Inhaltliche Gliederung:
Die Szene Hd 11 spielt im Wirtshaus, die Fenster sind geöffnet, Bänke stehen vor dem Haus und die Menschen tanzen. Man kann sie in drei Teile gliedern, die sich inhaltlich voneinander absetzen.
Die handelnden Personen sind erstens zwei Handwerksburschen, dessen „Gespräch“ den ersten Teil (Zeile 3-16) darstellt. Die beiden Burschen reden jedoch aneinander vorbei, der erste spricht von seiner Sicht der Welt, in der seiner Meinung nach alles vergänglich ist, der zweite reagiert mit Unverständnis und redet über seine Aggressivität. Die Rede des ersten Handwerksburschen wird in Zeile 41-55 fortgeführt. Sie behandelt unter anderem die zentrale Frage nach dem Sinn und Zweck des Menschen in einer Welt, die von Vergänglichkeit bestimmt wird.
Im zweiten Teil (Zeile 17-22) von Hd 11 wird von „anderen“ Wirtshausgästen ein Lied über die Jägerei gesungen.
Das Selbstgespräch Woyzecks sowie der Tambourmajor und Marie, die miteinander tanzen, stellen den dritten Teil (Zeile 23-40) der Szene dar. Woyzeck entdeckt das Fremdgehen von Marie und bringt in seiner Rede seine Eifersucht und seinen Ekel vor den, in seinen Augen, „tierischen“ Trieben (Sexualtrieb) der Menschen zum Ausdruck.
In folgender textchronologischer Gliederung verdeutliche ich den Aufbau der Szene mit ihren Sprachanteilen:
Z.1-3: Regieanweisung: Handlungsort / Raum Z.3-7: Lied des ersten Handwerksburschen
Z.8-10: Rede des zweiten Handwerksburschen über seine Aggressivität
Z.11-16: „Predigt“ des ersten Handwerksburschen über die Vergänglichkeit
Z.17-23: Lied der Anderen über die Jägerei
Z.24-25: Regieanweisung: Auftritt Woyzecks - Tanz Marie und Tambourmajor Z.26-40: Rede Woyzecks über seine Eifersucht und seinen Ekel
Z.41-55: Fortsetzung der „Predigt“ über den Sinn und Zweck des Menschen/ Vergänglichkeit
Handlungsraum: (Regieanweisungen)
Es fällt auf, dass die Szene zwar im Wirtshaus spielt, Woyzeck jedoch außerhalb, vor dem Fenster seht und den Tanz beobachtet.
Die anderen Personen befinden sich im Raum, wobei der erste Handwerksbursche erhöht, nämlich auf dem Tisch steht, und somit auf die anderen herabsieht.
Marie und der Tambourmajor tanzen am Fenster vorbei, die anderen sowie der zweite Handwerksbursche befinden sich auf „normaler“ Ebene.
Die folgende Skizze verdeutlicht diesen Aufbau:
Personenkonstellation:
Analyse
Stilmittel
Alliterationen:
Z.4: hab ...Hemdlein
Z.13: wie ...Welt
Z.20. Halli, halloh, ha
Z.26: Immer zu, immer zu
Z.31: Tut`s am hellen Tag, tut`s (...)
Anaphern:
Z.8/9: „Loch in die Natur machen“ Z.9/10: ich
Z.11 : meine Seele, mei Seele
Z.26 : „immer zu, immer zu“
Z.31 : tut`s
Z.44/45: „Warum ist der Mensch“ Z.45/48: „von was hätte der...“ Z.47/48: wenn
Parallelismen:
Z.8/9: „Loch in die Natur machen“
Z.9/10: „Ich bin“ - „ich will“
Z.25/26/27: Immer zu
Z.28: „Dreht euch, wälzt euch“
Z.30/31: „Mann und Weib, Mensch und Vieh“
Z.44-50: „Warum ist der Mensch (...)“
Wiederholungen:
Z.8/9: „Loch in die Natur machen“
Z.11: meine Seele, mei Seele
Z.25/26/27/38: Immer zu
Z.12/53: „Selbst das Geld geht in Verwesung über“
Z.37: heiß
Z.39: er, er
Z.44: „Warum ist der Mensch“
Z.52: ja, ja
Akkumulationen:
Z.46: „der Landmann, der Schuster, der Weißbinder, der Arzt Z.48: (...)
Lautmalerei:
Z.20: „Halli, halloh,ha
Metaphern:
Z.8/9: „Loch in die Natur machen“ für schlagen
Z.32: „heiß“ für erotisch, anziehend, jedoch negativ
Z.42/43: „Strom der zeit“ für die Geschichte
Z.12/53: „Selbst das Geld geht in Verwesung über“ für Vergänglichkeit ; Geld für etwas normalerweise Ewiges
Ellipsen:
Z.29: „...die Sonn aus, (so) dass alles sich in Unzucht...“ Z.32: „(...) Weib“
Z.33: „Der Kerl(...)“
Rhetorische Fragen:
Z.44-51
Sonstige Stilmittel:
- Anakoluthe (Z.39)
- Walzerrhythmus bei „immer zu, immer zu“
- hessischer Dialekt bei den Handwerksburschen und Woyzeck, zum Beispiel fehlende Wortenden
- Vergleich Z. 32: „wie die Mücken“
Bibelzitate:
Z.12: „Selbst das Geld geht in Verwesung über“: NT Jakobus 5,2f
Z.29: „Warum bläst Gott die Sonn` nicht aus“ : Anlehnung an die Johannes Offenbarung 9,2: „und es ward verfinstert die Sonne und die Luft“
Z.30: „Mann und Weib, Mensch und Vieh“ : z.B. AT Josua 6,21 / AT 2. Mose 12,12
Z.41/42 - 54 : „Jedoch wenn ein Wanderer meine geliebten Zuhörer“: Anhäufung biblischer Floskeln: AT 5. Mose 18,20; AT Jesus Sirach 18,7; NT Lukas 4,24; NT Matthäus 6,34; NT Matthäus 5,37; AT Psalm 133,1; AT Prediger 1,2; NT Korinther 13,11; häufige biblische Schlussformeln (z.B. „Zuletzt liebe Brüder, freuet euch“)
Wortwahl
Wortwahl des ersten Handwerksburschen:
Der erste Bursche verwendet hauptsächlich gleiche Anteile an negative und positiven Wörter, auffällig ist jedoch, dass fast jedem positiven Wort ein negatives gegenübergestellt wird. Der „Seele“ zum Beispiel wird „stinkt“ und „Brandewein“ zugeordnet „leben“ wird „totschlagen“ gegenübergestellt (Z.51), „lieblich und fein“ steht dem Adjektiv „eitel“ gegenüber (Z.52) und dem positiven Nomen „Kreuz“ „pissen“. Die restlichen positiven Wörter wie „geliebten Zuhörer“ und „schöne Welt“ haben dazu noch einen ironischen Beiklang (siehe Interpretation).
Bei seinem Pronomengebrauch fällt auf, dass häufig das Personalpronomen „ich“ oder das Possessivpronomen „mein /meine“ verwendet wird - am meisten in seiner ersten Rede und in seinem Lied. Er möchte so auf sich und seinen Rede aufmerksam machen um seine eigene Weltsicht zu vermitteln.
Der zweite Bursche benutzt außer „Bruder und „Freundschaft“ nur negative Wörter, wie „Flöh“ und „totschlagen“, außerdem viermal das Pronomen „ich“.
Bei der Wortwahl Woyzecks ist der starke Kontrast zwischen überwiegend negativen Wörtern und wenigen positiven sehr deutlich. Die positiven beziehen sich ausschließlich auf Dinge, die mit etwas Göttlichen und Guten („Gott“, „Sonn“, „hellen Tag“) zu tun haben, die meisten negativen Wörter (außer: „bläst aus“; „der Kerl“) wie „dreht“, „wälzt“, „Unzucht“, „tut`s“, „Mücken“, „heiß“, „herumtappt“ kommen alle aus dem Bereich der Erotik / Sexualität. Mit seinem Pronomengebrauch nimmt er keinerlei Bezug auf sich selbst, er benutzt zweimal „euch“ und „ihr“. Dem dreimaligen Gebrauch von „er“ wird jedes Mal „ihr“ oder „sie“ gegenübergestellt: er ihr
ihrem Leib
er, er sie
Das Lied der Anderen besteht überwiegend aus positiven Wörtern („grünen Wald“; „lustig“, „grüner Heid“, „Freud“...), die meistens aus dem Wortfeld der Natur kommen. Das Lieb bekommt dadurch, sowie unter anderem durch die Lautmalerei, einen fröhlichen Charakter.
Satzbau:
Alle Redeanteile, sowie Lieder sind parataktisch aufgebaut, die Satzlänge ist bis auf die letzte Rede des ersten Handwerksburschen eher kurz.
Interpretation:
Wie schon gesagt, kann man die Szene in drei Teile gliedern, die unterschiedliche Funktionen haben. Ich werde also auch meine Interpretation nach den Bereichen Weltsicht/ Philosophie (Zeile 3-16; 41-55), Bild der Natur ohne den Menschen (Idylle) und gleichzeitige Charakterisierung des Tambourmajors durch das Lied von Zeile 17-23 (= Übergang von Thema eins zu drei) und dem „Eifersuchtsdrama“ / Reaktion Woyzecks auf das Fremdgehen Maries aufteilen.
1. Weltsicht / Philosophie
Das Lied des ersten Handwerksburschen von Zeile 3-6 hat die Funktion, die Situation der armen Menschen darzustellen. Die ersten beiden Zeilen zeigen die wirtschaftliche Situation, also die Armut; das Hemdlein ist die „äußere Hülle“, man kann auch sagen die Verkleidung, die die Menschen voneinander absetzt. Büchner möchte damit ausdrücken, dass die Menschen alle vom „Innenleben“ her gleich sind und nur durch die äußeren Umstände unterschieden werden. Hier äußert sich also sein Weltbild. Die bittere Armut wird durch den Satz „das ist nicht mein“ verdeutlicht und nimmt gleichzeitig Bezug zu dem Märchen „Sterntaler“: das arme Mädchen hat im Gegensatz zu dem Burschen ein eigenes „Hemdlein“ und dazu noch eine „fromme und gute“ Seele, die bei ihm durch den Brandwein (Z.6) „verdorben“ ist. Diese Zeile ist auch eine Kritik an der biblischen Auffassung von der göttlichen und ewigen Seele, die im Lied, also im realen Leben, durch äußere Umstände (Armut...) beeinflusst und zerstört wird und demzufolge etwas Negatives darstellt („stinkt“). Hier kommt wieder Büchners Sicht zum Tragen, die besagt, dass der Mensch durch seine Umgebung / die Gesellschaft beeinflusst und geformt wird.
Brandwein ist zudem ein billiges Getränk, so können es sich auch arme Leute leisten um ihren Kummer zu ertränken. Auch damit wird wieder die Armut hervorgehoben.
Der Satz „meine Seele stinkt nach Brandewein“ wird in Zeile 11, in der zweiten Rede des Burschen, wieder aufgegriffen und als Überleitung zu seiner These : „(alles) geht in Verwesung über“ benutzt. Die „ewige“ Seele (religiöse/charakterliche Eigenschaften), sowie das eigentlich „unvergängliche“ Geld (materielle Umstände) sind also vergänglich. Diese Sicht wird durch ein Bibelzitat (Z.12) untermauert.
„Geld“ ist eine Metapher, ein Symbol, für weltlichen Reichtum, Ruhm oder Macht, was die Bildung von Ständen verursachte. So wird deutlich gemacht, dass die durch Geld definierte Klassentrennung nicht gerechtfertigt ist und somit auch keinen Anspruch auf Gültigkeit besitzt. Alle Menschen sind also im Endeffekt gleich und es wird aufgerufen, sie auch dementsprechend zu behandeln und zu betrachten. Unterstrichen wird diese Sicht durch den Ausruf „Vergissmeinnicht“, der in Bezug zu der vorhergegangenen These, die pure Ironie des menschlichen Anspruchs auf Ewigkeit und Unvergesslichkeit darstellt.
Auch der Rest seiner Rede besteht aus Ironie. Er findet die Welt keinesfalls schön (Z.13), was man im nachfolgenden Satz herauslesen kann: „Bruder, ich muss ein Regenfass voll greinen“. „Greinen“ bedeutet eigentlich aus „Rührung weinen“, jedoch ist es an dieser Stelle übertrieben („ein Regenfass voll“) benutzt und man erkennt seine Belustigung über Menschen, die die Welt als vollkommen schön, „in Ordnung“ und „ewig“ betrachten. Genauso übertrieben wirkt sein letzter Satz (Z.14/15/16), der seine Weltsicht (ausgedrückt durch die häufige Benutzung des Pronomen „ich“) mithilfe von Ironie unterstützt.
Die zweite Rede (Z.41-55) des Burschen wird als „Predigt“ bezeichnet, was man in der Regieanweisung sowie an seinem Pronomengebrauch erkennen kann: das Personalpronomen „ich“ wird kaum verwendet, also „spricht Gott durch ihn“, was auch durch die vielen Bibelzitate herausgestellt wird. Diese Zitate helfen ihm gleichzeitig, auch mit seiner einfachen Sprache seine Gedanken zum Ausdruck zu bringen.
Wichtig bei der Interpretation dieser „Predigt“ ist seine Position im Raum, die in der Regieanweisung beschrieben wird. Er steht auf dem Tisch und ist somit über die anderen Wirtshausgäste / Menschen erhaben (siehe Personenkonstellation und Raumbild): er besitzt den völligen Überblick und steht außerdem eine Stufe höher zu Gott. Der Bursche (= der „normale“ Alltagsmensch) ist nun also derjenige, der die Bibel (Bibelzitate) auslegt und die Übermittlerfunktion des Priesters/Geistlichen für den Menschen übernimmt. Man kann also den Tisch auch als Kanzel betrachten, von dem der Geistliche zu den Menschen „predigt“ (Z.41).
Büchner ironisiert und kritisiert also mit dieser Darstellung die Funktion der Geistlichen, da hier ein normaler Handwerksbursche die Tätigkeit des studierten und somit „überlegenen“ Priesters übernehmen kann. Es wird deutlich gemacht, dass jeder in der Lage ist, das „Wort Gottes“ für sich zu deuten, sich eine eigene Meinung zu bilden, und diese anderen Menschen nahe zubringen. Somit darf kein Theologe / keine Kirche den Anspruch erheben, die alleinige und einzige Wahrheit / Bedeutung der Bibel zu kennen.
Inhaltlich kann man seine „Predigt“ (dass er wirklich „predigt“ erkennt man an seinem Pronomengebrauch: das Personalpronomen „ich“ wird kaum noch verwendet, also „spricht Gott durch ihn“) in vier Bereiche aufteilen (Z.41-45; Z.45-51; Z.51-53; Z.53-55). Als erstes macht er seine Position deutlich; er sieht sich als „Wanderer“, der also in keine gesellschaftlichen Strukturen eingebunden ist, vieles sieht, kennen lernt und somit die Welt unabhängig betrachten und kritisieren kann. Auch der Ausdruck „der gelehnt steht an den Strom der Zeit“ verdeutlicht diese Sicht; der Strom der Zeit ist die Geschichte der Welt / der Menschheit. Der „Wanderer“ betrachtet also die Geschichte, an der er selbst keinen Anteil hat („gelehnt steht“ = nicht „mitschwimmt“) und kommt so als unabhängiger Beobachter zu der Frage nach dem Sinn und Zweck des Menschen (Z.44/45).
Die Wichtigkeit und existentielle Bedeutung dieser Frage wird durch die Wiederholung / Anapher / Parallelismus... herausgestellt.
Der Handwerksbursche setzt sich von der teleologischen Sicht der Kirche ab, indem er zu dem Schluss kommt, dass der Mensch kein eigentliches Ziel / Zweck hat, sondern nur „Natur“ ist, also ein von Gott geschaffenes Wesen, das sich nicht durch Eitelkeit über andere, sei es Menschen oder Tiere erhaben fühlen darf. Der Mensch darf sich nicht anmaßen, alle Gegebenheiten, hier die menschlichen Eigenschaften (Z.48-50), für den eigenen Zweck zu missbrauchen und zu definieren, da sie alle nur den einen und einzigen Sinn des Lebens haben und nicht Mittel und Zweck für einen anderen darstellen (vergleiche Büchners Rede: „Erläuterungen und Dokumente“ S.54).
Verdeutlicht wird diese These durch die zunächst schwachsinnigen und so ironischen Behauptungen und Erklärungen für den Zweck des Menschen durch Handwerksburschen. Diese Erklärungen sind als rhetorische Fragen formuliert und regen so die Zuhörer zum eigenen Nachdenken an. So muss jeder zu dem Schluss kommen, dass die Definition „wovon sollte der (...) leben sollen, wenn Gott den Menschen nicht erschaffen hätte“ in sich paradox ist, da die Berufsstände auch Menschen sind Diese Paradoxie wird zudem noch mit Akkumulationen, Parallelismen, Anaphern und Wiederholungen hervorgehoben und so ins Lächerliche gezogen.
Interessant ist außerdem noch, dass fast jeder Berufsstand, also jede fast Schicht beachtet wird, der „Landmann“ steht für die Schicht der Bauern, die „Weißbinder, Schuster und Schneider“ für die der Handwerker, der „Arzt“ für die bürgerliche, intellektuelle Schicht, der Soldat für die der Untergebenen und die Schicht der Niedrigsten, die von der Aggressivität der Menschen lebt. Nur der Adel und die Kirche wurden ausgelassen, jedoch ist die Funktion des zweiten in der ganzen Rede verdeutlicht und auch ironisiert (siehe oben). Man kann auch sagen, dass Büchner den Adel bewusst ausgelassen hat, um zu zeigen, dass diese Schicht am „Aussterben“ ist (Forderungen der Vormärz - Bewegung).
Im nächsten Teil seiner Rede zieht der Bursche den Schluss aus seiner Erklärung des nicht vorhandenen Zweckes des Menschen und sagt, dass sich niemand erhaben fühlen darf, da dies „eitel“ und überheblich ist. So bricht er mit dem Weltbild der Kirche und dem der meisten Menschen (das „Irdische“), das besagt, dass der Mensch ein göttliches Geschöpf ist und somit über alle anderen Geschöpfe erhaben ist und sie für seinen Zweck nutzen darf (Schöpfungsgeschichte). Auch wird gleichzeitig noch einmal die Ungültigkeit der Klassengesellschaft herausgehoben, da er „selbst das Geld geht in Verwesung über“ wiederholt und somit auch seine ganze Ausführung und These („alles Irdische ist eitel“) untermauert. Wie man in der Analyse der Wortwahl schon erkennen konnte, wird in allem Positiven noch etwas Negatives gefunden, um so die Zweiseitigkeit und Vergänglichkeit der Welt darzustellen und seine Sicht zu unterstützen. Der Bursche verwendet jedoch im Gegensatz zu Woyzeck keine Bibelzitate aus der Apokalypse, er glaubt also an das Fortbestehen der Welt.
Mit „ja, ja“ (so spricht man zu „Dummen“ und Kindern) weist er alle eventuellen Einwände von „naiven“ Menschen gegen diese Weltsicht ab, da diese Leute die Welt nur sehen, wie sie sie sehen wollen, nämlich „lieblich und fein“ und so auch nicht den wahren Sinn vom Selbstzweck des Menschen erkennen. Diese Menschen werden immer nach dem Sinn und Zweck des Menschen suchen und sich, da sie entweder viel Geld besitzen (Überheblichkeit gegenüber niedrigeren Ständen) oder an einen höheren Sinn glauben wollen (Überheblichkeit gegenüber den anderen Geschöpfen), überheblich fühlen, also „eitel“ sind.
„Lieblich und fein“ drückt außerdem noch die Kritik an diesen Leuten aus, da diese das Leben verspielt und leicht betrachten, ohne viel darüber nachzudenken.
Im letzten Teil seiner Rede macht er sich noch einmal über seinen Zuhörer lustig, indem er sie als „geliebt“ (auch: Bibelzitat) bezeichnet und mit dem Vorurteil gegenüber den Juden konfrontiert.
Jemand, der den genauen Sinn seiner Rede verstanden hat, müsste diesen Spruch „lasst und noch über`s Kreuz pissen, damit ein Jud` stirbt“ als lächerlich empfinden, da er zu dem Schluss kommen müsste, dass auch Juden sich nicht von anderen Menschen unterscheiden, sondern meistens nur durch äußere Umstände (Religion...; siehe Interpretation des ersten Liedes) und ihren meistens größeren Reichtum („Geld“) von den anderen absetzen. Da diese Umstände ja alle wiederlegt worden sind („Verwesung“...), müsste ein aufmerksamer Zuhörer diesen Spruch verneinen und als lächerlich und oberflächlich empfinden, also seine Vorurteile abbauen.
Der zweite Handwerksbursche besitzt im Gegensatz zum ersten keinerlei Fähigkeit zur Reflektion über die Welt und außerdem auch eine einfache Sprache (Parallelismen, Wiederholungen, Ellipsen..), die seine Dummheit zeigt. Er symbolisiert den triebgesteuerten Menschen, der hier besonders durch seine nicht unterdrückte Aggressivität auffällt, die in der Wortwahl besonders deutlich wird (siehe Analyse). Er versteht nicht die Worte seines Kameraden und deutet sie als Selbstmitleid. Deswegen spricht er davon, ihm aus „Freundschaft ein Loch in die Natur“ machen zu wollen, also zu schlagen, um ihm so seine „dummen Ideen“, die er als „Flöh“ bezeichnet auszutreiben, ihm also damit zu „helfen“. Gleichzeitig nutzt er jedoch diesen „Freundschaftsdienst“ um seine eigene Aggressivität auszuleben und sich selbst zu bestätigen („ich bin auch ein Kerl...“; viermal „ich“). Man erkennt also das typische „Wirtschaftsgeprahle“, was ihn als triebgesteuerten Egoisten (er benutzt viermal das Pronomen „ich“) entlarvt. Somit steht er, als Symbol für einen oberflächlichen „normalen“ Menschen, in Kontrast zu dem ersten Handwerksburschen. Dieser soll eine Art „Philosoph“, Kritiker und welterfahrener Individualist verkörpern, obwohl auch er eine eher einfache Sprache verwendet, die jedoch trotzdem Inhalte vermitteln kann. Seine Rede ironisiert genau solche Menschen wie den zweiten Handwerksburschen, die die Welt nur als „lieblich und fein“ empfinden und für die der eigene Egoismus, die eigenen Triebe, das Wichtigste sind.
Bild der Natur ohne den Menschen (Idylle) und gleichzeitige Charakterisierung des Tambourmajors
Das Lied von Zeile 17-22, das von den anderen Wirtschaftsgästen gesungen wird, stellt die Überleitung von Thema eins zu drei dar.
In ihm wird durch die Erwähnung der Natur („grünen Wald“ „grüner Heid`“) Bezug auf die Rede des ersten Burschen genommen, der ja auch über die Welt reflektierte. In dem Lied jedoch wird die Welt, beziehungsweise die Natur ohne den Menschen, als Idylle beschrieben und so dem negativen Weltbild („wie ist diese Welt so schön“) gegenübergestellt. Der Mensch wird aber als Jäger, also als eine Art „Zerstörer“ dargestellt, was aber nur in Bezug auf die Reden des ersten Burschen so zu deuten ist.
Die Sänger des Liedes besitzen also das kritisierte Zweckdenken, das in dem Lied durch den Jäger symbolisiert wird. Dieser Jäger instrumentalisiert die Welt/die Natur zu seinem eigenen Spaß („das Jagen ist mei` Freud`“), entnimmt ihr also ihren Selbstzweck und tötet sie sogar in einem gewissen Maße um sich selbst zu bereichern, hier Freude zu haben.
Die zweite Funktion des Liedes ist die Darstellung des Charakters des Tambourmajors, der hier mit dem Jäger gleichzustellen ist. „Jagen“ bedeutet also „verführen“ oder „ins Bett bekommen“, also reine Sexualität nur des Spaßes Willen („lustig ist die Jägerei“ ; „das Jagen ist mei` Freud“) und nicht aus Liebe. Der Tambourmajor begehrt also Marie oder besser ihren Körper nur des „Besitzens“ wegen, jedoch nicht ihre Person / Charakter an sich. Sein Charakter als „herumziehender Soldat“ wird durch „ritt einst...“ klargemacht, hier wird seine nicht sess- oder standhafte Person betont, also auch seine Untreue gezeigt. Hierin besteht auch die Überleitung zu Thema drei, zum „Eifersuchtsdrama“: die Figur des Tambourmajors wird herausgestellt und er wird als triebgesteuerter Mensch im Gegensatz zu dem hier „moralischen“ Woyzeck gezeigt.
„Eifersuchtsdrama“ / Reaktion Woyzecks auf das Fremdgehen Maries:
Zunächst werde ich auf die Regieanweisung (Z.23-25) eingehen, mit der dieser Teil der Szene beginnt. Diese Anweisung stellt die ganze Situation von Woyzeck und Marie dar: Er wird als außenstehend, nämlich vor dem Fenster (siehe Raumbild), beschrieben, hat also keinen Anteil an dem Leben der Gemeinschaft, die sich innerhalb des Wirtshauses befindet und zu der Marie und der Tambourmajor gehören. Hier wird also wieder seine niedrige und untergebene Stellung in der Gesellschaft und besonderes gegenüber dem Tambourmajor klargemacht. Der Betrug wird noch deutlicher, da in der Regie steht, dass Marie und der Tambourmajor ihn nicht bemerken, er also ein absolut unwichtiger „Faktor“ für alle Menschen ist: es ist egal ob er da ist oder nicht.
Die Triebhaftigkeit und Leidenschaft Maries wird durch den Ausdruck (Anapher, Wiederholung...) „immer zu, immer zu“ herausgestellt und betont, sie denkt hier in dieser Szene nur an ihr eigenes Vergnügen beziehungsweise an ihre Sexualität. Außerdem wird durch die Wiederholung einen Art Walzerrhythmus hergestellt, was wiederum einen Anspielung auf Sex ist. Der Walzer war nämlich als enger „Paartanz“ ein etwas „anrüchiger“ Tanz, der sogar im Biedermeier regelrecht als zu sexuell, und damit schlecht, verdammt wurde (auch hier: das negativ belegte Tanzmotiv, das sich durch das ganze Stück zieht).
Durch diesen Ausspruch („immer zu, immer zu“), wird direkt auf Woyzecks Schock, Trauer, Eifersucht und Wut hingewiesen; er wiederholt ihn(viermal) mit „erstickter“ Stimme (Z.26). Er reagiert also ähnlich wie bei seinen Visionen, der Anblick nimmt ihn gefangen und lässt ihn nicht mehr los. So reagiert er zunächst mit Wut („fährt heftig auf“), „sinkt“ jedoch praktisch im selben Moment wieder zurück auf die Bank. Man erkennt hier seine Resignation und Verzweiflung, sowie seinen niedrigen Selbstwert. Er gibt direkt auf und bemüht sich nicht, um Marie zu kämpfen, da er seine aussichtslose Lage erkennt. Jedoch ist er trotzdem noch dazu in der Lage, ein Urteil über diese Art von (Maries) Handeln zu fällen - man erkennt also doch noch eine gewisse Charakterstärke. Er wirkt wie jemand, der sich zwar seiner auswegslosen und unabänderlichen Situation bewusst, aber trotzdem noch bereit ist, Kritik zu üben; er hat also noch nicht ganz aufgegeben. Im ersten Teil seiner Rede (Z.28-31) nimmt er jedoch kaum Bezug zu seiner eigenen Lage, er kritisiert und verdammt die Welt und die Menschen an sich.
Seine Abscheu vor deren Triebhaftigkeit wird besonders durch die Verwendung des Bibelzitates „Warum bläst...“ herausgestellt, da dieses aus der Apokalypse stammt. Er sieht also die „Unzucht“ der Menschen als Weltuntergang, das moralische Leben „geht unter“ und die Triebhaftigkeit „überlebt“. Seiner Meinung nach entspricht dieses Verhalten nicht Gottes Willen - er denkt sehr schlecht über Menschen, die nur ihren Trieben folgen (Marie + Tambourmajor) und nicht aus Liebe miteinander schlafen (er + Marie).
Auch alle sonstigen verwendeten Stilmittel wie Wiederholungen, Vergleiche...und besonders die Wortwahl (Kontrast zwischen dem „Göttlichem“ und dem „Sexuellen: Analyse) dienen dazu, seinen Ekel deutlich zu machen. Er vergleicht die Menschen zum Beispiel mit Mücken, also mit Ungeziefer, was es „einem auf den Händen tut“. Er empfindet dieses Verhalten als vollkommene Dreistigkeit, die ihn kränkt, da er sagt, dass „sie es am hellen Tag“, als „vor den Augen Gottes“ (und vor seinen) tun.
Bezug zu seiner eigenen Lage nimmt er in Zeile 32 („Weib“).Dort wird Marie als „heißes Weib“ bezeichnet, er empfindet sie also erotisch, jedoch im negativen und triebhaften Sinne. Sein Schock und seine Abscheu vor ihrem Verhalten und Charakter, den er hier erst richtig begreift, wird wieder durch Wiederholungen („heiß, heiß“ „immer zu, immer zu“) verdeutlicht. Interessant ist noch, dass auch hier eine Art Resignation zu finden ist; er urteilt über die Menschen sowie über Marie mit ineinandergeschlagenen Händen (Z.28), „fährt jedoch auf“, als ihm der Tambourmajor bewusst wird (Z.33). Seine Resignation wandelt sich also in Wut, nun ist er bereit zu handeln, er hat seinen Schock überwunden.
Woyzeck bezeichnet den Tambourmajor nicht direkt mit einem Schimpfwort, jedoch kann man „der Kerl“ auch als solches deuten. Außerdem erkennt er dessen, schon im Lied beschriebenen, Charakter, da er zum Beispiel anstatt „anfassen“ das negative Wort „herumtappt“ benutzt. Damit wird der Gegensatz zum liebevollen Berühren Maries durch Woyzeck, von der nur körperlichen Begierde des Tambourmajors herausgestellt, die zudem mit „herumtappen“ ironisiert und lächerlich gemacht wird. Woyzeck durchschaut ihn also und empfindet so noch größeres Entsetzen über die Dummheit Maries und ihr daraus resultierendes Handeln.
Sein Pronomengebrauch (er ihr / ihren Leib; er, er sie) zeigt zwar die Beziehung von Marie - Major, jedoch wird kein einziges Mal „ich“ verwendet - Woyzeck nimmt also ähnlich wie bei einer Vision wieder Abstand zu sich selbst und verurteilt so das Verhalten der Menschen, hier Maries, als Sünde. Er ist also allgemein über die Sünde wütend und nicht nur eifersüchtig aus egoistischen Gründen. Hier erkennt man Woyzecks höhere moralische Position, aus dessen Motivation er später auch den Mord begeht. Büchner war es wichtig, nicht nur ein „menschliches Eifersuchtsdrama“ darzustellen, sondern dieses auf eine höhere Ebene zu heben um so die Verwerflichkeit der „sexuellen Sünde“ allgemein hervorzuheben und zu verurteilen. Hierzu kommt noch die Verwendung von Bibelzitaten, die diese Meinung mit den „Worten Gottes“ untermauert.
- Citar trabajo
- Simone Kirst (Autor), 2001, Büchner, Georg, - Woyzeck - Szeneninterpretation Hd 11, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106304
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