INHALTSVERZEICHNIS:
1. EINLEITUNG
2. SEXUALITÄT, HOMOSEXUALITÄT UND EROTIK IM VIKTORIANISMUS
2.1 Die viktorianische Gesellschaft
2.2 Medicalization: wissenschaftliche Untersuchungen
3. SEXUELLE VIELFALT
3.1 in der Gesellschaft
3.2 Deutungsweisen im Roman: „Sexual Symbolism“
4. DER STOKER‘SCHE VAMPIRMYTHOS
5. SEXUELLE GEFAHR: ZUSAMMENHÄNGE ZWISCHEN DRACULAS DEGENERIERENDEM EINFLUßUND DER XENOPHOBIE IM ENGLAND DES VIKTORIANISMUS
6. ZUSAMMENFASSUNG
1. Einleitung
„Sex sells” ! Dieses Motto ist mittlerweile nicht nur bekannt sondern auch beliebt. Egal mit welchem Medium man sich auseinandersetzt, man ist heute auch immer auf der Suche nach diesem Quentchen Sex, das doch überall mehr oder weniger enthalten ist. Natürlich ist jedem in erster Linie daran gelegen, die Art oder auch mehrere Arten von Sexualität zu entdecken, die man selbst praktiziert, bzw. an der oder denen man Gefallen findet. Wie ich schon sagte, dies ist heutzutage der Fall. Aber wie verhält es sich mit Literatur aus vergangenen Zeiten und Kulturen? Es ist bekannt, daßin der Antike Sexualität ein bevorzugtes Thema für philosophische Gespräche war. Auch im Mittelalter waren erotische Geschichten ein beliebtes Unterhaltungsmittel1. Des weiteren bieten besonders Vampirerzählungen im weitesten Sinne Ansatzpunkte für eine Analyse mehr oder weniger impliziter erotischer und sexueller Thematik.
Die Kombination zweier Faktoren bewegte mich Bram Stokers „Dracula“ in dieser Hinsicht zu analysieren: die erotische Ausstrahlung des Vampirs und sexologische Ansätze in der Literatur. Mein Interesse hierbei liegt auch in der zeitgeschichtlichen Epoche des Viktorianismus. Besonders in Anbetracht der stark ausgeprägten Doppelmoral in Bezug auf Sexualität in dieser Zeit stellt sich die Frage, mit welcher Absicht - wenn es überhaupt eine Absicht des Autors gab - diese sexuelle Thematik in den Roman eingeflossen ist, in welchen Formen sie sich ausgeprägt hat und wie sie von der Leserschaft empfunden wurde. Über den ersten dieser Punkte kann man heute nur noch Vermutungen anstellen: zu unbekannt sind die Lebensumstände, Ansichten und Gewohnheiten Bram Stokers in Bezug auf Sexualität.
Während meiner Recherche ist mir bewußt geworden, daßman diesen Roman nicht nur oberflächlich nach simplen heterosexuellen oder pseudo- homosexuellen Konstellationen durchsuchen darf. Statt dessen mußman einen anderen Begriff mit in die Diskussion nehmen: sexuelle Vielfalt. Die sexuelle Vielfalt - wie sie heute in der Gesellschaft gesehen und akzeptiert wird - hat sich erst durch eine Reihe von emanzipatorischen Strömungen, wie zum Beispiel der Frauen- oder auch der Schwulenrechtsbewegung entwickelt. Ich will gerade deswegen nicht behaupten, daßim späten 19. Jahrhundert diese sexuelle Vielfalt bereits so lebendig wie heute war, wenn auch nicht von der Gesellschaft akzeptiert. Aber die wissenschaftlichen Bestrebungen Ende des 19. Jahrhunderts Erklärungen und somit auch „neue“ Namen zu finden für die bis dahin bekannten sexuellen Spielarten, scheinen mir doch von erheblichem Einflußauf die Gesellschaft gewesen zu sein. Und wenn diese Thematik in der Gesellschaft diskutiert wurde, scheint es mir logisch, daßsie ob bewußt oder unbewußt auf Bram Stoker und/oder seinen Roman Dracula eingewirkt hat. Ein weiterer Faktor, der mit Sicherheit in der Betrachtung der viktorianischen Gesellschaft eine Rolle spielt, ist der bevorstehende Jahrhundertwechsel und die Ängste, die sich daran knüpfen.
2. Sexualität, Homosexualität und Erotik im Viktorianismus
2.1 Viktorianische Gesellschaft
Das Fin de siècle im 19. Jahrhunderts schlug sich im Viktorianismus beispielsweise in Form von extremer Xenophobie nieder. Grundlegende Ängste, die wie John Allen Stevenson belegt auch durch Dracula widergespiegelt werden2, verursachten in der Gesellschaft eine starke Abneigung gegenüber allem Fremden, das die moralischen und gesellschaftlichen Werte stürzen könnte. Im Roman wird „Dracula“ als Wahrwerdung aller Befürchtungen des ‚Fin de siècle‘ dargestellt. Besonders die Darstellung seiner Aktivität, die hier vor allem in sexuellem Bezug zu lesen ist, zeigt ihn als „figure of huge potency“3 in praktisch jedem Wesenszug. Die hervorstechenden Merkmale der viktorianischen Gesellschaft in Bezug auf wie auch immer geartete Sexualität lassen sich mit folgenden Begriffen beschreiben: Prüderie, Repression und vor allem eine doppelte Sexualmoral. Die Gründe dafür liegen in der Vorstellung der Gesellschaft, daßder Sexualtrieb von Natur aus auf die Fortpflanzung und somit auf den Fortbestand der Rasse gerichtet ist.4 Jede andere Form sexuellen Interesses und sexueller Aktivität, die nicht der Reproduktion diente, war nicht gesellschaftsfähig und wurden deshalb im Heimlichen ausgelebt oder auch gänzlich unterdrückt. Die Gesetzgebung unterstrich dies beispielsweise 1885 durch das Verbot jeglicher Form von männlicher „Homosexualität“5. Obwohl man sich auch im Viktorianismus bewußt war, daßes andere Arten von Sexualität gab, wurden diese nie thematisiert, sondern pauschal unter dem Begriff der „perversion“ zusammengefaßt. Offiziell wurden sie verneint, denn schließlich war Sexualität zweckgebunden und jede nicht der Reproduktion dienende Spielart galt als widernatürlich. Diese Überzeugung würde erst in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts in Frage gestellt und neu diskutiert. Auslösend hierfür gilt der Fall „Oscar Wilde“. Letzerer wurde der widernatürlichen Unzucht beschuldigt. Im Laufe von drei Gerichtsverhandlungen wurden verschiedene Ansichten von Zweck, Nutzen und Rechtfertigung sexueller Aktivität angesprochen. Obwohl diese Verhandlung ein außerordentliches Interesse in der Bevölkerung erweckte und auch Diskussionen über ein Überdenken bestehender Vorstellungen anstieß, wurde Wilde nach geltendem Recht verurteilt. Die aufgeworfene Frage, was abnormale Sexualität eigentlich sei, fand in wissenschaftlichen Kreisen Anklang6. Es entwickelte sich ein besonderes Interesse in der Wissenschaft, die Vielfalt von Sexualität neu zu diskutieren und vor allem zeitgemäße wissenschaftliche Erklärungen und Benennungen zu finden. Diese Diskussion wurde mit dem Namen „medicalization“ belegt.
2.2 Medicalization: wissenschaftliche Untersuchungen
Es gab verschiedene Ansätze zur medicalization. Prominente Wissenschaftler, die sich um eine Diskussion bemühten waren Richard von Krafft-Ebing, Cesare Lombroso und Karl Heinrich Ulrichs7. Die ersten beiden schlossen ihre Untersuchungen mit dem Ergebnis, daßes sich bei perverts um Geisteskranke handelte. Krafft-Ebings Meinung basierte hierbei auf seiner Erfahrung als Neurologe und Psychiater, Lombroso betrachtete die Frage unter kriminal- anthropologischen Aspekten und kam zu dem Schluß, daßalle perverts pathologisch kriminell seien und daßsie in hohem Maße zur Degeneration der Gesellschaft beitrugen8. Ulrichs, hingegen, verstand gerade Homosexualität als ein drittes Geschlecht. Seine Erklärung besagt, daßes im Grunde darum geht, daßeine weibliche Seele im Körper des Mannes gefangen ist. Ulrich war der erste, der tatsächlich versuchte eine eigene Terminologie zu entwickeln. Er folgert, indem er Klassifizierungen nach der jeweiligen Wahl des Sexualobjekts anlegt, daßes neben Mannlingen (Homosexuelle, die weibische Männer bevorzugen) und Weiblingen (Homosexuelle, die sehr männliche Männer attraktiv finden), noch Zwischenurninge (Pädophile) und Uranodioninge (Bisexuelle) gibt. Seine gewählte Nomenklatur gibt die Möglichkeit auch noch weitere sexuelle Identitäten zu benennen, allerdings fand diese Sprache außerhalb wissenschaftlicher Diskussionen keine Beachtung.
Die oben genannten Erklärungsversuche sind aber auf jeden Fall von Bedeutung, wenn es um die Analyse der Hauptfigur dieser Untersuchung geht: Dracula. Hierbei spielt sowohl die Degeneration, die Dracula als Fremdkörper in der britischen Gesellschaft widerspiegelt, eine Rolle, als auch Ulrichs zeitgenössische Namengebung.
3. Sexuelle Vielfalt
3.1 in der Gesellschaft
Die Sexuelle Vielfalt, die ich schon in meiner Einleitung erwähnte, ist zwar ein Begriff des 20. Jahrhunderts, aber daßsie vorher bereits bestanden haben mußsteht außer Zweifel. Problematisch bei der Betrachtung und Diskussion von sexuellen Facetten, ihrer Entstehung und Entwicklung ist die kulturgeschichtliche Überlieferung. Was die viktorianische Gesellschaft als ‚abnormal‘ einstufte, wurde in anderen Kulturen (sowohl syn- als auch diachron gesehen), unter anderen Wert- und Moralvorstellungen betrachtet. Laut dem Anthropologen Marvin Harris war beispielsweise bei den Azanden im Südsudan Homosexualität als Initiationsritus ein fester Bestandteil der Gesellschaft. Hierbei wählten sich unverheiratete Krieger eine „Knabenfrauen“, die zugleich als Knappe und Bettgenosse fungierte. Diese Knaben, dienten ihrem Herrn und rückten auf seinen Platz im Heer auf, wenn er ein gewisses Alter erreicht hatte und somit heiraten durfte. In einigen Indianerstämmen Nordamerikas9 galt der Transvestismus, ob als Folge von Transsexualität oder von Homosexualität, als eine Stufe zur spirituellen Erleuchtung. Die indianischen Homosexuellen, die berdaches, verrichteten Frauenarbeiten und dienten den Kriegern auch in sexueller Hinsicht.
In der indianischen Gesellschaft bildeten sie sozusagen ein „Zwischengeschlecht zwischen Mann und Frau, das über schamanistische und übernatürliche Fähigkeiten verfügte“.10
Die Reihe sexueller Strömungen bis hin zur viktorianischen Zeit läßt sich des weiteren um Sadismus und Masochismus, um Flagelation, Fetischismus, Pädo- und Nekrophilie erweitern, ohne mit dieser arbiträren Aufzählung eine etwaige Begrenzung vorgeben zu wollen. Die Menschheit war schon immer sehr erfindungsreich, wenn es darum ging Vorlieben auszuleben.
3.2 Deutungsweisen im Roman: „Sexual Symbolism“
Zu dem Thema des symbolischen Inhalts müßte an dieser Stelle eine Diskussion folgen, wie sehr sich Stoker gerade bei der Verwendung von symbolischen Elementen deren Bedeutung bewußt war. Wie ich bereits erwähnte, ist diese Diskussion aus heutiger Sicht schwer zu führen und diese Frage mußsoweit offen bleiben. Nichtsdestotrotz verwendet Stoker in „Dracula“ symbolische Elemente des Volksglaubens, wie zum Beispiel, daßalle Körpersäfte des Menschen im Grunde eins sind. Dies bedeutet somit, daßBlut, Milch, Samen, Speichel und Vaginalsekrete ein und derselbe Körpersaft sind. Die Aussagekraft dessen bewirkt in dem Roman gerade durch die Prüderie der viktorianischen Gesellschaft im allgemeinen - hier verkörpert von der „Crew of Light“11 - und im besonderen durch die ohnehin erotische Rezeption des Vampirbisses durch den Leser, eine frivole Lasterhaftigkeit. Das bedeutet, da sexuelle Aktivität sowieso nur von Vampiren (hauptsächlich durch Dracula und die drei weiblichen transylvanischen, Lucy nur im kurzen Intermezzo zwischen ihrer Vampirisierung durch Dracula und ihrer Pfählung durch ihren Verlobten) praktiziert wird, daßsie wesentlich lebendiger agieren als die eigentlichen Lebendigen. Besonders deutlich wird diese Veränderung durch die Transformation Minas, deren noch lebendige Hälfte sich konsequent der Hingabe zur Lust, der Aufgabe der Passivität und der Keuschheit verweigert, während das Vampirblut in ihr bereits beginnt, ihre Sexualität zu aktivieren.
Der angesprochene symbolische Gehalt der Körpersäfte führt zu vielen weiteren Schlußfolgerungen. Die Nacht, die Jonathan im Schloßdes Grafen verbringt und im Halbschlaf die sich ihm nähernden weiblichen Vampire bemerkt, wird von C.F. Bentley als „masturbatory fantasy or erotic dream“12 gedeutet. Harker verspürt in diesem Moment sowohl eine ungeheure Begierde, als zugleich auch eine enorme Angst.
„I felt in my heart a wicked, burning desire that they would kiss me with those red lips.“ ( “Dracula”, S.37)
Ernest Jones greift die Theorie des erotischen Traums auf und zieht die Parallele zu nächtlichem Samenerguß. Den erhofften Verlust von Blut, als Folge des Angriffs des Vampirs, setzt er der Ejakulation gleich. Nach Bentley hat die Serie von Bluttransfusionen, die Lucy, nach der Penetration durch den Grafen erhält ebenfalls einen sexualsymbolischen Charakter. Dieser gestaltet sich in der Form, daßerstens die aus menschlicher Sicht noch jungfräuliche Lucy symbolisch mit vier Männern sexuellen Kontakt hat, daßzweitens diese Männer untereinander, durch die Vereinigung ihrer Körpersäfte in dem mehrfach penetrierten weiblichen Körper, ebenfalls Sexualkontakt hergestellt haben und daßdrittens die Männer, auch von Dracula sexuell attackiert werden, da dieser weiterhin von Lucys und dadurch von ihrem Blut trinkt,. Am Ende dieser Kette von Penetrationen steht für alle Beteiligten mindestens ein Tabubruch der viktorianischen Moral.
So zählt Lucy nun als Polyandrist und die Männer, die ihr Blut spendeten, hatten sowohl gleichgeschlechtlichen Verkehr, als sie auch ihren Freund Arthur Holmwood durch den „Sexualkontakt“ mit seiner Verlobten hintergangen haben. Zusätzlich bezeichnet sich Professor van Helsing nun als Bigamist, da er seine Ehefrau betrogen hat, der er nach seinem christlichen Glauben auch noch im Tod treu sein muß.13 Auch Mina wird vom Grafen penetriert, wenn auch in etwas anderer Form. Die Art, wie er sie zwingt und wie sie sich auch hingibt von seinem Blut aus einer geöffneten Vene in seiner Brust zu trinken, hat zugleich die Ausdruckskraft von einer Vergewaltigung und einer Fellatio.
Zuletzt wird auch die Tötung der Vampire in sexueller Relation betrachtet. Die Agonie, die Lucy während ihrer Pfählung, die auch wieder als Symbol für die Penetration steht - mit dem Pflock als definitivem Phallussymbol - durchläuft, entspricht dem Orgasmus.
„The body shook and quivered and twisted in wild contortions; [...] But Arthur never faltered. [...], driving deeper deeper and deeper the mercy-bearing stake, whilst the blood from the pierced heart welled and spurted up around it. [...]And then the writhing and quivering of the body became less, and the teeth ceased to champ, and the face to quiver. Finally it lay still. The terrible task was over.“ (S.216)
Deutlich wird in dieser Textstelle, in Anbetracht der Angst des viktorianischen Mannes vor der Sexualität der Frau14, wie Arthur in verbissener Überwindung seines Ekels vor dem Körper seiner Verlobten, seiner Pflicht nachkommt. Durch die Verwendung des Begriffes „body“ und die Wiederaufnahme in Form des neutralen Personalpronomens „it“ wird hier zunehmend das Wesen der Frau, ihre Körperlichkeit und ihre Sexualität zum Gegenstand deklassiert.
Abgesehen von diesen vorherrschenden sexuell geprägten symbolischen Interpretationen, lassen sich auch verschiedene sexuelle Praktiken in den Roman deuten. So ist zum Beispiel die natürliche Sucht des Vampirs Blut zu trinken, um weiterleben zu können, zwar für ihn eine biologische Notwendigkeit, aber aus der Sicht der Gesellschaft wirkt sein Blutdurst vielmehr als Fetischismus, mit dem Fetisch Blut.
„The fetish itself [becomes] the exclusive object of sexual desire, while instead of coitus, strange manipulations of the fetish [become] the sexual aim.“15
Da in „Dracula“ auch gar kein tatsächlicher, sondern nur symbolischer Geschlechtsverkehr auftaucht und jeder sexuelle Kontakt über das Blut geschieht, finde ich die Aussage besonders treffend.
4. Der Stoker’sche Vampirmythos
Alle Vampirerzählungen arbeiten mit teilweise gleichen, teilweise sehr unterschiedlichen Vorstellungen wie das Bild und die Welt des Vampirs geprägt ist. Jede Erzählung begründet sich somit einen eigenen Vampirmythos. In diesem Kapitel werde ich den Stoker’schen Mythos des Wesens des Vampirs, seiner Erschaffung und Erlösung und der zugrundeliegenden Hierarchie in der „Familie“ der Vampire erklären.
Dracula wird beschrieben als Aristokrat eines alten Geschlechts. Er mutet auch durch die Charakterisierung seines Wesens an wie ein Feudalherrscher, der er wohl auch einmal war. Des weiteren steht er als Patriarch an der Spitze einer hierarchischen Familie. Dies wird besonders deutlich, als er die drei weiblichen Vampire zurechtweist, Harker nicht anzurühren, da er ihn für sich selbst vorbehalten will.
„How dare you touch him, any of you? How dare you cast eyes on him when I had forbidden it?[...] This man belongs to me!” (S. 39)
Aber der gestrenge Herrscher zeigt auch seine Fürsorge, indem er ihnen ein Kleinkind zum Fraßvorwirft. Dieses Zusammenspiel von Strenge und Güte zeichnet von ihm ein väterliches Bild. Zum anderen wirft ihm eine der Drei, aber vor, daßer sie nie geliebt hätte. Die Eifersucht, die sie aufgrund der Sympathie Draculas für Harker ausdrückt und die entschlossene Art, wie er ihr widerspricht zeigt auf, daßder oben beschriebene väterliche Zug nicht die einzige Verbindung sein kann, die er zu den drei weiblichen Vampiren hat.
Die Tatsache, daßer hier als einziger Vampir gezeigt wird, der die Fähigkeit besitzt Nachwuchs zu ‚zeugen‘ und die Beschreibungen, wie er sowohl Lucy zum Vampir macht als auch wie er seinen Einflußauf Mina ausübt, zeichnen ein Bild des Verführer. Diese Verführung dient der Absicht, sie zu seinesgleichen zu machen und läßt Rückschlüsse ziehen dahingehend, daßsein Verhältnis zu den Drei einmal den Verhältnissen zu Mina und Lucy geglichen haben muß.
Somit gestaltet sich folgende Entwicklungsreihe. Der Verführer erwählt sich eine Braut und tötet sie durch ständige Penetration, nachdem er sie von seinem Blut hat trinken lassen. Die Vermischung des Blutes im Körper des Opfers bildet eine enge Bindung zwischen beiden - Penetrierten und Penetrierendem. Die Braut erhält die Fähigkeit nicht tot sondern untot zu sein. Das heißt sie wird zum Geschlecht des Vampir. Im Falle der hier penetrierten keuschen viktorianischen Frauen kommt noch eine Aktivierung ihrer Sexualität hinzu. Die ist bei Lucy durch die vollkommene Transformation stärker als bei Mina. Die Braut ist aber im gleichen Moment, in dem sie zum Vampir wird, nicht mehr seine Braut, sondern wird zu seinem Nachwuchs. Auch verliert ihr biologisches Geschlecht an Bedeutung. Denn der Vampir ist nicht an ein körperliches Geschlecht gebunden. Das Sexualorgan des Vampirs ist nicht (mehr) das männliche oder weibliche Geschlechtsorgan, sondern seine Reißzähne übernehmen diese Funktion. Dies ermöglicht ihm theoretisch die freie Wahl seines Opfers. Allerdings beschreibt Stoker keinen - um doch noch einmal den Geschlechterbegriff zu benutzen - homosexuellen Übergriff.
Nichtsdestotrotz kann man den Stoker’schen Vampir, ob ehemals männlichen oder weiblichen Geschlechts, als ein neues Geschlecht verstehen. Dieser Vampir wäre nach Ulrich ein Uranodioning, sprich bisexuell. Dies stellt einen Anknüpfungspunkt an Ulrichs Theorie des dritten Geschlechts dar und würde auch die Frage beantworten, ob die Diskussion in der Gesellschaft Einflußauf Stoker und sein Werk genommen hat. Wie ich bereits erklärt habe, ist der Prozeßder „Geburt“ eines neuen Vampirs von verschiedenen sexuell interpretierbaren Etappen geprägt. Aber auch die Erlösung des Untoten, sprich seine endgültige Tötung, unterliegt einer sexuellen Manier. In der Pfählung des Vampirs, die im Falle von Lucy ausführlich dargestellt ist, wird die Agonie, die sie während der Pfählung durchläuft wie ein Orgasmus beschrieben. Dies führt wiederum zur Interpretation der Pfählung als Penetration, als Defloration einer Jungfrau, die sie nach eigentlicher menschlicher Moral ja noch ist.
Dracula hingegen wird zusätzlich nach der Pfählung enthauptet. In Anlehnung an die Traumsymbolik Freuds16, wird hier die Enthauptung als Kastration gedeutet.
5. Sexuelle Gefahr: Zusammenhänge zwischen Draculas degenerierendem Einflußund der Xenophobie im England des Viktorianismus
Es gab im Viktorianismus zwei große Ängste, die für uns in der Analyse von „Dracula“ relevant sind: die Angst vor dem Fremden und die Angst vor der Frau. Die erste mußverstanden werden im Kontext eines wirtschaftlichem Wettbewerbs der Nationen untereinander. Das Übertrumpfen der anderen Nationen in allen Lebensbereichen war ein wesentliches Merkmal der Zeit. Dieser Wettbewerb gestaltete sich unter anderem auf der Ebene solcher Faktoren wie Population, Fläche des Territoriums, Bildung, Wohlstand und vor allem des unmeßbarsten Faktors von allen: der ethischen und moralischen Größe17. Vor diesem Hintergrund erscheint der Charakter des Grafen Dracula mit besonderer Brisanz. Er ist die Projektion der britischen Xenophobie. Zum einen ist der Graf durch Physiognomie und Kleidung den Briten als fremd beschrieben, zum anderen benimmt er sich auch noch überaus auffällig. Eine der generellen Xenophobie zugrundeliegenden Angst tritt hierbei ganz besonders zum Vorschein: die Angst vor dem degenerierenden Einflußdes Fremden, der mit den Mitteln und Maßstäben der eigenen Kultur weder zu fassen noch zu bändigen ist. Dracula steht hierbei, aus viktorianischer Sicht als ein Symbol für Tradition, Aberglaube, für die Aristokratie und den kulturell stehengebliebenen Südosten Europas. Draculas Eindringen in die viktorianische Gesellschaft Englands verursacht eine Erschütterung des Glaubens an die eigene Größe, an Fortschritt und an Moral. Dracula widersetzt sich den Gepflogenheiten der bourgeoisen Gesellschaft und versucht, sich in London taktisch geschickt niederzulassen, in der Absicht sich das Land untertan zu machen. Er kauft verschiedene Grundstücke, unter anderem eine alte Abteikirche18. Diese Grundstücke sind so über die ganze Stadt verteilt, daßer sie durchforschen kann, ohne befürchten zu müssen bei Tagesanbruch keinen Unterschlupf finden zu können.
Primärziel seiner Attacken sind die viktorianischen Frauen, hier Lucy und Mina. Der Grund hierfür hängt mit dem quasi inzestuösen Charakter der Designation des Vampirnachwuchses zusammen. Wenn der beschriebenen Entwicklungsreihe ein inzestuöses Prinzip zugrunde liegt, dann ist der Vampir zu einem bestimmten Zeitpunkt darauf angewiesen, sich außerhalb des gewohnten Lebensraumes nach geeigneten Opfern umzusehen. In „Dracula“ findet sich also eine Kombination aus dem Gedankengut der Reinhaltung der Rasse, der Fortsetzung der Spezies und dem interkulturellen Wettbewerb, aus dem man als siegende, sprich ethischste Nation hervortreten will. Draculas Bestreben sich eine englische Braut zu suchen und sie aus dem gewohnten kulturellen Zusammenhang zu führen, wird als Exogamie beschrieben. Explosiv wird dies besonders noch dadurch, daßFrauen allgemein und gerade der Menstruationszyklus der Frau ganz besonders den Männern des Viktorianismus einen enormen Schrecken versetzte. Es existierte wahrlich „a repressed and masochistic fear and hatred of the female body“19.
6.Zusammenfassung
Ausgehend von meiner ursprünglichen Intention, in Bram Stokers „Dracula“ Anzeichen für mehr oder weniger deutliche bzw. offensichtliche Anspielungen auf Homosexualität zu entdecken, bin ich überrascht, daßes eigentlich nur zwei Stellen gibt, an denen man einen homoerotischen Ansatz freilegen kann. Die erste ist, als Dracula, von der Ansicht des Blutes auf Harkers Rasiermesser angezogen, auf ihn losgeht, seine Selbstkontrolle, wenn auch mit nur schwer aufgebrachter Disziplin, aber wiedererlangt20. Den zweiten Ansatz findet man in der Serie von Bluttransfusionen, die - wie ich bereits sagte - eine symbolische Form von Homosexualität beinhaltet. Noch mehr überrascht war ich allerdings wie viele andere sexuell geartete Themen scheinbar Einflußgenommen haben.
Nichtsdestotrotz mußich zuletzt doch betonen, daßjede Art der Interpretation eines Textes, sei es sexologisch, symbolistisch oder psycho-analytisch auf irgendeine Weise subjektiv, abhängig von der Intention und dem Weltverständnis des Lesers ist. Literatur ist per se mehrdeutig. Somit offenbart sie auch mehr oder weniger jedem Leser die Möglichkeit in sich etwas für ihn persönliches und intimes zu erkennen. In diesem Sinne, unterstelle ich dem Roman - aber somit nicht zwingend auch dem Autor - die Erscheinung der oben beschriebenen sexuellen Vielfalt, ob sie aus dem Volks- oder Aberglauben stamme, historisch belegt oder der Phantasie entsprungen, sich durch das Zusammenspielen mehrerer Detailkomponenten entwickelt, oder auch nur als Gefühlserleben zwischen den Zeilen zu finden ist.
Literaturverzeichnis:
1. Primärliteratur:
- Stoker, Bram, Dracula. Oxford: Oxford University Press, 1983
2. Sekundärliteratur:
- Bentley, C.F., ”The monster in the bedroom: Sexual Symbolism in Bram Stoker’s Dracula”. In: Literature and psychology, 22 (1972), S. 27 - 34
- Foldy, Michael S., “The cultural climate of the Trials: Heterosexism and Homophobia as Historical Constructs”. In: The Trials of Oscar Wilde. New Haven, Conn.: Yale UP, 1997
- Harris, Marvin, „Mann mit Mann“. In: Menschen: Wie wir wurden, was wir sind. München: dtv, 1997
- Pfister, Schulte-Middelich (Hgb.), „The Other Victorians. Viktorianismus und sexuelle Revolution“. In: Die Nineties: das englische Fin de siècle zwischen Dekadenz und Sozialkritik. München: Fink/utb, 1983
- Steele, Valerie, Fashion and Eroticism: Ideals of feminine beauty from the Victorian Era to the Jazz Age. Oxford: Oxford UP, 1985
- Stevenson, John Allen, “ A vampire in the mirror”. In: Publications of the modern language association of America, 103:2 (1988), S. 139 - 149
[...]
1 Geoffrey Chaucer: Canterbury Tales, Juan Ruíz, Arcipreste de Hita: Libro de buen Amor
2 „Dracula does touch on primal fears and urges“, S. 145
3 Stevenson, S. 145
4 Vgl. Pfister, Schulte-Middelich, S.117: Mehrere medizinisch-wissenschaftliche Schriften zwischen 1840 und 1880 maßen Sexualität fast ausschließlich an Begriffen wie „nature“ oder „natural law“. Dieser Naturbegriff orientiert sich am Weltbild Sir Issac Newtons. Letztere war mit die Grundlage für die Sicht des Viktorianismus auf den reproduktiven Charakter der Sexualität.
5 Ich benutze hier einfachheitshalber den Begriff Homosexualität, obwohl er in dieser Zeit noch nicht als Benennung benutzt wurde, da er aber heute ein klareres Bild offenbart als die Bezeichnungen des späten Viktorianismus. Die eigentliche Umschreibung lautete ”a certain type of person who acts against nature”. Vgl. Foldy, S. 86.
6 Pfister, Schulte-Middelich, S. 129: „ Die Auseinandersetzung, was in einer Gesellschaft als normal, als tolerabel zu gelten habe, inwieweit Gesellschaft überhaupt das Recht zur sexuellen Normsetzung für ein Individuum beanspruchen dürfe, entbrannte in aller Heftigkeit.“
7 Richard von Krafft-Ebing (1840 - 1902), Cesare Lombroso (1836 - 1909), Karl Heinrich Ulrichs (1825 - 1895)
8 Diese Untersuchungen betrachteten allerdings nur abnormale Sexualität, die von Männern betrieben wurde. Weibliche Homosexualität galt als nicht auffällig, da weibliche Sexualität an sich von Männer gar nicht verstanden und begriffen wurde. Vgl. Pfister, Schulte-Middelich
9 Vgl. Marvin Harris, Menschen, S.231: die Oglala, Teton, Cheyenne, Creek, Yokut, Navajo, Krähenindianer
10 Harris, S. 231
11 Diesen Begriff benutzt Stoker zur Bezeichnung der Gruppe von Männern, die Dracula bekämpfen. Er legt die Betonung hierbei auf den Begriff „Light“, um deutlich zu machen, daßihre Absicht einen geheiligten Zweck hat.
12 Bentley, S. 28
13 „Dracula“, S. 176
14 die wie ich unter 4. beschreibe, durch die Transformation Lucys zum Vampir erweckt wurde.
15 Steele, S. 31
16 Vgl. Bentley, S.31
17 Vgl. Pfister, Schulte-Middelich
18 Draculas degenerierender Einflußwird durch den Mißbrauch der Abtei als sein unchristlicher Ruheplatz hervorgehoben.
19 Steele, S.24
20 „Dracula“, S.26
- Arbeit zitieren
- Steffen Buch (Autor:in), 2001, Sexualität in Bram Stoker`s Dracula, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105118
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