Zu den grundlegenden Tätigkeitsfeldern der Europäischen Union gehört gemäß Art. 3 I lit. g EGV1 die Schaffung eines Systems, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt. Nach Art. 4 I EGV sind die Mitgliedstaaten und die Europäische Gemeinschaft bei ihrer Tätigkeit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet. Dem Ziel eines freien Wettbewerbs dienen die Kartellrechtsvorschriften der Art. 81, 82 EGV und Art 65, 66 EGKS2. Auf der Ebene des sekundären Gemeinschaftsrechts hat der Rat mit der Fusionskontroll-Verordnung (FusKontrVO) von 1989 einen gemeinschaftsrechtlichen Ordnungsrahmen für Unternehmenszusammenschlüsse geschaffen. Problematisch erweist sich die Anwendung dieses Wettbewerbsrechts. So gibt es auf der einen Seite die zentrale Anwendung durch die Generaldirektion IV der Europäischen Kommission, auf der anderen Seite die nationalen Behörden und Gerichte, die das europäisches Wettbewerbsrecht dezentral anwenden. Somit stellt sich die Frage nach der Rechtsanwendungskonkurrenz, das heißt, die Frage, nach zentraler oder dezentraler Anwendung des Gemeinschaftsrecht. Dies ist das Thema der folgenden Arbeit.
Gliederung
A. Einleitung
B. Regelungen zur Rechtsanwendungskonkurrenz
I. Fusionskontrolle
II. EGV
III. EGKS
IV. Euratomvertrag
C. Dezentrale Anwendung
1. Anwendung durch die nationalen Gerichte
a. Aktuelles Verfahren
b. Probleme dieses Systems
aa. Auslegung
bb. Gruppenfreistellung, Einzelfreistellung
cc. Negativattest
dd. Verwaltungsschreiben, comfort letter
ee. Schlußfolgerung
c. Weißbuch
2. Anwendung durch die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten
a. Aktuelles Verfahren
aa. Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten
bb. Fälle von überwiegend nationaler Bedeutung
cc. Fälle, mit denen die Kommission als erste befaßt war
dd. Fälle, mit denen eine nationale Behörde als erste befaßt war
ee. Schlußfolgerung
b. Weißbuch
D. Gesamtbetrachtung, Blick in die Zukunft
A. Einleitung
Zu den grundlegenden Tätigkeitsfeldern der Europäischen Union gehört gemäß Art. 3 I lit. g EGV[1] die Schaffung eines Systems, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt. Nach Art. 4 I EGV sind die Mitgliedstaaten und die Europäische Gemeinschaft bei ihrer Tätigkeit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet. Dem Ziel eines freien Wettbewerbs dienen die Kartellrechtsvorschriften der Art. 81, 82 EGV und Art 65, 66 EGKS[2]. Auf der Ebene des sekundären Gemeinschaftsrechts hat der Rat mit der Fusionskontroll-Verordnung (FusKontrVO) von 1989 einen gemeinschaftsrechtlichen Ordnungsrahmen für Unternehmenszusammenschlüsse geschaffen.
Problematisch erweist sich die Anwendung dieses Wettbewerbsrechts. So gibt es auf der einen Seite die zentrale Anwendung durch die Generaldirektion IV der Europäischen Kommission, auf der anderen Seite die nationalen Behörden und Gerichte, die das europäisches Wettbewerbsrecht dezentral anwenden. Somit stellt sich die Frage nach der Rechtsanwendungskonkurrenz, daß heißt, die Frage, nach zentraler oder dezentraler Anwendung des Gemeinschaftsrecht. Dies ist das Thema der folgenden Arbeit.
B. Regelungen zur Rechtsanwendungskonkurrenz
Teilweise wurde diese Problematik der Rechtsanwendungskonkurrenz gesetzlich geregelt.
I. Fusionskontrolle
So wurde im Bereich der Fusionskontrolle von europäischer Bedeutung mit der VO 4064/89 (FusKontrVO) eine Regelung auch zur Rechtsanwendungskonkurrenz geschaffen. Nach Art. 21 I, II FusKontrVO ist die Kommission für Unternehmenszusammenschlüsse auf europäischer Ebene zuständig. Unter den Voraussetzungen des Art. 9 III lit. b FusKontrVO kann die Kommission den Fall an die zuständige Wettbewerbsbehörde des jeweiligen Mitgliedstaates verweisen, die den Fall dann nach nationalem Recht behandelt. Das Gemeinschaftsrecht tritt in solchen Fällen zugunsten des nationalen Rechts zurück, so daß es dann nicht um dezentrale Anwendung des Gemeinschaftsrechts geht, sondern um die Anwendung des nationalen Rechts in einem Fall, der an sich gemeinschaftsweite Bedeutung hat, aber einen räumlichen Referenzmarkt aufweist[3].
Eine Abgrenzung von Gemeinschafts- und nationalem Recht erfolgt gemäß Art. 1 FusKontrVO. Danach unterfallen alle Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung, daß heißt, von bestimmten Größen (Schwellenwerten) nach den Absätzen 2 und 3 dem EG-Recht.
II. EGV
Zu den Wettbewerbsregeln der Art. 81, 82 EGV bestand mit Inkrafttreten am 1.1.1958 mit Art. 84 EGV zunächst eine Regelung zur Rechtsanwendungskonkurrenz. Danach waren allein die Mitgliedstaaten zuständig, über Verstöße gegen Art. 81, 82 EGV und die Erteilung von Freistellungen nach Art. 81 III EGV zu entscheiden. Das Bundeskartellamt hatte in der Zeit bis 1962 ein Verkaufssyndikat und drei Patentlizenzvereinbahrungen freigestellt[4].
Mit der auf Grundlage des Art. 83 I EGV erlassenen VO 17/62 änderte sich die ursprüngliche Regelung. Durch diese Verordnung sollte ein System geschaffen werden, welches den Wettbewerb innerhalb des gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen schützt. Voraussetzung dafür war die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Aufgrund der, in den Anfangsjahren des EGV, zum großen Teil fehlenden Erfahrung mit dem Wettbewerbsrecht und auch fehlenden Wettbewerbsbehörden in den einzelnen Mitgliedstaaten kam nur eine zentrale Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts in Betracht.
Die Behörden der Mitgliedstaaten blieben deshalb nach Art. 9 III VO 17/62 nur so lange zuständig, Art. 81 I und 82 EGV nach Art. 84 EGV anzuwenden, bis die Kommission nach Art. 2 (Negativattest), 3 (Untersagung) oder 6 (Freistellung)VO 17/62 ein Verfahren einleitete. Mit der Einleitung lag dann die Kompetenz ausschließlich bei der Kommission. Für die Freistellung nach Art. 81 III EGV wurde gemäß Art. 9 I VO 17/62 ausschließlich die Kommission zuständig.
Im Bereich Verkehr wurden aufgrund des besonderen Marktes einige Sonderverordnungen erlassen. So nahm die VO Nr. 141/1962 den Verkehr aus dem Anwendungsbereich der VO 17/62 so gut wie ganz heraus, um später den gesamten Bereich durch Sondervorschriften zur Konkretisierung von Art. 81 I EGV und Freistellungsverordnungen zu regeln. Dieses Bereiche waren der Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffs-, See und Luftverkehr. Nach Art. 5, 6 VO 1017/68 besitzt die Kommission die ausschließliche Kompetenz zur Freistellung und Mißbrauchsaufsicht[5]. Sobald die Kommission ein Verfahren eingeleitet hat, konzentrieren sich die Zuständigkeiten bei ihr.
III. EGKS
Nach 305 I EGV haben die Wettbewerbsregeln des EGKS-Vertrags als Spezialvorschriften Vorrang vor den Wettbewerbsregeln des EGV[6]. Obwohl das Kartellrecht des EGKS in mancher Hinsicht von den Art. 81ff EGV abweicht, betont der EuGH[7] die Einheit der Gemeinschaftsverträge, so daß man dank seiner Rechtsprechung von einem europäischen Kartellrecht sprechen kann, das aus zwei sich ergänzenden Regelungen besteht[8]. Nach den Art. 65, 66 EGKS wendet die hohe Behörde die Regelungen des EGKS an.
IV. Euratomvertrag
Da der Euratomvertrag keine Wettbewerbsregeln enthält, gelten in vollem Umfang die Art. 81, 82 EGV[9].
C. Dezentrale Anwendung
Mit der VO 17/62 und der gleichzeitig mit dem Bosch-Urteil[10] beginnenden Rechtsprechung zur unmittelbaren Anwendung des Wettbewerbsrechts durch die Mitgliedstaaten, waren die Probleme zur Anwendung der Wettbewerbsregeln zunächst geklärt.
Aufgrund der fortschreitenden Integration des europäischen Binnenmarktes und der weiten Auslegung der Zwischenstaatlichkeitsklausel durch Kommission und EuGH[11] haben sich die Fälle, die unter die gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsregeln fallen, ständig erhöht. Dadurch ist die Arbeitsbelastung der Kommission beträchtlich gewachsen. Mit dem Beitritt weiterer Staaten zur Europäischen Union wird sich diese Situation noch verstärken.
Aufgrund dieser, auch durch Maßnahmen wie der Verbesserung des Verfahrens oder Gruppenfreistellungsverordnungen, nicht zu verhindernden Tendenz und dem Ausbau der nationalen Behörden kam es in neuerer Zeit erneut zur Diskussion über die dezentrale Anwendung des EG-Kartellrechts. Insbesondere haben der Gerichtshof durch seine Delimitis-Entscheidung[12] und die Kommission durch zwei Bekanntmachungen[13] versucht, der dezentralen Rechtsanwendung neue Impulse zu geben.
Zu unterscheiden ist dabei zwischen der dezentralen Anwendung durch die nationalen Gerichte und die nationalen Behörden.
1. Anwendung durch die nationalen Gerichte
a. Aktuelles Verfahren
Der EuGH hatte in seiner Delimitis-Entscheidung bestätigt, daß der nationale Richter die Möglichkeit zur unmittelbaren Anwendung des Art. 81 I, 82 EGV besitzt[14]. Betroffene können sich bei Verstößen gegen das europäische Wettbewerbsrecht an die nationalen Gerichte wenden und diese müssen das EG-Recht wie das innerstaatliche von Amts wegen berücksichtigen[15]. Eine nur zentrale Anwendung des EG-Rechts würde bedeuten, daß dem einzelnen Rechte im zivilrechtlichen Streit vor den nationalen Gerichten genommen werden, die ihm aufgrund des Vertrages zustehen[16]. Aufgrund des Fehlens einer gemeinschaftsrechtlichen Zivilgerichtsbarkeit, wendet der nationale Richter deshalb auch bei der Berücksichtigung des EG-Wettbewerbsrechts sein nationales Verfahrensrecht an. Er ist dabei jedoch an das Interpretationsmonopol des Europäischen Gerichtshofs für den EGV gemäß Art. 234 EGV gebunden.
In Deutschland bestimmt sich die Zuständig des nationalen Kartellgerichts seit der 5. GWB-Novelle nach den §§ 87 ff. GWB.
Noch komplizierter wird dieses Rechtsanwendungssystem dadurch, daß das europäische Wettbewerbsrecht nicht nur aus den Verboten der Art. 81 I, 82 EGV besteht, sondern die Kommission ein Freistellungsmonopol für bestimmte Fälle hat. Das heißt, der nationale Richter hat zu klären, ob eine Vereinbarung dem Kartellverbot des Art. 81 I EGV unterliegt und ob keine Gruppen- oder Einzelfreistellung für diesen Fall durch die Kommission erteilt wurde. Er ist jedoch nicht befugt, selbst Unternehmen nach Art. 81 III EGV freizustellen[17]. Begründet wurde dies mit der zu komplexen Beurteilung wirtschaftlicher Art bei der Erteilung von Freistellungen und der Gefahr für die Rechtssicherheit[18].
[...]
[1] Aufgrund der Änderungen im EGV durch Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam am 1.1.1993 und des GWB durch die 6. GWB-Novelle sind zur Übersichtlichkeit folgend in allen Zitaten die neuen Normen genannt
[2] Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) = Montanunionsvertrag (MUV)
[3] Bunte in DB 1994, 921, 922
[4] BKartA WuW/E 25, 241, 254, 465
[5] Immenga/Mestmäcker - Basedow S. 2027
[6] Immmenga/Mesrmäcker - Rehbinder S. 54 Rdnr. 6, Groeben - Schröter vor Art. 85 Rdnr. 24 ff.
[7] EuGH „Ruhrkohlenverkauf“, Sgl. 8, 214, 477
[8] Rittner § 5 Rdnr. 100
[9] Immmenga/Mesrmäcker - Rehbinder S. 54 Rdnr. 6; Groeben - Schröter vor Art. 85 Rdnr. 28 ff.
[10] EuGH „De Geus/Bosch“, Sgl. 1962, 97, 117, später noch EuGH „BRT/SABAM“, Sgl. 1974, 51, 62
[11] EuGH „Maschinenbau Ulm“, Slg. 1966, 281, 303; „Consten/ Grundig“, Slg. 1966, 322, 389; „BNIC/Clair“, Slg. 1985, 391
[12] EuGH „Delimitis/Henninger Bräu“, Sgl. I 1991, 935
[13] Bekanntmachung über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Art. 85 und 86 des EWG-Vertrags (Komm 1. BM); Bekanntmachung über die Zusammenarbeit der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten bei der Bearbeitung von Fällen im Anwendungsbereich der Art. 85 und 86 EGV (2. BM)
[14] EuGH „Delimitis/Henninger Bräu“, Sgl. I 1991, 935, 977
[15] EuGH „van Schijndel“, EuZW 1996, 542f.
[16] EuGH „BRT/SABAM“, Sgl. 1974, 51, 72
[17] EuGH „Delimitis/Henninger Bräu“, Sgl. I 1991, 935, 991f.
[18] Komm XXIII 1993, Rdnr. 190; XXIV 1994 Rdnr. 26
- Quote paper
- Dr. Mathias Hildebrandt (Author), 2000, Zentrale versus dezentrale Anwendung des europäischen Kartellrechts, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/10523
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