne industrielle Produktionsformen, gleichgesetzt mit Demo- kratie, als "die h ö chste zu erreichende Stufe der Menschheit erscheint und auf dem politischen Markt auch so gehandelt wird. (...) Der Mythos Entwicklung ist bereits so perfekt konstruiert und abgesi- chert, dass sich jeder automatisch ins Unrecht setzt, denn nicht daran glaubt. “ (Esteva 1986, S. 21).
Diese Überhöhung des westlichen Entwicklungsideals ist allerdings auch vor dem damaligen politi- schen Hintergrund des kalten Krieges und der damit verbundene Angst des Westblocks vor einem zu großen sozialistischen Einfluss im Sinne der "kommunistischen Pathologie" (Nuscheler 1973, S. 252) zu verstehen.
Ein weiterer Aspekt dieses Entwicklungsideals ist auch die Fortschreibung der entwicklungstheoretischen Auffassung der Kolonialzeit , wonach selber schuld sei, wer nichts habe: Dahinter steht das Primat der ungehinderten Entfaltung des Individualegoismus als Basis eines freien Zu- sammenspiels rational handelnden Individuen, wodurch eine harmonische Gesellschaft gewährleistet werde. Die entwickelte Fähigkeit eines Menschen zum sozialen Denken und Handeln komme in der Praxis im sog. "natürlichen" Konkurrenzprinzip zum Ausdruck. Wer im natürlichen Konkurrenzkampf unterliegt, sei nach dieser Auffassung eben zu faul, zu unbegabt odgl. Mit dieser Argumentationsweise konnten in der Kolonialzeit und auch später immer wieder bestehende Verhältnisse gerechtfertigt (Gaisbauer 1994, S. 223 f.) und instrumentalisiert oder entsprechend kostenintensive Gegenmaßnahmen als „zwecklos“ abgelehnt werden.
3.2.6. Das Scheitern der Modernisierungstheorien
Bereits gegen Ende der 60er Jahre wurde offensichtlich, dass mit dem Instrumentarium der westlichen Entwicklungspolitik bestenfalls Wachstum geschaffen könne. Dagegen hatte sich die materielle Lage für die meisten Bevölkerungsteile sogar verschlechtert, und auch eine umfassende gesellschaftliche Modernisierung war nicht erreicht werden (Hein 1981, S. 73).
Die irrtümliche Gleichsetzung von Entwicklung mit Industrialisierung war mit gravierenden Kon- sequenzen in der Praxis verbunden. Doch über diesen reduktionistischen Ansatz hinaus hatte man es zudem auch unterlassen, die negativen Entwicklungserfahrungen Europas in Erinnerung zu rufen und deren Übertragung auf die Länder der Dritten Welt zu verhindern. Link (1996, S. 24) beurteilt zudem die zentrale Problematik des Ethnozentrismus als Ausdruck der Arroganz gegenüber fremden Kulturen, die letztlich in der mangelnden Einsicht in ganzheitliche Zusammenhänge begründet sei.
So hatten die Modernisierungstheoretiker kaum die kritischen Einflüsse externer Faktoren wie der internationalen Ordnung auf Fehlentwicklungen untersuchten. Auch die Folgen der unterschiedlichen Struktur und Dynamik der jeweiligen Ökonomien in Abhängigkeit von Politik, Kultur, Institutionen udgl. sowie die Rolle der Geschichte, insbesondere der kolonialen Vergangenheit blieben in den modernisierungstheoretischen Überlegungen weitgehend ausgespart.
Schließlich krankten die Modernisierungstheorien auch an einer höchst problematischen Methodologie, wonach anstatt konkreter Analysen der tatsächlichen Situation in den Entwicklungsländern idealtypische Vergleiche mit dem als musterhaft angesehenen, normierten und als nachahmenswert definierten Endzustand von Modernität bemüht wurden (Link 1996, S. 24 f.). Dieser ahistorische Charakter der Modernisierungstheorien wurde den tatsächlichen, unterschiedlichen Situationen der jeweiligen Länder, ob hinsichtlich ihrer spezifischen Vergangenheit oder ihres mangelnden Zugangs zu materiellen Ressourcen, keinesfalls gerecht.
Auf der Suche nach Erklärungen für das „scheinbare“ Scheitern dieses Paradigmas wurden u.a. der Teufelskreis Armut als Argument strapaziert, wonach wirtschaftliche Unterentwicklung aus zirkulär wirkenden Ursachen resultiere. Weil sich verschiedene Indikatoren der Unterentwicklung - wie niedriges Pro-Kopf-Einkommen, geringe Kapitalausstattung, negative klimatologische Faktoren, zu hohe Geburtenraten, ein großer landwirtschaftlicher Sektor, geringer Bildungsstand und traditionelle Verhaltensweisen - gegenseitig verstärken würden, hätte ein armes Land praktisch keine Chance, aus dem sich selbst verstärkenden Zustand der Armut auszubrechen.
Das Problem dabei liegt in der Schicksalhaftigkeit, die einem Zustand eines Landes, und das statische Wesen, des der betroffenen Gesellschaften verliehen wird. Doch genau in diesem Erklärungsschema kommt der ahistorische Charakter dieses Konzepts zum Ausdruck, weshalb es als Erklärung unzulässig ist. Außerdem ist dieser sog. „Teufelskreis“ durch die Entwicklungsgeschichte der nunmehr hochentwickelten Industrieländer wie auch einzelner erfolgreicher Entwicklungsländern widerlegt (Wagner & Kaiser 1995, S. 52 f.).
3.3. Der Strukturalismus
Auf Grund der ausbleibenden Erfolge der bisherigen Entwicklungstheorien entstanden neue Ansät- ze, die von den strukturellen Besonderheiten der betroffenen, peripheren Nationen ausgingen. Darin lag der besondere Beitrag der lateinamerikanischen Theorieschulen (Kay 1989, S. 2 ff.), dem Struk- turalismus und der im nächsten Kapitel zu behandelnde Dependenztheorie. Damit kamen erstmals Beiträge zur entwicklungstheoretischen Diskussionen aus Ländern der Dritten Welt selbst.
Der Strukturalismus verstand sich als Weiterentwicklungen und Kritik an der neoklassischen Analysen, wogegen sich die Dependenztheorie als Kritik an der Modernisierungstheorie verstand und eher eine revolutionäre Anschauungen vertrat.
3.3.1. Die Kernthesen des Strukturalismus
Kern der strukturalistischen Analyse war das Zentrum-Peripherie-Modell und die damit skizzierte wachsende Ungleichheiten zwischen den entwickelten Industrieländern und den Entwicklungsländern in Folge der internationalen Handelsströme, begründet durch unterschiedliche Preis- und Einkommenselastizitäten (Kay 1989, S. 26). Damit wurden die Annahmen der neoklassischen Außenhandelstheorie unter dem Namen der vom Volkswirt Raul Prebisch und dem UN-Funktionär Hans Singer vertretenen "Prebisch- Singer-These" grundlegend in Frage gestellt.
Tatsächlich, so die These, würden die relativen Preise für die überwiegend aus der Peripherie ex- portierten Primärgüter zugunsten der von den Zentren exportierten Industrieerzeugnisse langfristig verfallen (Kay 1989, S. 31 ff.). Ursache dafür seien die Monopolisierungstendenzen auf den Gü- ter- und Faktormärkten der industrialisierten Staaten, während in den Dritte-Welt-Ländern ein scharfer Wettbewerbsdruck auf deren Exportgüterindustrie laste, wodurch die Kostensenkungen über die Preise an die Nachfrager weitergegeben werden, was durch sinkende Löhne kompensiert werde (Hemmer 1988, 225 f.). Dadurch wachse die Einkommenskluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern und insofern eine Reproduktion des ungleichen Weltwirtschaftssystems.
Diese wachsende strukturelle Heterogenität zwischen den Ländern des Nordens und jenes Südens hin- sichtlich der wirtschaftlichen, technologischen, kulturellen, sozialen und politischen Entwicklung würde zudem auch innerhalb von peripheren Gesellschaften herrschen, wo ein enormes Gefälle zwischen dem urbanen Zentrum und der ruralen Peripherie bestünde (Nohlen 1993, S. 628 f.) Insofern sei struktureller Heterogenität entgegen den Schlussfolgerungen der Modernisierungstheorie keinen Übergangstadi- um, indem das moderne Zentrum die traditionelle Peripherie sukzessive verdränge, sondern ein Prozess von sich permanent reproduzierender Abhängigkeit und Unterentwicklung (Senghaas 1974, S. 18 ff.).
Als zentrales Problem und Hindernis einer Entwicklung wurde somit ein Mangel an industrieller Entwicklung betrachtet und als Lösung die Strategie der Importssubstituierung mit Industrialisierung vorgeschlagen. Diese nach innen gerichtete Entwicklungsstrategie sollte die nationale wirtschaftliche Autonomie in der Peripherie induzieren und dadurch die Verringerung der Abhängigkeit von der externen Nachfrage nach Ressourcen aus den Zentren zur Folge haben (Larrain 1992. S. 104 f.). Der Staat sollte dabei eine besondere der Rolle hinsichtlich der Einleitung und Beschleunigung des Industrialisierungsprozesses mittels Instrumente wie Investitionen, Preiskontrollen und die Errichtung von Schutzzöllen spielen (Kay 1989, S. 21).
Letztlich scheiterte auch dieses Modell, weil sich die angepasste Technologie als zu kapitalintensiv und der interne Markt als zu beschränkt für die Industrie zur vollen Ausnutzung der Kostendegressionen erweisen sollte. Weil vom den technischen Fortschritt letztlich nur die Kapitaleigentümer profitierten, wurde die strukturelle Heterogenität innerhalb der Länder sogar noch verschärft (Larrain 1992, S. 104).
3.3.2. Die Irrtümer des Strukturalismus
Wie die meisten der damaligen Entwicklungstheorien mangelte es dem Strukturalismus an hinreichenden empirischen Grundlagen, in diesem Fall betreffend die Rolle und Natur der Wirtschaftssektoren. Zudem sind auch die Thesen der sich verschlechternden Terms of Trade sind empirisch nicht eindeutig nachgewiesen. Vor allem sind Import- und Exportstrukturen der einzelnen Länder viel zu unterschiedlich, weshalb globale Indizes nur begrenzte Aussagefähigkeit haben (Wagner & Kaiser 1995, S. 72 f.).
Unbestritten ist aber, dass der relativen Verfall einiger Rohstoffpreise in vielen Entwicklungslän- dern Entwicklungskatastrophen wie die Verschuldungskrise wesentlich mitausgelöst haben (Nohlen 1993, S. 71, 665 ff., Nuscheler 1992, S. 163).
Weil sich die Strategie der Importsubstituieren als untauglich erwiesen hatte, ihre Vorteile auf ande- re Wirtschaftssektoren aufzuteilen, was zur Ausweitung der Kluft zwischen Arm und Reich führte (Link 1996, S. 34), entstand auf der Grundlage dieser Erfahrungen eine neue Großtheorie: die Ab- hängigkeitstheorie.
3.4. Die Dependenztheorien
Diese neuen Ansätzen, die die Modernisierungstheorien ab den 60er-Jahren für etwa 15 Jahre als herrschendes Paradigma ablösten, erhoben einen zweifachen Anspruch: Auf theoretischer Ebene wollten sie Erklärungen für die Unterentwicklung lateinamerikanischer Länder liefern, auf poli- tischer Ebene wollten sie Möglichkeiten zur Überwindung von Abhängigkeit und Unterent- wicklung dieser Staaten darlegen. Von ihrer Stoßrichtung her waren sie als Kritik an der US- amerikanischen Modernisierungstheorie hinsichtlich ihrer linearen Vorstellungen von Entwicklung, ihrer zumeist ahistorischen Sichtweise und ihres Ethnozentrismus konzipiert (Link 1996, S. 35).
Die zwar verschiedenen Ansätze der Dependenztheorien hatten insofern eine gemeinsame Kernthe- se, als sie - in Anlehnung an die klassische Imperialismustheorie - den Imperialismus und die mit ihm verbundene kapitalistische Expansion als Ursachen für die Unterentwicklung und die Strukturschäden der Dritte-Welt-Länder identifizierten (Lachmann 1994, S. 173). Unterentwicklung wurde demnach nicht mehr als Ergebnis interner Verursachungsfaktoren begriffen, wie dies die Modernisierungstheorien behauptet hatten , sondern als Folge externer, exogenen Faktoren in Gestalt der strukturellen Abhängigkeit der Entwicklungsländer, die ihrerseits die innere strukturelle Heterogenität verursache (Wagner & Kaiser 1995, S. 81 f.).
Diese Struktur werde durch die nationale Oberschicht in den Zentren der Peripherie, die gleich- sam als Brückenkopf der Metropole agieren, aufrechterhalten, indem diese die westlichen Lebens- weisen und Wertvorstellungen übernehmen und gemeinsam mit der Metropole daran interessiert sind, die bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse aufrechtzuerhalten (Galtung 1978, S. 29 ff.).
3.4.1. Der Begriff der Abhängigkeit
Der wichtigste Theoretiker und Vertreter der Dependenztheorie, Theotonio Dos Santos, definierte Abhängigkeit als das Konditionieren einer Situation, in der die Ökonomie einer Ländergruppe durch die Entwicklung und Expansion anderer Ökonomien determiniert werde. Eine abhängige Be-ziehung sei dadurch charakterisiert, dass betroffene Nationen in Abhängigkeitsposition nur aufgrund einer Rückwirkung der Expansion dominante Staaten expandieren können. Dadurch seien solche abhängige Nationen immer auch von Rückständigkeit geprägt (Dos Santos 1978, S. 243) Zu diesem Zustand sei es gekommen, weil den Entwicklungsländern in der Kolonialzeit die Rolle der Rohstofflieferanten für die Industrieländer auferlegt worden war. Diese Erkenntnis ist nach Wagner & Kaiser (1995, S. 81) die große Stärke der Dependenztheorie.
Senghaas, der deutsche Dependenztheoretiker, war der Ansicht (1974 S. 24.), dass einerseits die heterogenen Bereiche innerhalb eines Landes miteinander verbunden seien und zu Armut und Un- terentwicklung führen würden, weil Unterentwicklung die Entwicklung von Produktivkräften blo- ckiere. Zugleich verhindere auch die Weltmarktintegration eine selbstzentrierte Entwicklungen.
In Kern drehte die Dependenztheorie das Erklärungskonzept der Modernisierung auf den Kopf, indem nunmehr Entwicklungshemmnisse als Folgewirkung des Einflusses externen Faktoren betrachtet wurden, nicht mehr hingegen als bloße Rückständigkeit gegenüber dem Entwicklungsstand moderner Industrieländer.
Daraus folgte die Ansicht, dass Unterentwicklung die einzige mögliche Konsequenz von Ab- hängigkeit sei und dass der periphere Kapitalismus zwar zu Wachstum, nicht aber zur Entwicklung fähig sei. Alle bisherigen Wachstumsfortschritte seien ausschließlich mit der Verelendung breiter Bevölkerungsschichten einhergegangen (Nohlen & Schultze 1989, S. 163). Industrialisierungsprozesse in der Dritten Welt wurden demzufolge als die imperialistische Durchdringung durch transnationale Unternehmen betrachteten (Boeckh 1993, S. 128 f.).
3.4.2. Die Schulen der Dependenztheorie
Unter den Vertretern der Dependenztheorie gab es freilich verschiedene Richtungen hinsichtlich der Beurteilung des Zusammenspiels internen und externen Faktoren sowie des Kausalzusammenhang zwischen Abhängigkeit und Unterentwicklung.
Auch hinsichtlich der Lösungsstrategien gab es unterschiedliche Ansätze. So plädierten marxisti- sche Autoren für eine sozialistische Revolution innerhalb der Entwicklungsländern mit dem Ziel deren Abkoppelung von Weltmarkt, wogegen die Strukturalisten eine Reform der Rahmenbe- dingungen des kapitalistischen Weltmarkt als Vorbedingung für eine mögliche kapitalistische Ent- wicklung in den Ländern der Peripherie im Sinne einer neuen Weltwirtschaftsordnung forderten (Menzel 1992, S. 19.)
3.4.3. Die wesentlichen Kritikpunkte an der Dependenztheorie:
1. Die Theorie der Unterentwicklung leidet insofern an Widersprüchlichkeit, als einerseits Entwicklung als Prozess autozentrierter Akkumulation betrachtet wurde, der zu sich selbst tragendem Wachstum führe, andererseits aber gleichzeitig auch behauptet wurde, dass die Un- terentwicklung der Peripherie ein Voraussetzung für die Entwicklung des Zentrums sei.
2. Auf Grund der Verhaftungen am ideologischen Konzepts von Unterentwicklung werden die Fehler der Modernisierungstheorie reproduziert: die betrifft sowohl die Vorgabe eines idealen Entwicklungsmodells, als auch die ähnlich gelagerte Problematik der polarisierenden Begriffspaare wie "entwickelt - unterentwickelt" oder "Zentrum - Peripherie".
3. Der Begriff der Autonomie gegenüber der Dependenz ist insgesamt fragwürdig, als unter- stellt wird, dass Autonomie in dem Sinne erreichbaren sei, als das Abschütteln der Abhängig- keitsbande mit dem Ziel der Beendigung allen Übels, also der Voraussetzung für Entwicklung schlechthin, möglich sei.
4. Das Modell setzt auch irrigerweise voraus, dass es im Zentrum - im Gegensatz zur Peripherie - zu keinen Krisen und Klassenkämpfen komme. Tatsächlich war auch die kapitalistische Entwicklung im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts alles andere als harmonisch. Insofern ist die wirtschaftliche und soziale Struktur der Zentren kein frühes, sondern vielmehr ein spätes Ereignis der kapitalistischen Entwicklung.
5. Der beträchtlichen Unterbetonung von internen Faktoren und nationalen Entwicklungshemm- nissen wird die Überbetonung des Einflusses externen Faktoren gegenübergestellt. Dadurch wer- den Imperialismus und die dominante Staaten als ausschließlich Verantwortliche für die Abhängigkeitssituation der Dritten Welt hingestellt, wodurch auch ein falsches, idealisiertes
Bild über die historischen Bedingungen vor der Abhängigkeit vermittelt wird. Insofern sind Dependenztheorie gleichermaßen ahistorischen wie auch die Modernisierungstheorien.
6. Durch diese Fixierungen auf die Abhängigkeit als Wurzel allen Übels wurde der Bezug zu konkreten politischen Plänen verloren, findet man doch kaum spezifische Vorschläge zur Anhebung der Wirtschaftswachstumsrate und der Verbesserung der Einkommensverteilung. Kay (1989, S. 180 ff.) kritisiert, dass die Dependenztheoretiker die politische Spielräume für Dritte-Welt-Regierungen unterschätzt haben.
7. Ausbeutung und Unterentwicklung wird durch einen Mehrwertabfluss erklärt, bedingt durch die Repatriierung von Profiten durch transnationaler Konzerne und den "ungleichen Tausch". Dem setzt Warren (1980, S. 163) entgegen, dass Handel kein Nullsummenspiel sei, dass es sich so- mit niemals um einen absoluten Abfluss handle, trotz möglicher ungleicher Transaktionen.
8. Larrain (1992, S. 188 ff.) kritisierte die Abhängigkeitstheorien als stagnationistisch, weil sie die Aussichten auf erfolgreiche kapitalistische Entwicklungen in der Peripherie unterschätzen. Tatsächlich gebe es empirische Beweise für substanzielle Fortschritte in Industrie und Landwirtschaft in einigen Ländern der Dritten Welt.
So widersprachen etwa die Erfolge der Schwellenländer dem Modell, wonach es zu keinerlei Entwicklungsdynamik im peripheren Kapitalismus kommen dürfe. Die ostasiatischen Schwellen- länder konnten trotz der anhaltenden Abhängigkeit gerade mit Weltmarkt-orientierten Industriali- sierungsstrategien große Wachstumserfolge verbuchen und zudem auch eine autozentrierte Ent- wicklungen indiziert, die mit dependenztheoretischen Überlegungen nicht erklärbar ist. Auch die jüngeren wirtschaftlichen Erfolge in China sowie die entwicklungspolitische Sackgasse der auto- zentrierte Politik von Nordkorea bestätigen die Vorteile einer außenwirtschaftlichen Öffnung
(Wagner & Kaiser 1995, S. 85).
Ende der 70er Java kam die Dependenztheorie aus der Mode, mit Beginn der 80er Jahre wurde sie zunehmend fragwürdig, was Link (1996, S. 57) als Teil jener Entwicklung diagnostiziert, die als " Krise der Entwicklungstheorien" die 80er Jahre dominieren sollte.
3.5. Die Weltsystemstheorie
In den 70er Jahren hatte Immanuel Wallerstein die Konzeption der Weltsystemtheorie begründet, wonach der Kapitalismus als integriertes Weltsystem begriffen wurde. Demnach sei der Weltmarkt ein kontinuierlich wachsendes, modernes Weltsystem, bestimmend für alle globalen Entwicklungen. Alle Einheiten des Systems seien dem funktionalen Erfordernissen des kapitalistischen Weltsystems unterworfen. Die Grundelemente einer kapitalistischen Weltwirtschaft sei ein einziger Markt mit dem zentralen Motiv der maximalen Profitabilität, die Existenz von staatlichen Struktur mit variierender Stärke und schließlich die Aneignung von Mehrarbeit (Wallerstein 1980, S. 222 f.).
Hinsichtlich der geografischen Aufteilung von Wachstum war Wallersteins Konzept insofern dy- namisch, als die Rollenverteilung der zentralen oder peripheren Regionen niemals endgültig war. Am kapitalistischen Weltmarkt herrsche eine Art Nullsummenspiel, wonach der wirtschaftliche und soziale Aufstieg eines Landes immer zu Lasten des Abstiegs eines anderen Landes gehen (Wallerst- ein 1980, S. 73 ff.).
Die strategischen Schlussfolgerungen aus dieser Analyse glichen jenen der Abhängigkeitstheorien, nämlich eine Modifikation der Außenbeziehungen bzw. die Abkoppelung vom Weltmarkt. Wo die Möglichkeit einen Abkoppelung ausgeschlossen wurde, wurde die vollständige Transformation des kapitalistischen Weltsystems durch eine Weltrevolution als Voraussetzung für eine Restrukturierung der unterentwickelten Gesellschaften angesehen. Erstaunlicherweise sollte die daran anzuschließende Entwicklung letztlich doch wieder in der Industrialisierung und Produktivitätssteigerung bestehen, wenn auch nunmehr autozentriert (Menzel 1992, S. 19 f.). Bei dieser gewagten, aber zweifellos verführerischen Konstruktion überrascht es nicht, dass dieses Paradigma bei den herrschenden Eliten in der Dritten Welt auf sehr positives Echo stieß und in den Forderungen nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung seinen Niederschlag fand.
3.5.1. Kritik an der Weltsystemtheorie
Während die Dependenztheorien ein statisches Abhängigkeitsverhältnis vor Augen hatten, beschäftigte sich die Weltsystemtheorie mit der Dynamik des Weltsystem (Boeckh 1993, S. 619). Problematisch ist hingegen die weitgehende Ausblendung historischer Determinanten und somit der a- historischen Charakter der Theorie. Auch bietet Wallerstein keine Erklärung für die auslösenden Kräfte von Veränderungen innerhalb des Weltsystem sowie der Rolle der jeweiligen gesellschaftlichen Kräfte in der Peripherie an. Die Hauptkritik Larrains (1992 S. 123 ff.) richtet sich dagegen, dass aus der Sicht der Weltsystemtheorie die Entwicklung des Zentrums als völlig von der Ausbeutung der Dritten Welt abhängig begriffen werde. Insgesamt erscheint dieser Ansatz für Link (1996, S. (S. 64) ein gescheiterter Versuch zu sein, eine Antwort auf die Schwächen und Krise der Entwicklungstheorien anzubieten, denn letztlich stelle die Weltsystemtheorie "eher eine Verherrlichung als eine Überwindung dependenztheoretischer Postulate" dar.
3.6. Der Erfolg der Entwicklungstheorien bis zu den 70ern: eine erste Bilanz
Entwicklungsstrategien sind normative Maßnahmen, die, aus den Entwicklungstheorien abgeleitet, auf die Beseitigung von Entwicklungsdefiziten der peripheren Länder gegenüber den Industrieländern abzielen. Hemmer (1988, S. 93) versteht sie als den aufeinander abgestimmten Einsatz entwicklungspolitischer Maßnahmen, ausgerichtet auf das nachhaltige Erreichen entwicklungspolitischer Ziele. Gemessen an dieser Vorgabe ließ sich zum Anfang der 70er-Jahre nicht mehr leugnen, dass die bis dato vertretenen Entwicklungstheorien gleichermaßen wie die daraus abgeleiteten Entwicklungsstrategien als gescheitert zu betrachten waren.
40 Prozent der Weltbevölkerung, damals 1 Milliarde Menschen, litten an fortschreitender Verar- mung. Die vorhergesagte Breitenwirksamkeit des Wirtschaftswachstum hatte sich in den meisten Entwicklungsländern nicht erfüllt, sondern hatte sich vielmehr ins Gegenteil verkehrt (Menzel 1992, S. 147). Nur eine kleine Gruppe äußerst erfolgreicher Entwicklungsländer (Südkorea, China,
Hongkong, Singapur) stand einer großen Zahl von Ländern mit nur sehr bescheidenem Wachstum oder mit gar sinkenden Pro-Kopf-Einkommen gegenüber.
Über 50 Niedrigeinkommensländer lagen in Asiens und Afrika südlich der Sahara. Besonders diese Länder wiesen eine extrem ungleiche Einkommensverteilung auf, wobei die reichsten 5 % der Be- völkerung über 20 bis 30 Prozent der private Einkommen aller Haushalte verfügen, während die ärms- ten 20 % nur 5 % der private Einkommen oder weniger bezogen (Wagner & Kaiser 1995, S. 89 f.).
Diese Diskrepanz zwischen entwicklungspolitischem Anspruch und der Wirklichkeit war sympto- matisch für das weit verbreitete, gebrochene Verhältnis der entwicklungstheoretischen For- schung zur entwicklungspolitischer Praxis. Dieser Vorwurf richtet sich allerdings nicht nur gegen eine gewisse Tendenz der Entwicklungstheorie, die Praxis zu ignorieren, sondern auch umge- kehrt, dass kritische wissenschaftliche Untersuchungen nur selten in reale wirtschaftspolitische Entscheidungen einwirken. Zumeist werden diese entweder ignoriert oder bestenfalls modifiziert zur Legitimationszwecken herangezogen. In diesem Sinne ist auch die harsch Kritik Nuschelers zu verstehen, wonach "die Wirkungslosigkeit der akademischen Massenproduktion von Analysen und Reformkonzepten in der praktizierten Entwicklungspolitik und die Lernunfähigkeit der entwick- lungspolitischen Entscheidungsträger, die auf das wachsende Massenelend in der Dritten Welt mit Rezepten aus den fünfziger Jahren reagieren, (...) Resignation (verbreiten) und (...) den Rückzug in den akademischen Elfenbeinturm (motivieren) (Nuscheler 1986, S. XXIX).
3.6.1. Die Dominanz der Wachstumsstrategien als entwicklungspolitische Praxis
Mögen auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Anknüpfungspunkte der Entwicklungspfade variiert haben - ob Neoklassik, Keynesianismus, Marxismus, Strukturalismus oder Systemtheorie (und schließlich, wie noch in Kap. 5 zu zeigen bleibt, Ökologie), so haben als Entwicklungsstrategien letztlich stets wachstumsstrategische Überlegungen dominiert. Dies gilt letztlich auch für die verschiedenen Entwicklungswege, die von den Vereinten Nationen seit 1961 in regelmäßigen Abständen proklamiert wurden: Wachstum stand stets an erster Stelle.
In den 50er und 60er Jahren waren es die Entwicklungsökonomen Paul Rosenstein-Rodan, Rag- nar Nurkse und Albert Hirschmann mit ihrer Strategie der importsubstituierenden Industrialisie- rung, die mehr oder weniger Wirtschaftswachstum i. S. von Industrialisierung mit Entwicklung gleichsetzte. Erreicht werden sollte dieses Ziel mit der Erhöhung der Sparquote zur Bildung von Investitionskapital:
Durch eine Verlagerung des Einkommens zu Gunsten der Hocheinkommensbezieher, weil je- nen ein größeres Sparpotenzial zugesprochen wurde, sollte nachholendes Wirtschaftswachstum und Kapitalakkumulation erreicht werden. Aufgrund der späteren, langfristigen Ausbreitungseffekte auf die unteren Klassen in Form von Arbeitsplätzen, Alphabetisierung udgl. wäre eine kurzfristige ungleiche Einkommensverteilung gerechtfertigt, die über die nachfolgende Demokratisierung und Gewerkschaftsbildung wieder ausgeglichen werde. Somit wurde Industrialisierung und Wachstum kurzfristig gegenüber Demokratisierung und Umverteilung bevorzugt. Diese Ent- wicklungsstrategie beherrschte die erste Entwicklungsdekade (Menzel 1992a, S. 133ff).
Tatsächlich hatte das Wachstum des industriellen Sektors in vielen Entwicklungsländern die Struktur der Produktivität und vereinzelt auch der Gesellschaft deutlich verbessert und die Infrastruktur erwei- tert. Dies war meist verbunden mit einem verstärkten Engagement multinationaler Konzerne (Hauff & Werner 1993, S. 21 f.). Diese noch Anfang der 70er Jahre auch von der Weltbank diagnostizierten beachtlichen Wachstumserfolge waren jedoch einhergegangen mit der bereits gen. gravierenden Ausweitung der Kluft zwischen reichen sozialen Eliten und der Masse der Armen.
3.7. Die 70er Jahre: Das neue Paradigma der Grundbedürfnisbefriedigung
Die wachsende Kritik gegenüber der wachsenden Verarmung führte zu einem radikalen Umdenken im Bereich der Entwicklungsstrategie in Richtung der Grundbedürfnisbefriedigung. Dabei hatte die Internationale Arbeiterorganisation (ILO) eine Vorreiterrolle übernommen, indem sie in ihrem Weltbeschäftigungsprogramm von 1969 ihr Verständnis von Entwicklung mit Arbeitsbeschaffung koppelte und darüber hinaus eine Definition für Grundbedürfnisbefriedigung schuf, die auf großen Anklang stieß (Wagner & Kaiser 1995, S. 91). Dazu zählen folgende drei fundamentale Bereiche:
1. Mindesterfordernisse des privaten Konsums (Nahrung, Wohnung, Bekleidung, Haushaltsgeräte, Möbel)
2. öffentliche Güter und Dienstleistungen (sauberes Wasser, Sanitäranlagen, öffentliche Verkehrsmittel, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen)
3. Partizipation an öffentlichen Entscheidungen.
Ein wegweisendes Dokument war fünf Jahre später die Cocoyoc-Erklärung (1974, zit. bei Hummer, Schindlecker, Wimmer 1977, S. 333), in der ein Gremium namhafte Wissenschaftler auf einem UNCTAD-Symposium in Mexiko den dominierenden Wachstumsfetischismus grundlegend kritisierte (Senghaas 1977, S. 263 f.). Damit wurde erstmals offiziell dem Mythos des Wachstum und der Trickle-Down-These, wonach die Entwicklung „von oben“ automatisch zu Breitenwirkung führe, den Rücken kehrt und Wegen einer alternativer Entwicklung gefordert (Gaisbauer 1994, S. 268). Dies war allein schon darum revolutionär, als bis dahin der Entwicklungsbegriff kaum thematisiert und selten mit konkreten Inhalten gefüllt worden waren. Auch die Dependenztheorien haben zwar Unter- entwicklung historisch begründet, ohne jedoch Entwicklung inhaltlich zu konkretisieren.
Der Cocoyoc-Erklärung folgte 1975 der Bericht der schwedischen Dag Hammarskjöld-Stiftung „What New: Another Development“, worin für eine andersartige Entwicklung plädiert wurde, aus- gerichtet auf die Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung, beginnend mit der Beseitigung von Armut.
Weitere richtungsweisende Initiativen waren jene der argentinischen Bariloche-Stiftung mit ihrem „Weltmodell“ im Jahr 1976 (Herrera et al. 1977) und der Berichte der Nord-Süd-Kommission unter der Leitung von Willy Brandt.
Etwa zeitgleich dazu dachte der Club of Rome erstmals auch kritisch über die ökologischen „Gren- zen des Wachstums“ (Meadows et al. 1972) nach und stellte die Wachstumsstrategien prinzipiell in Frage.
Diese Debatten mündeten schließlich in einen strategischen Paradigmenwechsel der Weltbank in Richtung einer "Umverteilung mit Wachstum". So hatte etwa der damalige Weltbankpräsident Robert McNamara in seiner historischen Nairobi-Rede am 24. September 1973 zur Wachstumspolitik das ungelöste Problem der absoluten Armut und dessen Folgen sowie Fragen der Einkommensverteilung in den Vordergrund gestellt (Hauff & Werner 1993, S. 23). Dies war insofern sensationell, als sich ausgerechnet der Präsident des wichtigsten Erfüllungsgehilfen des traditionellen Wachstumsparadigmas kritisch zu Wort meldete.
3.7.1. Der Begriff der „absoluten Armut“
Dabei wurde erstmals auch der Begriffs der "absoluten Armut" geprägt, charakterisiert durch solch „entwürdigende Lebensbedingungen wie Krankheit, Analphabetentum, Unterernährung und Ver-
wahrlosung (...), (so)dass die Opfer dieser Armut nicht einmal die grundlegenden menschlichen Existenzbedürfnisse befriedigen können“. Nach Schätzungen der Weltbank dürften im Jahr 2000 von derartigen Lebensbedingungen etwa 600 Millionen Menschen, 85 % davon Landbevölkerung, betroffen sein (Wagner & Kaiser 1995, S. 90).
Zur Bekämpfung von Faktoren wie Unterernährung, hohe Kindersterblichkeit, körperliche Unterentwicklung geringe Lebenserwartung, forderte eine bessere Umverteilung den des Bruttosozialprodukts (zit. nach Senghaas Vorwort 1974 S. 8 f.)
3.7.2. Entwicklung von unten: „self-reliance“
Das reine Wachstumsparadigma der fünfziger Jahre wurde nunmehr insofern revidiert und die Verteilung gegenüber dem Wachstum als Ziel bevorzugt, als dies zumindest zukünftige, volkswirtschaftliche Einkommenssteigerungen betrifft. Dabei war an Maßnahmen wie Bodenreformen und die Förderung von Kleinbauern im Gegensatz zur einseitigen Konzentration des Wachstums auf den modernen städtischen Industriesektor gedacht. Dadurch beabsichtigte man ein breiter gestreutes Wachstum mit dem Ziel zu initiieren, die Produktivität der ländlichen und städtischen Armen, also des informellen Sektors, zu steigern.
Dieses neue Konzept wurde unter der Bezeichnung „self-reliance“ im Sinne des Selbstvertrauens auf die eigenen Kräfte und Ressourcen zur Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse publik. Erreicht werden sollte dies durch den Ausschluss der Abhängigkeit von äußeren Einflüssen, Mächten und ausbeuterischen Handelsstrukturen (Cocoyoc-Erklärung 1974, S. 5) mittels der Konzentration auf den Binnenmarkt, durch Massenmobilisierung und Partizipation der Bevölkerung an den politischen Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen. Darüber hinaus sollte dies mit der Suche nach einem eigenen, den jeweiligen Traditionen eines jeweiligen Landes angepassten Entwicklungsweg einhergehen (Nohlen 2000, S. 669).
Abgesehen von der Suche nach Alternativen zur wachstumsorientierten Entwicklungsstrategie stand im Hintergrund des „self-reliance“-Konzepts doch auch die Überlegungen, durch gezielte Investitionen die Ernährung-, Gesundheits- und Bildungssituation der Bedürftigen verbessern und dadurch deren Arbeitsproduktivität erhöhen und auch das Wirtschaftswachstum begünstigen zu können. Dies sollte mit einer wachsenden Kooperationen zwischen den Volkswirtschaften der Dritten Welt einhergehen (Lachmann 1994, S. 180 f.)
Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit fand diese neue Entwicklungsstrategie unter dem Schlagwort „integrierte ländliche Entwicklung“ seit Ende des 70er Jahre ihre praktische Umsetzung in Form von Einzelprojekten (Menzel 1992a, S. 147 ff.)
3.7.2.1. Die Rolle des Staates zur Umsetzung von „self-reliance“ - und deren Ablehnung durch die Eliten
Als verantwortlich für die entsprechende Umsetzung dieser neuen Strategie wurde der Staat erachtet, womit indirekt bereits auch die Verantwortung für ein etwaiges Scheitern dieses Ansatzes an die Eliten in den Entwicklungsländern weitergegeben wurde. Damit wurde allerdings auch indirekt zum Ausdruck gebracht, dass es diese endogenen politischen Akteure seien, die die negativen Folgen der bisherigen Wachstumsstrategien verursacht hätten.
Tatsächlich waren die Befürworter des Konzepts der internen Umverteilung in der Nationen des Südens nur in den Regierungen des Nordens und der von ihnen dominierten internationalen Organisationen wie der Weltbank zu finden.
Dem stellten die Eliten der Entwicklungsländern die Forderung nach einer Modifikation der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und insofern nach einer externen Umverteilung zu ihren Gunsten entgegen (Menzel 1992, S. 205). Deren Argumente war der Vorwurf gegenüber den Industrieländern, dass diese
1. ausschließlich aus Eigeninteresse die neue Strategie der integrierten ländlichen Entwicklung befürworten würden,
2. um auf diese Weise die von den Ländern des Südens angestrebte nachholende Industrialisie- rung unterbinden zu können, und zudem
3. unter dem Deckmantel der humanitären Bedachtnahme auf die Ärmsten politischen Druck in Richtung der Kürzung internationaler Hilfe und
4. zur Auflage der Verwendung der Mittel ausüben würden, was der Einmischung in innere Angelegenheiten entspreche.
5. Schuld an der Misere der Länder des Südens sei alleine die Struktur des Weltmarkts.
In dieser Haltung wiederum sahen sich Autoren wie Menzel (1992a S. 151) in ihrer Verantwortungszu- schreibung gegenüber den Eliten bestätigt, wonach deren Widerstand allein durch die Angst vor dem Verlust ihrer wichtigen Selbstprivilegierungsquellen motiviert sei, nämlich in der fortgesetzten Aneig- nung von Renten, erzielt durch die außenwirtschaftlichen Beziehungen (Elsenhans 1986, S. 133). Diese Vorteile wollten die Eliten keinesfalls der notwendigen Umverteilung opfern.
Verbunden mit diese Kritik an den Herrschaftseliten in Entwicklungsländern war auch die Renaissance modernisierungstheoretischer Argumente, wonach Entwicklung ausschließlich interne Ursachen habe. Der neue Konsens der Entwicklungstheoretikern bestand nunmehr darin, weniger den soziokulturellen Determinanten, als vielmehr der Struktur des Staates und der Entwicklungspolitik der führenden Eliten eine wesentliche Verantwortung zuzuschreiben (Nuscheler 1985 S. 8 f.).
3.7.2.2. Die Gründe für das Scheitern des „self-reliance“-Konzepts
Der grundbedürfnis-, beschäftigungs- und armutsorientierte Entwicklungsansatz dominierte die ent- wicklungsstrategischen Diskussion bis weit in die 80er Jahre hinein. Dennoch wurde dieses Konzept - wie auch die Forderung der Eliten des Südens nach einer „gerechteren Weltwirtschaftsordnung“ - nur in wenigen Bereichen und mit noch geringeren Erfolgen realisiert (Menzel 1992, S. 205).
So wurden in einigen Ländern Mitte der 70er Jahre aus den Dependenztheorien radikale entwicklungsstrategische Konsequenzen gezogen und eine autozentrierte Entwicklung mit den Zielen eines sich selbst tragenden Wirtschaftswachstum und einer breit gefächerten sozialen Entwicklung angestrebt (Senghaas & Menzel 1983, S. 143).
Als Rezept hatte damals Senghaas (1977, S. 264 ff.) die kombinierte Umsetzung von drei entwicklungspolitischen Imperativen empfohlen, nämlich
1. die zumindest kurzfristigen Abkoppelung der peripheren Gesellschaft vom kapitalistische dominierten Weltmarkt, um
2. eine integrierte regionalen sozioökonomische Infrastruktur aufzubauen, insbesondere aber um
3. die peripheren Gesellschaft zu restrukturieren. Darunter wurde vor allem die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivkräfte zur Befriedigung der Massenachfrage nach Grundnah- rungsmitteln, die Eliminierung von Arbeitslosigkeit sowie der Abbau der enormen Einkom- mensdifferenzen verstanden.
Letztlich scheiterte diese Strategie der Importsubstitution und der autozentrierte Entwicklung, wie die negativen Erfahrungen vieler Dritte-Welt-Länder zeigten. Vielmehr wurde offensichtlich, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit der Abkoppelungsstrategien umso geringer sei, je krasser die Unterentwicklung und damit das Bedürfnisbefriedigungsniveau sei (Simonis 1981, S. 33 f.).
Insofern ist Abkoppelung weder eine notwendige, noch eine hinreichende Bedingung für autozentrierte Entwicklung. Viel bedeutender sind offensichtlich die internen Entwicklungsfaktoren eines Staates, etwa eine effiziente öffentliche Verwaltung oder das Vorhandensein innovativer Unternehmen (Sautter 1986, S. 287 f.).
Angesichts dieser ernüchternden Bilanz fragte Myrdal, immerhin einer der ersten, der in der ent- wicklungspolitischen Diskussion die Befriedigung der Grundbedürfnisse einem Entwicklungser- folgt vorangestellt hatte, ob denn Entwicklungsländern überhaupt die Wahl gelassen werden könne, sich „ihren eigenen traditionellen Wertungen entsprechend zu entwickeln, wenn der Preis nur die weitere Verelendung sei“ (Myrdal, zit. von Nohlen & Nuscheler 1982, S. 51). Dabei mochte Myrdal letztlich wohl wieder an die Ideale der Modernisierung westlicher Prägung denken, die von den staatlichen Eliten in den Entwicklungsländern gegen die sozialen Widerstände traditio- nellen Massen realisiert werden sollten.
In dieser Ernüchterung kam letztlich die zentrale Problematik des Grundbedürfnis-Konzepts zum Ausdruck, nämlich die Inhaltsleere des Begriffs der Grundbedürfnisse. Nicht ganz zufällig hatte dieser Mangel an einer konsensualen Definition dazu geführt, dass der Ansatz von manchen ver- standen wurde als ein Versuch der Umverteilung von Einkommen, als eine sozialistische Ent- wicklung oder - wie bereits erwähnt - als eine kapitalistische Verschwörung zur Vorenthaltung von Industrialisierung und Modernisierung gegenüber den Entwicklungsländern (Ul Haq, 1978, S. 12 ff.; Hinw. von Andersen 1988, S. 19).
3.8. Die Problematik der Formulierung von Entwicklungszielen
3.8.1. Was sind Grundbedürfnisse?
Seers (1974), einer der Pioniere der Grundbedürfnisstrategie, hatte bereits früh erkannte, dass Entwicklung ein normativer Begriffs sei, der als Synonym für Verbesserung stehe. Dafür wiederum müssten Voraussetzungen wie Einkommen (für Nahrung, Kleidung und Wohnung), Arbeit und Einkommensverteilung im Sinne von Gleichheit bestehen.
Entwicklung bedeute insofern die Verminderung von Armut, Arbeitslosigkeit und Ungleichheiten, ergänzt um grundlegende Faktoren wie Bildungsniveau, Redefreiheit und Staatsbürgerschaft sowie Unabhängigkeit als Mittel und Ziel von Entwicklung. Offen bleibt hier z. B. die Frage, was genau unter Arbeit zu verstehen sei: ob Lohnarbeit, wie sie in Ländern des Südens kaum verbreitet ist, oder lediglich im Sinne irgendeiner Beschäftigung? Dann wäre freilich auch der gesamte informelle, unterbezahlte Sektor bzw. unbezahlte Arbeit wie jene von Frauen und Kindern hinzurechnen!
Galtung (1983, S. 175 ff.) konkretisierte demgegenüber seine Vorstellung von Grundbedürfnissen, wobei der die Faktoren Nahrung und Wasser, Unterkunft und Kleidung, Gesundheit, Erziehung, Ar- beit, Gedankenfreiheit und Ausdrucksfreiheit, Bewegungsfreiheit und Politik sowie die Massenparti- zipation bei der Indikatorbildung hinsichtlich einer personellen Entwicklung als grundlegend erachtet.
Besonders aus Galtungs letztgenannten Forderung geht deutlich hervor, dass letztlich nicht einmal Grundbedürfnisse, auch nicht das absolute Existenzminimum, wertneutral in dem Sinne sei, als sie durch objektive, im Sinne von interkulturell und intersystemisch verallgemeinerungsfähigen Normen begründbar seien (Nuscheler 1982, S. 336).
Darum hatte auch Galtung als Ausweg vorgeschlagen, dass die Liste der Bedürfnisse selbst ein Teil des allgemeinen Entwicklungsprozesses und insofern ständig korrekturbedürftig und sensitiv gegenüber räumlichen Unterschieden aller Art seien (Galtung 1983, S. 162).
Diese vielschichtige Problematik haben Nohlen & Nuscheler in ihrem „magischen Fünfeck von Entwicklung“ zusammengefasst, das als „Zielgefüge“, bestehend aus den fünf Bereichen Wachstum, Arbeit, Gleichheit bzw. Gerechtigkeit, Partizipation und Unabhängigkeit, nach ihrer Ansicht den Entwicklungsbegriff ausmache (Nohlen & Nuscheler 1982, S. 54 f.).
Zusammenfassend lässt sich - entgegen dem unmittelbaren Anschein der Selbstverständlichkeit - für die Definition von Grundbedürfnissen - feststellen, dass
1. keine objektive Kriterien zur Bestimmung der Zusammensetzung des Grundbedarfs bzw. eines entsprechenden Güterkorbes existieren; dies gilt insbesondere für die quantitative Fest- legung der jeweiligen Mengenstandards; darüber hinaus bleibt offen, wer diese Standards definieren soll;
2. die konkrete Zusammensetzung der Grundbedürfnisse abhängig von Region, Klima, Jah- reszeit, Kultur und letztlich der individuellen Personen ist;
3. die Erhöhung des Grundbedarfsangebots allein keinesfalls genügt, sondern auch sicherge- stellt sein muss, dass die Güte der bedürftigen Kreisen der Bevölkerung zugute kommen (Zielgruppenorientierung der Hilfsmaßnahmen);
4. die Bewertung und Zuteilung von nicht marktfähigen Gütern wie Gesundheit und Bildung noch viel problematischer ist;
5. Bedürfnisse nach nicht materiellen Gütern wie Partizipation besonders schwierig zu defi- nieren sind;
6. Grundbedarf als dynamisches Konzept verstanden werden muss;
7. die Befriedigung von Gründbedürfnissen letztlich immer mit einer notwenigen Änderung der Wirtschaftspolitik in den Entwicklungsländern selbst einhergeht, was mit entsprechen- den innenpolitischen Widerstände verbunden ist (Wagner & Kaiser 1995, S. 91 f.)
3.8.1.1. Wie sind die Grundbedürfnisse zu befriedigen?
Bereits im Punkt 7 der vorangegangenen Aufzählung klingt eine der fundamentalen Schwierigkeiten zur Erreichung dessen an, was bereits an sich nicht recht fassbar ist. Darum hatten auch Autoren wie Satzinger & Schwefel (1982, S. 320 ff.) die neue Konzeption der ILO und der Weltbank mit dem Ziel der Arbeitsplatzbeschaffung bzw. der Einkommensverteilung massiv kritisiert:
So war die Frage der politischen Durchführbarkeit der Bereitstellung industrieller Arbeitsplätze sowie der Indizierung von Produktivitätsanreizen im städtischen Slum-Bereich und im ruralen Bereich weitgehend ungelöst.
Vor allem hatten sich derartige Strategien auch als kontraproduktiv erwiesen, weil sie von naiver Ignoranz gegenüber den Spielregeln der Effizienz und Rentabilität industrieller Großproduktionen geblendet waren. Dies hatte zur Folge, dass die Kleinbauern und Landarbeiter sowie die Menschen des informellen Sektors letztlich sogar neuerlich marginalisiert wurden. Insofern verurteilten Sat- zinger & Schwefel (1982 S. 324 f.) fortschrittskritische Positionen, die etwa die traditionelle Sub-sistenzwirtschaft als einen wünschenswerten Idealzustand ausweisen, wobei sie auch festhalten, dass diese Wirtschaftsform durch die historische Realität ohnehin schon überholt sei.
Über ihre Kritik hinaus blieben die Autoren allerdings konstruktive Anregungen zur Umsetzung des Bedürfnisbefriedigungsziels schuldig, was sie damit legitimierten, dies sei „eine geschichtlich- gesellschaftliche konkrete Frage, die nur im speziellen und konkreten Fall, nicht generell und abs- trakt, beantwortet werden kann“ (Satzinger & Schwefel 1982, S. 326) - was bei Gaisbauer (1994, S. 278) den Eindruck erweckte, "dass nicht nur die Ziele des Grundbedürfnisentwurfs, sondern auch die Frage, wie diese erreicht werden können, im Reich der Vermutungen angesiedelt sind".
3.8.1.2. Grundbedürfnisansatz ohne Entwicklungstheorie: eine Leerformel?
Tatsächlich wird am Beispiel des Grundbedürfniskonzepts die Kernproblematik der Frage, was denn Entwicklung sei, offensichtlich:
Ohne eine entsprechende Entwicklungstheorie im Sinne einer Erklärung, auf welche Weise Unterentwicklung zustande gekommen sei, und einer historischen Analyse und daraus abgeleiteten Prognose , auf welchem Wege diese Dynamik zu überwinden sei, bleibt jeder Grundbedürfnisansatz ein„Rumpf ohne Kopf“ (Gaisbauer 1994, S. 78), gleichsam eine bedeutungsleere Tautologie ohne jeden entwicklungstheoretischen und entwicklungspolitischen Wert.
Insofern muss der marxistischen Entwicklungsforschung recht gegeben werden, wonach jegliche Programme zur Änderung des Verteilungszustandes ohne eine gleichzeitige Veränderung der kapitalistischen Marktstruktur betreffenden die Entstehung und Verteilung von Einkommen und Vermögen zum Scheitern verurteilt sei (Mabogunje 1980, S. 42).
3.8.2. Das Problem der „gerechten Einkommensverteilung“
Ähnlichgelagert wie die Problematik der Definition und Befriedigung von Grundbedürfnissen ist auch jene der „gerechten Einkommensverteilung“. Weil erfahrungsgemäß das Wachstum des ProKopf-Einkommens von selbst nicht allen Bevölkerungsgruppen in gleicher Weise zugute kommt, ist die gerechten Einkommensverteilung ein eigenständiges entwicklungsökonomisches Ziel zur Beseitigung von Verteilungsdiskrepanzen betreffend Güter und Dienstleistungen, um ein höchstmögliches Ausmaß an Bedürfnisbefriedigung zu erwirken.
Gründe dafür sind vor allem
1. politische Art zur Vermeidung sozialer Spannungen auf Grund ungerechter Verteilungs- situationen, die andere nationale Ziele beeinträchtigen könnte;
2. ökonomischer Art, weil eine gerechte Einkommensverteilung erheblich die Leistungsbe- reitschaft motiviert und Produktivitätsreserven mobilisiert.
Problematisch ist hier abermals die Bestimmungen des Begriffs "gerecht" im Rahmen des Verteilungsziels. Eine gewisse Gleichverteilung des Einkommens kann theoretisch nach drei Prinzipien determiniert werden:
1. dem Egalitätsprinzips (absolute Gleichheit der individuellen Einkommen innerhalb einer Periode),
2. dem Bedarfsprinzip (gem. den individuellen Bedürfnissen) und
3. dem Leistungsprinzip.
Jedes Prinzip ist für sich allein unsinnig: Die ersten beiden Prinzipien sind realitätsfern, das Leistungsprinzip wiederum kann zu Ungerechtigkeiten führen, weil für die Gesellschaftsmitglieder niemals gleiche Startbedingungen herrschen und darum auch niemals dieselbe Leistungsfähigkeit erzielt werden könne. Letztlich ist also nur ein Kompromiss zwischen den Prinzipien möglich. Als wirklich relevant betrachten Wagner & Kaiser (1995, S. 252 ff.) dieses spezielle Problem allerdings nur hinsichtlich der absoluten Armut.
Dass aber eine Politik zur Beeinflussung des Wachstums unter Berücksichtigung des Ziels der Verteilungsungerechtigkeit zur Überwindung der absoluten Armut nicht nur notwendig, sondern auch möglich sei, habe das Beispiel der VR China gezeigt: Hier sei es gelungen, eine sehr gleichmäßige Verteilungsstruktur, wenn auch bei niedrigem Pro-Kopf-Einkommen, mit beachtlichen Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts zu verbinden (Wagner Kaiser 1995, S. 311).
4. Die Krise der Entwicklungsländer und der Entwicklungstheorien
4.1. Das wirtschaftliche Desaster der Dritte-Welt-Länder
Abseits der entwicklungspolitischen Diskussion war es unterdessen in der Welt alles andere als „grundbedürfnisorientiert“ zugegangen. Infolge einer Weltwirtschaftskrise, ausgelöst durch den Ölpreisschock von 1973 und weltweite monetäre Instabilität, war das Wirtschaftswachstum in der Dritten Welt in den 70er Jahren weiter gefallen. Zudem wurde insbesondere die Sahelzone in Afrika durch gravierende Klimakatastrophen heimgesucht (Hauff & Werner 1993, S. 22 f.). In 20 der damals 72 Entwicklungsländer war das Pro-Kopf-Wachstum des Einkommens stagniert, in 30 Ländern war es sogar negativ verlaufen. Für viele Menschen dieser Länder bedeuteten die unter- schiedlichen Entwicklungsstrategien letztlich sogar schlechtere Lebensbedingungen, als sie zum Zeitpunkt der Entkolonialisierung 40 Jahre früher gegeben waren (Menzel 1992a, S. 152).
Aus entwicklungspolitischer Sicht hatten die neuen Ansätze der 70er Jahre nur dürftige Erfolge erbracht, und auch die aus den Abhängigkeitstheorien und Modernisierungstheorien abgeleiteten Strategien waren offensichtlich gescheitert. In Verbindung mit der grassierenden Verschuldung vieler Entwicklungsländern führte dies innerhalb der Entwicklungsdiskussion zur Ausbreitung von Pessimismus und Ratlosigkeit, was einen Nährboden für die Renaissance der neoklassischen Wachstumsorientierung war:
So wurde der Markt als das beste entwicklungspolitische Instrument - im Gegensatz zum staatli- chen Eingriff - beschworen. Darum Industrieländer hätten ihren defensiven Protektionismus auf- zugeben und ihre Märkte für die Wirtschaftsgüter der Dritten Welt zu öffnen. Insofern kam wieder die Umverteilung zu Gunsten der Reichen in Mode, neu war lediglich die betonte Ausrichtung auf Exportwachstum auf der Basis vorhandener, international wettbewerbsfähiger Güter.
Verteidigt wurde diese neue alte Strategien mit dem Hinweis auf das Scheitern der Binnenmarktorientierung der lateinamerikanischen Schwellenländern einerseits, insbesondere aber auf den Erfolg der weltmarktorientierten ostasiatischen Schwellenländern andererseits. Letzteres war für Menzel ein wesentlicher Auslöser für die nachfolgende Theoriekrise (Menzel 1992, S. 126).
Die weitgehende Abkehr vom Umverteilungsparadigma war auch auf internationaler Ebene zu beobachten, weil die Dritte Welt als politischer Faktor innerhalb des Ost-West-Konflikts an Bedeutung verloren hatte. (Menzel 1992a, S. 152 ff.).
Dagegen gewann aufgrund der Verschärfung der Schuldenkrise in der Dritten Welt die Strategie der Entschuldung innerhalb der entwicklungspolitischen Diskussion an Bedeutung (Hauff & Wer- ner 1993, S. 17 ff.). Hintergrund war die Tatsache, dass aufgrund des Schuldendienstes der Dritten Welt der Kapitaltransfer von Süd nach Nord jenen vom Norden in den Süden überschritten hat- te, wodurch die verfügbaren finanziellen Mittel für entwicklungspolitische Investitionen in den Dritte-Welt-Länder sanken.
Dies führte zur verbreiteten Kritik an den internationalen Finanzorganisationen, der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds, deren Instrument der Strukturanpassungsprogramme zur Stabilisierung der Staatshaushalte in den betroffenen Entwicklungsländern weniger zur nachhaltigen Beseitigung der Verschuldungsursachen beigetragen hatten, als vielmehr die bereits bestehende Krise noch verschärft hätten (Hauff & Werner 1993, S. 17).
4.2. Der entwicklungstheoretische Rückzug in den Elfenbeinturm
Auf entwicklungspolitischer Ebene führte dieses wirtschaftliche Desaster zu einer Rückkehr in den „dänischen Elfenbeinturm“ der resignierten Theoretiker (Nuscheler 1985, S. 7) und zu einer weitgehenden entwicklungspolitischen Ratlosigkeit. Die Rede war von der „Krise der Ent- wicklungstheorien“ (Frank 1983, S. 242) und vom „Ende der Dritten Welt“ (Menzel 1992), verbun- den mit der Infragestellung des Erklärungswerts der bestehenden Theorien. Der Zusammenbruch des sozialistischen Staats- und Wirtschaftssystems ließ unter den Theoretikern auch den letzten Funken Hoffnung verlöschen...
Dies führte aus wissenschaftstheoretischer Sicht zum Abschluss eines entwicklungstheoretischen Zirkelschlusses, der seinen Ausgang von den Modernisierungstheorien genommen hatte, weiterge- gangen war zu den Abhängigkeitstheorien und schließlich in den 80ern wiederum extreme Faktoren der Unterentwicklung betont hatte. Somit vermochte die entwicklungspolitische Forschung der ver- gangenen Jahrzehnte kaum befriedigende Ergebnisse liefern und könne insofern sogar als „geschei- tert" bezeichnet werden (Link 1996, S. 78): Entgegen den Prognosen der Modernisierungstheorien sei der weltweite ökonomische, soziale und politische Wandel ausgeblieben, und auch die depen- denztheoretischen Pauschalierungen globaler, strukturelle Hemmnisse von Entwicklungsprozessen hatten sich durch empirische Belege als unhaltbar erwiesen (Menzel 1992, S. 27 f.).
4.2.1. Wissenschaftstheoretische Gründe für das Scheitern der Entwicklungstheorien
Die Ursachen für diese Krise der Entwicklungstheorie waren zum Teil wissenschaftstheoretischer Art.
1. So war stets von „Theorien“ die Rede, obwohl tatsächlich keine Paradigmen im eigentli- chen Sinn der Wissenschaftstheorie hervorgebracht worden waren.
2. Problematisch war auch der Art der Aufstellung von Theorien: Diese waren zumeist aus der Extrapolation von Einzelanalysen bestimmter Gesellschaften und Regionen gewonnen worden. Insofern waren aus Einzelfällen in unzulässiger Weise Generalisierungen abgeleitet und auf die gesamte Dritte Welt übertragen worden (Boeckh 1992, S. 111). Dies gilt zum einen für die Analyse des Kapitalismus bzw. dessen Unterscheidungen in den Kapitalismus der Peripherie und des Zentrums, denn tatsächlich gebe es eine Vielzahl von Formen kapitalistischer Entwicklungen (Hein 1985 S. 28 f.).
Zum anderen betrifft dies die Analyse der Auswirkungen des Kolonialismus als „Ursache allen Übels“: Tatsächlich hatte der Kolonialismus in den verschiedenen Ländern völlig un-terschiedliche Wirkungen verursacht (Menzel 1992, S. 50 f.)
3. Die wenigsten Theorien differenzierten zwischen Erklärung, Prognose und Programm (Hauser 1990, Bd. 2, S. 308).
4. Zudem litten die meisten Theorien an einem partialanalytischen Charakter, weil sie sogar bei den untersuchten Einzelfällen zu viele Faktoren außer Acht ließen.
5. Insbesondere waren die meisten Theorien geprägt von einer eurozentrischen Denkhaltung und einem ahistorischen Charakter, wurden doch die vorkolonialen und kolonialen Ge- sellschaftsmerkmale und deren Relevanz für die nachkoloniale Entwicklung bzw. Entwick- lungsfähigkeit eines Landes weitgehend ausgeblendet (Boeckh 1992, S. 113).
Zum Teil ist die Krise auch wissenschaftssoziologisch erklärbar: Die jahrzehntelange Praxis der entwicklungstheoretischen Diskussion war geprägt von spärlicher Kommunikation, Ignoranz von Aussagen und Erkenntnissen der Konkurrenztheorien und insbesondere von Informationen, die den eigenen Ansatz Infrage stellen könnten. Boeckh (1992 S. 115) spricht inso- fern von einer zunehmenden Lagermentalität in der entwicklungstheoretischen Diskussion im Sinne einer Konkurrenz zwischen den Modernisierungstheoretikern und den Abhängigkeitstheoretikern.
Diese Lagementalität muss auch vor den Hintergrund verstanden werden, dass Entwicklungstheorien nicht nur Erklärungsversuche für Entwicklung und Unterentwicklung, sondern auch gesellschaftspolitisch-ideologische Modelle mit ethnozentrischem Anstrich gewesen sind. Insbesondere die frühen Modernisierungstheorien waren stets auch Verfechter der US-Gesellschaft mit deren Normen und Werten als Vorbild und Endziel des modernen Entwicklungsstandes.
Während allerdings das Scheitern der Entwicklungstheorien zur wachsenden Verarmung der Entwicklungsländer führte und weiterhin führt, beschleunigt auch durch deren verlorene Attraktivität als Spielwiese für entwicklungspolitische Bemühungen und praktische Entwicklungspolitik der ehemaligen politischen Blöcke und die dadurch verursachte Umleitung von Zuwendungen an Kapital, Know-how und politischer Aufmerksamkeit in Richtung Osteuropa (Menzel 1992, S. 7 ff.), schafften es einige Autoren rasch, ihre alten ungelösten Fragen und Probleme einfach aufzugeben und sich anderen Themen zuzuwenden (Menzel 1992, S. 62 ff.).
5. Der Weg zum neuen Paradigma der „nachhaltigen Entwicklung“
5.1. Von der Infragestellung zur Differenzierung des Wachstumsparadigmas
In der Praxis gilt allgemein die Hebung des Entwicklungsniveaus im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereich mit der Absicht, das Gefälle zu den Entwicklungsländern zu verringern, als übergeordnete entwicklungspolitische Zielsetzung. Darin spiegelt sich die zementierte Vorstellung wieder, dass das Entwicklungsniveaus der Industrieländer ein erstrebenswertes Vorbild für die Entwicklungsländern abgebe. Teilziele zur Erreichung dieses übergeordneten Zieles sind eine optimale Produktionsstruktur, gerechte Einkommensverteilung, und optimale Einkommensverwendung. Diese ökonomische Ziele gelten allgemein für alle Volkswirtschaften, unabhängig von ihrem Entwicklungsstand (Wagner & Kaiser 1995, S. 257 f.).
Ob jedoch dieses Ziel auch eine sinnvolle Entwicklung sei, insbesondere aber ob die nachholende 33
Industrialisierung für alle Entwicklungsländer überhaupt realisierbar sei, wurde erstmals zu Beginn der 70er Jahren und verstärkt in den 80ern in Zweifel gezogen, als . in den fortschrittlichmodernen Industriegesellschaften Umweltzerstörungen und Ressourcenausbeutung durch das westliche Industrie- und Konsummodell zunehmend ins Bewusstsein gelangte.
Dies führte innerhalb der entwicklungstheoretischen Debatte erstmals zur Relativierung der Begriffe Entwicklung und Fortschritt. So wurden die Untersuchungsbereiche beträchtlich erweitert und endlich auch den internen, soziokulturellen Bedingungen für nachholende Entwicklungen Aufmerksamkeit gewidmet. Insbesondere erfuhren nunmehr solche Themen wie Demokratie und Demokratisierungsprozess einen neuen Stellenwert in der Frage nach den relevanten Faktoren für Entwicklung innerhalb eines kapitalistischen Rahmens (Boeckh 1992, S. 118 ff.)
In der Folge erfuhr auch der Kapitalismus selbst eine neue Beurteilung innerhalb der Entwicklungs- theoretiker, die nunmehr anzuerkennen bereit waren, dass der Kapitalismus in vielen Ländern eine durchaus fortschrittliche und wohlfahrtssteigernde Rolle eingenommen hatte, allerdings unter in- stitutionellen Bedingungen. Somit wurde die Zivilisierung des Kapitalismus sowie entsprechende regulationstheoretische Überlegungen zu einem neuen Thema (Menzel 1992, S. 168 f.).
5.2. Renaissance und Differenzierung der Modernisierungstheorien
Parallel dazu wurde auch ein neuer Zugang zur Modernisierungstheorie im Sinne einer „kritischen Modernisierungstheorie“ gefunden. Modernisierung sei demnach nicht mehr nur als einseitige Ü- bernahme westlichen Kulturgutes zu verstehen, als vielmehr als eine Art Interaktion verschiedener Kulturen, verbunden mit Konflikten, Ungleichheiten und Brüchen.
Hier eröffnete sich auch ein Raum für abhängigkeitstheoretische Analysen hinsichtlich der Rolle des Kolonialismus und den Folgen der internationalen Kapitalverflechtung für die Dritte Welt (Sautter 1986, S. 288 f.).
Dadurch eröffneten sich zwar neue, durchaus konstruktive Perspektiven für die krisengebeutelte entwicklungstheoretische Debatte, ein wirklicher paradigmatischer Durchbruch - zumindest für die Entwicklungstheoretiker - wurde jedoch erst mit dem Import eines neuen Begriffs erzielt: mit der Integration der ökologischen Dimension in den entwicklungstheoretischen Diskurs.
5.3. Das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung“
Umweltschutz als Thema der Entwicklung wurde erstmals auf der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung 1972 in Stockholm behandelten (Link 1996, S. 105), doch dauerte es weitere 20 Jahre bis zur UN-Konferenz in Rio 1992, um engen Zusammenhang dieser beiden Dimensionen ins politische Bewusstsein zu bringen. Dieser lange Weg hatte seinen Grund, denn trotz der Globalität der Problematik sind die Zugänge gleichsam polarisiert:
Die Umweltprobleme der Industrieländer sind wachstumsbedingt, während jene der unterentwickelten Länder vornehmlich armutsbedingt sind. Hier drohen die erforderlichen kurzfristigen Überlebensstrategien der existenziell bedrohten Bevölkerung häufig zu langfristigen Beeinträchtigungen, wenn nicht gar zur Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen zu führen.
Aus dieser Problematik heraus hatte Spangenberg 1991 (S. 163) den immer bedeutsamer werdenden ökologischen Imperativ aufgegriffen und in den Entwicklungsbegriff integriert. Der daraus entstandene neue Ansatz definierte Entwicklung nunmehr als eine differenzierte Selbstentfaltung kultureller Identität mit Hilfe produktiver und nachhaltiger Systeme des Handels, der Infrastrukturschaffung, der Industrie und das Landbaus, die in harmonischem Einklang mit den bewusst gesetzten Zielen der
langfristigen Erhaltung reichhaltiger und stabiler Ökosysteme stehen (Spangenberg 1991, S. 163).
Wichtige Vorarbeit am Weg zum Konzept der Nachhaltigkeit hatte der Club of Rome mit dem Bericht über die "Grenzen des Wachstums" (Meadows et al. 1972) geleistet. Dem war wenig später mit dem Bariloch-Report (Herrera & Skolnik et al. 1977) ein Modell entgegengesetzt worden, das die Club-of-Rome-Hypothese der physischen Grenzen der Entwicklung verwarf und lediglich Grenzen durch sozio-politische Probleme vorauszusehen meinte (ILZ 1985, S. 46).
Mitte der 80er-Jahre vertrat Ignacy Sachs den Ansatz eines „Ecodevelopments“, der die Forderung nach einem Übergang zu einer dauerhaften Entwicklung, verbunden mit der Forderung nach einer Änderung des Konsummusters beinhaltete (Sachs 1984, S. 213 ff.).
5.3.1. „Nachhaltige Entwicklung“ - ein widersprüchlicher Begriff
Der Begriff der „nachhaltigen Entwicklung“ ist keineswegs eindeutig, als vielmehr höchst widersprüchlich und darum problematisch, als er jeder beliebigen, auch noch so heterogenen theoretischen wie politischen Gruppierungen reichlich Spielraum für eine jeweilige Begriffsinterpretation gestattete, handle es sich nun um fundamentalistische Ökozentriker oder um technokratische Wachstumsbefürworter (Raza 1994, S. 6).
So setzte etwa die Weltbank neuerdings ganz einfach dauerhafte Entwicklung mit dauerhaftem Wachstum gleich, entgegen der fundamentalen Widersprüchlichkeiten dieser beiden Konzepte (Hinw. von Link 1996, S. 108). Diese Form der Begriffsverwendungen durch Wachstumsbefürworter interpretierte Harborth ( 1992, S. 232) als „Versuch der Entschärfung eines (...) Begriffs durch Begriffsverwirrung".
Doch auch im Brundtland-Bericht der UN Kommission für Umwelt und Entwicklung aus dem Jahr 1987, wo sich eigentlich der zentrale Anknüpfungspunkt für das Verständnis des Nachhaltigkeitsbegriffs findet, werden die Begriffe „nachhaltige Entwicklung“ und „nachhaltiges Wachstum“ synonym verwendet:
„Unter dauerhafter Entwicklung verstehen wir eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen. Die Forderung, diese Entwicklung dau- erhaft zu gestalten, gilt für alle Länder und Menschen. Die Möglichkeit kommender Generationen, ihrer eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, ist durch Umweltzerstörung ebenso gefährdet wie durch Umweltvernichtung und durch Unterentwicklung in der Dritten Welt." (WCED 1987, S. 43).
Immerhin wurde damit gefordert, die Belastung der Natur, der zukünftigen Generationen und der Länder der Dritten Welt durch die ökologischen Folgekosten technisch-wirtschaftlicher Entwicklung zu beenden. Das Ziel der Entwicklungen wurde freilich keineswegs aufgegeben, sondern in veränderter Form als soziale und ökologisch dauerhafte Entwicklung verstanden. Letztlich aber propagiert auch der Brundtland-Bericht selbst wieder nur ein schnelleres und dauerhaft Wirtschaftswachstum für alle Länder in Nord und Süd (WCED 1987, S. 89).
So ist es wenig überraschend, wenn von den Entwicklungsländern auch weiterhin die Forderung nach einer nachholenden Entwicklung aufrechterhalten wird, wenn auch auf dem Wege des „nachhaltigen Wachstums“.
Eines ist sicher: Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung kann solange keine Überzeugungs- kraft entwickeln, als einerseits den Entwicklungsländern kein quantitatives Wachstum zugestanden wird, gleichzeitig aber die Industrieländer ihre Konsum- und Wachstumsstrategien beibehalten wol- len. Immerhin entstammen die Umweltprobleme im wesentlichen der Industrialisierung seitens der westlichen kapitalistischen Länder. Darin liegt das Dilemma des Konzepts.
Darum fordert Harborth (1992, S. 143) eine Entwicklungstheorie, die einen Interessensausgleich zwischen den gegenwärtigen und den zukünftigen Generationen ermöglicht, wie von Konzept der nachhaltigen Entwicklungen im Sinne des Brundtland-Bericht vorgeschlagen. Dabei sollen Ent- wicklungsländer das Recht auf eine nachholende, jedoch ökologisch verträgliche Entwicklungen behalten, während die Industrieländer ihren Wachstumspfad in qualitativer die quantitativen Hin- sichten revidieren müssen.
5.3.2. Die „nachhaltige Entwicklung“ als spezifische Variante der Modernisierungstheorie
Mármora & Messner (1991; S. 180 ff.) verstehen „nachhaltige Entwicklung“ als dreidimensionales, strategisches Maßnahmenkonzept, mittelst dessen der globale Kapitalismus ökologisch und entwicklungspolitisch zu modernisieren sei, was von Thielen (1992 S. 147) als eine "spezifische Variante von Modernisierungstheorie " verstanden wird.
Nach diesem Konzept werden folgende Forderungen aufgestellt:
1. Die endogenen wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und ökologischen Effizienzpoten- ziale der Länder des Südens müssen zur aktiven, selektiven und selbstgewählten Welt- marktintegration optimiert werden;
2. die modern-kapitalistischen Industriegesellschaften des Nordens sind nach ökologischen und radikal-demokratischen Kriterien umzubauen, um auf diesem Weg neue, konstruktive Demonstrationseffekte für neue Entwicklungs- und Wohlstandsmodelle auf globaler Ebene auszulösen;
3. das Nord-Süd-Verhältnis durch eine neue weltpolitische und weltwirtschaftliche Ordnung mit demokratischeren und gerechteren Zügen neu zu gestalten, wobei die ökologischen Kosten zu internalisieren sind, indem davon ein Entwicklungsfonds zur Finanzierung technologischer Modernisierungen in den Ländern des Südens finanziert werden; zudem sind internationale Umweltnormen anzuerkennen, Entschuldung muss gegen Umweltaufla- gen möglich werden (Mármora 1990, S. 115ff).
Soweit das theoretische Konzept. Konsens herrscht jedoch - das sei nochmals betont - nur über das oberste Ziel der dauerhaften Entwicklung und der weltweiten Befriedigung der Grundbe- dürfnisse. Ein politischer Konsens darüber, wie diese Ziele erreicht werden sollen, besteht nur hin- sichtlich der generellen Beschleunigung des Wirtschaftswachstums und die Intensivierung des internationalen Handels, verbunden mit dem Abbau von Handelshemmnissen, was insgesamt kaum mit dem Nachhaltigkeitsprinzip zu vereinbaren ist. Doch wäre wohl schon viel geholfen, wenn wenigstens auch die weiteren Instrumente, wie sie Hein (1990a, S. 44 f.) empfiehlt, umgesetzt würden, nämlich ein verstärkter Einsatz von Entwicklungshilfe und von Kapitalströmen zur Ent- wicklung von Wirtschaftsstrukturen in Entwicklungsländern unter Berücksichtigung von Umwelt- aspekte.
6. Entwicklungshilfe in der Praxis
6.1. Gründe für Entwicklungshilfe
Praktische Entwicklungshilfe hat verschiedene Motivationskomponenten:
1. die moralische Komponente im Sinne einer Art Wiedergutmachung an die ehemaligen Kolonien,
2. die humanitäre oder soziale Komponente, die hauptsächlich bei den privaten Trägern anzu- treffen ist,
3. die politische Komponente aus rein ideologischen Gesichtspunkten zur Unterstützung von poli- tisch sich opportun verhaltenden Ländern aus machtpolitischen Überlegungen und
4. die ökonomische Komponente zur Schaffung von Absatzmärkten und Handelspartnern für In- dustrieländer im Sinne eines "Bumerang-Effekts" (Wagner & Kaiser 1995, S. 182 f.).
5. Seit dem 11. September 2001 neu hinzugekommen ist wohl auch die Schutzkomponente im Sinne einer Prävention gegen armutsbedingten Terror.
6.2. Formen der Entwicklungshilfe
Grundsätzlich wird zwischen öffentlicher und privater Entwicklungshilfe unerschieden:
1. Öffentliche Entwicklungshilfe wird aus Steuermitteln finanziert und wird gegenüber ande- ren Transferleistungen durch das Zuschusselement von mindestens 25 % abgegrenzt. Im Jahr 1997 beliefen sich die OECD-Transferleistungen dieser Art auf 48,3 Mrd. US $ (Noh- len 2000, S. 576).
2. Private Entwicklungshilfe wird hauptsächlich durch Spenden oder Beiträge aufgebracht.
Dessen Aufkommen belief sich im Jahr 1990 auf weltweit ca. 5,1 Mrd. US $. Problematisch an dieser freiwilligen Form der Hilfe sind die konjunkturbedingten Schwankungen des Gesamtvolumens, wie dies etwa 1974 als Reaktion auf den Ölschock der Fall war.
Weiters wird folgende Unterscheidung getroffen:
1. die bilaterale Zusammenarbeit wird von einem Land zum anderen gewährt. Sie ist über- wiegend motiviert durch ökonomische Überlegungen wie Exportchancen, Arbeitsplatzsiche- rung und Rohstoffversorgung. Ihr Vorteil liegt in der potenziell besseren Chance für eine stetige Mittelbewilligung durch das Parlament aufgrund ihrer leichteren Legitimierbarkeit gegenüber dem Wähler. Andererseits unterliegt diese Form einem höheren Grad der politi- schen Instrumentalisierbarkeit der Hilfe;
2. die multilaterale Zusammenarbeit beruht auf Leistungen internationaler Organisationen. Sie wird aus Mitgliedsbeiträgen finanziert und gewährt darum eine relativ langfristige Kon- tinuität, wodurch die Möglichkeit zur Finanzierung von Großprojekten und zur Übernahme risikoreicher Investitionen gegeben ist. Ihr Nachteil besteht im verhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand, der ebenfalls aus den Beiträgen finanziert wird (Wagner & Kaiser 1995, S. 183 ff.).
6.3. Instrumentarium der Entwicklungszusammenarbeit
Hier wird unterschieden zwischen
1. technischer Zusammenarbeit, die eine Erhöhung des Leistungsvermögens von Menschen und Organisationen in Entwicklungsländer bezweckt; geleistet wird sie durch Entsendung von Beratern, Bereitstellung von Ausrüstung und Materialien, Gewährung von Zuschüssen an Fachkräften, Ausbildung und Fortbildung einheimische Fachkräfte oder Finanzierungsbeiträge zu Projekten:
2. finanzielle Zusammenarbeit: sie ist vom Volumen her das bedeutendste Instrument und wird zumeist in Form der Projekthilfe vergeben;
3. Programmhilfe in gestalt einzelner, isolierter Projekte unterschiedlicher Art;
4. Warenhilfe durch die Bereitstellung von Devisen für den Import von Ersatzteilen, medizini- schen Einrichtungen etc.
Gewisse Formen der Hilfe sind an Lieferbindungen gekoppelt, verbunden etwa mit der Auflage des Kaufs von Waren im Geberland in bestimmter Höhe eines gewährten Kredits. 1990 waren etwa 56,7 % der weltweiten Entwicklungshilfeleistungen an Lieferungen aus den Geberländern gebunden, was eine Umlenkung des Handels zu Gunsten der Geberländern und insofern eine Verzerrung der internationalen Handelsströme darstellt.
5. Nahrungsmittelhilfen sind zumeist kostenlose Lieferungen. An ihnen wird kritisiert, dass sie langfristige negative Wirkung erzielen, da sie nicht zur Übertragung von Know-how, Technologie oder Kapital beitragen, dagegen durch die Marktverdrängung eher die Produk- tionstätigkeit der Landwirtschaft hemmen. Positiv sind derartige Hilfen nur in Form kurz- fristiger Katastrophenhilfe (Wagner & Kaiser 1995, S. 187 ff.).
6.4. Ansatzpunkte der nationalen Entwicklungspolitik
In der Praxis der Projekthilfe hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Wachstum verteilungsorientiert auf solche Weise gefördert werden kann, ohne dass mittelfristig intolerable Wachstumsverluste hingenommen werden müssen, dass aber langfristig sogar zusätzliche Wachstumschancen initiiert werden können. Zudem zählt die Erfahrung, dass der Agrarsektor im Entwicklungsprozess eine wichtige Rolle spielt, heute zum Common sense.
6.4.1. Methoden zur Initiierung von armutsreduzierendem Wachstum
Ein erster, grundlegender Schritt sind meist Investitionen in Formen besserer Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, in den Aufbau von Finanzierungsmöglichkeiten, in Beratung und in den Ausbau von Transport- und Vermarktungsgelegenheiten.
Dieser Politik zielt auf den Aufbau und die Entwicklung von Humanvermögen durch Bildung, Ernährung und Bevölkerungsmaßnahmen zur Entfaltung der Produktivkraft und des Selbstwertgefühls mit dem Ziel der Armutsbekämpfung.
Daneben sind entsprechende steuerpolitische Umverteilungsmaßnahmen zu fördern, indem z. B. ungenutztes Produktivvermögen wie Boden durch Landreformen umgeleitet wird.
Im zweiten Schritt kommt es zum Einsatz der geschaffenen Kapazitäten in Form der Bereitstellung 38
von Investitionen wie z. B. Bewässerungssysteme. Mittelfristiges Ziel ist die Entwicklung arbeitsintensiver oder effizienter Produktionsverfahren. Hier wird das Wachstum dem Hauptziel der Armutsreduzierung untergeordnet.
Parallel dazu sind begleitende Maßnahmen zum Ausgleich von Wachstum und Verteilung auf der Seite der Güterproduktion auch auf der Seite der Kaufkraft wie wichtig, denn ohne Wachstum der Güterproduktion herrscht Versorgungsmangel, ohne Kaufkraft herrscht armutsbedingte Überproduktion. (Wagner & Kaiser 1995, S. 311 ff.)
Eine breite Übereinkunft herrscht darüber, dass die Förderung der Landwirtschaft und des
Kleinhandels im ländlichen Raum wie auch in innerstädtischen Randgebieten eine Schlüsselrolle für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung spielt.
Unterschiede hinsichtlich der Armutsstrukturen sind nur zwischen Südamerika und Asien einerseits sowie Afrika andererseits festzustellen: Typisch für Südamerika und Asien ist der stufenweise Abstieg von ehemals kleinen Landeignern zu Pächtern, landlosen Arbeitern, arbeitslosen Wanderarbeitern und schließlich zu landflüchtigen Slumbewohnern.
Dagegen dominiert in Afrika noch die Subsistenzwirtschaft im Rahmen von Dorfgemeinschaften. Hier hat auch Landbesitz aus Prestigegründen noch relativ geringere Bedeutung. Problematisch ist hier dagegen die technologische Rückständigkeit der Subsistenzproduktion, die für die geringe Produktivität verantwortlich ist.
Hier empfiehlt sich die Förderung eines schrittweisen Überganges von der Subsistenzbewirtschaftung zu einer Mischproduktion mit Marktanteilen, die den Lebensstandard der Landbevölkerung verbessert und durch die neue Kaufkraft aus der Vermarktung der Produkte den Aufbau einer komplementären Kleinindustrie hervorrufen kann.
Eine schrittweise Erhöhung des Lebensniveaus ist hier allerdings nur möglich und nachhaltig, wenn eine einfach handhabbare, billige, leicht zu wartende und zweckentsprechende „angepasste Technologie“ gefördert wird. Auch hegen die am Existenzminimum lebenden Bauern gegenüber neuen Anbaumethoden, deren Auswirkungen für sie nicht absehbar sind, meist große Vorbehalte. Derartige soziokulturelle Zusammenhänge sind zumeist nur dem Entwicklungsplaner bekannt, wes- halb es in diesem Bereich gegenüber der auf Neuerungen ausgerichteten Förderungspolitik oft zu grundlegenden Konflikten kommt.
Durch die zu erwartenden Überschüsse und Einkommenssteigerungen wird eine neue Nachfrage nach handwerklichen und kleinindustriell erzeugten Grundbedarfsgütern initiiert, wodurch es schrittweise zum Auf- und Ausbau von Handwerk und Kleinindustrie kommt. Diese Dynamik kann durch entsprechende Infrastrukturvorleistungen des Staates sinnvoll gefördert werden (Wagner & Kaiser 1995, S. 314 ff.).
6.4.2. Entwicklungsmaßnahmen im Bereich des Bildungswesens
Die Wichtigkeit Ausbildung ist nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten im Sinn der Investition in Humankapital zu betrachten, sondern auch als Grundvoraussetzung für Chancengleichheit und Partizipation.
Ein Kernproblem des Schulsystems im ländlichen Raum der Entwicklungsländer liegt nicht nur an deren mangelhaften Verteilung und Ausstattung, sondern viel mehr noch in deren formaler Struktur, die - mitsamt ihren formalen Lehrinhalten - aus der Kolonialzeit übernommen wurde. „80 % dieser ländlichen Schulkinder werden ihren Lebensunterhalt direkt vom Land bzw. als landlose Arbeiter bestreiten. Dafür benötigen sie ein Basiswissen, das weniger auf schöngeistige Dinge ausgerichtet ist. Wissen über landwirtschaftliche Methoden, Hygiene, Ernährungsregeln oder Genossenschaftswesen sind zur Lösung der aktuellen Probleme weit dienlicher. " (Wagner & Kaiser 1995, S. 323).
Die Auswirkungen dieser formalen Struktur sind u.a. die hohem Desertionsraten, wonach mehr als 50 % der Grundschulanfänger die ersten vier Jahre nicht beenden. Zudem trägt das formale Schulsystem tendenziell eher dazu bei, soziale Unterschiede und Chancenungleichheiten zu zementieren oder gar zu vergrößern. Wer finanzkräftige Eltern hat, ist gegenüber Kindern armer Eltern weit im Vorteil: Armen Eltern entstehen bei längerem Schulbesuch ihrer Kinder durch den Verzicht auf eine Arbeitskraft ungleich höhere Kosten. Außerdem sind die Aufstiegschancen für arme Kinder von vornherein geringer, denn der vermeintliche Zugang zu Bildungsmöglichkeiten allein genügt noch nicht zur Überwindung und Veränderung bestehender sozialer Struktur.
Vorteilhafter wäre dagegen eine breite Grundschuldversorgung, da die Soziallasten mit dem Marsch durch die Bildungsstufen zunehmen, während der zu erwartenden Nutzen für einen breiten Entwicklungsprozess dagegen abnimmt. So sind universitäre Forschungseinrichtungen zu abstrakten Problemen wie etwa Physik („internal brain drain“) völlig unsinnig und teuer. Vielmehr sollte der Staat das Bildungsangebot mit der Qualität der Ausbildung in Einklang bringen und zudem auf die Bedürfnisse der Menschen in ihrer speziellen sozialen und ökonomischen Umwelt abstimmen:
Das Schwergewicht sollte auf eine kostengünstigere, dezentralisierte Grundschuleausbildung und auf Erwachsenenbildung gelegt werden, in praxisorientierte Ansätze und problemorientierte Trai- nings- und Ausbildungsprogramme, verbunden mit der Förderung von Beziehern kleiner Einkommen.
Auf der Basis des verbreiteten dualen Bildungssystems, geprägt durch ein zentralisiertes, formales westlich-elitäres Bildungssystems einerseits und eine unzureichend funktionale Grund- und Breitenausbildung andererseits sind die Statistiken über Alphabetisierungserfolge hinsichtlich ihres entwicklungspolitischen Werts weitgehend sinnlos (Wagner & Kaiser 1995, S. 323 ff.).
6.4.3. Entwicklungsmaßnahmen im Bereich der Gesundheitsvorsorge
Zwischen den Bereichen Gesundheit, Ernährung, Erziehung, dem generativen Verhalten und der Armut besteht ein enger Zusammenhang, weshalb notwendigerweise unterschiedliche Maßnahmen aus diesem Bereich aufeinander abgestimmt zum Einsatz kommen müssen. Entsprechende bevölkerungspolitische, gesundheitspolitische, armutsreduzierende Instrumente und Umverteilungsmaßnahmen müssen darum folgende Ziele mit umfassen:
1. breitenwirksame ländliche Entwicklungsstrategien zur Produktivitätssteigerung und Ein- kommensverteilung,
2. die Verbesserung der Qualität, Quantität und Vielfalt der produzierten Nahrungsmittel,
3. die Sicherstellung einer landwirtschaftlichen Eigenversorgung,
4. die Sicherung der Versorgung mit elementaren Gütern wie Trinkwasser, Wohnraum und Energie (auch Biomasse),
5. ein umfassendes öffentliches Bildungsangebot und
6. eine effiziente Gesundheitsversorgung. Dazu gehört Mutterschaftsbetreuung, Familienpla- nungsleistungen, Vorbeugung gegen Fehlernährung und Infektionskrankheiten, Gesund- heitserziehung, Ernährungserziehung, einfache Heilungsmaßnahmen, öffentliche Gesund- heitsvorsorge wie Hygieneberatung etc.
Fast 80 % aller Behandlungsprobleme könnten mit angelernten Mitarbeitern schon vor Ort gelöst werden. Ein derartiges, basisorientiertes, auf Breitenwirkung abzielendes Gesundheitssystem zeichnet sich durch eine viel größere Effizienz im Vergleich zu teuren, modern ausgerüsteten Kliniken aus, die einen hohen Mittelbedarf bei geringer Wirkung aufweisen.
Dagegen wird mit einem dezentralisierten Gesundheitssystem eine breitere Versorgung erreicht, die zudem auch den Ursachen von Krankheiten und der realitätsnäheren Einschätzung von therapeutischen und anderen Abhilfemaßnahmen gerechter wird.
Bekanntes Beispiel für ein derartiges System sind die „Barfußärzte“ in der VR China: Seit Anfang der 60er Jahre wurden medizinische Helfer in medizinischen Schnellkursen ausgebildet und zur Behebung des akuten Ärztemangels auf dem Land eingesetzt. Dies ist mittlerweile eine feste, weil bewährte Einrichtung mit über 3 Millionen „Barfußärzten“ in China.
Hier stellen sich Wagner & Kaiser (1995, S. 327) „die Frage, ob nicht weniger mehr sein könnte, weniger Modernisierungsambitionen, dafür mehr Breitenwirkung bei einem der hohen Bedeutung von Gesundheit und Bildung angemessenen Ausgabenniveau."
7. Fazit
Entwicklung ist zweifellos ein theoretisch wie auch praktisch komplexes Problem, dem Alleweltslö- sungen nicht gerecht werden können. Gerade weil Entwicklung wie kaum eine andere Thematik so viele Dimensionen des Menschen in sich vereint, kann die Antwort nach der richtigen entwicklungs- politischen wie auch -strategischen Maßnahme immer nur vom jeweiligen regionalen Kontext - vor dem Hintergrund eines mehr oder minder globalen Wirtschafts- und Politiksystems - abhängen.
Im Zuge der Globalisierungsdynamik mögen sich auch hier zunehmende Veränderungen in Richtung eines Mehr an Einfluss seitens des globalen Wirtschaftssystems ergeben. Letztlich aber bleibt es doch immer nur der lokale Kontext sozialer Beziehungen, innerhalb dessen Entwicklung möglich ist.
Daran wird sich - zumindest in der Dritten Welt, der ja gerade aufgrund ihrer Armut manche technischen und gesellschaftlichen Beschleunigungen vorenthalten wird - trotz des Handy- und Internetbooms im Westen so rasch nichts ändern. Ob das positiv ist, steht hier nicht zur Debatte, sondern allein, wie mit dieser Gegebenheit optimal - im Sinne der Bevölkerung - umzugehen ist. Und das ist bereits schwierig genug...
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