In der Arbeit mit Behinderten geschieht es sehr schnell, dass man, ob bewusst oder unbewusst, seine eigenen Ansichten zur einzigen Wahrheit erklärt und dabei nur die Schwächen des Gegenübers sieht. Dem Behinderten werden Unterstützung und Anleitung aufgedrängt, wo es womöglich gar nicht nötig ist. Letzten Endes wird der derart fürsorglich betreute Mensch dabei entmündigt. Ein solches Verhalten hat sicher jeder, der in diesem Bereich arbeitet, schon einmal an sich entdecken müssen. Dörner spricht in diesem Zusammenhang von einer"Schutzhaft der Nächstenliebe", Jantzen nennt es paternalistische Gewaltausübung, gemeint ist in beiden Fällen strukturelle Gewalt.
Die vorliegende Arbeit möchte Wolfgang Jantzens Standpunkt dazu betrachten. Dabei soll zunächst der Begriff der strukturellen Gewalt und seine Herkunft betrachtet werden, bevor im Anschluss auf Jantzens Blickrichtung auf denselben eingegangen wird. Der Hauptteil der Arbeit geht der Frage nach, wie diese Strukturen entstehen, wie sie sich auf die Bewohner von Großeinrichtungen auswirken und wodurch sie aufgelöst werden könn(t)en bzw. welche Konsequenzen sich für die Profession ergeben.
1. Einleitung
In der Arbeit mit Behinderten geschieht es sehr schnell, daß man, ob bewußt oder unbewußt, seine eigenen Ansichten zur einzigen Wahrheit erklärt und dabei nur die Schwächen des Gegenübers sieht. Dem Behinderten werden Unter- stützung und Anleitung aufgedrängt, wo es womöglich gar nicht nötig ist. Letztenendes wird der derart fürsorglich betreute Mensch dabei entmündigt. Ein solches Verhalten hat sicher jeder, der in diesem Bereich arbeitet schon einmal an sich entdecken müssen. Dörner spricht in diesem Zusammenhang von einer „Schutzhaft der Nächstenliebe”, Jantzen nennt es paternalistische Gewaltaus- übung, gemeint ist in beiden Fällen strukturelle Gewalt.
Die vorliegende Arbeit möchte Wolfgang Jantzens Standpunkt dazu betrachten. Dabei soll zunächst der Begriff der strukturellen Gewalt und seine Herkunft betrachtet werden, bevor im Anschluß auf Jantzens Blickrichtung auf denselben eingegangen wird. Der Hauptteil der Arbeit geht der Frage nach, wie diese Strukturen entstehen, wie sie sich auf die Bewohner von Großeinrichtungen auswirken und wodurch sie aufgelöst werden könn(t)en bzw. welche Konsequenzen sich für die Profession ergeben.
2. Strukturelle Gewalt
2.1 Begriffsklärung
Der Begriff „strukturelle Gewalt” stammt ursprünglich von Karl Marx und Friedrich Engels und war ein Ergebnis ihrer Überlegungen zur Konfliktaustra- gung: "(...) daß die Gewalt nur das Mittel, der ökonomische Vorteil dagegen der Zweck ist. Um soviel 'fundamentaler' der Zweck ist als das seinetwegen angewandte Mittel, um ebensoviel fundamentaler ist in der Geschichte die ökonomische Seite des Verhältnisses gegenüber der politischen." (Engels 1878, MEW 20, S. 148).
Gewaltstrukturen entstehen demnach als Reaktion auf Gewinnstreben.
Populär wurde der Begriff erst 1975 durch Johan Galtung, der ihn erstmalig umfassend definierte, damals vor allem sozialkritisch. Galtung unterscheidet als Formen von Gewalt vor allem direkte und indirekte, also physische und psychische Gewalt. Weiter differenziert er positive und negative Einflußnahme, die sich jeweils negativ auf Menschen auswirken könne. Als wichtigste Unter- scheidung nennt er die Frage nach dem handelnden Subjekt: Gewalt, die von einem Akteur ausgeht, ist personal oder direkt, solche ohne ausführende Person folglich strukturell oder indirekt. In diesem Fall ist die Gewalt in das gesellschaft- liche System eingebunden. Sie wird durch die sozialen Strukturen ausgeübt und vor allem an ungleichen Machtverhältnissen, sprich ungleichen Lebenschancen deutlich. Strukturelle Gewalt ist demnach soziale Ungerechtigkeit, die durch die bestehenden Verhältnisse Stabilität erhält. Die Mittel der strukturellen Gewalt sind folglich vor allem in irgendeiner Form festgeschriebene Ungleichheiten, während der Ausgangspunkt personaler Gewalt stets der menschliche Körper ist.
2.2 Jantzens Umgang mit dem Begriff der strukturellen Gewalt
Jantzen faßt den Begriff der strukturellen Gewalt im Sinne Galtungs als ver- mittelte Gewalt auf und stützt sich weitgehend auf dessen Definition. Dabei wertet er Einrichtungen der Heilpädagogik als Ausdruck herrschender Gesell- schaftsstrukturen und letztlich als Indikator für deren Zustand, vor allem ihr Verständnis von und ihren Umgang mit Behinderung: die Gesellschaft wird daran gemessen, wie sie mit ihren schwächeren Mitgliedern umgeht bzw. ob sie diese überhaupt mit einbezieht. Dazu noch einmal Galtung:„In allen Systemen gibt es Interaktion, und wo Interaktion ist, werden Werte (im weitesten Sinne des Wortes) auf irgendeine Weise ausgetauscht. Deshalb ist es sehr sinnvoll zu untersuchen, wie die Wertverteilung aussieht, wenn das System eine gewisse Zeit funktioniert hat und die grobe Unterscheidung zwischen gleicher und ungleicher Verteilung getroffen worden ist.” Die genannte Werteverteilung ist laut Jantzen eines der Hauptmerkmale struktureller Gewalt im Umfeld der Behindertenpädagogik. Ein weiteres läßt sich leicht aus Galtungs Aussagen zu positiver und negativer Einflußnahme ableiten: Sowohl Strafe als auch Belohnung sind Mittel, dem Gegenüber die eigene Meinung zu vermitteln, beide Formen der Einflußnahme haben folgerichtig mit Gewalt zu tun, „denn das Endergebnis kann immer noch so aussehen, daß Menschen effektiv daran gehindert werden, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen.”
Wenn Galtung das Ausmaß struktureller Gewalt an verlorenen Jahren mißt, strukturelle Gewalt demgemäß als die Differenz zwischen der optimalen und der aktuellen Lebenserwartung bestimmt, dann bedeutet das in letzter Konsequenz, daß bereits die Kategorisierung als „behindert” durch die Gesellschaft bzw. das dem zu Grunde liegende Menschenbild strukturelle Gewalt ist.
Dies ist wesentlicher Teil von Jantzens Theorie der Behindertenpädagogik. Ausdrücklich definiert er Behinderung als „ reduzierte soziale Konsumfähigkeit, die wenn sie zu auffällig wird, nicht zu einer Schaffung verbesserter Lebensmöglichkeiten der Betroffenen führt, sondern zum sozialen Ausschluß und zum Einschluß in besondere Institutionen der Gewalt.” Institutionen der Gewalt deshalb, weil sie selbst wenn sie reproduktive Aufgaben wahrnehmen, dies „unter der Bedingung der vorherigen Zuteilung der Menschen zu diesen Institutionen durch Rechtsverhältnisse wie andere Ausdrucksformen staatlicher Gewalt [tun].”
Dem Behinderten wird nur ein Minimum an gesellschaftlicher Bedeutung zugestanden, er „verfügt daher über sehr viel weniger soziales Kapital und entsprechend [seiner] oft gestörten Enkulturation in der Regel auch über weniger kulturelles, wissenschaftliches usw. Kapital.” Wie diese Geringschätzung Strukturen von Gewalt stützt ist evident, ihre Auswirkung auf die Beziehung zwischen Pädagogen und Behinderten sind Teil des dritten Kapitels.
3. Gewaltstrukturen in der Behindertenpädagogik
Jantzen geht in mehreren seiner Texte auf Gewaltstrukturen innerhalb der Behindertenpädagogik, vor allem in Einrichtungen der Behindertenhilfe, ein. Dabei nennt er als wesentliche Merkmale struktureller Gewalt in diesen Institu- tionen die folgenden, von Klee formulierten Punkte:
1. Es fehlt meist eine Trennung der Lebensbereiche, folglich besteht eine feste Bindung an einen Ort und vor allem eine Autorität in Form der Heimleitung, die den Kontakt zur Außenwelt erschwert und damit die Verhaltensunsicherheit der Bewohner noch steigert.
2. Daraus folgt ein durch das Personal fremdbestimmtem Tagesablauf, der den Bewohnern kein Mitspracherecht einräumt.
3. Alle internen Regeln sind den Zielen der Institution untergeordnet. Die Entscheidungsgewalt liegt dabei in der Bürokratie, d.h., sie obliegt Menschen, die im ungünstigsten Fall die Einrichtung nie gesehen haben.
4. Aus diesen Tatsachen folgt eine Entpersönlichung des Einzelnen - er wird nicht als Individuum gesehen, sondern verschmilzt mit den anderen Bewohnern und erleidet dadurch den Verlust von Eigenleben und Intimsphäre, der zu völliger Abhängigkeit der Bewohner vom Personal führt.
5. Das Ergebnis dieser Strukturen ist die systematische Entmündigung des Behinderten durch den kompletten Ausschluß von allen Entscheidungen.
Nachdem also die Merkmale struktureller Gewalt genannt wurden, wie kommt sie zustande? Welche Faktoren sind es, die die genannten Zustände hervorrufen? Jantzen nennt hier als eine der Ursachen die Profession der „Sonder- und Heilpädagogik”, die eben keine Behindertenpädagogik war, sondern die Ausgrenzung des Behinderten als Regel verankert hat. Da sie jahrzehntelang ein falsches Bild von Behinderung gelehrt und damit gearbeitet hat, war sie wesent- lich an der Entstehung von Gewaltstrukturen beteiligt und folglich Mitverursacher des Problems.
Ein solches Eingeständnis sieht Jantzen als notwendige Arbeitsgrundlage, auf der jeder Ansatz der Auflösung von Gewaltstrukturen basieren muß.
Innerhalb der durch ‘tatkräftige Unterstützung’ der Pädagogik entstandenen Großeinrichtungen, die strukturelle Gewalt zu einem wesentlichen Teil bedingen, mindestens aber erhalten, sind Gewaltstrukturen die Folge überlasteter Mit- arbeiter. Diese haben meist zu wenig theoretischen Hintergrund, um im alltäg- lichen Chaos mit Verhaltensbesonderheiten der Bewohner umgehen zu können. Vielmehr „erleben sie häufig die vor dem Hintergrund der Lebensbedingungen entwickelten, subjektiv hoch zweckmäßigen Tätigkeiten der behinderten Bewohner als belastend, störend, manchmal auch als Bedrohung.” Dies deshalb, weil die Gefahr des eigenen Scheiterns, mehr noch die Notwendigkeit, es einzugestehen, sich proportional zum Ausmaß der ‘Störung’ des Betreuten erhöht. Als Reaktion auf diese Bedrohung geschehen zwei Dinge: Zum einen wird versucht, durch immer neue Therapien das vermeintliche Problem zu kontrollieren, und zum anderen entwickelt der Pädagoge Distanzmechanismen zum Schutz seines pädagogischen Selbstbildes.
Störmer stellt die These auf, daß jede neue Therapie immer zuerst und fast ausschließlich in Großeinrichtungen zum Einsatz kommt und zum eigentlichen Ziel nicht die Verbesserung der Lebensqualität des Behinderten sondern die Entlastung der Mitarbeiter hat. Um an den Lebensumständen Einzelner etwas ändern zu können, müßte sie sich statt an der Institution an der jeweiligen Person und ihren Eigenarten orientieren.
Daß sie dies nicht tut, sondern den Bewohnern über eine neue ‘Therapie’ Erholung vom Alltag anbietet, schließt das Eingeständnis der Situation wohl mit ein. An diesem Punkt setzen die Verdrängungsmechanismen des Pädagogen ein: Die Möglichkeiten, diese Abläufe zu verändern sind gering, ihr Vorhandensein aber unbestreitbar. Es gilt also, die Bewohner als ein großes Ganzes zu sehen, sie nicht länger emotional zu besetzen. Nur über diese stückweise Distanzierung von der Realität ist es für die Mitarbeiter möglich, ihr positives Selbst- und Berufsbild zu erhalten, also kein symbolisches Kapital zu verlieren.
Im direkten Kontakt zu einzelnen Bewohnern lassen sich solche Distanzen nicht halten, daher kommt es zu einem Tauschhandel zwischen Klient und Betreuer: gegen gute Leistung in ‘normalem’ Verhalten gibt es Anerkennung und Anteilnahme. Jantzen spricht von einer „Beziehungsfalle”. Diese trifft beide Seiten, Pädagogen und Bewohner, und entsteht aus dem oben genannten Selbstbild der Pädagogen - symbolisches Kapital erhält nur, wer den nach außen sichtbaren Erwartungen entspricht - und der daraus für die Bewohner resul- tierenden Notwendigkeit, die „normierende Ausgrenzung als Selbstbild” zu übernehmen [...]. Hier in den emotionalen Bekundungen der Wohltäterschaft der Begünstigten gedeiht im Verborgenen der Paternalismus als immer erneute Basis struktureller Gewalt, hier wird ein ‘ideologischer Kokon’ gesponnen, mittels dessen die herrschenden Gruppen ihre diskriminierenden Handlungen in wohltätige umdefinieren (Jackman 1996, S. 18).”
Die Bewohner geraten durch diesen Mangel an symbolischem Kapital letztlich in totale Abhängigkeit von der Institution, da ihnen keine Möglichkeit bleibt, ihre eigenen Stärken zu entdecken. In Jantzens Worten: „Einem behinderten Menschen bleibt zwar die Möglichkeit, nein zu sagen zu dem ungleichen Tausch, allerdings häufig um den Preis der Eskalierung des Einsatzes von pädagogischen und therapeutischen Techniken und hiermit verbundener offener und versteckter Gewalt statt dialogischer Anerkennung. Aber genau dies ist es, was ihn oder sie behindert macht.”
Anstatt die gewünschten Vorteile zu bringen, bewirken zweifelhafte neue Therapien und andere ‘Auswüchse’ struktureller Gewalt folglich nur, daß „Isolation innerlich reproduziert” wird, also mehr Verhaltensprobleme entstehen, welche fälschlicherweise erneut dem ‘Defekt’ der jeweiligen Person zugeschrieben werden. Diesem Teufelskreis kann sich der Behinderte nicht ent- ziehen: Er erlernt dadurch nicht die von ihm verlangte ‘Normalität’, sondern verinnerlicht seine Unsicherheit und Unfähigkeit, die ihm durch die auferlegten Strukturen immer wieder deutlich gemacht wird. Je länger er der Institution ausgesetzt ist, desto unselbständiger wird er, bis er schließlich den Wunsch nach Autonomie ganz aufgibt.
Zusammenfassend besteht also strukturelle Gewalt in Institutionen der Behinderten‘hilfe’ vorrangig im „Mechanismus der Vermitteltheit”, der über die Bürokratie funktioniert, sowie den Unsicherheiten der Pädagogen, die damit, daß sie diese leugnen, jene der Bewohner hervorrufen.
Als Möglichkeiten zu ihrer Eindämmung schlägt Jantzen hauptsächlich zwei Punkte vor:
1) Eine bessere Schulung des Personals: Der nötige theoretische Hintergrund soll helfen, die alltäglichen Probleme der Praxis zu verstehen und Lösungen zu erarbeiten. Dazu sollen alle vorhandenen Kompetenzen, sowohl der Mitarbeiter als auch der Bewohner und der Umgebung, genutzt werden.
2) Die Umstrukturierung innerhalb der Einrichtung: Vor allem die Verwaltung muß verändert werden, da sie durch unpersönliche Entscheidungen von oben strukturelle Gewalt begünstigt. Zusätzlich braucht es personelle Entlastung, Prüfung und Umgestaltung des Geländes sowie eine Öffnung der Einrichtungen nach außen. Auch gut geschultes und den Situationen gewachsenes Personal ist aber nicht perfekt: ”wer sich (...) nicht ständig dialogisch und erkenntniskritisch der Position des anderen und schwächeren ebenso wie der seiner selbst vergewissert, läuft immer Gefahr, wenn schon nicht direkte, so doch strukturelle Gewalt zu praktizieren und am Leben zu erhalten.”
Jantzen fordert vom Pädagogen „die radikale Anerkennung des anderen” als Ausweg aus der „Beziehungsfalle”: „...nur durch die Übernahme einer Verantwortung vor dem Anderen - auch in Situationen, die wir zunächst nicht lösen können -[werden] diese Situationen lösbar.” Echte Anerkennung des Behinderten ist jedoch nur möglich, wenn er an der Gestaltung seiner Zukunft beteiligt wird. Es braucht also eine Diagnostik, die hinter Gewaltstrukturen blickt und die tatsächlichen Kompetenzen des Bewohners sieht. Gleichzeitig muß dem Behinderten sym- bolisches Kapital zugestanden werden, denn nur so entsteht das notwendige Gleichgewicht zwischen Mitarbeiter und Bewohner.
Für die Theoriebildung bedeutet das gemäß Jantzens Grundthese von Behinderung als sozialem und nicht medizinischem Problem, daß sie sich an den Tätigkeiten des Einzelnen innerhalb seiner sozialen Bezüge, also an der Institution und ihren Mitarbeitern, orientieren muß. Es geht um Kooperation und nicht um Führung:
„Dies bedeutet jedoch, daß die Theorie diesem komplexen Gefüge, innerhalb dessen auch der eigene Standort relational ist, Rechnung zu tragen hat und sich nicht substantialisierend ereignen darf. Sie darf nicht Wesenseigenschaften in vorgefundene Dinge einschreiben, wie z.B. in die biologische oder psychologische Natur im Falle von Behinderung. Derartige Sichtweisen, die auch jene des ‘common sense’ sind, liegen dicht beim Rassismus, so Bourdieu (ebd. S. 16), zumindest sind sie jedoch antihumanistische, insofern sie der Realität des Menschen als einem durch sozialhistorische und gesellschaftliche Vermittlung existierenden Lebewesen nicht Rechnung tragen.”
Ganz gleich, welche neue Theorie als Arbeitsgrundlage entwickelt wird, sie kann, so Jantzen und Schulz, nur dann in der Praxis funktionieren, wenn sie dem einzelnen Mitarbeiter Verantwortung zugesteht, ihn zum Bezugspunkt seiner Arbeit mit dem Behinderten macht.
4. Fazit
Wolfgang Jantzen liefert in seinen Texten eine klare Beschreibung der Mißstände in (Groß-)Einrichtungen der Behindertenhilfe, dabei orientiert er sich vor allem an deren täglicher Praxis.
Dabei sieht er ganz klar und macht auch indirekt deutlich, daß strukturelle Gewalt zu einem großen Teil durch schlechte Sozialpolitik, nicht entsteht, aber erhalten wird. Er geht jedoch darauf nicht näher ein, sondern setzt an den Zuständen in den Einrichtungen an, bietet eine Bestandsaufnahme und Über- legungen zur Verbesserung. Diese Basisarbeit gemeinsam mit dem Personals totaler Institutionen ist ein notwendiger erster Schritt zur Verbesserung der Lebenssituation vieler Behinderter, es kann aber nicht Sinn der Arbeit mit ihnen sein, die durch die Politik schlechten Grundvoraussetzungen für ihr Leben auszugleichen.
Der situative Praxisansatz, den er in seinen Texten propagiert bringt keine wirkliche Besserung struktureller Gewalt, da diese zu großen Teilen von der Gesellschaft außerhalb der Einrichtungen und der Politik mitverursacht wird. Er bietet lediglich die Möglichkeit, den Gewaltstrukturen als Pädagoge in der Institution besser aus dem Weg zu gehen, sie in der eigenen Arbeit so gut es geht auszuschalten.
Jantzen schafft also erst einmal eine pädagogische Gegenbewegung zur Gewalt, die dem einzelnen Menschen innerhalb einer totalen Institution, gleich ob Mitarbeiter oder Bewohner einen ersten Ausweg aus den festgefahrenen Strukturen bietet. Diese Erleichterungen oder Verbesserungen sind aber nur dann auch dauerhaft, wenn sie durch eine einheitliche Theorie gestützt werden. Nur dann kann es zu einer dauerhaften, allgemeingültigen und vor allem rechtlich abgesicherten Auflösung der genannten Gewaltstrukturen kommen. Denn jeder noch so vorbildlichen Praxis steht die Politik entgegen, oder wie es Rainer Nathow formuliert:
„Entscheidender ist die Tatsache, daß dieser Staat Gesetze schafft, die das Leistungsvermögen Behinderter zum Maßstab dafür macht, ob Behinderte im öffentlichen Leben geduldet werden. Das Nicht-Akzeptieren der schwerstbehinderten Mitbürger wird durch Leistungsgesetze des Staates gewollt vorprogrammiert und gesteuert. Wer das vom Staat geforderte Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Leistung nicht erfüllen kann, muß und wird aus der Öffentlichkeit verschwinden. Daß sich aus derartigen Gesetzesvorgaben langfristig die Ablehnung Schwerstbehinderter im öffentlichen Bewußtsein ergeben muß, liegt auf der Hand. Die Gesellschaft, deren Machthaber sich auf die rigorose Trennung zwischen wirtschaftlich verwertbaren, sprich: ausbeutbaren und völlig unverwertbaren Behinderten geeinigt haben, kann behinderte Mitbürger nicht als gleichrangig in sich aufnehmen und behalten.”
Dennoch ist die Veränderung der Praxis zunächst der einzige Weg, da sie zumindest zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Bewohner führt. Zudem zwingt dieser Ansatz die Pädagogik als Profession dazu, ihr eigenes Behindertenbild in Frage zu stellen bzw. Konstant zu prüfen. Erst wenn wir Pädagogen dieses Bild der Realität anpassen, kann es gelingen, dies auch in der Politik durchzusetzen.
5. Literatur
Dörner, Klaus: Gegen die Schutzhaft der Nächstenliebe. Umgang mit Krankenund Behinderten. 1999, bidok-Volltextbibliothek. Online im
Internet:http://bidok.uibk.ac.at/texte/doerner-schutzhaft.html. (Publik-Forum 15/1999).
Fornefeld, Barbara: Selbstbestimmung und Erziehung von Menschen mit Behinderung. Ein Widerspruch. 2000, Online im bidok:
Internet:http://bidok.uibk.ac.at/texte/beh1-00-selbstbestimmung.html.
Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konflikt- forschung. Reinbek bei Hamburg, 1980 (1975).
Jantzen, Wolfgang: Die Stellung der Psychologie in der Arbeit für geistig Behinderte. In: Ders.: Geistig behinderte Menschen und gesellschaftliche Integration. Bern, 1980.
Ders.: Allgemeine Behindertenpädagogik Band 1. Weinheim / Basel 1992 (1987).
Ders.: Anerkennung statt Normalisierung - Bemerkungen zu einem notwendigen Paradigmenwechsel in der Enthospitalisierungsdebatte. In: Ders. (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse in der Behindertenpädagogik. Subjekt/ Objekt - Verhältnisse in Wissenschaft und Praxis. Luzern 1997.
Ders.: Unterdrückung mit Samthandschuhen -Über paternalistische Gewaltausübung (in) der Behindertenpädagogik. 1999 (a). Online im Internet: http://www.uni-koblenz.de/~proedler/landau.htm.
Ders.: Lilienthaler Memorandum, in: De-Institutionalisierung. Materialien zur Soziologie der Veränderungsprozesse in einer Großeinrichtung der Behindertenhilfe. 1999 (b), bidok-Volltextbibliothek (Wiederveröffent-lichung im Internet):
http://bidok.uibk.ac.at/texte/jantzen-de-institut-index.html.
Ders. / Schulz, Kristina: Veränderung durch Theoriebildung. In: De-Institutiona- lisierung. Materialien zur Soziologie der Veränderungsprozesse in einer Großeinrichtung der Behindertenhilfe. 1999, ebd.
Klee, Ernst: Behindert.Über die Enteignung von Körper und Bewußtsein. Teil 1. Online im bidok: http://bidok.uibk.ac.at/texte/klee-behindert-1.html. (Frankfurt a.M. 1980).
Nathow, Rainer: Die Entsorgung findet in den Anstalten statt. 1987.
bidok - Volltextbibliothek (Wiederveröffentlichung im Internet): http://bidok.uibk.ac.at/texte/mabuse-nathow-entsorgung.html.
Rundtischgespräch: Gewaltverhältnisse in der Behindertenpädagogik. In:
Jantzen, Wolfgang (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse in der Behindertenpädagogik. 1997. s.o.
Störmer, Norbert: Trivialisierungen und Irrationalismen in der pädagogisch- therapeutischen Praxis. Online im Internet:
http://www.uni-koblenz.de/~proedler/trivia.htm. (BHP 28,2 (1989), 157-176).
- Quote paper
- Barbara Rössler (Author), 2001, Strukturen von Gewalt in der Behindertenpädagogik aus Sicht von Wolfgang Jantzen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104749
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