Inhalt:
1. Einleitung
2. Überblick über Leben und Werk Johann Heinrich Pestalozzis
2.1. Das erste Lebensdrittel
2.2. Pädagogische Anfänge
2.3. Die Nachforschungen
2.4. Die letzten Jahre
3. Anthropologische Fundierung der Arbeit Pestalozzis in Stans
3.1. Die drei Zustände
3.1.1. Der Naturzustand
3.1.2. Der gesellschaftliche Zustand
3.1.3. Der sittliche Zustand
3.2. Die Bedeutung der Ethik
3.2.1. Die Bedeutung der Kultur als ein Ethik bildendes Element
3.3. Die Folgen für die Pädagogik
3.3.1. Die Erziehung als Förderung des Guten
3.3.2. Die Bedeutung von Kunst und Natur für die Bildung des Menschen
3.3.3. Die Wiege des Wollens
4. Die Betrachtung des Stanser Briefes
4.1. Äußere Geschichte und Ausgangssituation
4.2. Die Methode der sittlichen Erziehung
4.2.1. Erzielen einer sittlichen Gemütsstimmung
4.2.2. Das sittliche Handeln
4.2.3. Die Reflexion
5. Schlussbetrachtung
6. Literatur
1. Einleitung
Johann Heinrich Pestalozzi gilt als einer der bedeutendsten und anregendsten Gestalten in der Geschichte der Pädagogik. Bis in die heutige Zeit hinein haben Schulbildung und Sozialpädagogik sowie zahlreiche weitere pädagogische Felder bleibende Anstöße durch seine Arbeit erhalten. Aufsätze, Rezensionen, u.ä., die sich mit dem Werk Pestalozzis beschäftigen, tragen meist diesen pädagogischen Anstößen Rechnung, da Pestalozzi in erster Linie als „Erzieher“ und damit als Pädagoge gesehen wird.
Diese Arbeit soll unter anderem auch zeigen, dass seine Erziehungslehre in eine fein ausdifferenzierte Philosophie und Anthropologie eingebettet ist, denn Pestalozzi war eben nicht nur Pädagoge, sondern auch Philosoph.
Die anthropologischen Ausführungen Pestalozzis sind zu betrachten als das Ergebnis des Durchlaufens verschiedener Lebensphasen, in denen sich sein Menschenbild parallel zu der jeweiligen Lebenssituation oft geändert und entwickelt hat. Diese Veränderungen werden in Kapitel 2 anhand einer Biographie dargestellt. Im Folgenden wird dann seine Anthropologie, wie er sie in seinem philosophischen Hauptwerk „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ beschrieb, betrachtet (Kapitel 3).
Der „Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans“, der darauffolgend analysiert wird (Kapitel 4), zeigt, dass Pestalozzis Arbeit als Leiter eines Waisenhauses stark beeinflusst war von seinen anthropologischen Auffassungen. Aber seine Arbeit in Stans ging über die Verifizierung seiner anthropologischen Thesen hinaus. Stans stellte für ihn eine neue Erziehungssituation dar, auf die Pestalozzi mit Lösungen reagieren musste. Diese Lösungen, und vor allem die Wege zu diesen Lösungen, soll diese Arbeit ebenso aufzeigen.
2. Überblick über Leben und Werk Johann Heinrich Pestalozzis
Diese Biographie ist aufgeteilt in verschiedene Unterkapitel, die nicht nur jeweils einen bestimmten Punkt in Pestalozzis Lebenslauf abbilden sollen, sondern darüber hinaus auch seine jeweils gegenwärtigen Ansichten und Überlegungen über den Menschen widerspiegeln sollen. Die Zeit zwischen dem Frühjahr 1798 und dem Herbst 1799, die Pestalozzi in seiner Einrichtung in Stans verbrachte, wird in Kapitel 4 gesondert betrachtet werden, da sie den Hauptteil dieser Arbeit darstellt.
2.1 Das erste Lebensdrittel (1746 - 1773)
Johann Heinrich Pestalozzi wurde am 12. Januar 1746 in Zürich geboren. Sein Vater, ein Wundarzt ohne akademische Ausbildung, starb, als Pestalozzi 5 Jahre alt war. Aus diesem Grund wuchs Pestalozzi in ärmlichen Verhältnissen auf. Mit 17 Jahren begann er das Studium der Geschichte, der Alten Sprachen und der Philosophie und wechselte nach einiger Zeit zur Rechtswissenschaft. Mit 21 Jahren beendete er seine Studien, um Bauer zu werden. Zu diesem Zweck ging er in Bern in eine Landwirtschaftslehre.
Im Herbst 1769 heiratete Pestalozzi Anna Schultheiß und gründete im gleichen Jahr nach nur siebenmonatiger Ausbildung einen eigenen Landwirtschaftsbetrieb. 1770 wurde Sohn Hans Jakob geboren, dessen Entwicklung Pestalozzi in einem Tagebuch über die Erziehung des Kindes festhielt.
2.2 Pädagogische Anfänge (1774 - 1796)
1774 begann Pestalozzi, Waisen- und Bettelkinder auf seinem Neuhof zu sammeln, um sie arbeiten, lesen, schreiben, rechnen und beten zu lehren. Diese Kinder sollten in seiner Obhut und Geborgenheit selbständige und gute Menschen werden. Bald jedoch sah sich Pestalozzi hohen Geldproblemen ausgesetzt und mußte immer wieder Spott ertragen: „Mitten im Hohngelächter der mich wegwerfenden Menschen, mitten in ihrem lauten Zuruf: ‚Du Armseliger, du bist weniger als der schlechteste Tagelöhner imstande, dir selber zu helfen, und bildest dir ein, daß du dem Volke helfen könntest‘- mitten in diesem hohnlachenden Zuruf, den ich auf allen Lippen las, hörte der mächtige Strom meines Herzens nicht auf, einzig und einzig nach dem Ziel zu streben, die Quellen des Elends zu stopfen, in das ich das Volk um mich her versunken sah“1.
Dieser erste Versuch Pestalozzis, seine Ideen umzusetzen, scheiterte nach 5 Jahren, und Pestalozzi stand vor dem Nichts. Seine Frau und der Sohn fanden Zuflucht bei einer Schloßherrin, Pestalozzi zog sich in der darauffolgenden Zeit von allem und jedem zurück. Aufgrund seiner schlechten Erfahrungen bezüglich der Unterstützung seines gescheiterten Projektes begann er, viel über das Wesen des Menschen nachzudenken.
1780 schrieb er zu diesem Thema „Die Abendstunde eines Einsiedlers“. Die Antwort auf seine Frage nach der Natur des Menschen suchte er in sich selbst und „fand Gott in der Menschennatur. Er entdeckte Anlagen und Kräfte, die er, weil sie unabhängig sind von leiblich-seelischen Wünschen oder Umwelteinflüssen, nicht anders als göttlich bezeichnen konnte"2. Aus diesen Erkenntnissen zog Pestalozzi pädagogische Konsequenzen: „Allgemeine Emporbildung dieser innern Kräfte der Menschennatur zu reiner Menschenweisheit ist allgemeiner Zweck der Bildung auch der niedersten Menschen... alle reinen Segenskräfte der Menschheit sind nicht Gaben der Kunst und des Zufalls...im Innern der Natur aller Menschen liegen sie mit ihren Grundlagen. Ihre Ausbildung ist allgemeines Bedürfnis der Menschheit3. Mit diesen Gedanken war bereits die Grundidee der Menschenbildung Pestalozzis gelegt. Diese sollen in Kapitel 3 noch näher beleuchtet werden sowie deren Umsetzung in Kapitel 4 seiner Arbeit in Stans.
In der folgenden Zeit durchlebte Pestalozzi jedoch eine tiefe seelisch-geistige Lebenskrise, er versank selber in Armut und auch seine Ansicht über die Menschen änderte sich. Er sah sich selbst bemächtigt von einer „höhnenden und menschenverachtenden“4 Stimmung. Aufgrund dieser Gedanken „trug Pestalozzi jahrelang zwei gegensätzliche Ansichten der Menschennatur in sich. Beide beruhten auf Erfahrung und schienen einander doch zu widersprechen. Auf der einen Seite stand das innere Erlebnis der Gottnatur des Menschen, auf der andern die Allgewalt der äußeren Lebenseindrücke“5. Ausgehend von diesem Zwiespalt stellte sich Pestalozzi erneut die Frage nach dem tatsächlichen Wesen des Menschen.
2.3 Die Nachforschungen (1797 - 1803)
1797 schließlich erschien Pestalozzis philosophisches Hauptwerk „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“, in dem Pestalozzi seine fast gegensätzlichen Menschenbilder wie folgt miteinander vereinbarte:
Der Mensch ändere sein Bewußtsein in den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung.
Anfangs sei er ein „reines Kind seines Instinktes“6: sein Handeln sei unbewußt und Naturkräfte würden sein Tun bestimmen und bewirken. In diesem Stadium befinde sich der Mensch in einem „Naturzustand“7, der Mensch sei zu diesem Zeitpunkt ausschließlich ein „Werk der Natur“8
In der darauffolgenden Stufe verblasse der Instinkt, mehr und mehr würden bewußte Willlensregungen geltend. Diese bedürften zunächst noch der Leitung von außen, da das erwachende Bewußtsein zu sinnvoller Selbstbestimmung noch zu schwach sei. Diese Leitung von außen geschehe einerseits durch einen persönlichen Erzieher, andererseits durch gesellschaftliche Vereinbarungen wie Ge- und Verbote, Rechtssatzungen, Sitte und Gewohnheitsrecht9. Der Mensch sei in diesem Stadium ein „Werk der Gesellschaft“10
Letztendlich müsse der Mensch jedoch „Werk seiner selbst“11 werden. Er werde es dadurch, daß er sich „das, was er soll, zum Gesetz dessen macht, was er will“12. Das Sollen des Menschen werde demnach in ein Wollen verwandelt. Erst dadurch werde der Mensch frei: „Das macht den Menschen frei, daß er der Stimme im eigenen Innern folgen darf“13 In diesem Stadium sei der Mensch nun im „sittlichen Zustand“14. Pestalozzis „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ bildete die Grundlage für seine weiteren pädagogischen und philosophischen Betrachtungen und Überlegungen.
Im Frühjahr 1798 wurde die Helvetische Republik in der Schweiz durch die siegreichen Franzosen gegründet. Die neue Regierung berief Pestalozzi, sich der Waisenkinder in einem Teil des Landes -genauer in der Gegend um Stans- anzunehmen. In den folgenden eineinhalb Jahren versorgte, betreute und lehrte Pestalozzi in seiner Einrichtung in Stans Waisen- und Bettelkinder. Dann wurde das Waisenhaus in ein Militärlazarett verwandelt, und Pestalozzi mußte seine Kinder und Stans verlassen.
Diese Arbeit wird sich eingehend beschäftigen mit Pestalozzis Zeit in Stans, die er detailliert darlegte in seinem „Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stans“15. Nachdem klar war, das Pestalozzi Stans verlassen würde, stellte die helvetische Regierung ihm das Schloß Burgdorf zur Verfügung, um ein Lehrerseminar zu errichten. Für die folgenden Jahre war dies Pestalozzis Ort des Wirkens und Schaffens, aber mit dem Ende der Helvetik 1803 löste sich auch dieses Projekt wieder auf.
2.4 Die letzten Jahre (1803 - 1827)
Nach einem kurzen Aufenthalt in Münchenbuchsee konnte Pestalozzi letztendlich Fuß fassen im Institut des Schlosses Yverdon. Dort wurde er als Schulmeister und seine Ideen über den Menschen, dessen Wesen und seine Erziehung endlich anerkannt. „Pestalozzi wagte es als erster, den Menschen selber ins Zentrum aller pädagogischen Überlegungen und Bemühungen zu stellen- den Menschen, der im Gegensatz zu Pflanze und Tier, von der Natur unvollendet entlassen wird, damit er sich selber vollende und ein Werk seiner selbst werde: ein Wesen, das in Freiheit wollen und Handeln kann“16
1825 mußte Pestalozzi sein Institut Yverdon auflösen, weil Neid und Streit unter seinen Mitarbeitern überhand genommen hatten. Mit 80 Jahren kehrte er schließlich zurück auf den Neuhof, den inzwischen sein Enkel übernommen hatte. Kurz vor seinem Tod erreichte ihn wie schon so viele Male zuvor in seinem Leben eine letzte Schmähschrift, deren Inhalt er nicht mehr verkraften konnte. Pestalozzi starb am 17. Februar 1827. Auf seinem Grabstein wurden die Worte verewigt, die er im Laufe seines langen und schwierigen Lebens nie gehört hatte: „Johann Heinrich Pestalozzi- Erzieher der Menschheit“17
3. Anthropologische Fundierung seiner Arbeit in Stans
Wie im ersten Teil zu lesen war, ist das Werk von Pestalozzi durch oft extreme Änderungen seiner anthropologischen Betrachtungsweise geprägt. In vielfältigen Schriften kommen diese Ambivalenzen seiner Auffassungen zum Ausdruck. Er selbst hat dies erkannt, und diese Auffassungen als „Einseitigkeiten“18 bezeichnet.
Eine Konklusion dieser Einseitigkeiten versucht er in seinem Werk „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“, in dessen Mittelpunkt die Entwicklung des Menschen vom Naturzustand über den gesellschaftlichen Zustand bis hin zum sittlichen Zustand steht. Diese Annahmen sollen im nun Folgenden dargelegt werden.
Eine wesentliche Grundannahme der Anthropologie Pestalozzis besteht in Polarität des menschlichen Seins19. Der Begriff der Polarität ist als ein Gegensatzpaar zu verstehen, das sich gegenseitig bedingt und dessen Gegensätzlichkeiten sich nunmehr auf die Wesenheiten des Menschen beziehen. Auf der einen Seite unterstellt Pestalozzi die Existenz einer „sinnlich/tierischen“ oder auch „niederen“ Natur des Menschen, auf der anderen Seite spricht er von einer „göttlichen“ oder auch „höheren“ Natur des Menschen.
Pestalozzi hat versucht, den Zusammenhang, genauer, die Kräfte, die zwischen den beiden Polen wirken, als eine Entwicklungslinie darzustellen. Dies tut er, in dem er drei Zustände der menschlichen Entwicklung definiert, an denen er die Frage bearbeitet, wie sich der Mensch entwickelt und wie dabei die äußere und innere Welt des Menschen diese Entwicklung beeinflussen.
Das Folgende ist das Ergebnis langjähriger Arbeit Pestalozzis und ist somit ein gewachsenes Konzept, das Pestalozzi selbst als das „Resultat meines Lebens“20 bezeichnete. Nachdem er zunächst die Entwicklung des Menschen und der Menschheit als eine kontinuierlich verlaufende verstanden hatte und später das Hauptgewicht auf die sozialisatorischen Einflüsse legte, hat er letztlich versucht, diese beiden Gesichtspunkte in einer Anthropologie zu vereinen.
3.1. Die drei Zustände
Es mag vielleicht verwundern, dass im Folgenden von einer Dreiteilung des menschlichen Seins die Rede sein wird, wo doch gerade noch eine Polarität postuliert wurde. Dieser scheinbare Widerspruch wird sich jedoch im Verlauf dieser Arbeit auflösen.
Es sei jedoch noch angemerkt, dass der Begriff „Zustand“ hier etwas in die Irre führen kann. Gemeint ist nicht ein Zustand im Sinne eines Stehens oder Verbleibens, sondern eher im Sinne eines „In-der-Schwebe-Seins“, dass aber in sich fließend und beweglich bleibt. Die folgenden Ausführungen werden das verdeutlichen
3.1.1. Der Naturzustand
Eindeutig zum ersten Pol (sinnlich/tierisch) gehörig wird der Naturzustand noch einmal unterschieden in einen „unverdorbenen“ und einen „verdorbenen“ Naturzustand.21
Mit dem Begriff der Unverdorbenheit bringt Pestalozzi zum Ausdruck, dass er den Menschen für ein an sich gutes Wesen hält, mit Liebe und Wohlwollen ausgestattet, sich in völliger Harmonie mit der Natur treiben lassend.22
Dieses Idyll existiert aber nur einen Augenblick, und zwar im Moment der Geburt. „Aber so wie dieser Augenblick da ist, ist er vorüber. Beim ersten weinenden Laut, ist der Punkt schon überschritten, von dem die thierische Harmlosigkeit des Kindes eigentlich ausgeht. Von diesem ersten Laut an entfernt sich das Kind mit iedem Gefühl eines unbefriedigten Bedürfnisses, eines unerfüllten Wunsches, eines ieden Schmerzes, immer weiter von diesem Punkt ins Unendliche. So wie seine Erfahrungen wachsen, kommt es in Proportionen, die sich immer verdoppeln, von dem Punkt weg, von dem die Reinheit seiner Unschuld eigentlich ausgeht.“23
An dieser Stelle ist der Übergang vom unverdorbenen zum verdorbenen Naturzustand anzusiedeln. Die immer größere Entfremdung des Menschen von diesem unverdorbenen Zustand erklärt Pestalozzi damit, dass die Diskrepanz zwischen den entstehenden und stetig wachsenden Bedürfnissen und die dabei nicht steigende Kraft, diese zu befriedigen, immer größer wird. Auf der Suche nach der Befriedigung dieser Bedürfnisse wird der Mensch nun egoistisch, selbstsüchtig, zum „Barbaren“24 und ist somit in den verdorbenen Naturzustand übergetreten.
Der Mensch verliert nun seine Natürlichkeit vollends, wenn er beginnt, diese egoistischen und selbstsüchtigen Bedürfnisse als organisierendes Element in sein Leben zu integrieren. An dieser Stelle setzt nun der gesellschaftliche Zustand an.
3.1.2 Der gesellschaftliche Zustand
Die Verdorbenheit des Menschen ist nach Pestalozzi der Grundstein für den Eintritt in den gesellschaftlichen Zustand. Die Begründung findet er in dem Faktum, dass der barbarische Mensch beim anderen ein Gefühl der Unsicherheit hervorruft, das ein Bedürfnis nach Recht und Vertrag bewirkt. „Also ist es nicht wahr, dass der Urmensch friedlich lebte auf Erden, es ist nicht wahr, dass er die Erde ohne Gewalt ohne Unrecht, und ohne Blut vertheilt hat; es ist nicht wahr, dass der Ursprung des Meins und Deins in einem Gefühle der Billigkeit und des Rechts zu suchen ist. Es ist im Gegenteil wahr, das Menschengeschlecht theilte die Erde, ehe es sich auf ihr vereinigte, der Mensch riss an sich, ehe er etwas hatte, er frevelte, ehe er arbeitete, er richtete zu Grunde, ehe er etwas hervorbrachte, er unterdrückte ehe er versorgte, er mordete, ehe er antwortete, der Hauch seines Mundes athmete Wortbruch, ehe der Laut eines Wortes auf seiner Zunge gebildet, ein Recht hervorbrachte.“25
Dies beschreibt eindrucksvoll, dass nach der Auffassung Pestalozzis die Bildung von Recht und Ordnung im Grunde nichts Ethisches, sondern etwas höchst Egozentrisches ist. Dies beansprucht nicht nur Gültigkeit auf ontogenetischer, sondern ebenso auf phylogenetischer Ebene und erklärt somit die Bildung von Staatsformen. Wohlwollen ist demnach nur eine Folge der Selbstsucht und ist mit der banalen wie zutreffenden Volksweisheit „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg´ auch keinem andern zu!“ erfasst.
Auf der einen Seite nun gewinnt der Mensch natürlich mit der Einführung der Regeln, auf der anderen Seite jedoch werden ihm Pflichten aufgebürdet, die sozusagen die Kehrseite der Medaille bilden. Damit ist er nicht mehr nur verdorbener Naturmensch, sondern, auch noch seiner letzten Freiheiten beraubt, eingebunden in soziale Zwänge, die ihn im Grunde unfreier machen als zuvor und ihn von seiner Ursprünglichkeit nur noch weiter entfernen.26 Paradoxerweise ist somit die Selbstsucht die Ursache für die Unfreiheit des Menschen.
Daran anschließend ergibt sich, dass diese „Errungenschaften“ der Zivilisation, die letztlich fehlgeleitete Versuche sind, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, nur Repräsentationen der wesentlichen Bedürfnisse des Menschen sind und somit gleichsam künstlicher Natur. Der Mensch sucht also die Befriedigung seiner Bedürfnisse nicht mehr in ihrer natürlichen Herkunft, sondern in deren Repräsentationen.
Zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes kann als Analogie die ähnlich lautende Theorie Sigmund Freuds herangezogen werden, die die Entstehung der Kultur als Ganzes, grob vereinfacht, als das Ergebnis der Sublimierung der Triebe betrachtet. Gleichzusetzen sind hierbei die Determinanten Naturmensch sowie die Befriedigung der Bedürfnisse über Repräsentationen auf der einen Seite und die Triebe sowie der Prozess der Sublimierung auf der anderen Seite. „Dementsprechend basiert der Fortschritt der Kultur im wesentlichen auf der organisch bedingten Fähigkeit zur Sublimierung, da erst durch die Umorientierung der [...] Triebregungen frei gewordene libidinöse Energiebeträge konstruktiv in andere Tätigkeiten einfließen können.“27
Es bleibt festzuhalten, dass der Mensch beim Übergang vom verdorbenen Naturzustand zum gesellschaftlichen Zustand verliert, denn er bleibt unbefriedigt, und, dies kommt hinzu, kann seine Bedürfnisse nur noch über Repräsentationen befriedigen. Dies ist nicht der Endzustand der menschlichen Entwicklung. Der Mensch ist in der Lage, sich bewusst dazu zu entscheiden, in einen sittlichen Zustand zu treten. Der Eintritt in diesen Zustand ist jedoch nur als Möglichkeit zu sehen, nicht als ein zwingender Schritt in der Ontogenese des Menschen.
3.1.3. Der sittliche Zustand
Wir verlassen nun die Betrachtung des „ersten Poles“ und wenden uns nun dem „zweiten Pol“, dem „Göttlichen“, dem „Höheren“ (s.o.) zu. Hier soll es nun nicht mehr um gesellschaftliche Vorgänge irgendwelcher Art gehen, denn die Sittlichkeit bezieht sich, so Pestalozzi, einzig auf das Individuum. „Die Sittlichkeit ist ganz individuel, sie bestehet nicht unter zweien, kein Mensch kann für mich fühlen, ich bin. Kein Mensch kann für mich fühlen, ich bin sittlich.“28
Das gestaltet die Untersuchung des Phänomens der Sittlichkeit natürlich schwierig. Sittlichkeit ist hochindividuell und somit kein objektivierbares Verhaltensmuster; es lässt sich also im Grunde nicht beschreiben. Die Lösung findet Pestalozzi, indem er nicht den sittlichen Zustand als solchen untersucht, sondern den möglichen Weg, dorthin zu gelangen bzw. sich für diesen zu entscheiden.
Grundvoraussetzung hierfür ist, dass der „erste Pol“ als solcher durch das Individuum nicht negiert wird, sondern im Gegenteil anerkannt wird. „Reine Sittlichkeit streitet gegen die Wahrheit meiner Natur, in welchen die thierischen Kräfte nicht getrennt, sondern innigst miteinander verwoben sind.“29 Daraus folgt im Grunde, dass die Sittlichkeit eine Hinwendung zu einer höheren Natur, und zwar aus der Erfahrung der Dominanz der niederen, ist. Der sittliche Mensch ist also somit kein Endpunkt einer Entwicklung - denn die vorangegangenen Zustände determinieren ihn weiterhin - der sittliche Zustand ist nicht als tatsächlicher Zustand zu begreifen, sondern als ein Streben nach Sittlichkeit.30
Zu Anfang dieses Kapitels ist darauf verwiesen worden, dass das Wort „Zustand“ nicht ganz zutreffend sei und dass es sich dabei mehr um ein „In-der-Schwebe-Sein“ handele. Versteht man nun den Menschen so wie er zuletzt beschrieben wurde, nämlich zwischen seiner unverdorbenen resp. verdorbenen Natur, seinen gesellschaftlichen Zwängen sowie seiner möglichen Hinwendung zu einem sittlichen Menschen, wird deutlich, dass es sich nicht um Zustände im eigentlichen Wortsinn, sondern um fließende und bewegliche, an ihren Grenzen offene Zustände handelt.
Des weiteren wird nach alledem deutlich, dass es sich tatsächlich um ein, wie anfangs erwähnt, polares Verhältnis handelt, auf dem auf der einen Seite der Naturzustand und der gesellschaftliche Zustand, also das „Niedere“ (s.o.) mit all seinen den Menschen determinierenden Bedingungen und auf der anderen Seite der sittliche Zustand, verstanden als ein Streben nach Sittlichkeit, nach dem „Höheren“, steht.
3.2. Die Bedeutung der Ethik
Interessant im Bezug auf die Ethik bei Pestalozzi ist vorab, dass er einen induktiven Erkenntnisweg die Entwicklung der Menschheit betreffend wählt.31 Er geht davon aus, dass „Zivilisationskrankheiten“ wie beispielsweise die Armut letztlich nur symptomatisch zu Tage fördern, was seine Ursachen auf tieferer Ebene hat. Zu Pestalozzis Zeiten war Armut ein sehr großes Problem (50-80% der Schweizer Landbevölkerung waren von Armut betroffen), dessen Lösung er nur dadurch in den Griff zu bekommen glaubte, indem er „an der Wurzel“ ansetzte, d.h. bei der Erziehung und Bildung der Kinder. Hier ist der Ausgangspunkt des Handelns und Denkens von Pestalozzi anzusiedeln.
3.2.1. Die Bedeutung der Kultur als ein Ethik bildendes Element
Zunächst muss erwähnt werden, dass Pestalozzi den Begriff der Ethik an sich nie verwandt hat. Sehr wohl hat er sich aber, wie gezeigt, mit der Sittlichkeit beschäftigt. Der Zusammenhang dieser beiden Begriffe ist ein sehr enger, denn die „Ethik hat das Wesen der Sittlichkeit zu ihrem Gegenstand“.32
Der Ursprung der Ethik Pestalozzis lässt sich aus seiner Anthropologie ableiten. Wie gezeigt ist der Mensch ein `bipolares Wesen´, zwischen seinen tierischen Trieben und seinen gesellschaftlich bedingten Auswüchsen auf der einen Seite und dem Streben nach Sittlichkeit auf der anderen Seite. Dementsprechend lässt sich ein den Menschen bestimmendes Gegensatzpaar, das außerhalb seiner selbst liegt, finden: die „Zivilisation“ und die „Kultur“33. Die Zivilisation wird hier als eine Macht beschrieben, die den Menschen immer mehr in sein gesellschaftliches Verderben führt, während die Kultur gegen dieses Verderben ankämpft. „[Die Kultur] ist geeignet, der sinnlich- thierischen Kraftentfaltung, die die blosse Civilisationsbildung begünstiget, ein Gegengewicht zu verschaffen, durch welches die Fortdauer des inneren Geistes und des innern Strebens des wilden Naturlebens im gesellschaftlichen Zustand gehemmt, seine thierisch-gewaltsame Denk- und Handlungsweise gemildert und selber der Kunstkraft, mit der es in diesem Zustand den Trug seiner Selbstsucht in Rechts- und Gerechtigkeitsformen umwandelt, ein Ziel gesetzt werden kann. Dadurch, nur dadurch kann dem Geist des wilden Naturlebens dem verfänglichen Raffinement, mit welchem man im bürgerlichen Zustande so oft das Uebermass der Niederträchtigkeit und der Unwürdigkeit bürgerlich bedeckt und als rechtsförmig durchschlüpfen macht, sein gefährlichster Stachel benommen werden.“34
Hiermit ist zusätzlich ein Weiteres angesprochen: Pestalozzi macht in diesem Satz deutlich, dass der Mensch der Reflexion fähig ist. Danach ist in der Lage, die Zivilisation, die ihn umgibt, als etwas vom Menschen Gemachtes und daher Veränderbares zu sehen. Er ist also nicht diesen Zuständen verhaftet (den Inneren wie den Äußeren), sondern ist in der Lage, diese aktiv zu beeinflussen. Das Streben nach Sittlichkeit, dass man auch als ein Umsetzen von Ethik verstehen kann und somit kulturbildendes Element ist, ist also mit der Fähigkeit der Reflexivität in hohem Maße verknüpft. Damit thematisiert Pestalozzi früh das, was in der Philosophischen/Pädagogischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts (vgl. Plessner35, Scheler36, Zdarzil37, Bollnow38, u.a.) wesentliches Element dieser Wissenschaft wird.
Zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes soll noch ein Zitat von Immanuel Kant herangezogen werden, das ebenfalls auf das Verhältnis von Zivilisation und Kultur und seiner Bedeutung für das sittliche Streben des Menschen eingeht: „Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert, bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns schon für moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Kultur, der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht bloß die Zivilisierung aus.“39
Moralität, Sittlichkeit oder Kultur zu leben ist für Pestalozzi der Inbegriff von Ethik. Und dies ist, besonders wenn man noch einmal den eben angesprochenen Aspekt der Reflexivität in Erinnerung ruft, natürlich eine hoch individuelle Leistung. Deshalb stuft Pestalozzi die Hinwendung zum eigenen Selbst auch höher ein, als die Hinwendung zum Massenmenschen. „[...] die richtige Erkenntnis der Menschennatur und ihrer wahren Bedürfnisse [geht] weit mehr aus der Aufmerksamkeit auf die Individualitäts- erscheinungen unseres Geschlechts als aus der Kenntnis seiner Massaerscheinungen hervor.“40
Sittlichkeit ist demzufolge keine Kompetenz, die man zu einem gewissen Zeitpunkt erwirbt, sondern ein immer wiederkehrendes Widerstreiten gegen die tierischen Kräfte bei jeder anstehenden Entscheidung, denn sie verlangt Anstrengung und Selbstverzicht, und beinhaltet, dass der Einzelne Verantwortung für sein Verhalten trägt.41
Diese Verantwortung im Menschen zu entwickeln muss demnach Ziel jeden pädagogischen Handelns sein, die aber dennoch die determinierende Zivilisation nicht unberücksichtigt lassen darf.
3.3. Die Folgen für die Pädagogik
„Es ist für den sittlich, geistig und bürgerlich gesunkenen Welttheil keine Rettung möglich, als durch die Erziehung, als durch die Bildung zur Menschlichkeit, als durch die Menschenbildung.“42 Dieses Zitat zeigt eindrucksvoll, wie nah die pädagogische Aufgabe bei Pestalozzi an der oben dargelegten Anthropologie angelehnt ist.
Der angesprochene Wille, die Menschen in diese Richtung zu erziehen, impliziert jedoch, und dies ist ein weitere anthropologische Grundannahme, dass der Mensch überhaupt erziehungsfähig und ebenso erziehungsbedürftig ist. Pestalozzi vertritt hierbei einen Standpunkt, den man in neuerer Literatur als pädagogischen Realismus bezeichnen kann. Dies bedeutet, dass der Mensch das Produkt einer angelegten Entwicklung ist (deren Ausgangspunkt Pestalozzi als an sich gut bezeichnet (s.o.)) und einer den Menschen in seiner Entwicklung beeinflussenden Umwelt („gesellschaftlicher Zustand“, Zivilisation, Kultur, etc.) ist. Hinzu kommt, dass der Mensch, sofern er in den sittlichen Zustand übertritt, zu „selbstbildenden Akten“43 fähig ist. Dieser Sachverhalt kommt zum Ausdruck, wenn Pestalozzi schreibt: „Der Mensch wird nicht, wie das Thier, zu dem , was er seyn und werden soll, geboren, er wird, was er werden soll, nicht durch sich selbst, er wird es durch die Erhebung seiner Natur zur Wahrheit und Liebe.“44
Dies zeigt, dass der Mensch offensichtlich der Erziehung bedarf und genauso (dies ergibt sich aus dem Vergleich mit der instinktgebundenen Tierwelt) dazu befähigt ist, erzogen zu werden, denn er wächst nicht einfach, sondern muss durch gezieltes Einflussnehmen in seiner Entwicklung gefördert werden.
3.3.1. Die Erziehung als Förderung des Guten
Daran schließt sich allerdings die Frage an, wie sich die Anlagen und Kräfte, von denen Pestalozzi spricht, nun letzten Endes entfalten und wie die pädagogischen Maßnahmen aussehen müssen, die diese in einen sittlichen Zustand führen können.
Pestalozzi nimmt an, dass dem Menschen Anlagen und Kräfte mitgegeben sind, die sich wie folgt kategorisieren lassen: der Mensch ist angelegt, a) das Gute zu wollen, b) das Gute zu kennen und c) das Gute zu können. Aus diesen drei Grundanlagen entwickelt er analog drei Erziehungskonzepte, die jeweils auf eine dieser Kategorien anzuwenden sind.45 Pestalozzi ist der Auffassung, dass jede dieser drei Grundanlagen gleichermaßen zu fördern sei, weil diese Anlagen in Harmonie nebeneinander stehen würden und die Vollendung des Menschen nur auf diesem Weg zu erreichen sei. Die naturgemäße Ausbildung dieser inneren Kräfte nennt er „Elementarbildung“46 Diese teilt sich gemäß den oben gebildeten Kategorien in die Vermittlung des Wissens (das Gute kennen), in die physische Bildung (das Gute können) und die sittlich-religiöse Bildung (das Gute wollen) auf. Bei der Betrachtung des Stanser Briefes wird auf diesen Sachverhalt noch detaillierter eingegangen werden.
3.3.2. Die Bedeutung von Kunst und Natur für die Bildung des Menschen
Gemäß der eingeführten Polarität unterscheidet Pestalozzi konsequenterweise auch innerhalb des Menschen die Kategorien „Naturmensch“ und „Kulturmensch“.47 Während vom ersteren angenommen wird, dass er sich von selbst entwickelt (s.o.), gilt dies nicht für die zweite Kategorie. Aufgabe der Pädagogik, und hierin besteht die Kunst, soll es also sein, diesen Kunstcharakter zu fördern, was letztlich bedeutet, dass der Mensch dahin geführt werden soll, zu entscheiden, ob er in den sittlichen Zustand hinüberwechseln soll. Exemplarisch soll dies anhand des Wissens (das Gute kennen) dargestellt werden:
Dass der Mensch eine Sprache lernt oder zu lernen in der Lage ist, ist angelegt, somit dem „Naturmenschen“ zugehörig. Dennoch wird die Sprache durch das Leben gebildet, fortgeführt, differenziert. Übertragen auf das gesamte Denken, und diesen Schluss zieht Pestalozzi, bedeutet dies, dass sich die Denkkraft genau auf diesem Weg entwickelt: sie hat die Anschauungskraft als Basis, und es existieren Kunstmittel, die diese Denkkraft zu fördern in der Lage sind. Das hier Dargelegte ist das Grundverständnis einer naturgemäßen Erziehung nach Pestalozzi.48
3.3.3. Die Wiege des Wollens
Pestalozzi misst der Bedeutung des Wollens eine besondere Bedeutung bei49. An vielen Textstellen wird dies dokumentiert. Aber nicht nur aus diesem Grund soll das folgende Kapitel hier angefügt werden. In den Erläuterungen zum „Stanser Brief“ wird sich zeigen, dass Pestalozzi die familiale Erziehung für die Geeigneteste, auch in seinem Arbeitsfeld, hält und ihr deshalb ein Beispielcharakter zukommt. Der Wichtigkeit des Wollens sowie dem konzeptionellen Schwerpunkt der familialen Erziehung soll daher in diesem Kapitel Rechnung getragen werden, denn die Familie, so wird sich zeigen, ist die Wiege des Wollens.
Wesentlichster Punkt ist hierbei sicherlich die Beziehung zwischen Mutter und Kind. Die Mutter nimmt bei Pestalozzi nämlich die wesentliche Funktion ein, als Vermittlerin zwischen Welt und dem Kind zu stehen. Sie erhält dadurch eine nahezu göttliche Stellung.
Zahlreiche Sozialisationstheorien bestätigen die Richtigkeit dieser Aussagen. Wenn hier von der Vermittlung der Kompetenz des Wollens die Rede ist, könnte diese beispielsweise durch das Phasenmodell Eriksons50 vielfach belegt werden. Die Vermittlung des Urvertrauens als wesentlichste Kompetenz des Menschen kann beispielsweise als die Voraussetzung allen Wollens betrachtet werden.
Nicht nur die Beziehung zur Mutter, so merkt Pestalozzi an, ist zu berücksichtigen. Der Wohnraum als solcher spiele ebenfalls eine entscheidende Rolle. „Das häusliche Leben ist das heilige Mittel, diese Theilnahme zur Menschlichkeit zu erheben, und dadurch der Menschennatur würdig zu machen.“ Und weiter: „Die Haushaltung, der enge Kreis von Vater und Mutter, wie er sich allmählig ausdehnt [...] ist in Rücksicht auf diese Veredelung [das Wollen zu fördern, Anm.d.V.] der höchste Näherungspunkt.“51
4. Betrachtung des „Stanser Briefs“
Pestalozzis Gedanken und Ideen aus seinen „Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ bildeten wie gesehen in den zukünftigen Jahren die Grundlage seines pädagogischen Werkes. Nur ein Jahr nach der Niederschrift begann Pestalozzi seine insgesamt eineinhalb Jahre währende Arbeit in seiner Erziehungseinrichtung in Stans. „Natürlich gehörten die Überzeugungen, die Pestalozzi durch die intensive Arbeit an den ‚Nachforschungen‘ in sich befestigt hatte, zu den geistigen Voraussetzungen, die lebendig in ihm wirksam waren, als er nach Stans ging. Aber Stans war mehr als die Probe auf das Exempel der Anthropologie“52. Im folgenden Abschnitt soll Pestalozzis Brief, den er nur wenige Tage nach Auflösung der Erziehungsanstalt schrieb, näher betrachtet und interpretiert werden. Hierbei sollen sowohl Parallelen zu seiner Anthropologie als auch neue Ideen Pestalozzis ins Zentrum der Betrachtung rücken. Es heißt, Pestalozzi stelle sich neuen praktischen Erziehungssituationen jeweils ganz unvoreingenommen, er ließe die pädagogische Besinnung immer wieder ursprünglich aus der aktuellen Erfahrung herauswachsen, „den bislang gewonnenen Stand seines Denkens zwar in die neue gedankliche Auseinandersetzung hineinnehmend, jedoch ständig bereit, ihn an der erfahrenen Erziehungswirklichkeit zu korrigieren“53.
Die Betrachtung des Briefes wird in folgende zwei Hauptabschnitte gegliedert werden: die äußere Geschichte und Ausgangssituation des Stanser Versuchs, sowie die sittliche Erziehung in ihren drei Stufen. Da Pestalozzis in seinem Brief neben zahlreichen Beschreibungen der Situation in Stans auch seine Grundauffassungen thematisiert, wird sich dieser Abschnitt eng am Text selber orientieren und mehrfach relevante Textstellen in die Betrachtung einbinden.
2.1 Äußere Geschichte und Ausgangssituation
Anfang April 1798 rückten französische Truppen in der Schweiz ein und riefen die Helvetische Republik aus, d.h. sie gründeten eine komplett neue Verfassung. Pestalozzi stellte sich in den Dienst der Republik und gab zunächst ein „Helvetisches Volksblatt“ heraus. Nebenbei legte er der ihm wohlgesonnenen Regierung einen Plan zur Errichtung einer Armenerziehungsanstalt vor, die auch befürwortet wurde. „Er (Anm. der Verfasser: einer der Direktoren der Schweiz) nahm nicht nur Interesse dafür, sondern urtheilte mit mir, die Republik bedürfe der Umschaffung des Erziehungswesens unausweichlich, und war mit mir einig: die größtmöglichste Wirkung der Volksbildung konnte durch die vollendete Erziehung einer merklichen Anzahl Individuen aus den ärmsten Kindern im Lande erzielt werden...“54. Das Wort „Volk“ in dem Begriff „Volkserziehung“ hat bei Pestalozzi noch den begrenzten Bedeutungsumfang des im 18. Jahrhundert gängigen Sprachgebrauchs. Es bezeichnet das niedere, arme Volk, also die unteren Stände: Bauern, Pächter, Tagelöhner und Arbeiter. Interessant hierbei ist, dass Volkserziehung bei Pestalozzi also Standeserziehung, d.h. Erziehung im Rahmen des Standes, in den das Kind hineingeboren wird, und Erziehung für diesen Stand meint55. Durch Volksbildung sollen die Kinder nicht aus „ihrem Kreis gehoben, sondern durch dieselbe vielmehr fester an denselben angeknüpft“56 werden. „Daß der Arme zur Armut erzogen werden müsse, galt Pestalozzi seit der Arbeit auf dem Neuhof als unumstößlicher Grundsatz seiner Pädagogik... angesichts einer grundsätzlich als unveränderlich, ja als gottgegebenen sozialen Standesschichtung, zugleich aber in der Überzeugung, daß wahre Menschlichkeit dem ‚Armen‘ nicht weniger, vielmehr unmittelbarer zugänglich sei als den Angehörigen der ‚höheren‘ Stände“57. Diese Annahme Pestalozzis ist der Grund dafür, daß auch in Stans wieder einmal sein Hauptwunsch die Erziehung der Armen war: „Die Erziehung der Armen blieb vom Erwachen seines pädagogischen Genies an der eigentliche Zweck seines Lebens“58.
In der Schweiz wollten Pestalozzi und seine politischen Förderer eine radikale Reform des Erziehungswesens, eine „Umschaffung“59 desselben. Dies sollte realisiert werden durch die Erziehung zukünftiger Erzieher des Volkes, einen der Pläne, die Pestalozzi in seinem Waisenhaus mit seinen Kindern zu realisieren versuchte: „An meinen Busen hingelehnt, fragte ich manche der gefühlvollsten (Kinder, Anm. der Verfasser) schon in den ersten Monaten: Wolltest du nicht auch gern wie ich im Kreis armer Unglücklicher leben, sie erziehen, sie zu gebildten Menschen machen?“60 Klafki interpretiert folgendermaßen: „Die Individuen, die dort erzogen werden sollten, werden von Anfang an als künftige Volkserzieher betrachtet. Das heißt nicht unbedingt, daß sie durchweg zu künftigen Berufserziehern und Lehrern gebildet werden sollen, sondern ebenso zu vorbildlichen Müttern und Vätern, die später über ihren Familienkreis hinaus in Nachbarschaft und Dorfgemeinde volkserzieherisch wirksam werden konnten61. Dies waren also die ursprünglichen Pläne Pestalozzis und der helvetischen Regierung. Währenddessen kam es in einigen Teilen der Schweiz zu Verschwörungen gegen die neue Regierung, die in einer Schlacht bei Stans gegen die Franzosen gipfelten. Nach der Plünderung steckten die siegreichen Franzosen Stans in Brand und fast 400 Menschen starben. Folglich gab es in Stans eine große Anzahl Waisen- und Halbwaisenkinder, die an den Rand der Armut gedrängt worden waren. Die Regierung beschloß daraufhin, die geplante Armenerziehungsanstalt als Waisenhaus in einem Flügel des Stanser Klosters zu gründen und berief Pestalozzi als dessen Leiter dorthin. Am 14. 1. 1799 nahm Pestalozzi die ersten Kinder auf, in den folgenden Monaten betreute er 80 Kinder im Alter zwischen 5 und 15 Jahren, die teils von Eltern und Verwandten, teils von der Polizei gebracht worden waren. „Viele traten mit eingewurzelter Krätze ein, daß sie kaum gehen konnten, viele mit aufgebrochenen Köpfen, viele mit Hudeln, die mit Ungeziefer beladen waren, viele hager, wie ausgezehrte Gerippe, gelb, grinzend, mit Augen voll Angst und Stirnen voll Runzeln des Mißtrauens und der Sorge, einige voll kühner Frechheit, des Bettelns, des Heuchelns und aller Falschheit gewöhnt, andere vom Elend erdrückt, dultsam, aber mistrauisch, lieblos und furchtsam. Zwischen hinein einige Zärtlinge, die zum Teil ehemals in einem gemächlichen Zustand lebten, diese waren voller Ansprüche... Träge Unthätigkeit, Mangel an Uebung der Geistesanlagen, und wesentlicher körperlicher Fertigkeiten waren allgemein“62. Dass er trotz dieser schlechten Voraussetzungen seine Arbeit zuversichtlich aufnahm, begründete Pestalozzi mit seinem Glauben daran, dass Gott auch in die „ärmsten und vernachlässigsten Kinder“63 ursprüngliche „Kräfte“, „Anlagen“ und „Fähigkeiten“ gelegt habe, die er selber nun zu wecken versuchte: „Ich wußte, wie sehr die Noth und die Bedürfnisse des Lebens selbst dazu beitragen, die wesentlichsten Verhältnisse der Dinge dem Menschen anschaulich zu machen, gesunden Sinn... zu entwickeln, und Kräfte anzuregen, die zwar in dieser Tiefe des Daseyns mit Unrath bedeckt zu sein schienen, die aber vom Schlamme dieser Umgebungen gereinigt, in hellem Glanze strahlen. Das wollte ich tun: Aus diesem Schlamm wollte ich sie herausheben, und in einfache, aber reine häusliche Umgebungen und Verhältnisse versetzen. Ich war gewiß, es brauchte nur dieses, und sie würden als höherer Sinn und höhere Thatkraft erscheinen, und sich als Tüchtigkeit zu allem erproben, was nur immer den Geist befriedigen, und das Herz in seiner innersten Neigung ansprechen kann“64. Grundsätzlich entsprach Pestalozzis Wunsch der Armenerziehung diesen Voraussetzungen in Stans, aber er hatte wohl kaum mit solchen erschwerten Ausgangsbedingungen seitens der Kinder vorher gerechnet. Seine Motivation, die Arbeit dennoch fraglos aufzunehmen, liegt also begründet in seinem Glauben an die Werte, die in jedem Menschen schlummern- in den „Nachforschungen“ bezeichnet als „Anlagen“. Stans war also in gewisser Weise eine Umsetzung des Pestalozzschen Menschenbildes aus seinen „Nachforschungen“ (s.o.).
Darüber hinaus versuchte Pestalozzi jedoch noch eine ganz allgemeine Sinngebung seines Stanser Versuches, die den Gedanken weiterführt, der in Kapitel 3.3.3. bereits angerissen wurde: „Ich wollte eigentlich durch meinen Versuch beweisen, daß die Vorzüge, die die häusliche Erziehung hat, von der öffentlichen müsse nachgeahmt werden, und daß die letztere nur durch die Nachahmung der Erstern für das Menschengeschlecht einen Werth hat65. Diese Vorzüge sieht Pestalozzi darin, dass die häusliche Erziehung im Gegensatz zu dem damals üblichen Schulunterricht die „Umfassung des ganzen Geistes, der die Menschenerziehung bedarf“66 zu leisten vermag. Dazu gehören nach Pestalozzi eigentlich grundsätzlich Mutter und Vater: „Jede gute Menschenerziehung fordert, daß das Mutteraug in der Wohnstube täglich und stündlich jede Veränderung des Seelenzustandes ihres Kindes mit Sicherheit in seinem Auge, auf seinem Munde und seiner Stirn lese. Sie fordert wesentlich, daß die Kraft des Erziehers reine, und durch das Daseyn des ganzen Umfangs der häuslichen Verhältnisse allgemein belebte Vaterkraft sey“67. Pestalozzi, der bis auf eine Haushälterin die einzige erwachsene Person in seiner Einrichtung war (obwohl genug Gelder für weitere Erzieher gewesen wäre), hatte die Absicht den ihm anvertrauten Kindern „alles in allem zu seyn. Ich war von Morgen bis Abend, so viel als allein in ihrer Mitte. Alles, was ihnen an Leib und Seele Gutes geschah, gieng aus meiner Hand. Jede Hülfe, jede Handbiethung in der Noth, jede Lehre, die sie erhielten, gieng unmittelbar von mir aus“68. Diese Omnipräsenz Pestalozzis sollte eine wichtige Voraussetzung für den ersten Teil seiner sittlichen Erziehung darstellen, die im folgenden betrachtet werden wird.
4.2 Die Methode der sittlichen Erziehung
Pestalozzi entwickelte während der Zeit in seinem Stanser Waisenhaus seine Theorie der sittlichen Erziehung in enger Verflechtung mit der Schilderung seiner praktischen Arbeit dort. Diese sittliche Erziehung läßt sich an zahlreichen Textstellen nachvollziehen und ist prinzipiell in 3 Stufen geteilt, die in der folgenden Zusammenfassung Pestalozzis durch die Ziffern 1 bis 3 hervorgehoben sind. „Meine dießfällige Handlungsweise gieng von dem Grundsatz aus: Suche deine Kinder zuerst weitherzig zu machen, und Liebe und Wohlthätigkeit ihnen durch die Befriedigung ihrer täglichen Bedürfnisse, ihren Empfindungen, ihren Erfahrungen und ihrem Thun nahe zu legen, sie dadurch in ihrem Innern zu gründen und zu sichern (1) (vgl. Kapitel 3.3.1. Modus des Wollens), dann ihnen viele Fertigkeiten anzugewöhnen, um dieses Wohlwollen in ihrem Kreise sicher und ausgebreitet ausüben zu können (2) (Modus des Könnens). Endlich und zuletzt komme mit den gefährlichen Zeichen des Guten und Bösen, mit den Wörtern: Knüpfe diese an die täglichen häuslichen Auftritte und Umgebungen an, und sorge dafür, daß sie gänzlich darauf gegründet seyen, um deinen Kindern klarer zu machen, was in ihnen und um sie vorgeht, um eine rechtliche und sittliche Ansicht ihres Lebens und ihrer Verhältnisse mit ihnen zu erzeugen (3) (Modus des Kennens)“69.
(1) bezieht sich dabei auf Stufe 1 der sittlichen Erziehung nach Pestalozzi: „das Gute“70 zu fühlen bzw. es zu erkennen. (2) steht für die zweite Stufe der sittlichen Erziehung: das Gute zu tun. (3) schließlich bezieht sich auf die Reflexion des Guten, die dritte und letzte Stufe der sittlichen Erziehung. „Der Umfang der sittlichen Elementarbildung beruht überhaupt auf den drey Gesichtspunkten, der Erzielung einer sittlichen Gemüthsstimmung durch reine Gefühle; sittlicher Uebungen durch Selbstüberwindung und Anstrengung in dem, was recht und gut ist; und endlich der Bewirkung einer sittlichen Ansicht durch das Nachdenken und Vergleichen der Rechts- und Sittlichkeitsverhältnisse, in denen das Kind schon durch sein Daseyn und seine Umgebungen steht“71. Diese drei Stufen sollen in den folgenden Abschnitten betrachtet werden. Dabei wird sich auch in den Überschriften eng an den Stanser Brief und Pestalozzis eigene Bezeichnungen gehalten werden
2.2.1 Erzielung einer sittlichen Gemüthsstimmung (Stufe 1)
Die erste Stufe der sittlichen Erziehung wird von Pestalozzi charakterisiert als Erweckung einer „sittlichen Gemüthsstimmung durch reine Gefühle“72. Dazu ist jedoch primär die Befriedigung der täglichen Bedürfnisse der Kinder notwendig, die Pestalozzi generell als Grundlage seiner Arbeit im Waisenhaus empfand. „ Daß mein Herz an meinen Kindern hange, daß ihr Glück mein Glück, ihre Freude meine Freude sey, das sollten meine Kinder vom frühen Morgen bis an den späten Abend, in jedem Augenblick auf meiner Stirne sehen, und auf meinen Lippen ahnden“73. Die Befriedigung der Bedürfnisse geschieht aus der Liebe des Erziehers zu seinen Zöglingen heraus, und „nur dadurch gewinnt die ‚Besorgung‘ einen unmittelbaren Bezug zur sittlichen Erziehung“74. Pestalozzi hatte jedoch vor allem zu Beginn seiner Tätigkeit mit zahlreichen Problemen zu kämpfen, die diese uneingeschränkte Liebe und Sorge für seine Kinder immer wieder in Frage stellten: „Die Kinder glaubten nicht so leicht an meine Liebe“75 und es „beklagten sich bald mehrere... und wollten nicht bleiben“76. Diese anfängliche Problematik lag begründet in dem Mißtrauen der Eltern und Verwandten vieler Kinder, die ihre Kinder sonntags besuchen konnten: „Bey Monaten war bald kein Sonntag, da nicht mehrere weggelockt wurden“77. Mißtrauen seitens Erwachsener stellte ohnehin eins der größten Probleme Pestalozzis dar: „Von außen hatte er mit Schwierigkeiten durch das Volk zu rechnen, das ihn mit der verhaßten Regierung in Verbindung brachte und ihm mißtraute. Hinzu kam die religiöse Stimmung, in der er, der Reformierte, als Ketzer betrachtet wurde“78. Zusätzlich wurde „diese Mißstimmung der ersten Monathe noch vorzüglich dadurch befördert, daß die Abänderung der ganzen Lebensart, die schlechte Witterung und die feuchte Kälte der Klostergänge, zusammenschlug, mehrere Kinder krank zu machen... der kranhafte Zustand mehrerer dauerte indessen ziemlich lang, und ward durch Einwirkung der Eltern noch verschlimmert“79.
Doch Pestalozzi gab trotz dieser zahlreichen Schwierigkeiten nicht auf: „Meine Thränen flossen mit den ihrigen, und mein Lächeln begleitete das ihrige. Sie waren ausser der Welt, sie waren ausser Stanz, sie waren bey mir, und ich war bey ihnen. Ihre Suppe war die meinige, ihr Trank war der meinige. Ich hatte nichts... ich hatte nur sie. Waren sie gesund, ich stand in ihrer Mitte, waren sie krank, ich war an ihrer Seite. Ich schlief in ihrer Mitte“80. Auf diese Weise gelang es Pestalozzi, nach und nach das Vertrauen der Mehrzahl seiner Kinder zu gewinnen, und sie lernten, das Gute zu fühlen: „Dadurch (durch Pestalozzis ständige Präsenz, Anmerkung der Verfasser) aber war es denn freylich auch allein möglich, daß sich die Kinder allmählich, und einige innigst und soweit an mich anschlossen, daß sie dem, was sie Dummes und Verächtliches selber von ihren Eltern und Freunden gegen mich hörten, widersprachen. Sie fühlten, daß mir Unrecht geschah, und ich möchte sagen, sie liebten mich dafür doppelt“81. Mit diesem Fühlen von Unrecht schien also die erste Stufe der sittlichen Erziehung erreicht zu sein, aber Pestalozzi geht noch einen Schritt weiter: „Die Aufgabe der ersten Stufe sittlicher Elementarbildung sieht es aber erst dann als voll gelöst an, wenn die sittliche Gemütsstimmung des einzelnen Kindes das Ganze der Hausgemeinschaft umfaßt“82. Bisher beschränkte sich die Offenheit der Kinder ausschließlich auf ihr jeweils eigenes Verhältnis zu Pestalozzi, nicht jedoch auf das Verhältnis untereinander. An dieser Stelle tritt erneut die Wichtigkeit der häuslichen Erziehung zutage, wie sie von Pestalozzi bereits in Abschnitt 1 postuliert wurde: „Mein wesentlicher Gesichtspunkt gieng jetzt aller erst darauf, die Kinder durch die ersten Gefühle ihres Beysammenseins, und bei der ersten Entwicklung ihrer Kräfte zu Geschwistern zu machen, das Haus in den einfachen Geist einer großen Haushaltung zusammen zu schmelzen, und auf der Basis eines solchen Verhältnisses und der aus ihm hervorgehobenen Stimmung das rechtliche und sittliche Gefühl allgemein zu beleben“83. Dabei war Pestalozzi von vorneherein klar, daß weder „ein vorgefaßter Plan“84 noch der „Zwang einer äußeren Ordnung“85
und ein „Einpredigen von Regeln und Vorschriften“86 bei seinen Kindern diesbezüglich Erfolg haben würden, er sah es vielmehr so, „Daß ich bei der Zügellosigkeit und dem Verderben ihrer diesfälligen Stimmung sie vielmehr gerade dadurch von mir entfernt, und ihre vorhandene wilde Naturkraft unmittelbar gegen meine Zwecke gerichtet hätte“87. Vielmehr „sollte das Erzeugniß des höheren Geistes der Anstalt und der harmonischen Aufmerksamkeit und Thätigkeit der Kinder selbst werden, und aus ihrem Daseyn, ihren Bedürfnissen, und ihrem gemeinschaftlichen Zusammnenhange unmittelbar hervorgehen. Nothwendig mußte ich erst ihr Innerstes selbst und eine rechtliche und sittliche Gemüthsstimmung in ihnen wecken und beleben, um sie dadurch auch für das Aeußere thätig, aufmerksam, geneigt, gehorsam zu machen“88.
Zusammengefaßt kann man also sagen, daß in Phase 1 der sittlichen Erziehung anfangs eine allseitige Um- und Besorgung durch den Erzieher erfolgt, daraufhin aber eine aktive Arbeit auch seitens der Kinder gefordert ist, um „das rechtliche und sittliche Gefühl“89 in ihnen zu wecken und ihnen somit die Basis zu geben für das sittliche Handeln, das Stufe 2 darstellt. „Das Geschwistergefühl kann eben nicht, wie das Vertrauen gegenüber dem Erwachsenen, durch die rezeptiv erfahrene Umsorgung erweckt werden, sondern es bildet sich im gegenseitigen Miteinander-Umgehen, Einander-Helfen, Aufeinander-Rücksichtnehmen der Kinder“90. Pestalozzi förderte dieses, und hatte mit seiner Methode Erfolg: „Man sah in kurzem bey siebenzig so verwilderte Bettelkinder mit einem Frieden, mit einer Liebe, mit einer Aufmerksamkeit und Herzlichkeit untereinander leben, die in wenigen kleinen Haushaltungen zwischen Geschwistern statt findet“91.
2.2.2 Das sittliche Handeln
Der letzte Teil der vorherigen Stufe greift mit seiner Forderung nach der aktiven Mitarbeit der Kinder bereits auf Punkt 2 der sittlichen Elementarbildung über: dem sittlichen Handeln. Nach der Weckung der sittlichen Gemütsstimmung geht es nun darum, den Kindern Fertigkeiten anzugewöhnen, um das Gute auch selber und aus eigenem Antrieb ausüben zu können. Das Wichtigste an dieser Stufe ist die Forderung nach aktivem Handeln des Educandus.
Das Handeln in sittlichen Ernstsituationen bildet hierbei den Kern dieser Stufe. Sittliche Handlungsmotive sollen im Kontakt mit den Mitmenschen erfahren werden. Diese Auffassung Pestalozzis rückt vor allem deshalb ins Zentrum des Interesses, weil sie im Gegensatz steht zum Rationalismus der Aufklärung, zum Utilitarismus der Philantrophen und zur Bekehrungspolitik der Pietisten92. Denn die von Pestalozzi postulierten sittlichen Motive wie Rücksichtnahme, Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft und Verzeihung lassen sich eben nicht theoretisch-rational erfahren, sondern nur in unmittelbaren konkreten Situationen.. Die Reflexion erfolgt bei Pestalozzi erst nachträglich, wie in Punkt 2.2.3 zu sehen sein wird. Die „Voraussetzung des Angesprochenwerdens durch sittliche Erfahrungen, Forderungen, Motive aber ist jene Offenheit des Vertrauens, zu dem der Erzieher das Kind auf der93 ersten Stufe der sittlichen Erziehung erweckte“. Das, was in Stufe 1 als sittlich richtig erkannt wurde, muß nun in Stufe 2 zum eigenen Handeln in konkreten Situationen führen. An dieser Stelle muß das Kind Werk seiner selbst werden, indem es aus der sittlichen Gemütsstimmung und dem Wissen darüber, was gut und richtig ist, auch entsprechend handelt. Pestalozzi erreichte dies in seinem Waisenhaus auch mittels körperlicher Strafen (die gleich noch näher analysiert werden): „Eines meiner liebsten Kinder mißbrauchte die Sicherheit meiner Liebe und drohete einem anderen mit Unrecht; das empörte mich, ich gab ihm mit harter Hand meinen Unwillen zu fühlen. Das Kind schien vor Wehmut zu vergehen, und weinte eine Viertelstunde ununterbrochen, und sobald ich zur Thüre hinaus war, stand es wider auf, gieng zu dem Kind, das es verklagt hatte, bat es um Verzeihung und dankte ihm, daß es sein wüstes Betragen gegen es angezeigt. Freund, es war keine Comedie, das Kind hat vorher nichts ähnliches gesehen“94. Dieses Kind hat Stufe 2 der sittlichen Erziehung durch sein sittliches, eigenständiges Handeln erreicht. Ein weiteres Beispiel für das sittliche Handeln der Stanser Kinder ist folgendes: Pestalozzis Kinder entschlossen sich, obwohl sie sich dadurch selbst bezüglich Raum, Nahrung und Kleidung einschränken mussten, 20 weitere Kinder ohne Obdach aus dem niedergebrannten Altdorf aufzunehmen- sie haben zu diesem Zeitpunkt offensichtlich eine umfassende Mitmenschlichkeit erlernt und handeln danach.
Ein weiterer Sinn der zweiten Stufe der sittlichen Erziehung besteht darin, daß die Kinder ihren „tugendhaften Gefühlen“ „unmittelbare Anwendung und Haltung im Leben“95 geben sollen. Dazu ist eine Selbstüberwindung notwendig, die allerdings bei Pestalozzi nicht durch eine dauernde Willensanspannung, sondern durch Heiterkeit, Ruhe und eine gelöste Bereitschaft „zu allem Edlen und Guten“96 ausgelöst wird: „Stille als Mittel die Thätigkeit zu erzielen, ist vielleicht das erste Geheimniß...die Stille, die ich forderte, wenn ich da war und lehrte, war mir ein großes >Mittel zu meinem Ziele, und eben so die Festhaltung auf der körperlichen Stellung, in der sie da sitzen mußten...Die Angewöhnungen an die bloße Attitüde eines tugendhaften Lebens tragen unendlich mehr zur Erziehung tugendhafter Fertigkeiten bey, als alle Lehren und Predigten, die ohne Ausbildung dieser Fertigkeiten gelassen werden“97. An dieser Stelle wird ein Grundprinzip der Methode der sittlichen Erziehung überhaupt erkennbar: die Entsprechung von Weg und Ziel. „Wenn das Ergebnis der Selbstzuchtübungen nämlich die innere Ruhe und die Heiterkeit sein sollen, so leuchtet dieses Ziel auf dem Wege selbst bereits ständig auf“98. So forderte Pestalozzi wie oben gesehen Stille sowohl in seinem Unterricht als auch in seiner Anwesenheit und „forderte unter anderem zum Scherz, daß sie (die Kinder, Anmerkung der Verfasser) während dem Nachsprechen dessen, was ich vorsagte, ihr Aug auf den großen Finger halten sollten“99. Klafki interpretiert: „In der Tat dürfte es der prinzipiell richtige und der am meisten Erfolg versprechende Weg sein, Kinder die Forderung nach Selbstzucht als Bedingung inhaltlich-sinnvollen Tuns erleben zu lassen“100. Als Beispiel nennt Pestalozzi selbst „ein verwildertes Mädchen, das sich angewöhnt, stundenlang Leib und Kopf gerade zu tragen, und die Augen nicht herumschweifen zu lassen“101. Dieses Mädchen „erhält blos dadurch schon einen Vorschritt zur sittlichen Bildung“102.
Im Zusammenhang mit diesen Übungen der Selbstüberwindung geht Pestalozzi in seinem Schreiben auch auf die körperliche Bestrafung der Kinder ein. Die Strafe scheint sich hierbei ausschließlich auf die Selbstzucht zu beziehen, da an keiner anderen Stelle des Briefes von Strafe die Rede ist. „Wenn sich indessen (anstelle von Selbstzucht, Anmerkung der Verfasser) Härte und Rohheit bey den Kindern zeigte, so war ich streng, und gebrauchte körperliche Züchtigungen... Bey glücklichen Kindern, und in glücklichen Lagen“103 dagegen sieht Pestalozzi eine körperliche Züchtigung nicht als notwendig an, „aber im Gemisch meiner ungleichen Bettelkinder, bey ihrem Alter, bey ihren eingewurzelten Gewohnheiten, und bey dem Bedürfniß, durch einfache Mittel sicher und schnell auf alle zu wirken, bey allem zu einem Ziel zu kommen, war der Eindruck körperlicher Strafen wesentlich“104. Das hier genannte „Ziel“ steht wieder für die sittliche Erziehung, bzw. die Stufe 2 derselben. Die Strafe soll das Kind praktisch in seiner falschen Sicherheit erschüttern und ihm klarmachen, dass es sich auf dem falschen Weg befindet: dem Weg, etwas Böses, d.h. etwas Unsittliches zu tun. Damit dies fruchtet, muß das Kind aber bereits die Liebe und Zuneigung des bestrafenden Erziehers erfahren haben und sich dieser beider sicher sein. Dieser Voraussetzungen war sich Pestalozzi im Bezug auf seine Kinder sicher: „Meine Ohrfeigen konnten darum keinen bösen Eindruck auf meine Kinder machen, weil ich den ganzen Tag mit meiner ganzen reinen Zuneigung unter ihnen stand, und mich ihnen aufopferte. Sie mißdeuteten meine Handlungen nicht, weil sie mein Herz nicht mißverstehen konnten“105. „Es sind nicht einzelne seltene Handlungen, welche die Gemüthsstimmung und Denkungsweise der Kinder bestimmen, es ist die Masse der täglichen und stündlich wiederholten und vor ihren Augen stehenden Wahrheit deiner Gemüthsbeschaffenheit und des Grades deiner Neigung und Abneigung gegen sie selber, was ihre Gefühle gegen dich entscheidend bestimmt und so, wie dieses geschehen, wird jeder Eindruck, der einzelnen Handlung, durch das feste Daseyn dieser allgemeinen Herzensstimmung der Kinder bestimmt“106.
Um die Stufe des praktischen Handelns schließlich endgültig zu erreichen, ist es notwendig, „Fertigkeiten“107 zu erwerben, die dazu befähigen sollen, die zuvor geweckte sittliche Gemütsstimmung sicher ausüben zu können. Nach Klafkis Interpretation sind hiermit „häusliche Fertigkeiten“ gemeint, die „für Pestalozzi nicht bloß äußerlich notwendige Verrichtungen, sondern Mittel im Zusammenhang sittlich- sozialer Erziehung darstellen“108. Ebenso läßt sich die Freude der Kinder, „die anderen zu lehren“109, dem sittlichen Handeln zuordnen und sogar das Lernen an sich: „Und eben so sah ich das eigentlich so geheißene Lernen eben so allgemein als Uebung der Seelenkräfte an“110. „Ich suchte also gerade im Anfang nicht so fest, daß meine Kinder im Buchstabieren, Lesen und Schreiben weit kommen, als daß sie durch diese Uebungen ihre Seelenkräfte allgemein so vielseitig und so wirksam entwickeln, als nur möglich111 “.
Zusammengefaßt soll in der zweiten Stufe der sittlichen Erziehung das Kind vor allem „Werk seiner selbst“ werden, indem es von sich aus, begründet auf der sittlichen Gemütsstimmung, sittlich korrekt handelt. Die sittlichen Handlungsmotive sollen dabei im Kontakt mit den Mitmenschen erfahren werden, z.B. Rücksichtnahme, Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft und Verzeihung. Diese tugendhaften Gefühle müssen durch Selbstüberwindung in ein Handeln in konkreten Situationen umgesetzt werden, wozu letztendlich die erlernten Fertigkeiten befähigen. Der Erzieher spielt in dieser Stufe nicht mehr die Rolle des allumfassenden Besorgers, sondern wird vielmehr zu einem Unterstützer des an sich aktiven Edukanten.
2.2.3 Die Reflexion
Die Reflexion als dritte Stufe der sittlichen Erziehung baut auf der Basis der sittlichen Gemütsstimmung (Stufe 1) und dem konkreten sittlichen Handeln (Stufe 2) auf. „Endlich und zuletzt komme mit den gefährlichen Zeichen des Guten und Bösen, mit den Wörtern: Knüpfe diese an die täglichen häuslichen Auftritte und Umgebungen an, und sorge dafür, daß sie gänzlich darauf gegründet seyen, um deinen Kindern klarer zu machen, was in ihnen und um sie vorgeht, um eine rechtliche und sittliche Ansicht ihres Lebens und ihrer Verhältnisse mit ihnen zu erzeugen“112. Das Reden über sittliche Fragen wird also an das Ende einer sittlich relevanten Erziehungsituation gestellt. Pestalozzi begründet dies damit: „So war es, daß ich belebte Gefühle jeder Tugend dem Reden von dieser Tugend vorher gehen ließ; denn ich achtete es für bös, mit Kindern von irgendeiner Sache zu reden, von der sie nicht auch wissen, was sie sagen“113. Dem Erzieher wird hier ebenso wie auf der zweiten Stufe eine Unterstützerfunktion zugewiesen, in welcher er der Entwicklung der Reflexion seiner Zöglinge zur Seite steht.
Mit der Reflexion soll „das höhere Selbst“ im Kind geweckt werden, andererseits soll damit auch „die Festigung und Beruhigung seiner Gesamtexistenz“114 erfolgen: Pestalozzi fordert eine „Harmonie der Seelenkräfte, und das bedeutet vor allem eine Übereinstimmung des Bewußtseins mit den subjektiven Möglichkeiten und den objektiven Verhältnissen, in denen das Kind steht und in denen es später einmal stehen wird“115. Pestalozzi geht davon aus: „Der Mensch, der viel weiß, muß mehr, und künstlicher als jeder andere zur Einigkeit seiner selbst mit sich selbst zur Harmonie seines Wissens, mit seinen Verhältnissen, und zur Gleichförmigkeit in der Entwicklung aller seiner Seelenkräfte geführt werden“116. Das theoretische Wissen muß demnach mit dem realen Handeln-Können gleich sein, sonst findet der Mensch durch sein Wissen keinen Seelenfrieden: „Ist dieß nicht, so wird sein Wissen in ihm selber ein Irrlicht, das Zerrüttung in sein Innerstes bringt, und ihn äußerlich der wesentlichen Lebensgenießungen beraubt, die ein einfacher, gerader, mit sich selbst einstimmiger Sinn dem unentwickeltsten und gemeinsten Menschen gewährt“117. Viel Wissen um das sittlich Korrekte zu haben, macht es dem Menschen also nicht unbedingt leichter: er muss in der Lage sein, dieses Wissen auch im Handeln umsetzen zu können. An dieser Stelle zeigt sich, dass das sittliche Handeln und die Reflexion sich immer wieder gegenseitig bedingen. Wie Pestalozzi bereits weiter oben postulierte, ist theoretisches Wissen eben nicht theoretisch, sondern muss in praktischen Handlungssituationen als das Gute erlebt werden, um anschliessend reflektieren zu können und später die Erkenntnis wieder in neuen Handlungssituationen anzuwenden: „Aus der Unmittelbarkeit des je einzelnen und in seinem Gesichtskreis begrenzten Erlebens soll die sittliche Erfahrung gelöst und zum Bewußtsein, zur rechtlichen und sittlichen Lebensanschauung innerhalb des den Kindern überblickbaren Lebensbereiches geläutert werden“118.
Erreicht werden soll ein „für Wahrheit und Recht sehr fester und sehr sicherer Takt“119.
Im Denken muss sich von der Unmittelbarkeit des Erlebens gelöst werden, meint Pestalozzi. Aus diesem Grund sprach er mit seinen Kindern in Stans über das „Gute“ erst nach einer aktiven Handlungssituation, nicht schon mitten in dieser. Hier zeigt sich auch die Parallele zur ersten Stufe der sittlichen Erziehung, das Gute, Sittlich-Korrekte zu fühlen. „Ueberhaupt habe ich gefunden, daß große, viel umfassende Begriffe zur ersten Entwicklung weiser Gesinnungen und standhafter Entschlossenheit wesentlich und unersetzbar sind“120. An dieser Stelle wird klar, dass sich die Reihenfolge „das Gute fühlen, das Gute tun und das Gute reflektieren“ nicht nur als Abfolge, sondern auch als Kreislauf verstehen lässt, bei dem das vorhergehende Element immer wieder in das nächste übergreift:
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Das Mittel zum Ziel der Reflexion sollen nach Pestalozzi „das Ganze unsrer Anlagen und unserer Verhältnisse umfassende Sätze“121 sein. Diese müssten „mit Einfachheit, Liebe und ruhiger Kraft in die Seele des Menschen gelegt werden“ und „führen ihn vermöge ihrer Natur nothwendig zu einer wohlwollenden, und für Wahrheit und Recht empfänglichen Gemüthsstimmung, in welcher hundert und hundert dieser großen Wahrheiten untergeordnete Sätze ihnen dann von selbst auffallen, und sich tief in ihrem Erkenntnißvermögen fest gründen“122. Die Aufgabe des Erziehers ist es nun, den Kindern diese Hauptsätze zugänglich zu machen, auf dass diese die von Pestalozzi beabsichtigte Wirkung bei den Kindern haben. In seiner Einrichtung verwendete Pestalozzi zu diesem Zwecke u.a. folgende Sätze: „Kinder, in der Welt lernt der Mensch nur aus Noth, oder Ueberzeugung. Wenn er sich mit Vernunft leiten lassen will, und doch außer aller Noth ist, so wird er abscheulich“123. „Kennst du etwas Größeres und Schöneres, als den Armen zu rathen, und dem Leidenden aus seiner Noth, aus seinem Elend zu helfen? Aber kannst du das, wenn du nichts verstehst, mußt du nicht mit dem besten Herzen um deiner Unwissenheit willen selber alles gehen lassen, wie es geht? Aber so wie du viel weißt, kannst du viel rathen, und so, wie du viel verstehst, kannst du vielen Menschen aus ihrer Noth helfen“124. Pestalozzi erwähnt, dass Sätze wie diese „tiefen Eindruck auf die Kinder“125 machten. Durch solche beeindruckenden Sätze sensibilisiert der Erzieher die Kinder zur sittlichen Reflexion. Hinzu kommt, dass er den Kindern nicht ausschliesslich seine eigene Meinung oktroyierte, sondern sich „in jedem Vorfall des Hauses an sie selber wandte. Ich fragte sie meistens in einer stillen Abendstunde um ihr freyes Urtheil“126. Pestalozzi stellte in solchen Situationen allerdings meist Suggestivfragen, die die Kinder zum sittlich richtigen Fühlen, Handeln und Nachdenken führen sollten: „Seyd ihr nicht besser gehalten, als ihr es zu Hause waret?“127 ; „...aber saget mir selber: wollet ihr, dass ich euch nicht mehr abstrafe? Kann ich ohne Ohrfeigen machen, daß ihr euch abgewöhnt, was so lange in euch eingewurzelt ist?“128. Die Antwort auf solche Fragen ließ sich durch den suggestiven Charakter derselben voraussehen- eine geschickte Methode Pestalozzis, die Kinder zum Weg zur sittlichen Reflexion hinzulenken.
5. Schlussbetrachtung
Wir haben nun gesehen, dass die Anthropologie Pestalozzis untrennbar mit seiner pädagogischen Praxis in Stans verknüpft ist: da wäre zum eine die Bipolarität, die er in seinem erzieherischen Tun voll und ganz berücksichtigt. Er fördert den Naturcharakter des Menschen, in dem er seine Anlagen berücksichtigt, und will genauso seine Sittlichkeit fördern, wie er dies z.B. durch seine suggestiven Fragen glaubt erreichen zu können. Sein pädagogisches Konzept wie dessen Umsetzung scheinen also einen in sich geschlossen Zusammenhang zu ergeben.
Wir haben auch gesehen, dass die Aussagen, die er trifft, durch andere Theorien und anthropologische Betrachtungsweisen, die nach ihm konzipiert wurden (siehe Kapitel 3: Affinität zu Freud, die Bedeutung der Reflexivität in der Anthropologie des 20. Jahrhunderts) seine Aussagen in vielen Punkten verifizierten.
Dennoch liegt den Autoren daran, einige zum Teil metatheoretische Fragen sowie Fragen der praktischen Durchführbarkeit zu beleuchten.
Es stellt sich z.B. die Frage, ob es wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, wenn Pestalozzi in doch gesteigertem Maße eigene Befindlichkeiten in die Theoriebildung einfließen lässt. Diesen Punkt betreffend kann man sicherlich verschiedener Meinung sein. Zum einen sollte an eine Theorie der wissenschaftliche Anspruch gestellt werden, dass sie, abgesehen von einigen erkenntnisleitenden Paradigmen, Objektivität (sofern diese das Pädagogische betreffend überhaupt erwartet werden kann) für sich beanspruchen kann. Diesem Anspruch genügt das Konzept Pestalozzis nicht.
Legt man der Theoriebildung Pestalozzis allerdings ein hermeneutisches Verständnis zu Grunde, so ist die Einbringung seiner Privatsphäre, sofern sie das Pädagogische betrifft, durchaus angemessen, denn die Hermeneutik bezieht „auch [...] die Erziehungswirklichkeit mit ihren aktuellen Problemen“129 mit ein. Da man Pestalozzi als tatsächlichen Praktiker verstehen muss, erscheint den Autoren der zweite Erkenntnisweg für angebrachter und für den zu untersuchenden Gegenstand für durchaus angemessen.
Vom praktisch-pädagogischen Standpunkt aus muss des weiteren die Frage gestattet sein, ob ein Konzept, dass auf einer solchen Omnipräsenz des Erziehers wie der dargestellten beruht, aus der Sicht eines Pädagogen überhaupt durchführbar ist. Zur Beantwortung dieser Frage ist, so glauben wir, insbesondere der historische Zusammenhang von entscheidender Bedeutung. In Zeiten größter Not, so zeigen es zahlreiche Beispiele in der Weltgeschichte, ist der Wille zu bedingungslosem Altruismus viel ausgeprägter, als es unter normalen Umständen der Fall ist. Ein Notfall liegt in Stans, wie gezeigt wurde, offensichtlich vor. Ist aber einem Pädagogen in einer gesellschaftlichen Situation wie beispielsweise der Deutschen ein solcher Einsatz für das Leben anderer überhaupt abzuverlangen, wenn man außerdem berücksichtigt, dass er zusätzlich in viele andere Teilbereiche gesellschaftlichen Lebens eingebunden ist? Für Pestalozzi ist die Antwort auf diese Frage leicht gegeben. Die gerade gestellte Frage zeigt im Grunde, dass dieser gesellschaftliche Zustand schon von Verdorbenheit durchdrungen ist, und dass dieser Misere nur durch die Etablierung der Sittlichkeit begegnet werden kann. Daran schließt sich aber dann die Frage an, zu wie viel Sittlichkeit der Mensch überhaupt in der Lage ist, ohne sein eigenes Wohl zu stark in den Hintergrund rücken zu lassen.
Für den Pädagogen bleibt vielleicht letztlich der Kompromiss, die Forderung der Erziehung zur Sittlichkeit so weit wie möglich Rechnung zu tragen. In Stans hat eine Ausnahmesituation außergewöhnlichen Einsatz gefordert, den Pestalozzi zu geben bereit war. Auf jede Situation lässt sich ein solches pädagogisches Vorgehen (immer bezogen auf die Omnipräsenz, nicht auf die Erziehungsziele) nach unserer Meinung nicht übertragen.
Literatur:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
[...]
1 Pestalozzi, J.H.: Sämtliche Werke. Berlin/Leipzig/Zürich 1927 - 1979, Band 13, S. 184
2 Danner, H. u.a.: Zum Menschen erziehen. Frankfurt am Main 1985, S. 20
3 Pestalozzi, J.H.: Sämtliche Werke. Berlin/Leipzig/Zürich 1927 - 1979, Band 1, S. 269 f
4 ebd., Band 23, S. 218
5 Danner, H. u.a.: Zum Menschen erziehen. Frankfurt am Main 1985, S. 23
6 Pestalozzi, J.H.: Sämtliche Werke. Berlin/Leipzig/Zürich 1927 - 1979, Band 12, Seite 68
7 ebd.
8 ebd.
9 Pestalozzi, J.H.: Sämtliche Werke. Berlin/Leipzig/Zürich 1927 - 1979, Band 12, Seite 76
10 ebd.
11 Pestalozzi, J.H.: Sämtliche Werke. Berlin/Leipzig/Zürich 1927-1979, Band 12, Seite 123
12 Pestalozzi, J.H.: Sämtliche Werke. Berlin/Leipzig/Zürich 1927-1979, Band 12, S. 105
13 Danner, H. u.a.: Zum Menschen erziehen. Frankfurt am Main 1985, S. 24
14 Pestalozzi, J.H.: Sämtliche Werke. Berlin/Leipzig/Zürich 1927-1979, Band 12, S. 105
15 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans. Zürich 1946
16 Danner, H. u.a.: Zum Menschen erziehen. Frankfurt am Main 1985, S. 27
17 ebd.
18 Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Berlin/Zürich, 1927 (XII, S. 169)
19 Tröhler, Daniel: Philosophie und Pädagogik bei Pestalozzi. Bern/Stuttgart, 1988 (S. 47)
20 Tröhler, Daniel: Philosophie und Pädagogik bei Pestalozzi. Bern/Stuttgart, 1988 (S. 51)
21 Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Berlin/Zürich, 1927 (XII, S. 68).
22 Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Berlin/Zürich, 1927 (XII, S. 68)
23 Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Berlin/Zürich, 1927 (XII, S. 71)
24 Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Berlin/Zürich, 1927 (XII, S. 69)
25 Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Berlin/Zürich, 1927 (XII, S. 46)
26 Tröhler, Daniel: Philosophie und Pädagogik bei Pestalozzi. Bern/Stuttgart, 1988 (S. 57)
27 Veith, Hermann: Theorien der Sozialisation: zur Rekonstruktion des modernen sozialisationstheoretischen Denkens. Frankfurt a. Main/New York, 1996(S. 170)
28 Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Berlin/Zürich, 1927 (XII, S. 106)
29 Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Berlin/Zürich, 1927 (XII, S. 109)
30 Tröhler, Daniel: Philosophie und Pädagogik bei Pestalozzi. Bern/Stuttgart, 1988(S. 64)
31 Tröhler, Daniel: Philosophie und Pädagogik bei Pestalozzi. Bern/Stuttgart, 1988 (S. 71)
32 Schmidt, Heinrich: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart, 1976 In: Tröhler, Daniel: Philosophie und Pädagogik bei Pestalozzi. Bern/Stuttgart, 1988 (S. 74)
33 Tröhler, Daniel: Philosophie und Pädagogik bei Pestalozzi. Bern/Stuttgart, 1988 (S. 76)
34 Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Berlin/Zürich, 1927 (XXIV A, S. 106)
35 Plessner, H.: Die Stufen des Organischen und der Mensch. 3. Aufl. Berlin, 1975
36 Scheler, M.: Die Stellung des Menschen im Kosmos. München, 1949
37 Zdarzil, Herbert: Pädagogische Anthropologie. 2. überarb. Auflage. Graz, 1978
38 Bollnow, O.-F.: Die anthropologische Betrachtungsweise in der Pädagogik. Essen, 1965
39 Kant, Immanuel: Was ist Aufklärung? Göttingen, 1975 (S. 49) In: Tröhler, Daniel: Philosophie und Pädagogik bei Pestalozzi. Bern/Stuttgart, 1988
40 Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Berlin/Zürich, 1927 (XX, S. 226)
41 Tröhler, Daniel: Philosophie und Pädagogik bei Pestalozzi. Bern/Stuttgart, 1988 (S. 82)
42 Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Berlin/Zürich, (XXIV A, S. 165)
43 Zdarzil, Herbert: Pädagogische Anthropologie. 2. überarb. Auflage. Graz, 1978
44 Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Berlin/Zürich, 1927 (XI, S. 244)
45 Tröhler, Daniel: Philosophie und Pädagogik bei Pestalozzi. Bern/Stuttgart, 1988 (S. 86)
46 Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Berlin/Zürich, 1927 (XXVIII, S. 59)
47 Tröhler, Daniel: Philosophie und Pädagogik bei Pestalozzi. Bern/Stuttgart, 1988 (S. 88)
48 Tröhler, Daniel: Philosophie und Pädagogik bei Pestalozzi. Bern/Stuttgart, 1988 (S. 90 ff.)
49 Tröhler, Daniel: Philosophie und Pädagogik bei Pestalozzi. Bern/Stuttgart, 1988 (S. 92)
50 Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. Main, 1966
51 Pestalozzi, Johann Heinrich: Sämtliche Werke. Berlin/Zürich, 1927 (XXIV A, S. 106)
52 Klafki, Wolfgag: Pestalozzis „Stanser Brief“. Weinheim 1961, S.9
53 ebd.
54 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S. 7
55 Klafki, Wolfgang: Pestalozzis Stanser Brief. Weinheim 1961, S.15
56 Pestalozzi, J.H.: Breif an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S. 7
57 Klafki, Wolfgang: Pestalozzis Stanser Brief. Weinheim 1961, S.15 f
58 ebd., S. 14
59 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S.7
60 ebd., S. 19
61 Klafki, Wolfgang: Pestalozzis Stanser Brief. Weinheim 1961, S. 16
62 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S. 9
63 ebd., S 10
64 ebd.
65 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S. 11
66 ebd.
67 ebd.
68 ebd., S.13
69 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S. 18f
70 ebd.
71 ebd., S. 23
72 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S. 23
73 ebd., S.12
74 Klafki, Wolfgang: Pestalozzis Stanser Brief. Weinheim 1961, S. 24
75 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S. 14
76 ebd.
77 ebd., S. 18
78 Tschöpe-Scheffler, Sigrid: Pestalozzi- Leben und Werk im Zeichen der Liebe. Berlin 1996, S.77
79 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S. 14/15
80 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S. 13f.
81 ebd., S.14
82 Klafki, Wolfgang: Pestalozzis Stanser Brief. Weinheim 1961, S. 25
83 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S. 18
84 ebd., S.17
85 ebd., S.18
86 ebd., S.18
87 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S.18
88 ebd., S.17
89 ebd., S.18
90 Klafki, Wolfgang: Pestalozzis Stanser Brief. Weinheim 1961, S. 25
91 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S.18
92 Klafki, Wolfgang: Pestalozzis Stanser Brief. Weinheim 1961, S. 27
93 Klafki, Wolfgang: Pestalozzis Stanser Brief. Weinheim 1961, S. 27
94 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S.23
95 ebd., S.21
96 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S.21
97 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S.21
98 Klafki, Wolfgang: Pestalozzis Stanser Brief. Weinheim 1961, S. 29
99 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S.21
100 Klafki, Wolfgang: Pestalozzis Stanser Brief. Weinheim 1961, S. 30
101 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S.21
102 ebd
103 ebd., S.22
104 ebd
105 ebd., S.23
106 ebd., S.22
107 ebd., S.18
108 Klafki, Wolfgang: Pestalozzis Stanser Brief. Weinheim 1961, S. 31
109 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S.33
110 ebd., S. 30
111 ebd., S.31
112 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S.18f
113 ebd., S.20
114 Klafki, Wolfgang: Pestalozzis Stanser Brief. Weinheim 1961, S. 33
115 ebd
116 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S.29
117 ebd., S.33
118 ebd
119 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S.28
120 ebd., S.27
121 ebd
122 ebd
123 ebd., S.26
124 ebd., S.27
125 ebd
126 Pestalozzi, J.H.: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans, S.24
127 ebd
128 ebd
129 Gudjons, Herbert: Pädagogisches Grundwissen. 5. durchgesehene und ergänzte Auflage. Bad Heilbrunn, 1997
- Citation du texte
- Emmerich Schäfer (Auteur), 2001, Pestalozzi, Leben Antropologie, Stans, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104659
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