Die Arbeit über das Tourette-Syndrom beschäftigt sich mit der Frage nach den Auswirkungen von Stigmatisierung bei Kindern und Jugendlichen mit vokalen Tics. Mit Auswirkungen von Stigmatisierung ist gemeint, welche emotionalen und sozialen Folgen die Reaktion des sozialen Umfeldes von Kindern und Jugendlichen mit vokalen Tics hat.
Zur Beantwortung dieser Frage wurden im März 2020 drei problemzentrierte Interviews mit einem Kind von 11 Jahren und zwei Jugendlichen im Alter von 14 und 17 Jahren durchgeführt und Literatur zu diesem Thema gesichtet und gewertet. Zunächst wurden die Fragen für die Interviews entwickelt und anschließend in die Kategorien Erleben von Stigmatisierung, Auswirkungen von Stigmatisierung und Bewältigungs- und Unterstützungssysteme aufgeteilt. Die Antworten wurden mit Hilfe der qualitativen Sozialforschung nach Mayring analysiert.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Stand von Theorie und Forschung
2.1 Definition und Begriffserläuterung der Krankheit Gilles de la Tourette
2.1.1 Epidemiologie der Krankheit Gilles de la Tourette
2.1.2 Ätiologie der Krankheit Gilles de la Tourette
2.1.3 Symptome der Krankheit Gilles de la Tourette
2.2 Stigma und Stigmatisierung
2.2.1 virtuale und aktuale soziale Identität
2.2.2 diskreditierbare und diskreditierte Merkmale
2.2.3 Zwei Identitäten
2.3 Der Prozess der Stigmatisierung am Beispiel von betroffenen Kindern und Jugendlichen mit vokalen Tics
2.4 Definition chronischer Krankheit
2.4.1 Bewältigung chronischer Krankheit
2.4.2 Bewältigung chronischer Krankheit nach Corbin und Strauß
2.4.3 Techniken der Bewältigung beschädigter Identität nach Goffman E.
2.5 Entwicklung der Fragestellung
3 Methodik
3.1 Erhebungsmethoden und -instrumente, Gütekriterien und ethische Aspekte
3.2 Entwicklung des Leitfadens, Feldzugang und Sampling/Setting
3.3 Durchführung der Erhebung
3.4 Auswertungsverfahren
3.5 Suchprotokoll Pub Med
4 Ergebnisse
4.1.Erleben von Stigmatisierung
4.2 Auswirkungen von Stigmatisierung
4.3 Bewältigung-und Unterstützungssysteme
5 Diskussion und Schlussfolgerungen
5.1 Diskussion der Methode
5.2 Diskussion der Ergebnisse
5.3 Schlussfolgerungen
5 Literaturverzeichnis
6 Anhang
Abstract
Die vorliegende Hausarbeit beschäftigt sich mit der Frage nach den Auswirkungen von Stigmatisierung bei Kindern und Jugendlichen mit vokalen Tics. Auswirkungen von Stigmatisierung meint, welche emotionalen und sozialen Folgen die Reaktion des sozialen Umfeldes von Kindern und Jugendlichen mit vokalen Tics hat. Zur Beantwortung dieser Frage wurden im März 2020 drei problemzentrierte Interviews mit einem Kind von 11 Jahren und zwei Jugendlichen im Alter von 14 und 17 Jahren durchgeführt und Literatur zu diesem Thema gesichtet und gewertet. Zunächst wurden die Fragen für die Interviews entwickelt und anschließend in die Kategorien Erleben von Stigmatisierung, Auswirkungen von Stigmatisierung und Bewältigungs- und Unterstützungssysteme aufgeteilt. Die Antworten wurden mit Hilfe der qualitativen Sozialforschung nach Mayring analysiert. Die Ergebnisse sind nur limitiert repräsentativ, da die Stichprobe sehr klein ist und emotionale Daten schwer messbar sind. Die hinzugezogene Literatur der Datenbank Pub Med stützt die herausgearbeiteten Ergebnisse. Richtungsweise kann gesagt werden, dass eine Auswirkung von Stigmatisierung durch das soziale Umfeld bei Kindern und Jugendlichen mit vokalen Tics, ein geringer oder schlechter Selbstwert ist. Gerade Kinder können eine chronische Krankheit schwer in ihr Leben integrieren und als Teil der eigenen Persönlichkeit akzeptieren.
Abkürzungsverzeichnis
ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
DIMDI Deutsches Institut für medizinische Information
ICD International Classification of Disease
OCD obsessive-compulsive disorder
RCT Randomized controlled trial
TS Tourette Syndrom
Tabellenverzeichnis
Tab.1:Kategorien von Stigmatisierung gegenüber Kindern und Jugendliche mit vokalen Tics
Tab.2:Auswirkungen von Stigmatisierung auf der Gefühlsebene und die Reaktion derKinder und Jugendlichen
Abbildungsverzeichnis
Abb.1: Auswirkungen von Stigmatisierung auf der Gefühlsebene und die Reaktion der Kinder und Jugendlichen, Bewältigung und Unterstützung, Integration und Kompensation
1. Einleitung
Das Motiv zu dieser Arbeit liegt in der eigenen Betroffenheit zu diesem Thema. Ein Anliegen ist es, einen Beitrag zur Informierung der Öffentlichkeit über dieses facettenreiche Krankheitsbild zu geben, dass in der Gesellschaft wenig bekannt ist. Das Erleben, die Auswirkungen von Stigmatisierung und Bewältigung-und Unterstützungssysteme bei Kindern und Jugendlichen mit vokalen Tics sollen in den Vordergrund gestellt werden und betroffene Kinder und Jugendliche sollen zu Wort kommen. Wie gehen Kinder und Jugendliche mit den Reaktionen des sozialen Umfeldes bezogen auf ihre vokale Tics um und wie wirkt sich das Erleben von Stigmatisierung auf den Selbstwert der aus? An dieser Stelle ist es wichtig, herauszufinden, welche Unterstützung zur Bewältigung Kinder und Jugendliche erhalten und wie sie das Störungsbild in ihr Leben integrieren und bewältigen. Die Arbeit setzt sich aus einem theoretischen und einem empirischen Teil zusammen. Im theoretischen Teil werden grundlegende Aspekte des Krankheitsbildes dargestellt. Dieser beginnt im zweiten Kapitelmit einer Definition und die Begriffserklärung des Gilles de la Tourette. Es gibt Einblicke in die Ätiologie, die Epidemiologie und die Symptomatik des TS. Des weiteren werden dieBegriffe Stigma und Stigmatisierung definiert und der Prozess der Stigmatisierung und dessen Auswirkungen verdeutlicht. Das Kapitel 2 gibt daneben eine Definition für den Begriff der chronischen Krankheit. Abschließend werden das Modell von Corbin und Strauß ,, Bewältigung chronischer Krankheit“ beschrieben und die ,,Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“ nach Goffman erklärt und. Bezogen auf Kinder undJugendliche mit vokalen Tics werden das Modell von Corbin und Strauss und die,,Techniken der Bewältigung nach Goffman in Verbindung mit dem Krankheitsbild des TS gebracht. Damit wird eine Hinführung zur empirischen Teil geschaffen. Mit Hilfe von problemzentrierten Interviews wird innerhalb dieser Arbeit eine Antwort auf die leitende Fragestellung:DasTourette Syndrom und die Auswirkungen von Stigmatisierung bei Kindern und Jugendlichen mit vokalen Ticsgesucht. Das dritte Kapitel beschreibt die methodische Vorgehensweise für die Durchführung der drei Interviews. Inhaltlich wird die Erhebungsmethode und ihre Instrumente, die Gütekriterien beschrieben. Daneben die Entwicklung des Leitfadens, sowie die Planung der Durchführung und das Auswertungsverfahren dargelegt. Die Antworten aus werden den Interviews werden in Kapitel vier ausführlich beschriebenen und nach P. Mayrings ,,Qualitativer Sozialforschung“ analysiert. In Kapitel fünf werden die Ergebnisse einerseits der Methodik und andererseits der Analysen der Interviews diskutiert. Auch wird eine Gültigkeit für die Ergebnisse der Interviewanalysen mit Hilfe der Literaturrecherche im Hinblick auf die leitende Fragestellung und der These :Kinder und Jugendliche mit vokalen Ticstörungen haben häufig einen geringen Selbstwert.bewertet. Die Schlussfolgerung am Ende de 5. Kapitels fasst die Ergebnisse und Erkenntnisse kurz zusammen und gibt einen Ausblick möglicher Konsequenzen und Forschungsbedarfe. Die vorliegende Arbeit wurde nach den Regeln der neuen Rechtschreibung angefertigt. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird die männliche Ausdrucksform verwendet, hier bleibt die weibliche Person eingeschlossen.
2. Stand von Theorie und Forschung
Dieses Kapitel gibt zur Einführung eine Definition und Begriffserklärung der Krankheit Gilles de la Tourette. Es gibt einen Einblick in die Epidemiologie und Ätiologie. Des weiteren wird die Symptomatik des Tourette-Syndroms und im folgenden die Begriffe Stigma und Stigmatisierung genauer erläutert. Zudem zeigt dieses Kapitel die Entwicklung der Fragestellung auf.
2.1 Definition und Begriffserklärung der Krankheit Gilles de la Tourette
Die Bezeichnungen Tourette-Syndrom, Gilles de la Tourette oder kombinierte vokaleund multiple motorische Ticstörung, gehen auf Georges Albert Eduard Brutes Gilles dela Tourette zurück. Der französische Neurologe und Rechtsmediziner veröffentlichte im Jahr 1885 seine Studienergebnisse im Bereich der Erforschung der Ticerkrankungen und beschrieb diese als neurologisch begründet. Nach seinem Tod gerieten seine Ergebnisse in Vergessenheit (Müller-Vahl, 2010, S.8). Erst durch die Studien von Arthur und Elaine Shapiro, ein amerikanisches Neurologen Paar, gelangte die Erkrankung wieder in den Fokus der Medizin (Müller-Vahl, 2010, S.21). In der ICD-10 ist das Tourette Syndrom, gemeinsam mit andere Tic-Störungen, im Kapitel ,,verhalten-und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ beschrieben (Müller-Vahl, 2010, S.22). Das Tourett Syndrom wird laut ICD-10 wie folgt definiert:
,,Syndrome, bei denen das vorwiegende(!) Symptom ein Tic ist. Ein Tic ist eine unwillkürliche, rasche, wiederholte, nicht rhythmische Bewegung meist umschriebener Muskelgruppen oder eine Lautproduktion, die plötzlich einsetzt und keinem erkennbaren Zweck dient.“(DIMDI, 2020, o.S.). Zur Diagnose müssen multiple motorische und mindestens ein vokaler Tic vorhanden sein. Tics sind nicht willentlich beeinflussbar, können aber durchaus eine Zeit lang unterdrückt werden. Sie sollten, um relevant zu sei, mindestens für ein Jahr bestehen (Müller-Vahl, 2010, S.22). ,,Das Tourette Syndrom ist als Behinderung anerkannt, rechtlich kann eine Schwerstbehinderung geltend gemacht werden.“ (Sulzbach, 2006, o.S.).
2.1.1 Epidemiologie der Krankheit Gilles de la Tourette
Der Beginn des TS liegt in der Kindheit und Jugend und vor dem 18. Lebensjahr. Im Durchschnitt werden im Alter von 6,7 Jahren erste Tics auffällig. Anfangs werden einfache motorische Tics wahrnehmbar und mit Abstand von zwei Jahren folgen meist vokale Tics (Müller-Vahl, 2010, S.59). Im Alter von 10-12 Jahren kann die Erkrankung ihr Maximum erreichen. Bei 95% der Betroffenen zeigt sich anschließend eine spontane Ticminderung. Die Möglichkeit, dass die Tics bis ins Erwachsenenalter anhalten ist jedoch gegeben (Müller-Vahl, 2010, S.59). Die Prävalenzrate für das Tourette Syndrom liegt bei 1%(Neuner et al., 2012, S.460).
2.1.2 Ätiologie der Krankheit Gilles de la Tourette
,,Eine noch bis ins 20. Jahrhundert weit verbreitete Meinung war und ist, dass das Tourette Syndrom eine psychische Erkrankung ist. Die Ursachen sind noch nicht endgültig geklärt, wobei allerdings herausgestellt ist, dass es sich um eine organische Erkrankung handelt und nicht um eine psychosozial bedingte Störung“ (Müller-Vahl, 2010, S.92). Denn seit Anfang der 60er Jahre wurde das Tourette Syndrom als organisch begründete Erkrankung angesehen und es wurde die Hypothese aufgestellt, dass eine Funktionsstörung in den Basalganglien im Gehirn die Ursache ist. Die Basalganglien gehören zu den Zentren im Gehirn, die für die Bewegungssteuerung und Bewegungskontrolle verantwortlich sind. Sie sorgen für die Weiterleitung von Strömen zum prämotorischen Cortex und von dort zur motorischen Hirnrinde. Bei Patienten mit TS wird vermutet, dass die hemmenden Funktionen für Bewegungen gestört sind. Bewegungen werden ohne Unterlass weitergeleitet und stellen sich dann als Tics dar (Kraft, 2006, S.21). Veränderungen im Nucleus caudalus und dem Putema, sowie Veränderungen an der Balkenstruktur, die den Informationsaustausch zwischen beiden Gehirnhälften gewährleistet, gelten als mögliche Ursachen für das Tourette Syndrom. Gesichert ist, dass chemische Veränderungen im Bereich des Dopamintransports und Serotoninspiegels ursächlich für Ticstörungen sind(Kraft, 2006, S.21). Über bildgebende Untersuchungen nach dem Tod, wie die Magnetresonanztherapie können strukturelle oder funktionelle Untersuchungen, somit auch das Darstellen von Stoffwechselvorgängen des Gehirns, vorgenommen werden. Zu Lebzeiten dient der Einsatz der funktionellen Kernspintomografie der Untersuchung von Blutfluss und Oxygenierung um darüber indirekt auf die neuronalen Aktivitäten schließen zu können (Müller-Vahl, 2010, S.93). Positronen-Emissions-Tomographie und Single- Photo-Emissionscomputertomographie machen funktionelle Vorgänge des Gehirns nachvollziehbar. ,,In zahlreichen Studien wurden bei Patienten mit Tourette-Syndroms Veränderungen des Serotonergensystems nachgewiesen“ (Müller-Vahl, 2010, S.105). Dieses System arbeitet somit mit minderer Funktion Durch Zwillings-und Adoptionsstudien konnte festgestellt werden, dass das Tourette Syndrom eine genetische Ursache hat (Müller-Vahl, 2010, S.113). Bei 80% der eineiiger Zwillingen sind beide betroffen (Kraft, 2006, S.21). Es ist bis heute jedoch nicht gelungen mittels Forschung die genetische Grundlage zu entschlüsseln (Müller-Vahl, 2010, S.117). Bei Verwandten ersten Grades konnte festgestellt werden, dass 2% ebenfalls das TS zeigten. Auch sind Männer weitaus häufiger betroffen als Frauen. Nach Kraft reicht es nicht aus, nur die genetische oder pathologische Ebene zu betrachten. Umweltfaktoren sollten auch mit einbezogen werden. Wenig erforscht ist, welche Faktoren, wie unter anderem pränatale und perinatale Komplikationen, Belastungsfaktoren (Stress, live -events), Reaktionen auf Infektionen oder Immundefekte zur Entstehung des TS beitragen. Zu den Risikofaktoren werden weitere nicht genetische Faktoren gezählt wie z.B. Kopfverletzungen (Müller-Vahl, 2010, S.121).
2.1.3 Symptome des Gilles de la Tourette
Nach der Definition in der ICD ist das TS ein Syndrom, welches vorwiegend durch Tics definiert wird (DIMDI, 2020, o.S.). Tics werden differenziert nach:
- motorischen Ticsgelten als unwillkürlich eintretende Bewegungen. Damit ist das plötzliche Einschießen von Bewegungsabläufen über die Skelettmuskulatur gemeint. Sie dienen keinem Zweck (Müller-Vahl, 2010, S.40).
- einfache motorische Ticszeichnen sich dadurch aus, dass sie nur mit einem Körperteil, und demnach mit nur wenigen Muskelgruppen ausgeführt werden. Zu ihnen gehören das Blinzeln, das Kopf schütteln/werfen/drehen, das Schulter zucken und grimassieren, die Arm/ Handbewegungen, die Bein/Fußbewegungen, Rumpfbewegungen uvm. (Müller-Vahl, 2010, S.40).
- komplexe motorische Ticsunterscheiden sich von den einfachen durch die Involvierung mehrere Muskelgruppen und Körperteile gleichzeitig. Es sind hier alle Körperregionen betroffen und Bewegungsabläufe. Beispielsweise drücken sich diese im Grimassieren, in Gesten im Gesicht, am Kopf, mit Händen, Armen, mit dem Rumpf, mit Füßen oder Beinen aus. Auch das Klatschen, Klopfen, sich im Kreis drehen, verbiegende/verbeugende Rumpfbewegungen, sich-selbst-schlagen, springen, hüpfen oder autoaggressives Verhalten, sowie dystone Tics gehört dazu (Müller-Vahl, 2010, S.40).
Sonderformen der komplexem motorischen Tics:
- Kopropraxiebedeutet das Zeigen obszöner Gesten z.B. den Mittelfinger (Müller-Vahl, 2010, S.50). Die Symptome gibt es bei 12% der Betroffenen mit TS (Müller-Vahl, 2010, S.50).
- Echopraxiebedeutet die Wiederholung der Bewegungen anderer Personen (Müller-Vahl, 2010, S.52).
- Palipraxiebedeutet, dass Wiederholen von selbst durchgeführten Bewegungen (Müller-Vahl, 2010, S.54). (s. Abbildung 3 auf S.41)
Neben den motorischen Tics gibt es beim TS die vokalen Tics. Auch hier wird unterteilt in einfache vokale Tics und komplexe vokale Tics.
- Einfache vokale Ticskönnen durch räuspern, Nase hochziehen, quieken/quietschen, pfeifen/summen, spucken, Ausstoßen von Tierlauten wie bellen, schnüffeln, zischen o.ä gezeigt werden (Müller Vahl, 2010, S.43).
- komplexe vokale Ticssind z.B. das Ausrufen von Sprachfragmenten, Sprechblockaden oder atypische Sprachverwendung (Müller-Vahl, 2010, S.43).
Als Sonderformen der komplexen vokalen Tics gelten die:
- Echolaliebedeutet das Wiederholen des Gesprochenen anderer Menschen (Müller-Vahl, 2010, S.52).
- Koprolaliemeint das Aussprechen obszöner Wörter, wie Nutte, Hure oder Fick dich. Das Symptom tritt bei 26,1% der Betroffenen mit TS auf (Müller-Vahl, 2010, S.45-46).
- Palilaliebedeutet das Wiederholen eigener Wörter oder Silben (Müller-Vahl, 2010, S.54).
Ein wenig untersuchtes Symptom ist dieKoprographie. Das Schreiben oder Malen von Obszönitäten (Müller-Vahl, 2010, S.45).
Ein weiteres Merkmal, dass zu den Tics gehört ist das Vorgefühl. Dieses kündigt nur wenige Sekunden vor einer unwillkürlichen Bewegung oder vokalen Äußerung direkt an diesem Ort das Geschehen den Tic an. Durch ein Kribbeln, ein Kratzen oder Kitzeln in der Hand, bevor sie sich bewegt (Müller-Vahl, 2010, S.38).
2.2 Stigma und Stigmatisierung
Das Wort Stigma kommt aus dem lateinischen und griechischen und steht für ein Merkmal, Zeichen oder Mal. Früher wurden Sklaven und Verbrecher gebrandmarkt oder es wurde ihnen Farbe unter die Haut geritzt um der Gesellschaft ihren moralischen Zustand zu signalisieren (Goffman, 2018, S.9). In christlicher Zeit galten Wundmale als Zeichen göttlicher Gnade. Behinderungen oder Beeinträchtigungen wie Blindheit, Lähmungen oder geistige Verwirrtheit galten als Zeichen körperlicher Unstimmigkeiten (Goffman, 2018, S.9). Heute wird der Blick auf eine Person durch Merkmale wie Geschlecht, Hautfarbe, ethnische Zugehörigkeit, sozialer Status (z.B. ob jemand einen Ehering trägt, ob er oder sie verheiratet ist), durch Arbeitslosigkeit, oder Beeinträchtigungen, wie körperlich, seelische, geistige oder kognitive Natur beeinflusst (Hohmeier, 1975 ,o.S.). Ein Stigma signalisiert eine Abweichung von der Mehrheit. Stigmatisierung ist als Prozess zu verstehen. Ein Merkmal, ein Makel oder Handicap ist erst mal wertneutral. Weder negativ noch positiv. Wird diese Besonderheit negativ definiert über Begriffe wie eklig, nervig oder der Angst sich anzustecken, wird eine Person hierüber kategorisiert oder stereotypisiert. Einer Person, mit Depressionen werden dementsprechend Eigenschaften wie faul oder dumm zugeordnet (Goffman, 2018, S.9). Es werden so gleichzeitig einer Person negative Charaktereigenschaften zugeschrieben. Über einen Makel oder ein Handicap wird ein generalisiertes Urteil gebildet und die Individualität und Persönlichkeit eines Menschen ignoriert (Goffman, 2018, S.9). In einer in Tennessee durchgeführten Studie, wurde ein Darsteller im Kindesalter in drei verschiedenen Einstellungen gefilmt. Diese Szenen wurden Schulkindern der Klassen drei und fünf gezeigt. In der ersten Szene zeigte das Kind keine Symptome von TS, in der zweiten zeigte es Symptome von TS und in der dritten zeigte es Symptome von TS und erklärte sein Verhalten bezüglich der dargestellten Tics. Das Ergebnis der Studie legte dar, dass die Aufnahme des Kindes ohne jegliche Symptomatik mehr Sympathien bekam wie die Szene mit der Aufnahme des Kindes mit Tics ohne Erklärung. Die Zugabe von Informationen in der dritten Szene verbesserte nicht die Einstellung der Kinder gegenüber dem gleichaltrigen Kind mit Tics (Sheri & Morgan, 1996, o.s.).
2.2.1 virtuale und aktuale soziale Identität
Eine Beurteilung eines Merkmals wird durch eigene Erfahrungen, durch Wissen, Stereotype, durch Erwartungen, normative Erwartungen, gesellschaftliche Erwartungen oder Emotionen gesteuert. Diese Wahrnehmung nennt man die virtuale Wahrnehmung. Diese steht im Gegensatz zur aktualen Wahrnehmung, der tatsächlichen. Diese beinhaltet die Charaktereigenschaften einer Person. Man kann sie nur durch Gespräche oder beim näheren Kennenlernen in Erfahrung bringen (Goffman, 2018, S.10).
2.2.2 diskreditierbare und diskreditierte Merkmale
Menschen mit einem Handicap versuchen oft ihre Makel zu verstecken, um nicht abgestempelt und bewertet zu werden, bevor sie überhaupt die Möglichkeit haben ihre wahre Identität zu zeigen. Denn Menschen streben im sozialen Vergleich meist nach einer positiven Identität. Wichtiger Faktor hier ist die Deutlichkeit eines Stigma. Ist ein Merkmal nicht sofort erkennbar, nennt man es diskreditiert. Das jemand eine Depression hat ist von außen nicht ersichtlich. Im Gegensatz zum Rollstuhlfahrer. Die Einschränkung ist augenscheinlich und sofort erkennbar. Sie ist diskreditierbar (Goffman, 2018, S.10 ff.). Nach Goffman stellt demnach das Tourette Syndrom eine diskreditierbare Eigenschaft dar, da es schwer zu verbergen ist und leicht erkennbare Verhaltensweisen zeigt.
2.2.3 Zwei Identitäten
Träger eines Stigma leben mit zwei Identitäten. Eine soziale Identität, die über die Sichtbarkeit des Makels bestimmt wird. Das bedeutet, dass über die Umwelt, die Gesellschaft, die sozialen Normen, die Erwartungen andere Menschen, Einstellungen und Stereotype einer Person eine Identität zugeschrieben wird. Demgegenüber steht die Ich Identität. Die Wünsche des Individuums, seine Werte, der Wunsch nach Liebe, Anerkennung und Zugehörigkeit (Goffman, 2018,S.16). In öffentlichen Bereichen geschieht Stigmatisierung auf gesellschaftlicher Ebene. Menschen oder Gruppen werden auf Grund ihrer Andersartigkeit abgelehnt. Sie werden isoliert und diskriminiert. Sie werden bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche übergangen. Übernimmt eine Person die Bewertung der Umwelt und initialisiert sie, spricht man von Selbststigmatisierung (Goffman, 2018, S.46). Dies verändert gleichzeitig die Ich-Identität. Der Spalt zwischen Ich-Identität und sozialer Identität kann immer größer werden. Durch die Ausgrenzung aus der Gesellschaft, die soziale Isolation und Diskriminierung kann ein großer Leidensdruck entstehen. Gefühle der Ablehnung, Ängste, ein geringes Selbstwertgefühl, das tägliche Leiden unter der Umwelt führen zu stark eingeschränkter Lebensqualität (Neuner et al., 2018, o.S). In der Türkei wurde mit einer kontrollierten Studie die Lebensqualität und das Selbstwertgefühl von Kindern und Jugendlichen zwischen 6-16 Jahren untersucht. Involviert waren insgesamt 62 Probanden. Ergebnis der Studie war, dass Betroffene mit TS über ein geringeres Selbstwertgefühl als die gesunden Probanden der Kontrollgruppe verfügen. Gerade weibliche Patienten, die jünger wie 12 Jahre waren, zeigten ein schwach ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Daraus resultiert ein Rückzug aus dem Sozialleben, Aggressionen und die Tatsache, dass TS Betroffene weniger in die Klassengemeinschaft integriert sind (Hosapcioglu et al., 2014, o.S.). Menschen mit einem Merkmal oder einer Behinderung leiden oft stark unter dem Gefühl, anders zu sein. Sie fühlen sich nicht,,normal“, eher minderwertig. Es gibt keine Zuversicht. Der größte Wunsch besteht darin, so zu sein wie alle anderen. Sie wollen das Gefühl immer auf dem Präsentierteller zu leben gegen ein Untertauchen in der Maße eintauschen. Wenn das Gefühl sich nicht kompensieren lässt, verschärft sich der Wunsch nach einer Korrektur oder Operation zunehmend. Das Individuum ist innerlich rekrutiert. Es gibt jedoch nicht immer die Möglichkeit der Kompensation oder Korrektur (Goffman, 2018, S.17).
2.3 Der Prozess der Stigmatisierung am Beispiel von betroffenen Kindern und Jugendlichen mit vokalen Tics
Nach Goffman, gehört das TS in die Kategorie körperlicher Besonderheiten. Die vokalen Tics sind eine Abweichung von der Norm und gleichzeitig eine stark diskreditierende Eigenschaft (Goffman, 2018, S.10). Vokale Tics gehen je nach Intensität, Dauer und Lautstärke mit einer sozialen Präsenz einher, dass sie meistens nicht zu verbergen sind und der vom TS betroffene auffällt (Cox et al., 2019, o.S.). Auch unauffälligere Tics, wie das ständige Räuspern oder Nase hochziehen, lassen Veranstaltungen in denen es ruhig und still zu geht, wie ein Konzertbesuch oder eine Vernissage, somit zu einer Schwierigkeit werden (Müller-Vahl, 2010, S.49). Die Tics werden von andern Menschen und Institutionen bemerkt und je nach Vorwissen und Einstellungen darauf reagiert. Für die meisten ist ein vokaler Tic befremdlich. Sie schließen darüber auf eine schlechte Erziehung des Kindes oder auf böse Absicht (Kraft, 2006, S.21). Je weniger eine Behinderung oder Beeinträchtigung identifizierbar ist, um so mehr löst sie eine Unsicherheit aus, wie man sich dem Menschen gegenüber verhalten soll. Ein beeinträchtigter Mensch in einem Rollstuhl ist in der Vorstellung der meisten Menschen leicht zu kategorisieren. Es gibt eine Orientierungserleichterung und Sicherheit im Umgang mit dieser Abweichung. Eine Person mit dem TS, die Tics zeigt und unerwartet vokale Äußerungen von sich gibt, ist befremdlich und je nach Wissensstand über dieses Krankheitsbild, führt dies zu Reaktionen wie Abwehrmechanismen, Angst, Unsicherheit, Vermeidungsverhalten aber auch anstarren, beschimpfen oder aggressivem Verhalten (verbal und/oder körperlich) (Holub, 2014, S.78). Der Öffentlichkeit fehlt es an Verständnis. Es fallen abfällige Bemerkungen. Nicht Betroffene fühlen sich bedroht, provoziert und üben den Betroffenen gegenüber nicht zuletzt psychische Gewalt aus (Holub, 2014, S.78). Eventuell beklagen Nachbarn sich über die vokalen Tics des Betroffenen. Hier bewirkt nach Goffman der Generalisierungseffekt, dass Menschen mit einem Handicap weitere vermutete Eigenschaften zugeschrieben bekommen. Sie seien verrückt, aggressiv oder einfach nur dumm (Holub, 2014, S.79). Motorische und vokale Tics sind schwer zu verbergen. Verbergen führt oft zu Angst und das wiederum verstärkt die Symptome. Aus diesem Grund Informieren Kinder und Jugendliche ihre gleichaltrigen Klassenkameraden nicht, da sie Angst haben als anders abgelehnt zu werden oder aus Sorge bemitleidet zu werden (Kraft, 2006, S.21).
In einer Studie aus Großbritannien wurde die Wahrnehmung von Jugendlichen mit einem Durchschnittsalter von 16,7 Jahren gegenüber Jugendlichen mit TS untersucht. Das Ergebnis zeigte, dass Stigmatisierung, trotz Wissen und Informationen über die Krankheit TS weiterhin stattfindet. Das vorhandene Wissens der Jugendlichen über TS wurde als "gut" eingestuft. Nur etwa die Hälfte der Jugendlichen konnten sich vorstellen im Unterricht neben einer Person mit TS zu sitzen. Auch die Hälfte der Probanden gaben an, dass sie sich trotzdem eine Freundschaft mit einem vom TS Betroffenen vorstellen können. Ein viertel der Jugendlichen konnte sich vorstellen, dass Betroffene mit TS streng erzogen und bestraft werden sollten, um das Verhalten zu korrigieren. Daneben gaben zwei Drittel der Jugendlichen in der Studie an, dass sie erkennen, dass das Selbstwertgefühl bei Betroffenen mit TS möglicherweise niedrig ist (Brook et al 2006, o.S.). Einer dänischen Studie zu Folge in der 740 Eltern zum Thema Mobbing und Komorbidität bei eigenen Kindern mit Tourette befragt wurden, stellte sich heraus, dass es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Komponenten gibt. 45% der Eltern gaben an, dass ihre Kinder in der Schule unter Mobbing leiden und es scheint, dass bestehende Verhaltenskomorbiditäten, wie oppositionelles Verhalten o.ä. die Hänseleien begünstigen. Das heißt, dass je schwerer und deutlicher die Symptome des Betroffenen sind, je eher ist dieser gefährdet, Mobbing ausgesetzt zu sein (Cox et al., 2019, o.S.). Die Ergebnisse der Metaanalyse von Cox et al. legen dar, dass Patienten mit TS sehr anfällig für negative und stigmatisierende Verhalten von Gleichaltrigen ihnen gegenüber sind (2019, o.S.). Es scheint jedoch, dass das Bildungsniveau der Kinder und Jugendlichen sowie auch vorhandenes Wissen über die Erkrankung unwesentlich zu sein scheint . Die Ergebnisse der Studien deuten daraufhin, dass junge Patienten mit dem TS eine verminderte soziale Akzeptanz durch Gleichaltrige erfahren und somit Schwierigkeiten beim Aufbau von Beziehungen haben. Kinder haben ein höheres Risiko durch ein Merkmal stigmatisiert zu werden. Hinzu kommen die hormonellen Veränderung der Pubertät, Gruppenzwang und die Beschaffenheit d er Beziehung zu den Eltern (Cox et al., 2019, o.S.). Des weiteren ist, der Druck des Bildungssystems zu nennen und die eigene noch nicht gefestigte Rolle in der Gesellschaft. Die Folgen einer Stigmatisierung im Kinder und Jugendalter kann der Rückzug des Betroffenen aus dem sozialen Kontext sein. Es kann hierdurch eine erhebliche soziale Beeinträchtigung entstehen, wie Isolation und Einsamkeit. Dieses kann wiederum zu einem schlechten Gesundheitszustand beitragen. Es können Probleme im Bereich des Selbstkonzeptes und ein vermindertes Selbstwertgefühl die Folge sein (Cox et al., 2019, o.S.). Wie Kinder und Jugendliche mit Tourette sich selbst wahrnehmen, im Zusammenhang zur Umwelt hat einen großen Einfluss auf die Lebensqualität und das Gefühl, dass damit einher geht. Goffman schreibt in seinem Buch über die Diskrepanz zwischen sozialer und persönlicher Identität, dass wenn der Gegensatz oder Spalt zwischen diesen beiden zu groß wird, ein starkes Ungleichgewicht entsteht (Goffman, 2018, S.16). Die Selbstwahrnehmung wird in zwei Bereiche aufgeteilt. Das Selbstkonzept, beschreibt wie ein Mensch über sich selbst denkt und das Selbstwertgefühl beschreibt das Denken über das was er selbst über sich denkt. Wie er sich demnach selbst bewertet (Cox et al., 2019, o.S.). Die Folgen für den Einzelnen hängen von ineinander greifenden Faktoren ab. Trotz Stigma und Stigmatisierung ist es möglich ein lebenswertes und qualitativ gutes Leben zu führen. Das Gefühl der Integration oder wie sehr Kinder unter einer chronischen Krankheit, einem Handicap oder Makel leiden hängt von verschiedenen Faktoren ab (Kraft, 2006, S.22). Wenige seien hier genannt:
- von der Akzeptanz und dem Umgang der Familie und dem direkten Umfeld mit dem Betroffenen.
- davon wie viel Gewicht auf die Bewertung der Gesellschaft gegeben wird.
- wie aufdringlich, sichtbar oder kontrollierbar das Merkmal oder Handicap ist.
- ob es angeboren ist und der Mensch schon unerreichbare Werte und Möglichkeiten kennengelernt hat.
- wie sehr ein Kind mit einem Stigma behütet wurde. Um dann im späteren Leben seineUnzulänglichkeit oder Andersartigkeit zu entdecken.
- ob das Stigma das Leben zu einem späteren Zeitpunkt veränderte und das Individuum schon ohne Handicap oder einem Merkmal gelebt hat.
- Vorhandensein von Verhaltenskomorbiditäten.
- die sozialen Auswirkungen der Störung, wie Isolation, Mobbing etc. (Kraft, 2006, S.23).
2.4 Definition chronischer Krankheit
Eine chronische Krankheit ist ein langandauernder Prozess. Dieser besteht aus wechselnden episodenhaften Phasen mit sozialer, emotionaler und körperlicher Anpassungsleistung und ist gekennzeichnet durch verschiedene medizinische, psychische, physische und soziale Bewältigungsstrategien. Dazu zählt u.a. das Schmerzmanagement aber auch die Bearbeitung von Sekundärproblemen wie Angst und Unsicherheit (Zimmermann, 2002, o.S.). Es gibt viele verschiedene chronische Krankheiten und dementsprechend viele unterschiedliche Wahrnehmungen von Ausprägung und Belastungsstärken. Eine Übersicht von Cohen & Lazarus von 1979 verdeutlicht, auf wie vielen unterschiedlichen Ebenen chronische Krankheiten das Leben der Betroffenen beeinflussen kann. Neben körperlichen Beeinträchtigungen, wie Schmerzen, leiden Betroffene an psychischen und sozialen Belastungen. Chronische Krankheiten können, trotz ihrer Unterschiedlichkeit gemeinsame Auswirkungen haben:
1. Lebensbedrohung und Todesangst
2. Bedrohung der körperlichen Integrität und des Wohlbefindens (durch Krankheit, diagnostische Verfahren oder Behandlungsmaßnahmen). Die Bedrohung körperliche Versehrtheit oder Behinderung. Irreversible körperliche Veränderungen, Schmerz, Unwohlsein und weitere negative Krankheits- oder Behandlungssymptome
3. Bedrohung des Selbstkonzepts und der Zukunftspläne, notwendige Veränderungen im Selbstkonzept und Ungewissheit über den weiteren Krankheitsverlauf und die eigene Zukunft. Die Gefährdung von Lebenszielen und Wertvorstellungen oder der Verlust von Autonomie und Kontrolle.
4. Bedrohung des emotionalen Wahrnehmung d.h.: notwendiges Ertragen von Gefühlen wie Angst, Ärger und weiterer Emotionen, die aus den Belastungen resultieren
5. Bedrohung in der Erfüllung vertrauter Rollen und Aktivitäten Trennung von Familie, Freunden und anderen Vertrauten des sozialen Netzes. Der Verlust von wichtigen sozialen Funktionen und die Notwendigkeit, auf andere angewiesen zu sein
6. Bedrohungen resultierend aus der Erfordernis, sich an eine neue physische oder soziale Umgebung anzupassen. Anpassung an das Krankenhaus Setting oder/und Probleme im Verstehen medizinischer Terminologie und Besonderheiten. Die Notwendigkeit der Entscheidungsfindung in belastenden und fremden Situationen (Lazarus, 1995, o.S.).
Diese Übersicht zeigt die vielen kleinen Teile die sich belastend auf die Betroffenen Auswirken und, dass nicht die Krankheit allein das Leben der Betroffenen negativ beeinflusst. Faktoren, wie die Reaktion der Umwelt, negative Gefühle, wie Angst, Trauer oder Zukunftspläne die nicht mehr erfüllt werden können, tragen ihren Teil zur Lebensqualität bei (Viert, 2005, o.S.). Circa 16,2% aller 0-17 jährigen sind chronisch krank. Am häufigsten leiden sie an Asthma und Allergien. Es besteht ein zwei bis dreimal höheres Risiko zur Bildung von psychischen Störungen. Kinder entwickeln eigene Vorstellungen im Verlauf einer Erkrankung, deshalb benötigen sie eigens auf ihre kognitiven Fähigkeiten individuelle Bewältigungsformen (RKI, 2012, o.S.) .
2.4.1 Bewältigung chronischer Krankheit
Aus der Fülle von Bewältigungskonzepten chronischer Krankheit wurde für diese Arbeit das Modell der Bewältigung chronischer Krankheit nach Corbin und Strauß gewählt, um darzulegen, wie Bewältigung gelingen kann. Nachdem zu Beginn eine Definition und Begriffserklärung für die Krankheit Gilles de la Tourette und zu den Begriffen Stigma und Stigmatisierung gegeben wurde, soll jetzt der Begriff chronische Krankheit definiert werden. Im weiteren wird das Modell von Corbin und Strauß zur Bewältigung chronischer Krankheit näher umschrieben. Da es beim TS nach der Adoleszenz zwar bei 95% der Betroffenen zu einem Rückgang der Symptomatik kommen kann, jedoch bis dahin, wie in Kapitel 2.1.1 (S.2) beschrieben, gerade bei Kindern ein hohes Risiko besteht psychische Leiden als Reaktion auf ihre Erkrankung zu entwickeln, sollte die Nutzung von Strategien im Umgang mit der Lebenssituation hier in den Fokus rücken, um für das aktuelle wie auch spätere Leben, Schutzfaktoren zu entwickeln (RKI, 2012, o.S.). Da Betroffene des TS häufig unter einer Stigmatisierung durch das soziale Umfeld leiden, wie in Kapitel 2.3 (S.9) beschrieben, soll des weiteren in diesem Kapitel näher auf die,,Bewältigungs mechanismen beschädigter Identität“ nach Goffman eingegangen werden, da diese häufig genutzt werden um ein Stigma zu kompensieren.
2.4.2 Bewältigung chronischer Krankheit nach Corbin und Strauss
Bei Kindern geschieht Bewältigung einer chronischen Krankheit in der Unterstützung, zu großem Teil von außen. Durch Eltern, enge Bezugspersonen und Therapeuten u. a.. ,,Für Kinder mit chronischen Krankheiten ist eine kognitiv an das Alter des jeweiligen Kindes angepasste Krankheitsaufklärung unerlässlich, damit sie in der Lage sind Informationen zu verarbeiten und in ihr subjektives Krankheitserleben zu integrieren“ (Wiedebusch, 2014, o.S.). Durch die Diagnose wird buchstäblich, von einem auf den anderen Tag die Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft erst einmal auf emotionale Weise verändert. Die Biographie und somit auch der Lebenslauf einer Person kann an diesem Punkt brechen oder aussetzen (Corbin & Strauss, 2004, S.67). Dieser Lebensabschnitt muss bewältigt und in den Lebenslauf integriert werden. An diesem Punkt ist es elementar für den Betroffenen zu verstehen, dass die Erkrankung nicht die gesamten Aspekte seines Lebens und seiner Rollen die er ausfüllt bestimmten muss. Er wird trotzdem weiterhin die vorherigen Rollen ausfüllen, z.B. als Bruder, Freund oder Kind. Nach Corbin und Strauss lässt sich der Verlauf sowie die Bewältigung chronischer Krankheit als einen Prozess verstehen, der in Phasen verläuft. Die Bezeichnung Krankheitsverlaufskurve bezieht sich auf eine Gesamtheit an Arbeit und Belastung die geleistet wird. Er schließt den physiologischen Ablauf und die Beteiligten an allen Prozessen ein (Corbin & Strauss, 2004, S.49). Die Verlaufskurve integriert den erkrankten Menschen in seiner aktiven Rolle als Gestalter. Hier neben gehören Therapeuten, Ärzte aber gerade auch engste Verwandte die in die Pflege, Begleitung und Betreuung eingebunden sind (Corbin & Strauss, 2004 S.50). Das Durchleben der Phasen, welche keiner zeitlichen Grenze und keiner stringenten Reihenfolge unterliegen, beinhaltet immer das Aufarbeiten und das Integrieren der Krankheit in die eigene Biographie. Die Selbstkonzeption als Baustein zur Manifestation einer positiven Identität und der Annahme des eigenen Körpers. Dieser ist auf physischer Basis gesehen das zu Hause und hängt in seiner verlorenen Funktionstüchtigkeit stark mit dem eigenen Selbstbild zusammen (Corbin & Strauss, 2004, S.66). An diesem Körper und dem damit verbundenen Bild der eigenen Person hängt die eigene Identität (Corbin & Strauss, 2004, S.69). Nach dem Modell von Corbin und Strauss verläuft chronische Krankheit in Phasen, und jede Phase benötigt die richtige Unterstützung.
1. Vorphase : keine Symptome, evtl. präventives Handeln
2. Diagnostische Phase: Diagnose und Beginn der Krankheitsverlaufskurve und des Pflegeverlaufs
3. Akute Phase: lebensbedrohliche Situationen
4. kritische Phase: Krankenhaus-Aufenthalte auf Grund von Komplikationen und Zustand
5. stabile Phase: Kontrolle durch Therapie und pflegerische Interventionen
6. instabile Phase: Kontrolle vermindert
7. Verschlechterung:körperlich und/oder psychischer Zustand labil oder kritisch
8. Sterbephase: Der letzte Lebensabschnitt, Körperfunktionen lassen nach. Der Mensch stirbt.(Corbin & Strauss, 2004, S.32ff)
Für das Krankheitsbild des TS wird der dritten und der achten Phase in dieser Darstellung keine Beachtung geschenkt, da sie bei diesem Krankheitsbild irrelevant sind. Da die Betroffenen oder deren Eltern auf Grund bestehender Auffälligkeiten die Hilfe von Fachleuten suchen, kann man auch in der Vorphase von bestehenden Symptome bestehen. Die ersten Symptome zeigen sich durchschnittlich im Alter von 6,7 Jahren. Die zweite Phase der Krankheitsverlaufskurve stellt die Diagnostik dar und den Beginn der Verlaufskurve mit dem Beginn möglicher Interventionen. Eine Diagnose einer chronischen Erkrankung stellt für viele Menschen eine grundlegende Veränderung im gesamten Lebenslauf dar. Auf emotionaler Ebene kann es zu Gefühlen von Angst oder Gleichgültigkeit kommen (Müller-Vahl, 2010, S.38). Für Betroffene des TS ihre Eltern stellt die Diagnose oft ein Stück Bewältigung dar, weil in dieser Phase Erleichterung entstehen kann. Zu wissen, was der Auslöser oder der Grund für das Verhalten ist. Um die Diagnose eines TS zu sichern, werden Tics von anderen Krankheiten abgegrenzt um auszuschließen, dass die Symptomatik z.B. auf Chorea Hungtington, Spasmen oder einen Tremor zurückzuführen sind. Darüber hinaus wird das Vorhandensein von Komorbidiäten untersucht. Beispielsweise ADHS, Angststörungen oder OCD (Müller-Vahl, 2010, S.88).
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