INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
Erkenntnisinteresse und Zielsetzung
Methodologische Randbemerkungen
Vom Nutzen und Nachteil der Naturrechtskonzeption für das Leben
Grundlegungen
Zur Philologie der Moral
Der Wille zur Macht
Das Ressentiment
Die Umwertung der Werte
Der Sklavenaufstand in der Moral
Kritik der Naturrechtskonzeption
Gesellschaftliche Machtsysteme
Wissenschaftliche Rechtfertigungssysteme
Nachwort
Anhang I: Die Naturrechtslehre
Anhang II: Literatur
Zitiert wird nach der Kritischen Studienausgabe (KSA = Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische
Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München, 2., durchgesehene Auflage 1988.)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
EINLEITUNG
Erkenntnisinteresse und Zielsetzung „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ - Dieser schon beinahe zum „geflügelten1Wort“ avancierte Rechtsgrundsatz beherrscht wie kein anderer die politischen und gesellschaftlichen Debatten der Bundesrepublik. Vom Abtreibungsparagrafen über Einsätze der Bundeswehr im Ausland bis hin zur Gentechnik und sogar bis in die Auseinandersetzung um Kruzifixe in bayerischen Klassenräumen hinein ist die Rede von der „unveräußerlichen und universellen Menschenwürde“. Angesprochen ist mit dem Verweis auf die Würde ein Phänomen im Schnittpunkt von Wissenschaft und Gesellschaft, ein Phänomen, das im Spannungsfeld zwischen Erkenntnistheorie und praktischer Ethik liegt, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften verbindet und von Psychoanalyse und Soziologie gleichermaßen wie von Geschichte, Anthropologie und Ethnologie untersucht wird. Die Rede ist vom so genannten „Naturrecht“, von einem philosophisch-wissenschaftlichen Rechtfertigungs- System, das bereits vor mehr als 2500 Jahren bekannt und umstritten war.
Eine kritische Analyse des Naturrechtskonzeptes ist von überaus großem Interesse, da sich die gesamte wissenschaftlich-politische Verfasstheit unserer Gesellschaft auf die als natürlich bezeichnete, metaphysische Grundannahme eines vorstaatlichen Rechts und einer von Kultur und Gesellschaft, von Raum und Zeit unabhängigen Gerechtigkeit stützt. Die Bedeutung dieses Konzeptes für unsere Gesellschaft und ihre politische Konstitution lässt sich letztendlich wohl nur erahnen - mit Sicherheit kann jedoch festgehalten werden, dass ein wesentlicher Teil unseres Weltbildes und somit auch ein wesentlicher Teil unserer sich in Gesetzen manifestierenden Gesellschaftsstruktur nicht ohne den im deutschen Grundgesetz und in vielen anderen demokratischen Verfassungen festgehaltenen und als universell gültig deklarierten Rechtsgrundsatz denkbar wäre.
Wie sich im Einzelnen hinter dem Begriff des Naturrechtsgedankens die Vorstellung einer universellen Gerechtigkeit manifestiert, hängt ganz von der kulturellen und geschichtlichen Bedingtheit der Gesellschaftsgruppe ab, die sich dieses Recht setzen will - eine Pointe der ganz besonderen Art, die Bonhoeffer zu der Aussage verleitete, „naturrechtlich lässt sich der Gewaltstaat wie der Rechtsstaat, der Volksstaat wie der Imperialismus, die Demokratie wie die Diktatur begründen.“2
Ziel dieser Arbeit soll also sein, die im gesellschaftspolitischen Kontext so bedeutende Prämisse eines vorstaatlichen Naturrechts kritisch zu reflektieren und ihre Genese und Funktionsweise im Lichte der von Nietzsche entwickelten psychologischen Methode zu bewerten. Dabei wird letztendlich deutlich werden, dass die Argumentation Nietzsches in einigen Punkten inkonsistent ist und eine in sich schlüssige Interpretation menschlicher Wertsetzungsprozesse nicht zu liefern vermag. Über eine kritische Analyse wissenschaftlicher Rechtfertigungs- und Legitimationssysteme werde ich versuchen die These Nietzsches so zu modifizieren, dass sie in der Lage ist, revolutionäre gesellschaftliche Umwälzungsprozesse und deren Begleiterscheinungen - in diesem Fall philosophisch-wissenschaftliche Systeme für die das Naturrechtskonstrukt paradigmatisch stehen soll - adäquat zu beurteilen.
Methodologische Randbemerkungen
Da es sich mit dem Naturrecht um ein hochkomplexes Phänomen handelt, ist eine angemessene und überzeugende Untersuchung des Gegenstandes letztendlich wohl nur über eine transdisziplinäre Wissenschaft zu erreichen. Ich möchte hier jedoch weder eine umfassende geistesgeschichtliche Diskussion der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um das Problem des Naturrecht geben, noch möchte ich mich andererseits an eine umfassende erkenntnistheoretisch-metaphysische Analyse heranwagen.
Mein Ziel wird es hier vielmehr sein, die klassische Naturrechtskonzeption auf der Basis der nietzscheschen Moral-Psychologie kritisch zu analysieren und dabei auch die Grenzen der Konzeption Nietzsches aufzuzeigen. Im Zentrum der Bemühungen soll dabei stets die Frage nach dem „Nutzen und Nachteil der Naturrechtskonzeption für das Leben“ stehen. Es geht also auch darum, das Phänomen bewusst als Konstrukt, als Konstruktion und Konzeption zu bezeichnen und es somit in einen geschichtlichen, sozialen und kulturellen Kontext menschlichen Handelns einzubetten, in dem es kein wahr und kein falsch gibt, in dem es vielmehr um Kategorien wie gültig oder nicht gültig, vorteilhaft oder nachteilig geht. Nietzsches Interpretation ist dabei auf merkwürdige Weise anti-metaphysisch und anti-anti- metaphysisch zugleich. Einerseits kritisiert er metaphysische Interpretationen moralischer Systeme bei anderen Philosophen, andererseits scheint er die metaphysische wie die anti- metaphysische Methode bei seiner eigenen Analyse schlichtweg zu ignorieren. Seine Argumentation verläuft beinahe vollständig in einem Bereich, in dem Nietzsche mit der herkömmlichen metaphysischen Vorgehensweise - von ihm selbst als theologische Vorgehensweise bezeichnet3- nicht in Kontakt kommt, sie also weder für seine Untersuchung benötigt, noch auf ihre Widerlegung angewiesen ist.
Um die für diese Untersuchung wesentlichen Punkte der nietzscheschen Moralphilosophie herauszuarbeiten, werde ich zunächst einen vertieften Überblick über die Konzeption des Philosophen erarbeiten. Anhand seiner eigenen, zu Schlagworten gewordenen Leitbegriffe wie „Wille zur Macht“, „Pathos der Distanz“, „Ressentiment“, „Umwertung der Werte“ und „Sklavenaufstand in der Moral“, werde ich ein Grundverständnis seiner Argumentation aufbauen, das sich nicht primär an der inneren Struktur eines oder mehrerer seiner Werke orientiert, sondern vielmehr der logischen Struktur seiner Argumentation folgt. Eine vollständige Textinterpretation wird diese Arbeit also nicht leisten können. Das Ziel ist vielmehr, Nietzsches Philosophie als Werkzeug zu betrachten, um damit wesentliche Eigenschaften der Naturrechtskonzeption analysieren und im Idealfall auch besser verstehen zu können.
Die Textbelege zur Untermauerung meiner Ausführungen kommen dabei hauptsächlich aus seinen Schriften Zur Genealogie der Moral (1887), Jenseits von Gut und Böse (1886) und Der Antichrist (1888). Seine „Streitschrift“ Zur Genealogie der Moral nimmt dabei eine Sonderstellung ein, da Nietzsche in ihr zum ersten Mal den Gedankengang zur Entstehung der moralischen Wertungsweise in sich schlüssig und lückenlos ausführt.
Nachdem eine inhaltliche und begriffliche Klarheit in Bezug auf das Konzept Nietzsches hergestellt wurde, werde ich versuchen, die gewonnenen Erkenntnisse für eine kritische Analyse der Naturrechtskonzeption fruchtbar zu machen. Auf eine vollständige geistesgeschichtliche Darstellung des Naturrechtsgedankens, seiner Geschichte und seiner Entwicklung, werde ich dabei im Wesentlichen verzichten. Eine solche Darstellung wäre von geringem philosophischen Interesse und kann darüber hinaus in jedem guten Lexikon nachgelesen werden. Ein knapper Überblick über die für diese Arbeit wesentlichen Punkte des Naturrechtsgedankens findet sich jedoch im Anhang I dieser Arbeit - freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Über die Kritik des Naturrechtsgedankens wird mich eine Kritik auch des nietzscheschen Verständnisses zu einer verstärkten Betrachtung des Problems der Rechtfertigung menschlichen Handelns bringen. Beim Problem der Rechtfertigung geht es nach der psychoanalytischen Wende zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kern um ein Phänomen der Sozialpsychologie4, der Psychohistorie5und der Ethnopsychoanalyse6. Die Rechtfertigung (oder auch Begründung) erscheint dabei als ein zentrales, verdeckt gehandhabtes Mittel, das in der Lage ist, Handlungen im Allgemeinen bzw. Machtausübungen im Speziellen zu (schein-)legitimieren und somit den Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe, die in unmittelbarem oder mittelbarem Verhältnis zu der entsprechenden Handlung steht, zu sichern, zu stärken und insbesondere für den - nicht selten gewaltsamen - Kampf gegen Vertreter anderer Auffassungen zu festigen. Über den Begriff der Rechtfertigung wird es schließlich möglich sein, der Theorie Nietzsches in einem entscheidenden Punkt eine bedeutende Inkonsistenz nachzuweisen und seinen Überlegungen eine weitere, eminent wichtige Grundannahme hinzuzufügen, die das gesamte Argumentationssystem in die Lage versetzt, stichhaltige und stringente Aussagen über die Genese und Funktion moralischer Urteile zu liefern.
VOM NUTZEN UND NACHTEIL DER NATURRECHTSKONZEPTION FÜR DAS LEBEN
Es giebt weder ein Naturrecht, noch ein Naturunrecht.
NIETZSCHE
Grundlegungen
Ausgangspunkt der nietzscheschen Kritik moralischer Werte ist die Beobachtung, dass es in der wissenschaftlich-philosophischen Auseinandersetzung mit dem normativen ethischen System bisher nicht oder nur in geringem Maße um den Menschen selbst, um sein Leben und Erleben ging7. Im Zentrum der Erkenntnisbemühungen stand vielmehr ein als „Wahrheitssuche“ deklariertes Bestreben, die soziokulturell bedingte Wertungsweise einer Gesellschaftsgruppe unter Rekurs auf ein als universell gültig bezeichneten Wertekosmos zu rechtfertigen:
Was die Philosophen „Begründung der Moral“ nannten und von sich forderten, war, im rechten Lichte gesehn, nur eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral.8
Aufgrund dieser Erkenntnis versucht Nietzsche, das Problem der moralischen Urteile neu zu formulieren und der wissenschaftlichen Untersuchung moralischer Systeme im Generellen eine neuartige methodologische Grundlage zu geben. Die dadurch entwickelte anti-metaphysische Fragestellung9spitzt Nietzsche in seiner Genealogie der Moral wie folgt zu:
„unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werturteile gut und böse? und welchen Wert haben sie selbst? Hemmten sie bisher das menschliche Gedeihen? Sind sie ein Zeichen von Notstand, von Verarmung, von Entartung des Lebens? Oder umgekehrt, verrät sich in ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Mut, seine Zuversicht, seine Zukunft?“10 Mit diesen Worten fordert Nietzsche eine Kritik der moralischen Werte, die im Kern auf eine radikal geschichtliche Interpretation menschlichen Handelns hinausläuft. Ins Zentrum seiner Untersuchungen geraten Fragestellungen und Probleme, die den Worten Nietzsches zufolge erst bei einem Vergleich vieler Moralen auftauchen11.
Um diese Aufgabe adäquat angehen zu können, schlägt er daher eine Methode vor, die eher im Spannungsfeld zwischen Psychologie und Geschichtswissenschaft, zwischen den damals noch nicht bekannten Disziplinen Ethnologie, Anthropologie und Soziologie liegt, als in den klassischen Fächern der Ethik: Philosophie und Theologie.
Über diesen neu entwickelten kulturgeschichtlichen Ansatz gelangt Nietzsche zu einer Relativierung menschlichen Handelns und Seins, das sich in seiner Radikalität durchaus in die Reihe der großen Ernüchterungen der Geistesgeschichte (Kopernikus12, Darwin13) einordnen lässt und das in seiner stringenten Analyse menschlicher Motivation die Psychoanalyse Freuds14vorwegnimmt.
Der Ausgangspunkt der nietzscheschen Moralphilosophie (oder besser Moralpsychologie) ist dabei jedoch denkbar unspektakulär. Mit gutem Grund beschränkt Nietzsche zunächst die Ansprüche an eine Philosophie der Moral, indem er der Wissenschaft die denkbar größte (Selbst-)Beschränkung auferlegt und sie zur reinen „Sammlung des Materials“15 verpflichtet. Unter diese Aufgabe fällt die „begriffliche Fassung und Zusammenordnung eines ungeheuren Reichs zarter Werthgefühle und Werthunterschiede, welche leben, wachsen, zeugen und zu Grunde gehen“16
Um das Wesen der Moralen verstehen zu können, ist nach Nietzsche also zunächst einmal eine umfassende Kenntnis der Bedingungen und Umstände unabdingbar, aus denen sie gewachsen sind und unter denen sie sich entwickelt haben.
Somit hat Nietzsche nicht primär ein wie immer geartetes Hypothesenwesen über den Ursprung der Moral im Blick, sondern vielmehr die Frage nach dem Wert der Moral für den Menschen in seiner geschichtlichen und kulturellen Bedingtheit und Begrenztheit. Eine Abgrenzung nicht nur gegenüber seinen früheren Lehrern und späteren Feinden Schopenhauer und Kant ist spürbar, sondern eine Abgrenzung gegenüber jeglicher Art der Rechtfertigung einer (bestehenden) Moral mit den Mitteln der (logisch-philosophischen) Wissenschaft.
Im Hinblick auf Nietzsches vehementes und im weiteren Verlauf beinahe schon aggressives Eintreten für eine normative Ethik (wenn auch eine Ethik der „anderen Art“), mag die radikale Selbstbeschränkung an diesem Punkt der Überlegungen verwundern, wenn nicht gar verstören. Doch an den oben dargestellten wissenschaftstheoretischen Grundsätzen hält Nietzsche auch später noch wie an einem Axiom fest. Nietzsches eigene normative Moralphilosophie zieht ihre Legitimation - und somit ihre Schlagkraft - nicht aus einer wissenschaftlichen Rechtfertigung oder Begründung bestimmter moralischer Grundsätze, sondern aus einer Argumentation, die weitestgehend innerhalb der Grenzen der Ästhetik verläuft. Dass sich moralische Systeme (und man beachte die Differenz zwischen (Erkenntnis-)Theorie und Praxis) nicht auf die Unterstützung der Wissenschaft verlassen können, ist ihm dabei zu jedem Zeitpunkt bewusst. Den aus dieser Einsicht resultierenden Perspektivismus, und mit ihm die Relativierung seines eigenen moralischen Standpunktes, legt Nietzsche seiner gesamten Philosophie zu Grunde. Mit dem „Willen zur Macht“ will er eine Triebkraft gefunden haben, die in diesem Sinne in der Lage ist, gesellschaftliche, und somit moralische Systeme zu etablieren, zu stärken und gegenüber fremden Einwirkungen abzusichern. Mit der Verlagerung des Diskurses in den Bereich der Ästhetik und der (Macht-) Politik entzieht ihn Nietzsche systematisch Kategorien wie „richtig“ oder „falsch“, „gut“ oder „böse“. Die Frage nach der Moral geht über in eine Frage nach einem hochkomplexen, subtilen Geflecht menschlicher Beziehungs- und Machtsysteme, die sich in einem vielfältigen und schillernden Netz wechselseitigen Bezogenheit „jenseits von gut und böse“ zueinander verhalten. Die These ließe sich aufstellen - ohne die Theorie Nietzsches in diesem Punkt verlassen zu müssen - dass diesem neu entdeckten Prinzip letztendlich auch sein eigenes normatives System zum Opfer gefallen ist - dass in unserer Kultur eine Gesellschaftsordnung die Oberhand behalten hat, in der Nietzsches Versuch einer „Umwertung“ kläglich scheitern musste.
Zur Philologie der Moral In der „Streitschrift“ Zur Genealogie der Moral entwickelt Nietzsche seine Theorie der Moral mittels eines für ihn ansonsten sehr untypisch stringenten Argumentationskomplexes. Ausgangsbasis ist ihm dabei eine Abgrenzung gegenüber seinen Zeitgenossen der angelsächsischen Moralphilosophie. Diesen „englischen Psychologen“ - gemeint ist der britische Empirismus - wirft er niedere Beweggründe vor, wenn sie die Entstehung der Moral in die „partie honteuse“ des Menschen legen, sie also auf die Trägheitskraft der Gewohnheit, die Vergesslichkeit, auf Reflexe oder auf rein Zufälliges zurückführen. Den Kern dieser von Nietzsche kritisierten angelsächsischen Philosophie bildet die Theorie, unegoistische Handlungen seien von Seiten derer als „gut“ im moralischen Sinne bezeichnet worden, denen sie erwiesen wurden, oder denen sie nützlich waren. Später hätten sie diesen Ursprung vergessen und die entsprechenden Handlungen kraft der Gewohnheit für gut in dem Sinne befunden, dass sie „gut an sich“ oder etwas „schlechthin Gutes“ seien.
Nietzsches Ansicht zufolge rührt das (moralische) Urteil im Kern jedoch nicht von denen her, welchen Güte erwiesen wurde. Das Werturteil wurde vielmehr gefällt von denjenigen, die sich aufgrund der sozialen Rahmenbedingungen überhaupt in der Lage sahen, Handlungen von weit reichender Bedeutung zu vollziehen und Begriffe zu prägen. Nietzsche nennt diese Klasse die „Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten“. Die Argumentation verläuft an diesem Punkt also schon auf einer soziologischen und kulturgeschichtlichen Ebene. Die Tatsache, dass es Nietzsche hier an empirischen Material und methodologischen Grundlagen mangelt, versucht er im weiteren Verlauf mit einem im Bereich der Moralphilosophie neuartigen philologischen Vorgehen auszugleichen - mit einer Archäologie unserer Sprache. Zunächst jedoch erstellt er ein auf die für seine Argumentation bedeutenden Grundcharakteristika reduziertes Gesellschaftsmodell, anhand welchem er seine These der Genealogie moralischer Wertungsweisen verdeutlichen und stützen möchte.
Das Modell ist denkbar einfach und dadurch zugleich denkbar fragwürdig, Die Offenheit gibt ihm einerseits eine extreme Blöße und Verletzlichkeit, andererseits aber auch die nötige Flexibilität, auf vielfältige historische Kontexte angewendet werden zu können. Aus lediglich zwei Parteien besteht das Modell: Aus Unterdrückern und Unterdrückten. Die Fähigkeit, Werte zu schaffen, eine Sprache mit bedeutungsvollen Begriffen zu etablieren und die Gesellschaftsform in einen zumindest mittelfristig betrachtet stabilen Zustand zu versetzen, schreibt Nietzsche ausschließlich der Klasse von „Aristokraten“ zu, also derjenigen Gesellschaftsschicht, die ökonomisch und politisch gesehen die Fäden in der Hand hält. Das Selbstverständnis dieser Herrscherklasse fasst Nietzsche in dem Schlagwort „Pathos der
Distanz“ zusammen:
„Das Pathos der Vornehmheit und Distanz [ist], wie gesagt, das dauernde und dominirende Gesammt- und Grundgefühl einer höheren herrschenden Art im Verhältnis zu einer niederen Art, zu einem ‚Unten’“17
Die von Nietzsche so bezeichneten „Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten“18empfanden und bezeichneten ihr Handeln und Sein im Sinne des erhabenen Distanzgefühls gegenüber den physisch Ohnmächtigen - den „Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften“19- als gut im Sinne von erstrangig. Diesem unscheinbaren Adjektiv gut widmet Nietzsche nun seine ungeteilte philologische Aufmerksamkeit. Über eine detaillierte etymologische Analyse germanischer, lateinischer und griechischer Begriffe, die hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden kann, gelangt Nietzsche zu einem grundlegend differenzierteren Verständnis der ursprünglichen Bedeutung vieler heute als moralisch wertend empfundenen Begriffen.
Der heute zumeist implizit moralisch benutzte Begriff gut ist Nietzsches Auffassung zufolge ursprünglich semantisch verbunden mit außermoralischen Begriffen wie vornehm, edel (im ständischen Sinne), seelisch-hochgeartet, seelisch-privilegiert. Schlecht dagegen geht einher mit gemein, pöbelhaft, niedrig. Das Wort schlecht selbst ist identisch mit schlicht (schlechtweg, schlechterdings), welches ursprünglich den schlichten, gemeinen Mann im Gegensatz zum Vornehmen bezeichnete.20Wir haben es hier also nach Nietzsche mit einer noch nicht moralisch gefärbten Semantik zu tun, die das politische Geschehen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsklassen beherrscht hat. Eine Verschiebung hin zum heute gebräuchlichen Sinn soll erst in der Zeit um den dreißigjährigen Krieg stattgefunden haben. Selbst wenn Nietzsches These der im Ursprung amoralischen Semantik zutreffen sollte, so erscheint diese letzte Behauptung doch sehr gewagt und zudem im Hinblick auf zahlreiche anderslautende Textstellen widersprüchlich und widersinnig. Gründe für diese These liefert Nietzsche zudem nicht einmal in Form von Andeutungen und so kann sie wohl bedenkenlos ignoriert werden. Wesentlich bedeutender ist ohnehin die Erkenntnis, dass sich in den heute als moralisch wertend empfundenen Begriffen einst lediglich ein zwar wertendes, jedoch nicht moralisch (ver-)urteilendes Distanzgefühl verbirgt, das im Selbstbewusstsein der eigenen Macht und Überlegenheit gründet. So bezeichnen sich die Herrschenden oft nur nach ihrer eigenen Überlegenheit als Mächtige, Herren, Gebietende oder nach den Insignien dieser Überlegenheit als Reiche und Besitzende. Von dem lateinischen Begriff bonus aus, der mit gut, tauglich, tapfer, begütert übersetzt werden kann und von Nietzsche auf das ältere duonus zurückgeführt wird, versucht Nietzsche das Wort Krieger (bellum = Krieg) abzuleiten: „bellum = duellum = den-lum, worin mir jenes duonus erhalten scheint“21Die Gründe für seine Vermutung hingegen, der deutsche Begriff Gut und insbesondere auch der „Volks- (ursprünglich Adels-)Name der Gohten“22 sei zu verstehen als der „Mann ‚göttlichen Geschlechts’“23, verschweigt Nietzsche dem geneigten Leser. So soll also diese Vermutung auch hierhin nicht gehören.
Es kann festgehalten werden, dass die ursprüngliche Wertungsweise sowie die Begriffs- und Nietzsche zufolge möglicherweise sogar die gesamte Sprachbildung von der herrschenden Gesellschaftsschicht ausging. Dass auch die Bezeichnungen für die Unterdrückte Klasse ursprünglich in einem nicht-moralischen Kontext zu verstehen ist, versucht Nietzsche anhand der Etymologie verschiedenster griechischer Begriffe darzulegen, deren Semantik das niedere Volk als überwiegend bedauernswert, elend, unglücklich, physisch und sittlich schlecht und unbrauchbar bezeichnet. Die Fähigkeit und den Akt der Wert- und Begriffssetzung durch die herrschende Klasse bezeichnet Nietzsche als „aristokratische Wertungsweise“24Ihr Gegenstück wird die „Umwertung der Werthe“ und der „Sklavenaufstand in der Moral“ sein, das von der unterdrückten Gesellschaftsschicht ausgehen und die sozialen Verhältnisse revolutionieren wird.
Der Wille zur Macht
Nietzsches Argumentation nimmt, wie wir oben gesehen haben, ihren Ausgangspunkt in einem stilisierten „Urzustand“, in dem sich zwei denkbar unterschiedliche Klassen feindlich gegenüberstehen: Die eine Klasse zeichnet sich durch eine eindeutige physische Überlegenheit aus, ihre Mitglieder befinden sich jedoch quantitativ in der Minderheit. Die andere Klasse bezeichnet Nietzsche als die „Ohnmächtigen“. Ihre Stärke liegt in der Gemeinschaft. Doch geht Nietzsche nicht wie etwa Hobbes25oder andere Denker vor und nach ihm davon aus, dass die Stärke der Gemeinschaft in einer Kompensierung des als Individuum erlebten physischen Ohnmachtgefühls durch die Etablierung eines in der Masse real existierenden kriegerischen Gegengewichts zur Klasse der Unterdrücker liege. Mit dieser von Nietzsche verworfenen Argumentation ließen sich zwar revolutionäre Phänomene der Neuzeit - von den Bauernkriegen bis zur Französischen Revolution - beschreiben, in denen sich eine zuvor macht- und rechtlose breite Bevölkerungsschicht vereinigt, um die als despotisch und ungerecht empfundene Herrschaftsklasse zu stürzen. Nietzsche geht es im Kern jedoch weniger um offene kriegerische Auseinandersetzungen als vielmehr um eine bisher wenig beachtete Begleiterscheinung solcher Konflikte zwischen ungleichen Parteien: um die Etablierung eines als sublimierte Aggression enttarnten wissenschaftlichen Rechtfertigungssystems. Seine These ist es also, dass moralische Systeme von bestimmten Gesellschaftsgruppen als Machtinstrument eingesetzt werden im Kampf gegen eine als Aggressor erlebte physisch überlegene Klasse.
Um im Detail die einzelnen Argumentationsschritte dieses Gedankens nachvollziehen zu können, ist es nötig, sich dem Objekt der Beobachtung - dem handelnden Menschen und seinen sozialen Systemen - auf einer individual- wie sozialpsychologischen Analyseebene zu nähern. Über dieses kriegerische, menschlich allzumenschliche Wesen des Menschen schrieb Nietzsche in diesem Sinne:
„Er ist durchaus keine Krone der Schöpfung, jedes Wesen ist, neben ihm, auf einer gleichen Stufe der Vollkommenheit ... Und indem wir das behaupten, behaupten wir noch zuviel: der Mensch ist, relativ genommen, das missrathenste Thier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichste<n> abgeirrte“26
Diese Worte verfasste sein Autor im ausgehenden 19. Jahrhundert, inmitten eines Klimas nie zuvor erlebter industrieller und kultureller Blüte, inmitten einer im weitesten Sinne modernen und säkularisierten Gesellschaft27. Die Errungenschaften der großen bürgerlichen Revolutionen begannen damals endlich, sich in veränderten politischen und gesellschaftlichen Strukturen niederzuschlagen und zu festigen28, die industrielle und wissenschaftliche Entwicklung versprach große Fortschritte in der Heilkunde und in den Naturwissenschaften - insbesondere auch in der Physik (Mach, Planck und schließlich Einstein) -, in der Philosophie bahnte sich eine zunehmende Konzentration auf tiefenpsychologische Vorgänge ab (Schopenhauer, Feuerbach, Marx, der wissenschaftliche Psychologismus und schließlich Freud) und auch die Kunst und die Musik erlebte mit dem Beginn der Moderne Impulse, die noch heute spürbar sind (Monet, Renoir, Pissarro, Cézanne in der Kunst; Debussy, Ravel, Skrjabin und schließlich Schönberg in der Musik)29.
Was also möchte uns Nietzsche mit den Worten sagen, der Mensch sei „das missrathenste Thier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichste<n> abgeirrte“? Was ist die Besonderheit seiner Interpretation all dieser kulturellen, politischen und ökonomischen Errungenschaften?
Angriffspunkt ist im Rahmen seiner Moralkritik (im Gegensatz zu seiner unter dem Stichwort Décadence geführten Kulturkritik) nicht primär der kulturelle Entwicklungsstand der Gemeinschaft, sondern die Evolution der Fähigkeiten und Fertigkeiten des gesellschaftlichen Wesens Mensch, die einen solchen kulturellen Entwicklungsstand überhaupt erst möglich gemacht haben. Zu besagten Fähigkeiten gehört etwa ein ausgesprochen feinsinniger Intellekt, eine klare und für die Kommunikation wie für den wissenschaftlichen Disput gerüstete Sprache, ein umfassender Wille zur Systematisierung und Archivierung und andere Fähigkeiten, ohne die eine solch hochkomplexe und vielschichtige Entwicklung von Kultur, Politik und Handel nicht denkbar wäre.
Die Genese dieser Fähigkeiten rückt somit ins Zentrum der nietzscheschen Moralkritik, nicht die Fähigkeiten selbst. Die Ursachen ihrer Entstehung interessieren den Evolutionisten und - erkenntnistheoretischen - (Anti-)Darwinisten30.
Nietzsches Argumentation an diesem Punkt ist nur zu verstehen, wenn man sich die Grundannahmen seiner gesamten Theorie vor Augen führt. Eine der berüchtigtsten und an diesem Punkt bedeutenden Axiome Nietzsches ist der sprichwörtlich gewordene „Wille zur Macht“. Jedes Leben erscheint Nietzsche an sich „als Instinkt für Wachstum, für Dauer, für Häufung von Kräften, für Macht.“31In diesem Punkt ist Nietzsche klassischer Darwinist. Der Kernpunkt dieser These des „struggle for life“ ist der allgemein in Philosophie und Psychoanalyse anerkannte menschliche (bzw. tierische) Trieb nach Sicherheit, Selbsterhaltung und Dominanz. Bis hierher sagt Nietzsche also nichts grundlegend Neues. Interessant wird seine Argumentation erst wenn er feststellt, dass sich Darwins im Tierreich gewonnene Theorie nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragen lässt. Bei diesem nämlich, so Nietzsches Beobachtung, ist mitnichten der Fall, dass eine natürliche Zuchtwahl (lat. selectio) zu einer Auslese der „Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen“ führt. Das Gegenteil trifft vielmehr zu: ein „höherwertiger Typus ist oft genug schon dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als gewollt.“32Darwins These vom struggle for life ist also nicht in der Lage, eine Gesellschaftsordnung wie die unsrige zu beschreiben, in der „der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht [wurde]: das Hausthier, das Heerdenthier, das kranke Thier Mensch.“33:
“Gesetzt aber, es giebt diesen Kampf [Darwins struggle for life; jw], so läuft er leider umgekehrt aus als die Schule Darwin’s wünscht [...]: nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr.“34
An diesem Punkt wird Nietzsche zum selbsterklärten „Anti-darwinisten“. Dieser Ausdruck ist wohl etwas hoch gegriffen, fährt der Philosoph doch weiter im Kielwasser des Naturforschers. Doch er schafft es, die umfassende Theorie Darwins in einem für die Untersuchung des Zivilisationsprozesses entscheidenden Punkt zu erweitern und zu verbessern.
er leider umgekehrt aus als die Schule Darwin’s wünscht [...]: nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen.“
Bei der für die nun folgende Argumentation bedeutsamen Frage, wen oder was genau Nietzsche mit dem „kranken Thier Mensch“ im Gegensatz zum „höherwertigen Typus“ meint, scheiden sich noch heute die Geister der Interpreten. Bekannt ist, dass in der ersten, aus heutiger Sicht unbeholfenen Nietzsche-Interpretation und insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus auf diese Frage eine verheerend einfache Antwort gegeben wurde. Die Kausalitäten in diesem Punkt können nicht bestritten werden, Nietzsches an vielen Stellen gewollt einfach, pauschalisierend und aggressiv gehaltene Sprache leistet menschenverachtenden Interpretationen Vorschub. Dies ist auf der Grundlage der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts entsprechend zu beurteilen. Doch kann heute bei dieser Einsicht nicht stehen geblieben werden, geht es doch um ein adäquates Verständnis und um eine differenzierte inhaltliche Interpretation von Nietzsches deskriptiver Moralphilosophie.
Ungeachtet der hohen Komplexität der Frage nach der Referenz in Nietzsches Modell soll eine vergleichsweise oberflächliche Diskussion des Phänomens für die vorliegende Untersuchung genügen.35 Demnach kann davon ausgegangen werden, dass Nietzsche zunächst in einer Art „Naturzustand“ mit einer quantitativ unterlegenen und physisch überlegenen und einer quantitativ überlegenen und physisch unterlegenen Klasse operiert. Die Mitglieder der physisch überlegenen Klasse bezeichnet Nietzsche als „Mächtige“, „Herren“,
„Gebietende“, „Reiche“, „Besitzende“, „Wahrhaftige“, „Ehrenmänner“, „Aristokraten“,
„Krieger“, „Ritter“, „Vornehme“. Die sie bezeichnenden Adjektive sind „vornehm“, „edel“,
„gut“ (im außermoralischen Sinn), „fruchtbar“, „glückverkündend“, „tauglich“, „tapfer“,
„begütert“, „rein“ (im außermoralischen Sinn), „schön“, „mächtig“, „glücklich“. Ihre
Attribute sind „Krieg“, „Spiele“, „Abenteuer“, „Jagd“, „Tanz“, „Kampfspiele“, „Macht“,
„Leiblichkeit“, „Gesundheit“, „Aktion“. Die physisch unterlegene Klasse bezeichnet
Nietzsche als „Plebejer“, „Priester“, „Elende“, „Arme“, „Niedrige“, „Ohnmächtige“,
„Leidende“, „Entbehrende“, „Kranke“, „Hässliche“. Ihnen kommen folgende Adjektive zu:
„gemein“, „pöbelhaft“, „niedrig“, „schlicht“, „bedauernswert“, „duldend“. Ihre Attribute sind „Reaktion“.
Nietzsche verbirgt seine eigene moralische Wertung in diesem Punkt nicht. Er bezieht eindeutig und unmissverständlich Stellung für die Klasse der physisch Überlegenen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte dies sicher noch als besondere Pointe gelten, Nietzsches Kritik der moralischen Wertungsweise besitzt jedoch auch ohne eine eigene Contra-Ethik volle Gültigkeit und ist von höchstem wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Interesse. Auch die strenge Kulturkritik ließe sich problemlos ohne seine vehement verkündete Absicht aufrechterhalten, gleich die gesamte Gesellschaft aus den Angeln ihrer jahrtausendelangen Geschichte hieven und sie auf ein völlig neues Fundament stellen zu wollen.
Es kann also zunächst einmal die relativ banale Erkenntnis festgehalten werden, dass es in Nietzsches Modell des Urzustandes Herrscher und Beherrschte gibt. Aufgrund des von Nietzsche in Anlehnung an Darwin postulierten Grundtriebes des „Willens zur Macht“ kommt beiden Klassen ein Verlangen nach Überlegenheit, Kontrolle und Dominanz zu, das naturgemäß von den einen besser als von den anderen direkt ausgelebt werden kann.
Die Sublimierung des Ohnmachtgefühls auf der Seite der physisch Unterlegenen, denen diese Möglichkeit der direkten Triebabfuhr in Form nach außen gerichteter Aggression versagt ist, führt zu einer Reaktion, die Nietzsche mit dem Schlagwort des Ressentiments bezeichnet.
Das Ressentiment
Nietzsches bedeutende These, die Darwins Theorie für eine Anwendung auf soziale Systeme modifiziert, ist, dass sich die physisch unterlegene Klasse mit der Moral eine Waffe schmiedete, die tödlicher sein kann als jeder Stahl. Die Unfähigkeit, den Unterdrückern im direkten Kampf zu begegnen, führte nach Nietzsche zu einer hochkomplexen und spannungsgeladenen Sublimierung der auf den Feind gerichteten Aggression. Nietzsches Schlagwort für diese Sublimierung ist das sprichwörtlich gewordene „Ressentiment“. Er beschreibt es wie folgt:
„Während der vornehme Mensch vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit lebt [...], so ist der Mensch des Ressentiments weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele schielt; sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hinterthüren, alles Versteckte muthet ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen.“36
Das Ressentiment hat somit primär kompensierende Funktion. Es kompensiert die fehlende körperliche Überlegenheit. Der sich ins unendliche aufstauende Hass gegenüber den Unterdrückern, gemischt mit dem als demütigend empfundenen Ohnmachtgefühl findet jedoch ebenfalls kein adäquates Ventil, die immer größer werdende Wucht der aufgestauten emotionalen Energie abbauen zu können. Das Prinzip des „Willens zur Macht“ gibt dieser Energie jedoch zumindest eine eindeutige Stoßrichtung. Sie zielt primär auf die Überwindung der Unterdrückung und sekundär auf die Revolution der sozialen Verhältnisse. Auf die komplizierte Frage, wie diese Ziele im Zustand der physischen Ohnmächtigkeit zu erreichen sind, versucht Nietzsche im weiteren Verlauf eine Antwort zu finden. Eine vorsichtige erste Auskunft gibt er mit der folgenden, in Teilen schon oben zitierten Formulierung:
“Die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr, - das macht, sie sind die grosse Zahl, sie sind auch klüger... Darwin hat den Geist vergessen (- das ist englisch!), die Schwachen haben mehr Geist ... Man muss Geist nöthig haben, um Geist zu bekommen, - man verliert ihn, wenn man ihn nicht mehr nöthig hat. Wer die Stärke hat, entschlägt sich des Geistes.“37
Der Geist - Nietzsche meint hier den Intellekt, den Verstand, die Auffassungs- und Kombinationsgabe - ist demnach aus einer Notwendigkeit heraus entstanden, als Schutz und als Waffe in einem erbarmungslosen Überlebenskampf:
„Eine Rasse solcher Menschen des Ressentiments wird nothwendig endlich klüger sein als irgend eine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit auch in ganz andrem Maasse ehren: nämlich als eine Existenzbedingung ersten Ranges, während die Klugheit bei vornehmen Menschen leicht einen feinen Beigeschmack von Luxus und Raffinement an sich hat: - sie ist eben hier lange nicht so wesentlich, als die vollkommne Funktions-Sicherheit der regulirenden unbewussten Instinkte oder selbst eine gewisse Unklugheit, etwa das tapfre Drauflosgehn, sei es auf die Gefahr, sei es auf den Feind, oder jene schwärmerische Plötzlichkeit von Zorn, Liebe, Ehrfurcht, Dankbarkeit und Rache, an der sich zu allen Zeiten die vornehmen Seelen wiedererkannt haben.“38
Wie der Intellekt alleine letztendlich in der Lage sein soll, die bestehende Ordnung tatsächlich umzustoßen, lässt Nietzsche im Unbestimmten. Dies ist wohl das größte Manko seiner Theorie. So schlagkräftig sie sein mag, sie zielt letztendlich nicht auf eine Theorie der Rechtfertigung oder Legitimation gewaltsamer Handlungen, sondern auf eine Theorie, in der die Revolution - der Aufstand - ganz explizit weitestgehend „in der Moral“ statt findet. Im Zentrum seiner Untersuchungen steht diesem Ansatz entsprechend also keine Untersuchung historischer Ereignisse, an denen er seine Theorie überprüfen (und in diesem Fall eventuell korrigieren) könnte. Nietzsche richtet seine Aufmerksamkeit vielmehr auf unsere alltägliche Sprache einerseits und unsere wissenschaftliche Sprache andererseits. In unserer gewöhnlichen Art zu denken und zu sprechen sowie in unserer besonderen Art, im wissenschaftlichen Diskurs zu argumentieren und zu begründen, erkennt Nietzsche auch heute noch das „listigste Tier“ Mensch, dessen zu höchsten Abstraktionen fähige Geistigkeit aus purem Überlebenstrieb heraus entstanden ist und sich in ihrem Kampf einer wissenschaftlichen Methode bedient, die eine erkenntnistheoretisch höchst zweifelhafte Semantik hervorbringt:
„Weder die Moral noch die Religion berührt sich im Christentum mit irgend einem Punkte der Wirklichkeit. Lauter imaginäre Ursachen („Gott“, „Seele“, „Ich“ „Geist“, „der freie Wille“ - oder auch „der unfreie“); lauter imaginäre Wirkungen („Sünde“, “Erlösung“, „Gnade“, „Strafe“, „Vergebung der Sünde“). Ein Verkehr zwischen imaginären Wesen („Gott“ „Geister“ „Seelen“); eine imaginäre Naturwissenschaft (anthropocentrisch; völliger Mangel des Begriffs der natürlichen Ursachen) eine imaginäre Psychologie (lauter Selbst-Missverständnisse, Interpretationen angenehmer oder unangenehmer Allgemeingefühle, zum Beispiel der Zustände des nervus sympathicus mit Hülfe der Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie, „Reue“, „Gewissensbiss“, „Versuchung des Teufels“, „die Nähe Gottes“); eine imaginäre Teleologie („das Reich Gottes“, „das jüngste Gericht“, „das ewige Leben“). - Diese reine Fiktions-Welt unterscheidet sich dadurch sehr zu ihren Ungunsten von der Traumwelt, dass letztere die Wirklichkeit wiederspiegelt, während sie die Wirklichkeit fälscht, entwerthet, verneint.“39
Es lässt sich unschwer erkennen, welches Gewicht Nietzsche einer Analyse unserer Sprache beimisst. Vielleicht ist Nietzsche in diesem Punkt ein wenig naiv. Eine reine Archäologie unserer Sprache läuft Gefahr, konkreten geschichtlichen Ereignissen im Allgemeinen und menschlichem Handeln im Speziellen zu wenig Gewicht beizumessen. Die so vehement propagierte „Sammlung des Materials“40 fällt bei Nietzsche durch die weitgehende Beschränkung auf die semantische Begriffs- und Sprachanalyse insgesamt dürftiger aus, als es für eine adäquate Behandlung des Themas nötig gewesen wäre. Die Vernachlässigung der historischen Methode zeigt sich beispielsweise an der Handhabung seines Gesellschaftsmodells. Nietzsche vermeidet es, sein Bild des Urzustandes anhand konkreter Beispiele zu stützen oder es etwa auf zeitgenössische politische Ereignisse anzuwenden. Insgesamt kommt Nietzsche so auf ein Ergebnis, das dem Intellekt und der Verstandesfähigkeit des Menschen gegenüber seinen tatsächlichen Handlungen einen zu großen Platz einräumt.
Im Hinblick auf die ursprüngliche Funktion des Intellekts sowie auf die Möglichkeit einer gezielt aggressiven Verwendung der Verstandesfähigkeit hat Freud einen ähnlichen, im Detail jedoch wesentlich verschiedenen Blickwinkel auf die Verstandesbegabung des Menschen, der sich nicht vor einer kulturwissenschaftlichen und sozialgeschichtlichen Betrachtung des Phänomens Gewalt verschließt:
„Interessenkonflikte unter den Menschen werden also prinzipiell durch die Anwendung von Gewalt entschieden. So ist es im ganzen Tierreich, von dem der Mensch sich nicht ausschließen sollte; für den Menschen kommen allerdings noch Meinungskonflikte hinzu, die bis zu den höchsten Höhen der Abstraktion reichen und eine andere Technik der Entscheidung zu fordern scheinen. Aber das ist eine spätere Komplikation. Anfänglich, in einer kleinen Menschenhorde, entschied die stärkere Muskelkraft darüber, wem etwas gehören oder wessen Wille zur Ausführung gebracht werden sollte. Muskelkraft verstärkt und ersetzt sich bald durch den Gebrauch von Werkzeugen; es siegt, wer die besseren Waffen hat oder sie geschickter verwendet. Mit der Einführung der Waffe beginnt bereits die geistige Überlegenheit die Stelle der rohen Muskelkraft einzunehmen; die Endabsicht des Kampfes bleibt die nämliche, der eine Teil soll durch die Schädigung, die er erfährt, und durch die Lähmung seiner Kräfte gezwungen werden, seinen Anspruch oder Widerspruch aufzugeben.“41
Interessant ist Freuds Formulierung - mit der Einführung der Waffe beginne die geistige Überlegenheit die Stelle der rohen Muskelkraft einzunehmen - da sie das System Nietzsches auf den Kopf stellt. Die Fähigkeit Waffen herzustellen ist nach Nietzsche überhaupt erst auf der Grundlage einer schon enorm fortgeschrittenen Vergeistlichung zu verstehen. Und selbst die todbringendsten Waffen sind nach Nietzsche nichts gegen die Möglichkeit, lediglich mit Hilfe des Verstandes, die Werte des Gegners anzugreifen.
Die Umwertung der Werte
Wie oben bereits dargestellt, ist die ursprüngliche Wertungsweise einerseits sowie die Gewaltausübung andererseits primär von der herrschenden Klasse ausgegangen. Über die zunehmende Vergeistigung ist die Klasse der Unterdrückten jedoch nach und nach in der Lage, an diesem Privileg zu rütteln. Nietzsches Stichwort für diesen schleichenden Prozess zunehmender Aggression durch die Mittel des Intellekts ist die „Umwertung der Werthe“. In ihr vollzieht sich eine Revolution der sozialen Ordnung, die uns heute „nur deshalb aus den Augen gerückt ist, weil sie - siegreich gewesen ist...“42
Die Revolution verläuft jedoch auf unsichtbaren, verworrenen Pfaden. Ihr Ziel ist es nicht, den Gegner in der direkten Auseinandersetzung zu treffen, sondern über das Werkzeug des Intellekts die Legitimation seines Handelns in Frage zu stellen und somit an den Fundamenten seines Selbstbewusstseins zu rütteln: „Das Ressentiment selbst wird schöpferisch und gebiert Werthe.“43Die Menschen des Ressentiments sind Nietzsche zufolge also „Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten“44können.
Das Recht der Ohnmächtigen auf Anklage ergibt sich für sie laut Nietzsche aus einem vor-bewussten Glauben an die Kausalität. Die Sprache verführe die Menschen dazu, zwischen Ursache und Wirkung zu trennen und hinter einer Äußerung von Stärke oder Gewalt eine weitere waltende Kraft zu vermuten, der es freisteht, Stärke zu äußern oder nicht:
„Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Thun, als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heisst, so trennt die Volks-Moral auch die Stärke von den Äusserungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es freistünde, Stärke zu äussern oder auch nicht. Aber es gibt kein solches Substrat; es giebt kein „Sein“ hinter dem Thun, Wirken, Werden; „der Thäter“ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, - das Thun ist Alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Thun, wenn es den Blitz leuchten lässt, das ist ein Thun-Thun: es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung.“45
In dieser Textstelle vermischt Nietzsche auf eine methodologisch eher fragwürdige Art und Weise mehrere nicht zusammengehörende Elemente, die man bewusst auseinander halten sollte. Zum einen zielt er auf eine Kritik der traditionellen Erkenntnistheorie, welche die Kausalität nicht als Prinzip, sondern als Gesetz betrachtet, die also ihre Beschreibungen nicht mit Hilfe der Kausalität formuliert, sondern die vielmehr Ereignisse unter Rekurs auf die Kausalität erklärt. So kritisiert Nietzsche auch die wissenschaftliche Sprache der Naturwissenschaft, „wenn sie sagen, die ‚Kraft bewegt, die Kraft verursacht’ und dergleichen.“46Nietzsche nennt dies die „in der Sprache versteinerten Grundirrthümer der Vernunft.“47Sein Anliegen ist berechtigt, die Kritik legitim, nur gehört sie - zumindest in dieser Form - nicht den Bereich seiner Moralkritik. Ein weiterer Punkt, der durchaus kritisch zu betrachten und von den erkenntnistheoretischen Implikationen der nietzscheschen Konzeption streng zu trennen ist, ist seine Parteinahme gegen die Position der im Urzustand unterdrückten Gesellschaftsschicht, die auch in dem oben zitierten Textabschnitt, besser noch im nächsten Zitat zu spüren ist. Seine Kritik der moralischen Wertungsweise hat, wie oben bereits gesagt, auch ohne diese Stellungnahme ihre volle Bedeutung.
Nietzsche versucht in diesem Abschnitt des weiteren zwei kritische Punkte zu suggerieren, die er nicht explizit ausführt, die sich aber sehr deutlich herausarbeiten lassen. Zum einen leitet er von dem als irrtümlich oder irreführend erkannten Glauben an eine Kausalität direkt ab, dass der Mensch keinen Einfluss auf und keine Kontrolle über bestimmte Wesens- oder Charaktereigenschaften bzw. über sein Verhalten hat. Die Konklusion dieser Argumentation zaubert Nietzsche wie den berüchtigten Hasen aus dem Hut - sie ist nicht nur formallogisch ungültig, sondern widerstrebt den „feinen Sinnen“, wie Nietzsche sagen würde. Der zweite Punkt ist mit dem ersten verwandt und betrifft das nietzschesche Gesellschaftsbild, in dem durchaus in einem streng genetischen Sinne zwischen „edlen“ und „niederen“ Rassen unterschieden wird. Sein Vergleich mit Raubvögeln und Lämmern48kann heute nur als geschmacklos bezeichnet werden.
Insgesamt macht Nietzsche meiner Meinung nach an dieser Stelle erneut den Fehler, den Intellekt zu sehr in den Vordergrund zu stellen, ihn auf einem Niveau zu untersuchen, der weit über dem alltäglicher inter- und transindividueller Kommunikation liegt. Dadurch verdeckt er ein wenig die real vorhandenen Stärken und Vorzüge seines Systems. So etwa die These, die Stärke der Mächtigen sei ihnen von den Unterdrückten umso stärker als im moralischen Sinne böse ausgelegt worden, je deutlicher sich dem niedrigen Volk die Wahlfreiheit der Mächtigen dargestellt habe. Zwar arbeitet Nietzsche am Rande aus, dass die Ohnmächtigen ihre Schwachheit als einen Verdienst darstellten, doch unter seinen Verteidigungsreden der „aristokratischen Gesellschaftsschicht“ geht diese interessante Bemerkung beinahe vollständig unter. So sieht er etwa keinerlei Notwendigkeit, den von ihm vorgezeichneten Weg zu folgen und die Theorie auf verschiedene historische Ereignisse anzuwenden. Eine solche Analyse wäre von sehr großem Interesse und Nietzsche wäre durchaus in der Lage gewesen, sie im Detail durchzuführen. Seine Hymnen auf die Starken sind angesichts dieses Mangels hingegen wenig ergiebig:
„Von der Stärke verlangen, dass sie sich nicht als Stärke äussere, dass sie nicht ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwerden- Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist gerade so widersinnig, als von der Schwäche verlangen, dass sie sich als Stärke äussere.“49
Nichtsdestotrotz möchte ich das Augenmerk auf dieses Detail lenken und von dieser Grundlage aus den Prozess der „Umwerthung“ so beschreiben, wie er sich Nietzsche darstellt. Indem die unterlegene Gesellschaftsschicht ihren eigenen Standpunkt als Verdienst empfindet und ihn auch als solchen bezeichnet, ist der erste und radikalste Schritt im Prozess der „Umwerthung aller Werthe“ bereits getan. Die Legitimität des „aristokratischen Selbstverständnisses“ steht auf dem Prüfstein. Die weit reichende Bedeutung dieses Ereignisses liegt darin, dass die Klasse der Herrschenden und somit auch ihre Ideale, ihre Begriffe, ihr Handeln, in den Kategorien der Unterdrückten gemessen und beurteilt wird. An diesem frühen Punkt schon ist also das Privileg der Herrschenden, Werte und Bedeutungen zu setzen, unterhöhlt und der gesamte weitere Verlauf des Prozesses innerlich angelegt. Nietzsche führt nun im Detail aus, wie der ursprünglichen Wertungsweise der Aristokraten eine Contra-Wertung der Unterdrückten gegenübergestellt wird. Mit eiserner Folgerichtigkeit werden sämtliche Begriffe der Herrschenden, deren Semantik sich aus dem Pathos der Distanz heraus entwickelt hat, neu bewertet und mit einer neuen, grundlegend konträren Bedeutung versehen. Begriffe, die ursprünglich ein im moralischen Sinne wertneutrales Verhältnis der einen Gesellschaftsschicht zu einer anderen beschrieben haben, werden in einem geistigen bzw. intellektuellen Schöpfungsakt mit Blick auf das eigene
Interesse bewertet, also mit einer neuen, jetzt moralischen Bedeutung, mit einer neuen moralischen Semantik belegt. Dies betrifft etwa Begriffe wie einerseits edel, vornehm, adlig, höherstehend, begütert, mächtig etc., andererseits gemein, niedrig, schlecht, elend, unglücklich etc. Sämtliche Begriffe beinhalteten ihrer ursprünglichen Bedeutung zufolge laut Nietzsche lediglich Bezeichnungen für eine Position im gesellschaftlichen Gesamtkontext, jedoch noch keine moralische Beurteilung. Die erste Gruppe von Begriffen kam den Herrschenden zu, die zweite Gruppe von Begriffen den Unterdrückten. Im Prozess der Re- semantisierung wurden die Zuweisungen von der Klasse der Unterdrückten umgedreht. Adjektive wie gemein, niedrig, schlecht, elend etc. bekamen den Beiklang des moralisch Verwerflichen, des moralisch Bösen und wurden in der exakten Umkehrung des ursprünglichen Gebrauchs von den Unterdrückten auf die Schicht der Unterdrücker angewandt. Die eigene Lebensweise, das eigene Handeln wurde nun als edel, vornehm, adlig, höherstehend, begütert und mächtig empfunden - ebenfalls nun im moralischen Sinne:
„Die Schwäche soll zum Verdienste umgelogen werden [...] und die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur „Güte“; die ängstliche Niedrigkeit zur „Demuth“; die Unterwerfung vor Denen, die man hasst, zum „Gehorsam“ [...]. Das Unoffensive des Schwachen, die Feigheit selbst, an der er reich ist, sein An- der-Thür-stehn, sein unvermeindliches Warten-müssen kommt hier zu guten Namen, als „Geduld“, es heisst auch wohl die Tugend; das Sich-nicht-rächen- Können heisst Sich-nicht-rächen-Wollen, vielleicht selbst Verzeihung [...]. Auch redet man von der „Liebe zu seinen Feinden“ - und schwitzt dabei.“50
Der Sklavenaufstand in der Moral
Der von Nietzsche so bezeichnete „Sklavenaufstand in der Moral“ ist der mithin komplizierteste, am undeutlichsten ausgeführte Bereich im Gesamtkonzept der nietzscheschen Moralphilosophie. Nichtsdestoweniger möchte ich versuchen, seine Gedanken zu diesem Thema so weit als möglich schlüssig und überzeugend darzulegen und gegebenenfalls in einigen Punkten zu korrigieren und zu erweitern.
Wie oben dargestellt, stehen sich im Akt der „Umwerthung aller Werthe“ die „aristokratische Werthungsweise“ und die von Nietzsche so bezeichnete „Sklavenmoral“ unversöhnlich gegenüber. Das hochkomplexe System von miteinander konkurrierenden Wertungsweisen fasst Nietzsche unter den Begriffsparen „gut und schlecht“ und „gut und böse“ zusammen. Das erste Begriffspaar steht paradigmatisch für die nicht-moralische Wertungsweise der Herrschenden, das Gegensatzpaar „gut und böse“ stellt hingegen die moralische Wertungsweise der Unterdrückten dar. Die beiden Systeme bilden semantisch gesehen einen Chiasmus - das „gut“ des ersten Paares ist das „böse“ des zweiten und entsprechend fällt das „schlecht“ der „herrschaftlichen“ Wertungsweise mit dem „gut“ der moralischen Wertung zusammen. Aus letzterer ging schließlich ein ganzes wissenschaftliches System hervor, das Nietzsche zufolge letztendlich einen furchtbaren, jahrtausendelangen Kampf auf Erden gewonnen hat. Dieser Kampf ist es, den er als „Sklavenaufstand in der Moral“ bezeichnet.
In einer emotional sehr aufgeladenen und polemisch gegen die Entwicklungsgeschichte der jüdischen Religion gehaltenen Sprache beschreibt Nietzsche die Grundlagen dieses Kampfes wie folgt:
„Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Werthgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflößenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich »die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein giebt es Seligkeit, - dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten
sein!«“51
Da Nietzsche mit beißender Polemik nicht spart und zu genüge auch andere Religionen und Kulturen sowie quasi schon aus Prinzip die Gesellschaft und die Politik im Allgemeinen angreift, darf die polemische Spitze gegen das jüdische Volk nicht überbewertet werden. Die Analyse, die sich dahinter verbirgt, lässt sich auf alle historischen und sozialen Kontexte übertragen, in denen zwei oder mehrere unterschiedlich starke gesellschaftliche Machtsysteme aufeinandertreffen. Dort, so Nietzsche, wird beinahe notwendig die unterlegene Seite beginnen, die mangelnde Fähigkeit, Gewalt zielführend (also nutzbringend) auszuüben, in Form eines Rachefeldzuges auf dem Gebiet der Moral zu kompensieren. In der französischen Revolution etwa, so die Interpretation des Autors, wurde die letzte politische Vornehmheit, die es in Europa gab, von volkstümlichen Ressentiment-Instinkten entmachtet - der Sklavenaufstand in der Moral hat gesiegt. Dieser Sieg kann zugleich als Intoxikation, als geistige Vergiftung bezeichnet werden - oder aber als Triumph des Intellekts, dessen einziges Ziel laut Nietzsche die Kompensierung des physischen Ohnmachtgefühls war. Als Intoxikation bezeichnet Nietzsche die Etablierung des wissenschaftlichen (Rechtfertigungs-) Systems, weil es nicht Erkenntnis auf seine Fahnen geschrieben hat, sondern die Vernichtung der gegnerischen Existenz. Bei genauer Analyse des wissenschaftlichen Systems lassen dessen Begrifflichkeiten, Grundannahmen und Argumentationsmuster diesen Zweck noch erahnen.
Von dieser nietzscheschen Kritik kann man viel lernen, wenn man sie ganz bewusst auch auf die eigenen Systeme bezieht. Unter System kann hier im weitesten Sinne die Begrifflichkeit und Verwendungsweise der Sprache, die Physiognomie philosophischer Systeme sowie die Axiomatik und Argumentation der Wissenschaften verstanden werden. Die Frage jedoch, wie ein wissenschaftliches System eine Revolution „in der Moral“, also innerhalb seines eigenen Begriffs- und Wertekosmos ohne physische Gewaltausübung in die Wege leiten kann, die tatsächlich in der Lage ist das bestehende System zugunsten der hinter dem wissenschaftlichen System stehenden Wertungsgemeinschaft umzuwälzen, kann die Theorie Nietzsches nicht beantworten. Die Erkenntnis, dass Legitimation, Rechtfertigung und Begründung eine immens bedeutende Rolle spielen, ist jedoch schon für sich genommen von hohem Interesse. Auf der Basis dieser Erkenntnis sind Formulierungen wie die folgende zu verstehen:
„Wenn man sich an einem Gegner durchaus rächen will, so soll man so lange warten, bis man die ganze Hand voll Wahrheiten und Gerechtigkeiten hat und sie gegen ihn ausspielen kann, mit Gelassenheit: sodass Rache üben mit Gerechtigkeit üben zusammenfällt.“52
Man tut gut daran, sich von der oftmals primitiven, rauen Sprache Nietzsches nicht in die Irre führen zu lassen. Es geht um eine hochsensible und feinsinnige Kritik der Grundlagen unseres weltanschaulichen Selbstverständnisses mit den Mitteln einer neu entwickelten Archäologie unserer alltäglichen und wissenschaftlichen Sprache und der Analyse der Semantik ihrer Begriffe.
Vielleicht aufgrund einer Überbewertung dieser Archäologie der Sprache übersieht Nietzsche - und das steht dem oberflächlichen Eindruck seiner Ausdrucksweise merkwürdigerweise diametral entgegen - dass eine Wertschöpfung in Form einer semantischen Neubestimmung altbekannter Begriffe noch keine tatsächliche Revolution der Gesellschaftsverhältnisse leisten kann. Nietzsche übersieht also beinahe systematisch, dass die angestrebte Umwälzung selbst bei hohem intellektuellen Vermögen ganzer Gesellschaftsschichten, wie es das Ressentiment hervorbringen kann, nur über eine exzessive Gewaltausübung umzusetzen ist und dass - Intellekt hin oder her - letztendlich derjenige die Oberhand gewinnen oder behalten wird, der die größeren militärischen Mittel aufbieten kann.
Unbestreitbar ist, welch große Rolle wissenschaftliche Rechtfertigungssysteme im Prozess der Zivilisation schon immer gespielt haben und wohl auch weiterhin spielen werden. Doch den Schlüssel zu einem adäquaten Verständnis gesellschaftlicher Machtverschiebungsprozesse liefert das Konzept des “Aufstandes in der Moral” nicht. Ich schlage daher vor, den Blick auf eine mögliche Konzeption eines Aufstandes mit der Moral zu lenken und die Bedeutung von wissenschaftlichen und moralisch-wissenschaftlichen Begründungs- bzw. Rechtfertigungssystemen für die Etablierung einer physisch überlegenen Gegenmacht zu der als Aggressor erlebten Schicht der Herrschenden zu untersuchen.
KRITIK DER NATURRECHTSKONZEPTION
Erst wenn die Vertreter der Zukunftsordnung denen der alten Ordnungen im Kampfe gegenüberstehen und beide Mächte sich gleich oder ähnlich stark finden, dann sind Vertrage möglich, und auf Grund der Verträge entsteht nachher eine Gerechtigkeit.
- Menschenrechte gibt es nicht.
NIETZSCHE
Gesellschaftliche Machtsysteme
Aus dem als „Sklavenaufstand in der Moral“ bezeichneten Machtkampf zwischen zwei ungleich starken sozialen Schichten hat sich nach und nach eine in unseren Breitengraden inzwischen relativ stabile Gesellschaftsordnung herausgebildet, die einerseits auf einem hochkomplexen wissenschaftlichen Rechtfertigungssystem, andererseits auf einem undurchdringlichen Netz von Normen und Geboten basiert. Die Macht- und Gewaltausübung findet in kontrollierten Bahnen statt, wurde kanalisiert und in vielen Bereichen ist sie vollständig verschwunden. In einer gewaltfreien Gesellschaft leben wir allerdings nicht - wird gegen die Normen verstoßen, so bekommt der Gesetzesübertreter stehenden Fußes die eiserne Faust staatlicher Gewalt zu spüren und verliert unter Umständen auch grundlegende Bürger- und Freiheitsrechte. In vielen Demokratien verleiht sich das regierende Volk - auch „öffentliche Gewalt“ oder „Staatsmacht“ genannt - sogar die (wissenschaftlich gesicherte) Legitimität, Menschen, die gegen fundamentale Regeln verstoßen, zu töten.
Die Entstehung eines solch differenzierten Macht- und Normgefüges ist ein Thema für sich und kann daher hier nicht angemessen behandelt werden. Doch einige wesentliche Punkte im Hinblick auf die Entstehung von Recht und Gesetz sind für diese Untersuchung von großer Bedeutung und sollten daher zumindest in Ansätzen analysiert werden.
Die macht- und interessenspolitischen Grundlagen unserer Rechtsstaatlichkeit hat etwa auch Freud untersucht. Die Legitimität der staatlichen Gewaltausübung stellt er dabei nicht infrage - seiner Auffassung zufolge legitimiert sich die Macht durch Ausübung von Gewalt selbst. Ihm geht es vielmehr um eine Kritik einer wissenschaftlichen, und somit als explizit objektiv dargestellten Scheinlegitimität. Dieses wissenschaftliche System hat den Konkreten Nutzen, die Bindungen zwischen den Individuen einer Gemeinschaft zu festigen und somit das Machtgefüge gegen Angriffe von innen wie von außen zu stärken:
„Das ist also der ursprüngliche Zustand, die Herrschaft der größeren Mach, der rohen oder intellektuell gestützten Gewalt. Wir wissen, dies Regime ist im Laufe der Entwicklung abgeändert worden, es führte ein Weg von der Gewalt zum Recht, aber welcher? Nur ein einziger, meine ich. Er führte über die Tatsache, dass die größere Stärke des Einen wettgemacht werden konnte durch die Vereinigung mehrerer Schwachen. „L’union fait la force.“ Gewalt wird gebrochen durch Einigung, die Macht dieser Geeinigten stellt nun das Recht dar im Gegensatz zur Gewalt des Einzelnen. Wir sehen, das Recht ist die Macht einer Gemeinschaft. Es ist noch immer Gewalt, bereit sich gegen jeden Einzelnen zu wenden, der sich ihr widersetzt, arbeitet mit denselben Mitteln, verfolgt dieselben Zwecke; der Unterschied liegt wirklich nur darin, dass es nicht mehr die Gewalt des Einzelnen ist, die sich durchsetzt, sondern die der Gemeinschaft.“53
Freud führt des weiteren aus, dass sich beim Übergang von der ursprünglichen, rohen Gewalt zum Recht ein Wandel vollziehen müsse, der nur auf der Grundlage einer besonderen psychologischen Voraussetzung denkbar ist. Damit der Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft gegeben sein kann, ohne den ein beständiges und dauerhaftes Machtgefüge nicht vorstellbar ist, müssen „Gefühlsbindungen“ zwischen den Mitgliedern einer solchen Interessensgemeinschaft bestehen. Freuds Ausführungen zufolge liegt die eigentliche Stärke eines Gemeinwesens in solchen Gemeinschaftsgefühlen, auf Grund derer die Gesellschaft erst in der Lage ist, sich zu organisieren, Vorschriften zu schaffen, Organe zu bestimmen und somit die Gewalt durch Übertragung der Macht an eine größere Einheit zu überwinden. Diese streng kontrollierte und reglementierte Machteinheit ist durch ihre so gewonnene Verfasstheit in der Lage, die Freiheitsrechte einzelner zugunsten des Zusammenlebens vieler einzuschränken, also eine mögliche Gewaltausübung des Individuum durch Gegengewalt zu kontrollieren bzw. von vornherein unwahrscheinlich zu machen.
Die Ungleichheit der Individuen innerhalb der Gesellschaft (Männer und Frauen, Eltern und Kinder, Reiche und Arme, Sieger und Besiegte etc.) wird jedoch auch in einem relativ gefestigten Gemeinwesen stets zu unvermeidlichen Spannungen führen, die sich unter Umständen nur schwer unter Kontrolle halten lassen. Freud arbeitet hier zwei Hauptquellen für die Rechtsunruhe heraus. Ins Blickfeld geraten dabei die Versuche Einzelner, von der Rechtsherrschaft auf die Gewaltherrschaft zurückzugreifen, sowie die Bestrebungen der Unterdrückten bzw. Machtlosen oder Machtarmen, sich mehr Macht zu verschaffen und von ungleichem zu gleichem Recht für alle vorzudringen. Die Verschiebung der Machtverhältnisse im Zuge revolutionärer Vorgänge wie Auflehnung oder Bürgerkrieg kann zur Etablierung neuer Rechtsordnungen, neuer normativer Systeme und neuer wissenschaftlich-moralischer Rechtfertigungskonzepte führen.
Wissenschaftliche Rechtfertigungssysteme Die Funktionsweise wissenschaftlicher Rechtfertigungssysteme kann nirgendwo besser beobachtet werden, als im direkten Umfeld eines Krieges. Das Augenmerk wird sich für eine Analyse dieser Art notwendigerweise auf die Begleiterscheinungen kriegerischer Auseinandersetzungen richten müssen - auf die miteinander im Widerstreit liegenden ideologischen Weltanschauungssysteme, auf wissenschaftliche Argumentationskomplexe und nicht zuletzt auch auf die Eigenarten der medialen Vermarktung eines solchen Kampfes.
In Bezug auf Kriege klaffen Fakten und Interpretationen so extrem weit auseinander, dass die Spannungen relativ deutlich zum Vorschein treten. Einerseits bedeutet Krieg zumeist den Tod vieler tausend Menschen sowie die Verwüstung breiter Landstriche und starke wirtschaftliche wie kulturelle Einbrüche. Auf der anderen Seite ist es jedoch eher unwahrscheinlich - die Erfahrung lehrt dies -, dass der eigene Krieg von der kriegführenden Partei als moralisch ungerechtfertigt oder, stärker noch, als moralisch böse dargestellt wird. Darüber hinausgehend kann sogar festgehalten werden, dass die im Krieg stehenden Interessensparteien entpersonalisiert werden. Es sind nach außen hin zumeist intelligible oder religiös anmutende Mächte, die miteinander im Kampf zu stehen scheinen, selten die tatsächlichen Parteien und Interessensverbände. Eine solche Macht ist etwa - um auf ein aktuelles Beispiel zu referieren - die von Bush beschworene „Infinite Justice“, das „Gute“ oder eben auch das „Böse“. Es geht also tatsächlich um so genannte „Kreuzzüge“ und einen „Kampf des Guten gegen das Böse“, um einen „heiligen Krieg“.
Jeder Bombe, die derzeit über Afghanistan niederregnet, wird ein Stückchen Brot hinterhergeworfen, das die Gewaltausübung legitimiert. Was hier geschieht ist nichts anderes, als eine rituelle Weihung der Waffe mit Hilfe der Insignien einer als universell gültig deklarierten Moral. Was Nietzsche in diesem Zusammenhang vor über einhundert Jahren über das Selbstverständnis einer Gesellschaft und über die Legitimation ihrer Handlungen schrieb, klingt auf merkwürdige Art und Weise vertraut und aktuell:
„»Wir sind die Guten - wir sind die Gerechten« - was sie verlangen, das heissen sie nicht Vergeltung, sondern ‚den Triumph der Gerechtigkeit’; was sie hassen, das ist nicht ihr Feind, nein! sie hassen das ‚Unrecht’, die ‚Gottlosigkeit’; was sie glauben und hoffen, ist nicht die Hoffnung auf Rache, die Trunkenheit der süssen Rache (- ‚süsser als Honig’ nannte sie schon Homer), sondern der Sieg Gottes, des gerechten Gottes über die Gottlosen; was ihnen zu lieben auf Erden übrig bleibt, sind nicht ihre Brüder im Hasse, sondern ihre ‚Brüder in der Liebe’, wie sie sagen, alle Guten und Gerechten auf der Erde.’“54
Auf der Grundlage des oben erarbeiteten Verständnisses der nietzscheschen Moral- Konzeption dürfte es nun keine Schwierigkeit darstellen, auch die Naturrechtslehre als ein solches wissenschaftliches Rechtfertigungssystem anzusehen und sie in diesem Sinne einer umfassenden Kritik zu unterziehen. Ziel der Argumentation auf der Ebene des Naturrechts kann es also nur sein, über eine schlagkräftige, wissenschaftlich scheinbar in sich schlüssige Beweisführung Vorteile einem Gegner gegenüber zu erzielen. Dabei ist die Naturrechtsprämisse im Sinne Poppers weder falsifizierbar noch verifizierbar, sie erfüllt also nicht einmal die elementarsten Anforderungen, die heute an eine wissenschaftliche Behauptung gestellt werden müssen.
Dem Wesen nach ist das Naturrecht mit dem positiven Recht identisch. Auch das Naturrecht wird positiv gesetzt, auch das Naturrecht unterliegt sozialen und kulturellen Wandlungen und zeigt sich abhängig von Raum und Zeit in dem Gewandt der zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Situation. Wer gegen das Naturrecht verstößt, wird wie auch bei einem Verstoß gegen das positive Recht von der Gesellschaft bestraft. Alles, was über diese Interpretation hinausgeht, gehört also in den Bereich der Religion bzw. des Glaubens. Von einer göttlichen Strafe für „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ kann man ebenso wenig ausgehen, wie von der Vorstellung einer universellen Gerechtigkeit, die jenseits unserer menschlichen Existenz liegt und sich etwa in den Gesetzen der reinen Vernunft formuliert.
Dennoch macht es natürlich Sinn, zwischen Naturrecht und positivem Recht zu differenzieren, doch liegt dieser Nutzen nicht in einer Erkenntnis von wie auch immer gearteten Wahrheiten, sondern in der Bedeutung für den Menschen, für sein Handeln und seine Position im sozialen Kontext. Eine Argumentation innerhalb der Begrifflichkeit einer Moral ist in diesem Sinne eine Argumentation auf der Ebene des Glaubens, des Gefühls, die sich im Gewandt einer Argumentation mit den Begriffen der reinen, objektiven Wissenschaft präsentiert. Die Moral erhebt also auf nichts geringeres Anspruch, als auf die Anerkennung ihrer unverfälschten Erkenntnis der universellen Wahrheit. Im Geiste dieser Wahrheit gelingt es ihr schließlich, eine Armee aufzustellen und für den gewaltsamen Kampf gegen die
Verkörperung des moralisch Bösen in der Gestalt des aus Nutzenerwägungen zu besiegenden Feindes zu rüsten.
NACHWORT
Mit diesen Überlegungen zum Nutzen und Nachteil der Naturrechtskonzeption für das Leben hoffe ich gezeigt zu haben, welch eminent hohe Bedeutung das wissenschaftliche Rechtfertigungssystem im Hinblick auf gesellschaftliche Interessenskonflikte hat. Der nietzscheschen Moralpsychologie folgend habe ich eine in sich schlüssige Interpretation menschlicher Wertsetzungsprozesse zu liefern versucht, die mehr noch als bei Nietzsche den Aspekt der reellen Gewaltausübung in das Blickfeld ihrer Analyse nimmt. Als das größte Verdienst Nietzsches kann wohl der Nachweis angesehen werden, dass sich die darwinsche Theorie vom struggle for life nicht ohne bedeutende inhaltliche Modifikationen auf das System menschlicher Gesellschaften übertragen lässt. Der nietzscheschen Gegenthese vom Aufstand in der Moral hingegen muss ebenfalls widersprochen werden. Soziale Umwälzungen sind in der Geschichte nur unter der Voraussetzung machtpolitischer, sprich militärischer Überlegenheit erfolgreich gewesen. Das Konzept eines Aufstandes mit der Moral erscheint also zur Beschreibung revolutionärer gesellschaftlicher Umwälzungsprozesse in wesentlichen Punkten plausibler und überzeugender. Ins Zentrum der Bemühungen um ein adäquates Verständnis rückt somit die Frage nach der Bedeutung wissenschaftlicher Rechtfertigungs- und Legitimationssysteme. In diesem Sinne kann und muss auch die Naturrechtskonzeption einer umfassenden Kritik unterzogen werden. Ihre eigentliche Bedeutung für das Individuum und für die Gesellschaft, ihr Nutzen und Nachteil für das Leben, liegt nicht in einer interesselosen Anschauung der Wahrheit, sondern in machtpolitischen Nutzen-Nachteil-Erwägungen.
ANHANG I: DIE NATURRECHTSLEHRE
Naturrechtlich lässt sich der Gewaltstaat wie der Rechtsstaat, der Volksstaat wie der Imperialismus, die Demokratie wie die Diktatur begründen.
BONHOEFFER
Bei der Frage nach dem Wesen des Naturrechts geht es für den Menschen des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts um nichts Geringeres als um die Frage nach der Legitimität der juristischen Verurteilung einer Hundertschaft von NS- Richtern, NS-Politikern, NS-Gefolgsleuten und NS-Henkern, die streng nach geltendem, positiven Recht gehandelt haben und dabei das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte begingen.
Die Nürnberger Prozesse sind ein Musterbeispiel für das Ringen nach einer menschlichem Ermessen zufolge gerechten Bestrafung von Verbrechern „gegen die Menschlichkeit“ (orig.: against humanity - eigentlich: gegen die Menschheit). Im Zentrum der auch heute noch bedeutenden erkenntnistheoretischen und ethischen Überlegungen bei der Suche nach einem gerechten Recht steht die Frage nach dem so genannten „Naturrecht“. Werden Handlungen dann und nur dann als Straftaten angesehen, wenn sie Verstöße gegen geltendes Recht sind, kann eine Verurteilung von NS-Aktionisten nur in den allerseltensten Fällen geschehen - genau dann nämlich, wenn die entsprechende Person mit ihrer Handlung gegen zur Zeit der Handlung geltendes Recht verstoßen hat. Diese rechtspositivistische Auffassung hätte die Richter von Nürnberg dazu genötigt, die Angeklagten nach dem als unrechtmäßig empfundenen NS-Recht zu beurteilen. Diesem Dilemma wollte man verständlicherweise unter allen Umständen entgehen. Auch eine relativistische Auffassung von Recht und Gerechtigkeit wollte man wenn möglich vermeiden. Diese hätte besagt, dass die Handlungen zwar vom Standpunkt des als gerecht empfundenen neuen Rechtes bestraft worden wären, dass man dieses neue Recht jedoch dem noch kurz zuvor geltenden NS-Recht als ebenfalls geschichtlich und kulturell bedingt und somit prinzipiell gleichrangig hätte gegenüberstellen müssen.
Aus dieser Zwickmühle hat man sich mit Hilfe der Naturrechtskonzeption befreit. Diese besagt, dass es vorstaatliche Rechte gibt, die unabhängig von jeglichem positiven Recht bestehen und jedem Menschen ohne Ansehung „seines Geschlecht, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen“55 und seiner physischen Konstitution zukommen. Der Terminus „Menschlichkeit“ nimmt dabei innerhalb der Naturrechtslehre eine Zentralposition ein - die Übersetzungsungenauigkeit bei der Übertragung des Grundsatzes VI. der „International Law Commission“ der Vereinten Nationen vom 29. Juli 1950 hat somit System: Ein Verbrechen gegen die Menschheit besitzt lange nicht die dramatische Brisanz eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit.
Die an exponierter Stelle im deutschen Grundgesetzt eingeführte Menschenwürde ist analytisch an das Konzept der Menschlichkeit gekoppelt und somit untrennbar mit diesem verbunden. Die Menschlichkeit ist demnach das eigentliche Begründungsaxiom der Menschenwürde. Aufgrund seiner Menschlichkeit, die je nach Art der Stoßrichtung über die Verstandesfähigkeit des Menschen, seine göttliche Abstammung etc. begründet werden kann, hat der Mensch Würde. Im deutschsprachigen Rechtssystem ist diese Würde unveräußerlich und somit unantastbar, also dem menschlichen Zugriff entzogen. Das Rechtssystem der Vereinigten Staaten schaltet das Konzept der Person zwischen und kann somit wesentlich einfacher über die Rechte der Menschen verfügen. Ganz pragmatisch gesprochen ist die Menge der Personen im US-amerikanischen Rechtsverständnis eine reale Teilmenge der Menge der Menschen. Würde und basale Menschenrechte kommen lediglich der Person zu - auf das Menschsein alleine gründet noch kein Anspruch auf Anerkennung vorstaatlicher Rechte. Die vorstaatlichen Rechte werden einem Bürger Nordamerikas vom Staat zugesprochen, sobald er sich aufgrund bestimmter Eigenschaften den Personenstatus erwirbt, bzw. solange er nicht aufgrund bestimmter Vorfälle den Personenstatus verliert. Verliert er den Anspruch, von der Gesellschaft als Person behandelt zu werden, verliert er automatisch auch die grundlegenden Menschenrechte. Diese Argumentation rechtfertigt etwa die Todesstrafe, die auf der Grundlage des deutschen Rechtsverständnisses inzwischen undenkbar geworden ist (es erscheint dennoch sehr weise, auch in Deutschland zu diesem Thema keine Volksbefragung durchzuführen). Mit dem Vollzug eines Mordes und unter bestimmten Rahmenbedingungen (Mindestalter, Zurechnungsfähigkeit, Vorsatz) verliert ein Einwohner der Vereinigten Staaten ohne weiteres Rechte, auf die das deutsche Rechtssystem durch den Akt der Selbstbeschränkung gar keinen Zugriff hat.
ANHANG II: LITERATUR
- Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 7. Hrsg.
von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997.
- Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd.
12. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997.
- Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt am Main 31997.
- Bonhoeffer, Dietrich: Ethik. München 1949.
- Darwin, Charles: On the Origin of Species by Means of Natural Selection. 2 Bde. 1859.
- deMause, Lloyd: Was ist Psychohistorie? Eine Grundlegung. Hrsg. A.R. Boelderl u. L.
Janus. Gießen 2000.
- Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Eine Einführung in
den ethnopsychoanalytischen Prozess. Frankfurt am Main 1984.
- Figal, Günter: Nietzsche. Eine philosophische Einführung. Stuttgart 1999.
- Freud, Sigmund: Totem und Tabu. In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. 9. Frankfurt am
Main 1999.
- Freud, Sigmund: Warum Krieg? In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. XVI, S. 14-17.
- Fromm, Erich: Die Gesellschaft als Gegenstand der Psychoanalyse. Frühe Schriften zur
Analytischen Sozialpsychologie. Hrsg. R. Funk. Frankfurt am Main 1993.
- Gerhard, Volker: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches.
Stuttgart 1988.
- Grau, Gerd-Günther: Ideologie und Wille zur Macht. Zeitgemäße Betrachtungen über
Nietzsche. Monografien und Texte zur Nietzsche-Forschung Bd. 13, hrsg. von E. Behler,
M. Montinari, W. Müller-Lauter, u.a. Berlin, New York 1984.
- Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland.
- Kopernikus, Nikolaus: Sechs Bücher über die Umläufe der Himmelskörper (De
revolutionibus orbium coelestium libri VI). 1543, dt. 1879, Neudruck 1939.
- Müller-Lauter, Wolfgang: Über Freiheit und Chaos. Nietzsche-Interpretationen Bd. 2.
Berlin, New York 1999.
- Müller-Lauter, Wolfgang: Über Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen
Bd. 1. Berlin, New York 1999.
- Winkler, Heinrich August: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum
Untergang der Weimarer Republik. Bonn 2000.
[...]
1Ursprünglich gefiederten.
2Bonhoeffer, Dietrich: Ethik.
3Z.B. VI, 175.
4Vgl. Fromm: Die Gesellschaft als Gegenstand der Psychoanalyse. Frühe Schriften zur Analytischen Sozialpsychologie.
5Vgl. deMause: Was ist Psychohistorie? Eine Grundlegung.
6Vgl. Erdheim: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess.
7V, 105f.
8V, 106.
9Vgl. Müller-Lauter: Über Werden und Wille zur Macht. Müller-Lauter arbeitet die Vielheit von im Kampf stehenden wie auch miteinander kooperierenden "Willen zur Macht" als Letztgegebenheiten heraus, „die nicht auf das Eine eines metaphysisch Gründenden zurückgeführt werden dürfen“. Im Gegensatz dazu schreibt Giorgio Colli im Nachwort der KSA V (S. 415) „Dennoch bemerkt man eine erneute Annäherung [...] an die Metaphysik, denn die Reduktion alles Realen auf die Vorstellung vom „Willen zur Macht“, durch den das principium individuationis geregelt wird, diese Rückführung aller Eigenschaften auf eine einzige, wenngleich vielgestaltige Wurzel, ist trotz Nietzsches gegenteiliger Absicht eine metaphysische Haltung.“
10V, 249f.
11V, 106.
12Vgl. Kopernikus: Sechs Bücher über die Umläufe der Himmelskörper (De revolutionibus orbium coelestium libri VI).
13Vgl. Darwin: On the Origin of Species by Means of Natural Selection.
14Vgl. Freud: Totem und Tabu.
15V, 105.
16V, 105.
17V, 259.
18V, 259.
19V, 259.
20Diese und die folgenden Beispiele vgl. V, 261ff.
21V, 264.
22V, 264.
23V, 264.
24V, 266.
25Vgl. Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates.
26VI, 180.
27Vgl. Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit.
28Vgl. Winkler: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik.
29Vgl. Adorno: Gesammelte Schriften Bd. 7 u. 12.
30Zu Nietzsches ambivalenten Verhältnis zu Darwin vgl. VI, 172: „Ich nenne ein Thier, eine Gattung, ein Individuum verdorben, wenn es seine Instinkte verliert, wenn es wählt, wenn es vorzieht, was ihm nachteilig ist. [...] Das Leben selbst gilt mir als Instinkt für Wachstum, für Dauer, für Häufung von Kräften, für M a c h t .“ Und im Gegensatz dazu: VI, 120f.: “Gesetzt aber, es giebt diesen Kampf [Darwins struggle for life; jw], so läuft
31VI, 172.
32VI, 170.
33VI, 170.
34VI, 120.
35Für detailliertere Analysen vgl.:
- Figal: Nietzsche. Eine philosophische Einführung. „elend“, „unedel“, „unglücklich“, „Ohnmacht“, „Hass“, „Verachtung“, - Gerhard: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches. - Grau: Ideologie und Wille zur Macht. Zeitgemäße Betrachtungen über Nietzsche. - Müller-Lauter: Über Werden und Wille zur Macht. - Müller-Lauter: Über Freiheit und Chaos.
36V, 272.
37VI, 120.
38V, 272f.
39VI, 181.
40V, 105.
41Freud: Warum Krieg? S. 14-17.
42V, 268.
43V, 270.
44V, 270.
45V, 279.
46V, 279.
47V, 279.
48V, 278f.
49V, 279.
50V, 282.
51V, 267.
52I, 252.
53Freud: Warum Krieg? S. 14-17.
54V, 282f.
55 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Art. 3, Abs. 3. 39
- Citation du texte
- Anonyme,, 2000, Vom Nutzen und Nachteil der Naturrechtskonzeption für das Leben. Über den Beitrag Friedrich Nietzsches zum Verständnis von Genese und Funktion moralischer Urteile., Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104973
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