Peter Høeg- Der Plan von der Abschaffung der Zeit
Der Roman Der Plan von der Abschaffung der Zeit erschien im Januar 1995 im Münchener Carl Hanser Verlag. Die Originalausgabe aus dem Jahre 1993 mit dem Titel De M å ske Egnede wurde von Angelika Gundlach aus dem Dänischen übersetzt. Das Buch erzählt eine Geschichte mit vielen autobiographischen Elementen, die einen näheren Blick auf den Autor und sein Schaffen erfordert.
Peter Høeg kam 1957 in Kopenhagen als Sohn einer Lateinlehrerin und eines Privatjuristen zur Welt. Seine frühen schulischen Stationen werden im Roman detailliert geschildert. Das Abitur erwarb er 1976 am Gymnasium Fredriksberg in Christianshavn. Es folgte der Beginn des Studiums der Literaturwissenschaften, doch war die Universität für ihn ein „schrecklicher Ort, weil sie ausschließlich an den Kopf appelliert“1. So fuhr er mit fünfundzwanzig Jahren zur See und entdeckte seine Leidenschaft am Schreiben. „Ich erlebte beim Schreiben eine solche Befriedigung. Das war wie die Entdeckung der Erotik in der Pubertät. Als wäre ich zum ersten Mal verliebt.“2
Sein erstes Werk, Vorstellung vom zwanzigsten Jahrhundert, wurde erst vier Jahre nach der Fertigstellung veröffentlicht. 1984 machte er den Magister Artium Abschluß in Literaturwissenschaft an der Universität Kopenhagen. Sein Multitalent bewies er mit einer Ausbildung zum Schauspieler und Tänzer in Schweden und Paris.
Den Lebensunterhalt verdiente er sich eine Zeit lang mit Gelegenheitsarbeiten. Peter Høeg fuhr wieder zur See, jobbte als Schauspieler und Tänzer und unterrichtete an der Volkshochschule und der Universität in Odense. Mit seiner aus Kenia stammenden Frau Akiniyi hat Peter Høeg zwei Töchter. Er gründete die Høegsche Lolwe Stiftung, die Frauen und Kinder in Afrika und in tibetanischen Flüchtlingslagern Indiens unterstützt.
Bislang erschienen drei Romane mit großem internationalen Erfolg und ein Band mit Erzählungen. Der Romanthriller Fräulein Smillas Gesp ü r f ü r Schnee aus dem Jahre 1994 wurde von Bille August mit den Hauptdarstellern Julia Ormond und Jürgen Vogel verfilmt. Gekrönt wurden seine Arbeiten mit der Verleihung der Auszeichnung Der goldene Lorbeer, dem dänischen Buchhandelspreis.
„Im Leben von Menschen, in deinem und meinem, gibt es lineare Zeitabläufe, mit und ohne Anfang und Ende. Zustände und Epochen, die auftauchen, mit oder ohne Vorwarnung, und danach vorbei sind und nie mehr wiederkommen. Und es gibt Wiederholungen, Zyklen: schlechte und gute Zeiten, Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Ablehnung. Sie türmen sich immer wieder auf und sterben ab und kehren zurück. Und es gibt Blackouts, das vorübergehende Aufhören von Zeit. Und es gibt Zeitbeschleunigungen. Und plötzliche Zeitverzögerungen.
Es gibt eine überwältigend starke Tendenz dazu, wenn Menschen zusammen sind, eine gemeinsame Zeit zu bilden. Und es gibt alle erdenklichen Kombinationen, Mischformen und Übergangszustände zwischen all diesen. Und es gibt aufblitzende Momente der Ewigkeit.“3
Peter Høegs Der Plan von der Abschaffung der Zeit erzählt die wohl autobiographisch beeinflußte Geschichte einer Kindheit am Rande unserer Gesellschaft. Der Ich- Erzähler Peter (14 Jahre alt) kommt an ein Kopenhagener Internat und hat bereits sieben Waisenhäuser und Kinderheime hinter sich. Das bisherige Leben des zwölfjährigen Jungen war durchzogen von tragischen Erlebnissen und geprägt von Isolation, Dunkelheit und Sehnsüchten. Er gilt als minderbegabt und unfähig zu stabilen Gefühlsbeziehungen. Das Buch besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil schildert Høeg die Geschichte des schwererziehbaren Jungen und dessen Freundschaft zu zwei weiteren Internatskindern.
Katarina (16) und Peter nehmen sich dem kleinen August an und erschaffen sich so etwas wie einen Familienersatz. August steht wie einige Kinder an Biehls Privatschule ständig am Rande der Selbstzerstörung und unmotivierter Aggression. Peter sieht ihn als sein „Kind“ und unterstützt den hilflosen Jungen.
Die Bildungsstätte war angesehen und verlangte Schulgeld. Nicht jeder der wollte oder sollte bekam tatsächlich die Möglichkeit sie zu besuchen. Es existierten Wartelisten. Die Schüler wußten, daß die Schule keinen Grund hatte, jemanden zu halten. Ausschlüsse waren an der Tagesordnung und prompt wurde aus den Wartelisten aufgefüllt. Die Aufnahme des unselbständigen und kranken August erscheint in den Augen des Ich-Erzählers wie ein Zeichen:
„Doch daß sie August aufnahmen, war unerklärlich. Wenn sie schon Wartelisten hatten und niemanden zu halten brauchten. Warum nahmen sie dann einen wie ihn?“4
Diese Erkenntnis war Zeichen und Auslöser zugleich. Peter war bereits lange vorher überzeugt, daß es eine Plan gibt, doch bekam er nun erste sichtbare Züge. Der Erzähler versucht der durchorganisierten Überwachungsstrategie des Internats auf den Grund zu gehen und legt nach und nach ein ausgeklügeltes System aus Kontrolle und Manipulation frei. Zu Katarina entwickelt der zwei Jahre jüngere Peter eine zarte, ergreifende Liebesbeziehung. Der Kontakt zwischen beiden war nie gestattet, doch durch Täuschungen und listige Vorgehensweisen finden sie zueinander.
Ihre kurzen und intensiven Begegnungen sind jedoch nicht durch Liebesbekundungen oder gar Leidenschaft gekennzeichnet. Die zugesteckten Briefe zeigen keinen Herzchen oder Gedichte. Ihre Liebe geht tiefer und wird durch ein gemeinsames Ziel getragen: Katarina und Peter wollen dem Plan auf den Grund zu gehen, denn auch Katarina ist Zeugin der Erziehungsexperimente und beide ergänzen sich in ihren Vermutungen.
Was hat es mit den verschärften Sicherheitsmaßnahmen und den psychologischen Tests auf sich? Warum haben alle Lehrer ihre eigenen Kinder von der Schule genommen?
Die anfangs wagen Theorien der beiden treffen sich von Beginn an in der gemeinsamen Feststellung, daß die Zeit eine wichtige Rolle spielt. Der Plan von der Abschaffung des Dunkels wird immer konkreter. Es war der einer Integration aller Schülertypen in einer Bildungsanstalt. Tyrannei und Isolation sind die Mittel, die durch Direktor der Schule und den anderen Lehrern auf teilweise sadistische Weise eingesetzt werden.
Katarina und Peter stellen fest, daß ihre Zeit an der Privatschule festliegt und absolut vorbestimmt ist:
„Nur wenige Male wird man im Zweifel sein, wo man sich aufhalten und was man machen soll, sehr wenige Stunden insgesamt, wo man selber entscheidet.“5
Peter sieht sich in schmale Tunnel gefangen, die den Weg dirigieren und keinen Abzweig möglich machen.
So eingeengt sehnt sich der Erzähler nach dem Zeitempfinden von Kindern und berichtet beeindruckt von dem fehlenden Zeitverständnis anderer Völker wie den Mauren in Ghana.
Ein gescheiterter Fluchtversuch, der Tod Augusts, die endgültige Trennung von Katarina und die Versetzung in eine Jugendstrafanstalt führen fast zur völligen Selbstaufgabe Peters, bis er sich durch einen genialen Trick die Möglichkeit verschafft, adoptiert zu werden.
Im zweiten Teil des Buches reflektiert der Erzähler über die Ereignisse, wobei er das Schreiben als Experiment bezeichnet und sein Schreibzimmer als Laboratorium, in dem diese Verhältnisse erforscht werden. Der zweite Teil des Buches scheint wie eine Sinnsuche und bringt dem Leser die philosophische Theorie für die Geschehnisse im ersten Teil. Die Uhr als Zeitmessungsgerät und die immer komplizierter werdende Gesellschaft mit ihrer kapitalistischen Ideologie sind für die totale Ordnung verantwortlich: „Wir wurden so streng festgehalten, wie man jemanden mit einer Uhr halten kann.“6
Zahlen bildeten die Grundlage: sie beurteilten die Leistungen, ordneten den Schultag durch den Stundenplan und bewiesen durch unendliche Akten und Übersichten über die Vergangenheit, daß das System funktionierte. Jeder Mensch ist in seinem eigenen Wahrnehmungapparat eingesperrt und hinter ihm isoliert. Das zwangsläufig folgende Fazit Høegs lautet, daß der Mensch im Grunde genommen allein ist.
Peter Høeg hat es, wie ich meine, geschafft die Anklage an ein unmenschliches Schulsystem, die philosophische Betrachtung der Zeit und seine autobiographischen Erfahrungen in einem Buch zusammenzuführen. Nebenbei erzählt er noch eine ergreifende Liebesgeschichte, die mit einer wunderschönen Beschreibung des ersten Kuß ihren anrührenden Höhepunkt findet.
Übernommen hat er sich mit dieser Aufgabe aus meiner Sicht wahrlich nicht, doch kann ich mir sehr gut vorstellen, daß viele Leser seines Romans Fräulein Smillas Gespür für Schnee aufgrund der langen theoretischen Passagen überrascht waren keinen weiteren Krimi vorgesetzt zu bekommen. Denn leichte Lesekost ist Der Plan von der Abschaffung der Zeit mit Sicherheit nicht
[...]
1,2 Quelle: Autorenarchiv. Carl Hanser Verlag, München 1998
3 Peter Hoeg, Der Plan von der Abschaffung des Dunkels. München 1995, S. 269
4 Peter Hoeg, Der von der Abschaffung des Dunkels. München 1995, S. 35
5 Peter Hoeg, Der von der Abschaffung des Dunkels. München 1995, S. 81
6 Peter Hoeg, Der von der Abschaffung des Dunkels. München 1995, S. 237
- Quote paper
- Hendrick Schneider (Author), 2000, Hoeg, Peter - Der Plan von der Abschaffung des Dunkels, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105155
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.