Franz Kafka- Das Urteil
Die Erzählung „Das Urteil“ von Franz Kafka handelt von der Beziehung zwischen Vater und Sohn. Der Junge Kaufmann Georg Bendemann sucht, nachdem er einen Brief an einen Freund in Russland geschrieben hat, den Vater auf. In dem Brief an den Freund erzählt er ihm endlich von seiner Verlobung mit Frieda Brandenfeld. Auch sein Besuch beim Vater beruht auf dem Wunsch von diesem den Segen zur Verlobung zu bekommen. Als er das Zimmer des Vaters betritt, in dem er seit Monaten nicht gewesen war, merkt er, wie sehr er den Vater, dessen
Geschäft er fast vollständig übernommen hat, vernachlässigt. Im Verlauf des Gesprächs mit dem Vater kommt es zum Streit. Der Vater wirft Georg zunächst vor, er habe keinen Freund in St. Petersburg, um ihn dann anzuklagen, er hinterginge diesen Freund. Georg gelingt es dem Vater die verschmutzte Kleidung auszuziehen und ihn ins Bett zu bringen. Dies scheint den Vater zunächst zu beruhigen, dann springt er jedoch im Bett auf und fährt mit den Beschimpfungen fort. Hierbei verunglimpft er u.a. die Verlobte Georg, indem er mit obszönen Gesten die Gründe für die Verlobung darstellt. Am Ende der Erzählung verurteilt der Vater Georg zum Tod durch Ertrinken. Dieser verlässt daraufhin fluchtartig die Wohnung und stürzt sich von einer nahegelegenen Brücke in den Fluss.
Die Hauptfiguren der Erzählung sind Georg Bendemann und der Vater. Eine weitere Rolle spielen der Freund in St. Petersburg, die Verlobte Georgs Frieda Brandenfeld und die verstorbene Mutter Georgs.
Über Georg Bendemann erfährt der Leser, dass dieser ein junger, erfolgreicher Kaufmann ist. Er führt die Geschäfte des Vaters mit großem Geschick und verkehrt in den besseren Kreisen der Stadt, was die Verlobung mit Frieda Brandenfeld, „einem Mädchen aus einer wohlhabenden Familie“(S.11, zweiter Absatz) beweist. Georg lebt seit dem Tod der Mutter allein mit dem Vater in einer Wohnung, stellt aber selbst fest, dass er diesen seit Monaten nicht in dessen Zimmer besucht hat, da er ihn ja ständig im Geschäft antrifft. (S.12) Er ist daher erschrocken über die Dunkelheit und die Verwahrlosung, die in dessen Zimmer herrscht. Ihm wird bewusst, dass über die Führung des Familiengeschäfts das persönliche Interesse für den Vater in den Hintergrund geraten ist. (S.15/16) er nimmt sich daher vor, in Zukunft besser für den Vater zu sorgen. Zu Beginn der Erzählung zeichnet Kafka so das Bild eines entschlossenen, selbstsicheren und unabhängigen jungen Mannes, der erfolgreich seine Geschäfte führt und mit hohem Lebensstandard zu leben scheint. Diese Charakterisierung Georgs ist jedoch nur oberflächlich, was die weitere Entwicklung der Erzählung zeigt. IM Streitgespräch mit dem Vater wird deutlich, dass Georg trotz scheinbarer Unabhängigkeit auf das Urteil des Vaters angewiesen ist. So erhofft er sich die Zustimmung des Vaters zu seiner Verlobung zu erlangen, die dieser ihm jedoch nicht gibt. Weiterhin wird hier deutlich, dass Georgs geschäftlicher Erfolg auf der Arbeit des Vaters beruht. Dies führt bei Georg zu den bereits erwähnten Schuldgefühlen gegenüber dem Vater. So ist Georg Bendemann bei näherer Betrachtung nicht sehr selbstsicher und in jeder Beziehung abhängig vom übermächtigen Vater. Dies zeigt sich auch überdeutlich im Schluss der Erzählung. Georg nimmt das Urteil des Vaters, er habe zu ertrinken, unmittelbar an und stürzt sich in den nahen Fluss. Dadurch ist nachgewiesen, dass die Meinung und die Autorität des Vaters für den jungen Mann über dem eigentlichen Leben stehen.
Ebenso wie Georg ist der Vater in der vorliegenden Erzählung ein sehr widersprüchlicher Charakter. Seine wichtigste Eigenschaft scheint in der Rolle des Vaters zu liegen, was daran deutlich wird, dass Kafka ihn nicht bei einem Namen nennt, sondern nur mit dem Titel erwähnt. Die Entwicklung des Vaters verläuft entgegengesetzt der Georgs. Zu Beginn der Erzählung wird der Vater als schwächlicher, alter Mann kennensgelernt, den der Tod der Ehefrau sehr mitgenommen zu haben scheint. (S.9)
Dies führt auch dazu, dass er die Geschäfte verstärkt dem Sohn überlässt und immer „zurückhaltender“ (S.9) wird. Dies zeigt sich auch auf privater Ebene durch den Rückzug in ein dunkles Zimmer an einem hellen Vormittag. Trotz der Schwierigkeiten, die Vater und Sohn miteinander zu haben scheinen, zeigt sich der Vater erfreut über den Besuch des Sohnes. Innerhalb des Gesprächs werden jedoch rasch die latenten Vorwürfe offenkundig. Der Vater beschuldigt Georg sein Geschäft an sich gerissen zu haben und hierbei ihn selbst vernachlässigt zu haben. Weiterhin wird im Streitgespräch von Vater und Sohn deutlich, dass mit abnehmender Autorität des Sohnes der Vater zusehends an Stärke und Macht gewinnt. Er erlangt so seine Position innerhalb der Kleinstfamilie, die Vater und Sohn darstellen, zurück. Dies führ soweit, dass er gegen Ende der Erzählung berechtig ist über Georg und sogar über dessen Leben zu urteilen.
Die Mutter wird in der Erzählung zwar einige Male erwähnt, dient jedoch, da sie seit zwei Jahren tot ist, nur zur Erklärung der Verhaltensweisen des Vaters. Weiterhin nutzt dieser die Mutter als Druckmittel gegenüber Georg, indem er diesem vorwirft ihr „Andenken geschändet“ zu haben. Zusätzlich behauptet er gegenüber Georg die Partei der Mutter mit zu vertreten. Er stellt hervor, dass die Mutter ihm „ihre Kraft abgegeben“ habe und er dadurch und durch die Verbindung mit dem Freund weiterhin der Stärkere bleibt. Der Freund spielt insofern eine wichtige Rolle in der Erzählung, als dass er der Anlass für die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn ist. Der Leser erfährt, dass dieser Freund Georgs auf der Suche nach guten Geschäften nach Russland ausgewandert ist. Ihm scheint es jedoch eher schlecht ergangen zu sein, was Grund für das Zögern Georgs ihm von seiner glücklichen Lage zu berichten ist. Im Verlauf der Konfrontation zwischen Vater und Sohn zeichnet sich eine Widersprüchlichkeit im Verhalten des Vaters in Bezug auf Georgs Freund ab. Dieser behauptet zunächst nichts von einem Freund im Ausland zu wissen, um dann später zu behaupten sich mit diesem verbündet zu haben. Dies geschieht jedoch erst, nachdem er Georg vorgeworfen hat, es gäbe gar keinen Freund in St. Petersburg und Georg täusche nur vor Briefe an diesen zu schreiben. Da Georg auf die verschiedenen Behauptungen des Vaters nicht einzugehen scheint, bleibt die wahre Identität des Freundes im Dunkeln. Dies ist jedoch nicht hinderlich für die Gesamterzählung, da der Freund hauptsächlich als Mittel innerhalb des Vater-Sohn-Konfliktes anzusehen ist. Gleiches gilt für die Verlobte Georgs, über die der Leser lediglich erfährt, dass sie aus einer neu in die Stadt gezogenen, recht wohlhabenden Familie stammt.
Im Mittelpunkt der Erzählung steht somit die Beziehung zwischen Georg und seinem Vater. Wichtig ist hierbei in erster Linie die Tatsache, dass Georg innerhalb der Familie die Position des Vaters übernommen hat. Dies gilt sowohl auf geschäftlicher Ebene als auch auf rein privater. Geschäftlich lässt sich Georg auch vor seinem Vater als Chef titulieren und trifft wichtige Entscheidungen ohne dessen Urteil. Privat zeigt sich Georgs Vorherrschaft u.a. in der Verteilung der Zimmer. Während Georg in einem schönen sonnigen Vorderzimmer, dass auf die belebte Straße blickt, residiert, wohnt der Vater in dem durch einen kleinen dunklen Gang mit dem Rest der Wohnung verbundenen Hinterzimmer. Dieses blickt auf den Hinterhof des Hauses und wird auch bei schönem Wetter von einer Hauswand beschattet. Die augenscheinliche Dominanz Georgs ist jedoch sehr zerbrechlich und es fällt dem Vater äußerst leicht mit geeigneten Mitteln wieder an die Macht zu gelangen. Hierbei zeigt sich, dass er den Sohn lediglich hat gewähren lassen, im Verborgenen jedoch weiterhin die Fäden zog. Die Macht des Vaters führt am Ende zur Aufgabe der Dominanz von Georgs Seite aus. Diese Aufgabe von Dominanz führt bis hin zur Selbstaufgaben und in Verbindung mit den Schuldgefühlen Georgs zur freiwilligen Beendigung des eigenen Lebens. Die Betrachtung der Charaktere und ihrer Beziehung zueinander ist immer Teil der werkimmanenten Interpretation literarischer Texte. Sie ist weiterhin stets Voraussetzung für weitere Interpretationsansätze. Aus Tagebucheinträgen Kafkas geht deutlich hervor, dass er sich ausgiebigst mit Sigmund Freud beschäftigte. Daher ist in Bezug auf sein Werk die
psychoanalytische Interpretation durchaus legitim. Kafka hat sogar in direktem Bezug auf die Erzählung „Das Urteil“ in seinem Tagebuch vermerkt: “Freud natürlich.“ Dies lässt darauf schließen, dass ihm die Freudschen Theorien auch während des Schreibens bewusst gewesen sind.
In Bezug auf „Das Urteil“ bedeutet das, dass er in der Beziehung zwischen Vater und Sohn die von Freud aufgestellten Behauptungen widerspiegelt. So zeigt sich der Ödipus-Komplex in Georgs verhalten gegenüber dem Vater. Nachweis hierfür ist das Verdrängen des Vaters aus seiner angestammten Position und der, sich durch die gesamte Erzählung ziehende, Konkurrenzkampf mit dem Vater. Der Wunsch den Vater auszuschalten wird sehr deutlich in dem Wunsch Georgs, der Vater möge sich vorbeugen, fallen und zerschmettern. Hier geht die Konkurrenz mit dem Vater demnach so weit, dass Georg diesem den Tod wünscht, um seine Position dauerhaft annehmen zu können. Dies ist weiterhin eine Parallele zur Antiken ÖdipusSage, in der Ödipus den Vater tatsächlich umbringt. Kafka geht hier demnach noch über Freuds Definition des Ödipus-Komplexes hinaus. Letzterer übernimmt in seine Theorie lediglich die prinzipielle Konkurrenz und de Neid auf den Vater.
Weiter Parallelen lassen sich zwischen der Erzählung und Kafkas eigener Biographie ziehen. Diese Methode der Interpretation nennt sich demnach auch biographischer Interpretationsansatz. Hierbei steht wieder das in der Erzählung zentralisierte Vater-Sohn- Verhältnis im Vordergrund. Kafka selbst hatte ein äußerst schwieriges Verhältnis zum Vater. Dies zeigt sich u.a. auch in seinem „Brief an den Vater“. Hierin beklagt sich Kafka über die Autorität und Übermacht der Vaterfigur. Ebenso wie Georg Bendemann hat auch Kafka eine Zeitlang die Geschäfte des Vaters geführt. Auch im Motiv der Verlobung zeigt sich eine Parallele zu Kafkas Leben. Er schreib die Erzählung „Das Urteil“ in einer einzigen Septembernacht des Jahres 1912. Zu diesem Zeitpunkt hatte er seine spätere Verlobte Felice Bauer bereits kennengelernt. Ihr ist die Erzählung auch gewidmet. In der Verlobung mit Frieda Brandenfeld sucht Georg in der Erzählung die endgültige Loslösung vom Vater. Er versucht die Übermacht des Vaters dadurch aufzubrechen, dass er selbst in die tatsächliche Rolle eines Vaters und Familienoberhauptes schlüpft. Ähnliches hat auch Kafka in seine eigenen Verlobungen wiederholt versucht.
Im gleichen Maße wie der Vater Georgs diese Verlobung ablehnt, scheint auch Kafkas eigener Vater dessen Heiratsversuche abgelehnt zu haben. Dies bemerkt Kafka u.a. in seinem „Brief an den Vater“ Es mag für Kafka ein Grund gewesen sein, der zum Scheitern der Verlobungen mit Felice Bauer und der Verlobung mit Julie Wohryzek geführt hat. Ebenso wie Georg ist Kafka der Autorität des Vaters nicht gewachsen und gibt den Wunsch sich z verloben auf.
Auch im Freund ist eine Parallele zu Kafkas Leben zu ziehen, da Kafka viele Freunde hatte, mit denen er im Briefkontakt stand. Da die meisten dieser Freunde aus dem Künstler- und insbesondere dem Schriftstellermilieu stammte, wurden auch sie von Kafkas Vater abgelehnt. Kafka selbst hat in seinen Tagebüchern den Bezug auf sein eigenes Leben zugestanden. Er fand allein in den Namen der Hauptcharaktere bereits Analogien zu den Namen der für sein Leben relevanten Personen. So entsprechen zum Beispiel die Initialen der Verlobten Georgs, den Initialen Felice Bauers. Weiterhin sieht Kafka seinen eigenen Namen über Buchstabenzahl und Vokalfolge im Namen Georg Bendemann repräsentiert, wobei das „- mann“ im Nachnamen als mitleidige Beisilbe verstanden werden soll. Mit der Erzählung „Das Urteil“ schaffte Kafka einen ersten Durchbruch als Schriftsteller. Da das Schreiben für ihn auch Unabhängigkeit vom Vater bedeutete, konnte er sich somit ein Stück weit von dessen Autorität entfernen. Dies stellt er auch in späteren Briefen fest, in denen er bemerkt, dass mit der Erzählung die Wunde des Konfliktes mit dem Vater zum ersten Mal aufbrechen konnte. Gerade das Verhältnis zu einem übermächtigen Vater zieht sich als Motiv durch Kafkas gesamtes Werk und ist auch in der Erzählung die Verwandlung zu finden.
- Arbeit zitieren
- Mina Carolina Hinsch (Autor:in), 2001, Kafka, Franz - Das Urteil - Analyse der Erzählung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105443