Im Rahmen meiner Arbeit möchte ich im folgenden zunächst auf textgestalterische Aspekte
eingehen, um die besondere Erzähltechnik des Romans deutlich zu machen. Des weiteren
werde ich mich dann stärker auf die Räumlichkeiten und ihre Funktionen fixieren. Schließlich
sollen die Affinitäten zwischen Venedig als Schauplatz der Handlung und den Figuren des
Romans betrachtet werden.
[...]
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die Textgestaltung
1.1. Die zeitliche Gestaltung des Handlungsverlaufes in Verbindung mit der Technik von Täuschung und Aufklärung am Beispiel des „Ersten Buches“
1.2. Das Erzählverhalten
1.3. Die Raumgestaltung als Mittel zur Erzeugung des Geheimnisvollen und Wunderbaren
2. Venedigs Einfluß auf die Figuren des „Geistersehers“
2.1. Die Wirkung Venedigs auf das Wesen des Prinzen
2.2. Affinitäten zwischen der Stadt Venedig und dem geheimnisvollen Armenier
Schlußbetrachtung
Literaturverzeichnis
Einleitung
Ein Schauerroman lebt nicht nur von seinen in die Handlung eingebauten Schauereffekten, sondern benötigt zudem Atmosphäre. Atmosphäre verbreiten unheimliche Requisiten wie Totenschädel, übersinnliche Phänomene wie Geistererscheinungen und schließlich auch die Schauplätze eines Romans. Schiller wählt bei seinem „Geisterseher“ die Stadt Venedig als Kulisse. Damit nutzt Schiller die bereits latenten Assoziationen der Menschen, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mit Venedig in Verbindung gebracht wurden. Venedig wird von Schiller nur „beiläufig“1 geschildert, als setze er „stillschweigend reiseerfahrene Leser, Kenner Venedigs“1, voraus. Jedoch genügt die unscharfe Gestaltung Venedigs einem Schauerroman wie „dem Geisterseher“, denn der Leser trägt mit Hilfe seiner eigenen latenten Vorstellungen ausreichend Atmosphäre in die Romanhandlung hinein.
Die Stadt Venedig besitzt Verführungskraft, sei es in künstlerischer, erotischer oder geheimnisvoller Hinsicht. Nicht fern von der Verführung befindet sich die Verirrung. Wer durch verführerische Kraft in ihren Bann gezogen worden ist, läuft Gefahr, sich in den labyrinthischen Gassen und auf den zahlreichen Plätzen zu verirren. „Der Geisterseher“, „als ein Beitrag zur Geschichte des Betrugs und der Verirrungen des menschlichen Geistes“, greift beide Motive, Verführung und Verirrung, auf und bettet sie in eine mysteriös inszenierte Intrige ein. Der Prinz von **, die Hauptfigur des Romans, scheint in Venedig gefangen zu sein. Die gesellschaftliche Umgebung und die Atmosphäre der Stadt ziehen ihn nach und nach ins Verderben. Das anfangs pietätvolle Wesen des Prinzen entartet zunehmend bis zu seinem sittlichen Verfall. Venedig, das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts der Inbegriff des Untergangs ist, scheint seinen Charakter auf den Charakter der Hauptfigur übertragen zu haben.2
Im Rahmen meiner Arbeit möchte ich im folgenden zunächst auf textgestalterische Aspekte eingehen, um die besondere Erzähltechnik des Romans deutlich zu machen. Des weiteren werde ich mich dann stärker auf die Räumlichkeiten und ihre Funktionen fixieren. Schließlich sollen die Affinitäten zwischen Venedig als Schauplatz der Handlung und den Figuren des Romans betrachtet werden.
1 Die Textgestaltung
1.1 Die zeitliche Gestaltung des Handlungsverlaufes in Verbindung mit der Technik von Täuschung und Aufklärung am Beispiel des „Ersten Buches“
Die Handlung des „Geistersehers“ wird nicht chronologisch erzählt, sondern durch die Verwendung von Vorausdeutungen und Rückwendungen strukturell gestaltet. Das erste Buch des „Geistersehers“ ist als eine Rahmenerzählung konzipiert. Der Rahmen umschließt die Binnenerzählung, die mit dem Besuch des Grafen von O** beim Prinzen beginnt und am Ende des ersten Buches endet („So endigte sich eine Unterredung, ...“, S. 83 f)3. Der Erzähler, der selbst eine Figur im Roman in Gestalt des Grafen von O** ist, deutet in der Rahmenerzählung die Geschehnisse, die im weiteren Verlauf von ihm erzählt werden, leicht an. Er nimmt unscharf eine „Begebenheit, die vielen unglaublich scheinen wird“ (S. 7) vorweg. Dabei betont er besonders die Authentizität seines Berichtes, indem er sich der „reine[n], strenge[n] Wahrheit“ (S. 7) verpflichtet. Auch die Thematik des Romans wird bereits zu Anfang ohne weitere Ausführungen umrissen („Verirrungen des menschlichen Geistes“, S. 7). Durch die Einbettung des eigentlichen Geschehens in einen Rahmen und die unklaren Andeutungen des Inhalts wird eine Spannung beim Leser aufgebaut. Der Graf von O** erzählt ein von seinem Standpunkt aus in der Vergangenheit abgelaufenes Geschehen, das im weiteren Verlauf der Binnenerzählung nach und nach aufgerollt wird.
Mit einer Rückwendung des Erzählers in das „Jahr 17** um die Karnevalszeit“ (S. 7) beginnt die Binnenerzählung des Romans mit dem Treffen zwischen ihm und dem Prinzen von ** in Venedig. Mit Hilfe einer aufbauenden Rückwendung werden die Eigenarten des Prinzen und die Beziehungen zu seiner Umwelt dargestellt. Diese Ausführungen dienen dem Verständnis späterer Geschehnisse und lassen den Leser Zusammenhänge erkennen. Nach der einführenden Darstellung des Prinzen und seiner Umwelt beginnen sich die anfangs andeutenden intriganten Vorfälle („Beitrag zur Geschichte des Betrugs“, S. 7) um die Person des Prinzen zu spannen. Die mysteriösen Ereignisse nehmen ihren Anfang „auf dem St. Markusplatz“ (S. 9) mit der Todesprophezeiung durch den Armenier. „Schlag auf Schlag folgen die packenden Episoden im Spielsaal, vor dem nächtlichen Gericht, die Spazierfahrt auf der Brenta.“4 Die starke zeitliche Raffung der merkwürdigen Ereignisse und ihre unmittelbare Aneinanderreihung verstärken den Eindruck, daß sich der „magische[r] Kreis um den Prinzen immer enger“5 zieht. Zusätzlich schließt die Häufigkeit der mysteriösen Ereignisse, die dem Prinzen in dieser kurzen Zeit widerfahren, die Zufälligkeit der Vorgänge aus. Innerhalb dieser merkwürdigen Episoden befindet sich eine eingeschobene Vorausdeutung des Erzählers („(Der Verstorbene war der Erbprinz, der einzige Sohn des regierenden...)“, S. 12). Die Vorausdeutung ist an dieser Stelle für den Erzähler bereits zukunftsgewiß und hat somit die Funktion, die unerklärlichen Ereignisse auf einen Fokus zu lenken. Zusammen mit dem seltsamen Vorgang des Todes des Erbprinzen werden die machtpolitischen Verhältnisse erörtert. Diese Verknüpfung mit dem Zusatz, daß „in der Folge davon die Rede sein wird“ (S. 12), deutet bereits die politische Intrige an, die sich im weiteren Verlauf um den Prinzen spannt. An die geheimnisvolle Begebenheit an der Lotteriebude (Vgl. S. 19) schließt sich die erste konkrete Vorahnung des Prinzen an. Der Prinz deutet die ihm widerfahrenen Ereignisse als „[e]ine höhere Gewalt“ (S. 19), die ihn verfolgt. Seine Vorausdeutung ist zukunftsungewiß, dennoch kann es sich für den Prinzen nur um ein „unsichtbares Wesen“ (S. 19) handeln, das sogar „Allwissenheit“ (S. 19) besitzt. Der Ursprung dieser ihn umschließenden Gewalt liegt für ihn beim Armenier.
Eine sehr detaillierte Darstellung erfährt der Abschnitt der Geistererscheinung im Lusthause (Vgl. S. 19ff). Durch die häufige Verwendung der direkten Rede entsteht eine Zeitdeckung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit. Der Leser erfährt dadurch eine besondere Nähe zum Geschehen, die „eine beständige Steigerung des Interesses“6 bewirkt. Sowohl der Saal als Schauplatz der Geistererscheinung („Zugleich ließ er alle Meublen aus dem Saale räumen, die Fenster ausheben und die Läden auf das genaueste verschließen.“, S. 26) als auch die in der Szenerie verwendeten Gegenstände („weiße Schürze [...] mit geheimen Chiffern und symbolischen Figuren“, S. 27) werden in akribischen Einzelheiten beschrieben. Die genaue Beschreibung der Vorgänge und des Umfeldes der Geisterszene ist die Voraussetzung für die sich anschließenden auflösenden Rückwendungen. Durch die eindeutige Beschreibung läßt sich der perfekt inszenierte Betrug in seinen Einzelheiten nachweisen. Mit der plötzlichen Auflösung der Geistererscheinung durch die Razzia der Gerichtsdiener entschlüsselt sich das als übersinnlich angenommene nach und nach. Nachdem der Sizilianer von den Häschern als Betrüger entlarvt worden ist und sich bis dahin verborgene Räume, Gänge und Gegenstände (...die Dielen des Saals aufgebrochen, entdeckte man ein geräumiges Gewölbe, [...] mit einer Türe versehen, die durch eine schmale Treppe nach dem Keller führte“, S. 33) zeigen, finden sich im Anschluß daran rationale Erklärungen für die Geisterphänomene.
Weitgehende Enträtselung der unerklärlichen Ereignisse liefert das Gespräch mit dem Sizilianer im Gefängnis. Die auflösende Rückwendung ist als ein dialogisches Wechselspiel von Fragen des Prinzen und Antworten des Sizilianers konzipiert. Die Fragen zielen auf bestimmte Phänomene, die dann mit konkreten Antworten des Sizilianers aufgedeckt werden. In den aufklärenden Antworten benutzt der Sizilianer Gegenstände und Verhaltensweisen, die dem Leser bereits aus der Geisterszene bekannt sein müssen. Beim Leser entsteht so der Eindruck, er selbst habe die Möglichkeit, die mysteriösen Geschehnisse aufzuklären („Das Kruzifix war der Konduktor, und Sie empfingen den Schlag, als ich es mit der Hand berührte“, S. 44). Der Leser ist einem „Wechsel von Täuschung und Aufklärung“7 unterworfen. Die durch die Geständnisse des Sizilianers erlangte Sicherheit beim Leser, man könne die merkwürdigen Ereignisse vollständig und rational erklären, wird noch während der Ausführungen des Sizilianers wieder in Frage gestellt. Unerklärlich bleibt „die zweite Geistererscheinung“ (Vgl. S. 30f), die an die Figur des geheimnisvollen Armeniers gebunden ist. Der Sizilianer verdichtet durch seine „novellistische Einlage vom Brudermord, an deren Ende der Armenier in neuer Gestalt auftritt“8, erneut den Glauben an übersinnliche Erscheinungen und Fähigkeiten.
Schließlich wird im anschließenden Gespräch des Grafen von O** mit dem Prinzen die gesamte Aufklärung des Sizilianers wieder zweifelhaft und deshalb unsicher, weil der Prinz sich fragt, „in wessen Solde er [der Sizilianer] [ihn] belog“ (S. 69). Der Prinz räumt weiterhin ein, daß er „das ganze Gewerbe seines Betrugs noch nicht ganz durchschaue“ (S. 69). Der Leser wird ein weiteres Mal verunsichert, um „als Instanz, die über Wahrheit oder Lüge des Erzählten jeweils sich klar zu werden hat, in den Erkenntnisprozeß des geheimnisreichen Geschehens“9 eingebunden zu werden. Auch der zeitdeckende dialogische Aufbau des Gespräches führt den Leser nah an die Handlung heran und verstärkt damit das Gefühl der Teilnahme am Erkenntnisprozeß.
Die vorausgeahnte Zweifelhaftigkeit an den Aussagen des Sizilianers wird durch eine Vorausdeutung bestätigt. Durch die vorweggenommene Nachricht vom Verschwinden des Sizilianers aus dem Gefängnis erfährt der Leser wiederum eine Aufklärung. Die vermutete Unglaubwürdigkeit des Sizilianers gilt durch sein Verschwinden als sicher und damit seine Erklärungen als standhaft. Der Prinz und der Graf von O** können sich lediglich auf die unmittelbaren Erkenntnisse aus „de[m] durch Technik erzeugten Betrug der Geistererscheinung“10 und aus den Erkenntnissen der „Menschenvernunft und [der] ewige[n] Naturordnung“ (S. 69) verlassen. Am Ende des Gespräches sinniert der Prinz darüber, welcher irdische „Plan, der [ihn] entweder zum Zweck hat oder zum Mittel gebraucht“ (S. 82), vom Armenier verfolgt wird. Die vom Prinzen vermutete zweckrationale Heimtücke wechselt daraufhin wieder in die Vorstellung vom transzendenten Armenier („Wer widersteht einem Manne, dem die Geister unterwürfig sind?“, S.82). Dem Leser bleibt es offen, den Armenier entweder als übermenschliches Wesen oder als Initiator einer machtpolitischen Intrige zu begreifen.
Mit dem Ende der Binnenerzählung kehrt der Erzähler in seine Gegenwart zurück. Hier deutet sich bereits die verhängnisvolle Entwicklung des Prinzen an („...daß er sich blind und unbesonnen in die Schlinge gestürzt habe, die eine unerhörte Teufelei ihm bereitete“, S. 83). Abschließend verweist der Erzähler auf das ferne Schicksal des Prinzen. Jedoch bekommt die Täuschung des Prinzen eine starke machtpolitische Dimension. Der Thron, „den er durch ein Verbrechen ersteigen zu wollen sich betören ließ“ (S. 84), rückt mit den Informationen aus der Biographie des Prinzen und den Resultaten des Todes seines Cousins ins Zentrum des Betrugs.
Durch die Antizipation des Todes des Prinzen in Verbindung mit der Ankündigung des baldigen Todes des erzählenden Grafen von O** („...denn wenn diese Blätter in die Welt treten, bin ich nicht mehr“, S. 7) schafft der Erzähler eine Distanz zwischen Leser und Erzähltem. Der Leser fühlt sich durch den Abstand vom Geschehen in Sicherheit im Gegensatz zur Romanfigur, „die die literarischen Rätsel und Bedrohungen auszustehen hat“11.
1.2 Das Erzählverhalten
Die Handlung des „Geistersehers“ wird von mehreren Erzählern geschildert. Mit der homodiegetischen Narration des Grafen von O** beginnt die Erzählung. Durch die Konstruktion der Rahmenhandlung kann der Graf von O** als Erzähler die gesamte Binnenhandlung uneingeschränkt überblicken. Beim „Zweiten Buch“ sind die Briefe des Barons von F** in Erzählerberichte des Grafen von O** eingebettet. Zwischen dem Baron von F** als Brieferzähler des „Zweiten Buches“ und dem Grafen als Erzähler des „Ersten Buches“ sowie der Erzählerberichte im „Zweiten Buch“ findet kein Wechsel der Erzählperspektive statt. „Beide [Erzähler] sind edelmännisch-höfische Freunde des Prinzen, beide befinden sich nicht in der Distanz des Autors: sie blicken gleichermaßen besorgt - um Abhilfe, schließlich um Rechtfertigung bemüht - auf die Entwicklung des Prinzen.“12 Neben diesen beiden Erzählern lassen sich auch der Sizilianer mit seiner „novellenartige[n] Erzählung“13 von den Brüdern Lorenzo und Jeronymo (Vgl. S. 50ff.) und Civitella mit seiner Murano-Erzählung im siebten Brief (Vgl. S. 137ff.) als Erzähler einordnen. Jedoch ist anzumerken, daß zusätzlich zu den hier genannten Erzählern ein übergeordneter Erzähler existiert. Dieser übergeordnete Erzähler verläßt die homodiegetische Narration, indem er sich lapidar mit dem Kommentar, „fährt der Graf von O** fort“ (S. 83) in die Erzählung einschaltet. Seine heterodiegetische Narration läßt auf einen fiktiven Herausgeber der „Memoires des Grafen von O**“ schließen.
1.3. Die Raumgestaltung als Mittel zur Erzeugung des Geheimnisvollen und Wunderbaren
In einem Schauerroman übernimmt die Raumgestaltung eine bedeutende Rolle zur Stimmungserzeugung beim Leser. Dabei deutet die Beschreibung des ausgestalteten Raumes und die damit geschaffene Atmosphäre die sich anknüpfende Handlung an. Der Raum „ist eine dinghaft schauerliche oder schauerlösende Begleitung beziehungsweise Vorerscheinung der Ereignisse und Figuren“14.
Nach der Rangelei im Kaffeehaus (S. 12ff.) erscheinen einige Helfer der Staatsinquisition, um den Prinzen und den Grafen in Gewahrsam zu nehmen. Die Schilderung des Raumes spielt dabei eine entscheidende Rolle zur Erzeugung des Geheimnisvollen. Durch die Raumgestaltung deutet sich zudem noch ein erschütterndes Ereignis an. Zuerst fahren die in Haft genommenen in einer Gondel. Nachdem dem Prinzen und dem Grafen „die Augen verbunden“ (S. 14) worden sind, beschreibt der Erzähler den Raum blind. „Um das Ende weiß nicht der, welcher geht, sondern nur die Wegstrecke, die begangen wird. Daraus ergibt sich die Heimlichkeit des Weges einerseits und die Unheimlichkeit anderseits“15. Durch die Blindheit des Erzählers erlangt der Raum einen labyrinthischen Charakter. Die Beschreibung erfolgt lediglich auf der Grundlage von Geräuschen („Echo, [...]das unter unsern Füßen hallte“, S. 14) oder auf der Grundlage von Bewegungsempfindungen („durch einen langen gewundenen Gang“, S. 14). Besonders die zeitweilige Blindheit, die in der Raumdarstellung zum Ausdruck kommt, schafft ein Gefühl der Hilflosigkeit und verursacht so eine bedrückende, geheimnisvolle Atmosphäre.
Auch im „Zweiten Brief“ des Barons von F** kehrt das Labyrinth als Raummotiv wieder. Die beschriebene Dunkelheit („so brannten die Lampen dunkel oder waren schon ausgegangen“, S. 101) in der Verbindung mit der erwähnten Abgelegenheit der Straßen (Vgl. S. 101) erzeugt bereits eine geheimnisvolle Stimmung. Biondello, der den Prinzen und einen anderen Bedienten führt, räumt nach einiger Zeit ein, „daß er verirrt sei“ (S. 101). Venedig erlangt durch die täuschende „Ähnlichkeit der Brücken“ (S. 101) einen labyrinthischen Charakter. Die drei Figuren befinden sich aufgrund ihrer Verirrung im „Sestiere von Castello“ (S. 101), einem seinerzeit verrufenen Stadtteil von Venedig. Venedig strahlt allein durch diese konkrete Lokalisierung Unheimlichkeit aus. Die Unheimlichkeit wird dadurch gesteigert, daß den Figuren „nichts Lebendiges weit und breit“ (S. 101) begegnet. Diese unlebendige Stille deutet bereits ein schauerauslösendes Ereignis an. Die Stille der Gassen wird plötzlich durch ein „Mordgeschrei“ (S. 102) durchbrochen, wobei die Unheimlichkeit der Stille in einem schockhaften Ereignis gipfelt.
„Obwohl die heiter-touristischen Aspekte Venedigs in Schillers Text nicht fehlen, schlagen sie doch stets ins Unheimliche um“16. Im fünften Brief des Barons von F** wird der kulturelle Reichtum der Stadt Venedig in den Mittelpunkt der Raumdarstellung gestellt. Besondere Erwähnung erfährt das Gemälde „Die Hochzeit zu Kana“ (S. 117), das in einem Benediktinerkloster auf der Insel St. Georg zu sehen ist. Der Baron von F** verweist zudem auf „die Kirche dieses Klosters“, die für ihn „eine der schönsten“ (jeweils S. 117) in Venedig ist. Im Anschluß an den Besuch der Insel St. Georg mit ihren kulturellen Sehenswürdigkeiten fährt der Prinz mit seiner Gesellschaft nach Giudecca, „um dort in den reizenden Gärten einen schönen Abend zu verleben“ (S. 117). Die Deskription des Raumes, in dem sich die Gesellschaft mit dem Erzähler bewegt, ist bis dorthin idyllisch. Bei der anschließenden Suche nach dem Prinzen wird der Raum nur oberflächlich beschrieben. Der Erzähler erwähnt lediglich eine „anstoßende Kirche“ (S. 119), auf die Civitella den Prinzen aufmerksam gemacht hat. Weiterhin erzählt der Baron von F** vom merkwürdigen Verhalten des Prinzen, als dieser „etwas hastig aus der Seitentür“ (S. 119) tritt. Der Grund für das seltsame Verhalten des Prinzen wird nach einer Retardation durch den Prinzen aufgelöst. Auch die Kirche als Schauplatz der merkwürdigen Begebenheit wird daraufhin näher beschrieben. Der Prinz betont bei seiner Schilderung einen Wechsel der Atmosphäre beim Eintreten in die Kirche. Außerhalb der Kirche herrscht „schwüle[s], blendende[s] Tageslicht“ (S. 121). Beim Eintreten wechselt die Darstellung des Raumes in ein bedächtiges Umfeld. Innerhalb der Kirche ist es „ganz leer“, und es besteht „eine schaurigkühle Dunkelheit“ (jeweils S. 121). Mit der Beschreibung der Leere geht eine andächtige Ruhe einher. In Verbindung mit der „schaurigkühle[n] Dunkelheit“ (S. 121) schafft die Stille des Raumes eine geheimnisvolle Stimmung. Die idyllische Beschreibung des Raumes zu Anfang des Briefes weicht damit der Unheimlichkeit des Raumes. Im weiteren Verlauf der Schilderung wird die Stille des Raumes nochmals gesteigert, indem von einer „feierliche[n] Grabstille“ die Rede ist. Wiederum dient die Stille der Vorbereitung auf ein besonderes Ereignis. Nur die tönende Abendglocke, die allerdings sanft verhallt (Vgl. S. 122), durchbricht die Stille kurzzeitig. Nachdem sich die gewohnte Ruhe wieder eingestellt hat, durchschreitet der Prinz die Kirche und beschreibt sie in einigen Einzelheiten („einige Treppen hinauf in eine Nebenkapelle, worin mehrere kleinere Altäre und Statuen von Heiligen in Nischen angebracht stehen“, S. 122). Ein „zartes Wispern“ (S. 122) löst die Stille des Raumes auf und zieht die Aufmerksamkeit des Prinzen auf sich. Für den Prinzen erscheint dieses Geräusch unerwartet, da er angenommen hatte, der einzige in der Kirche zu sein. Die Perspektive wechselt auf „eine weibliche Gestalt“ (S. 122), deren Physiognomie in den folgenden Ausführungen des Prinzen in einer glorifizierenden Weise genaustens beschrieben wird. Die weibliche Erscheinung setzt sich in ihrer hellen Darstellung klar von der dunklen räumlichen Umgebung ab („Alles war düster ringsherum [...] die Sonne war nirgends mehr als auf dieser Gestalt“, S. 122). Die Gestalt strahlt inmitten einer leeren, dunklen und kühlen Umgebung gleichzeitig Wärme aus, so daß sich in ihrer Person alles Lebendige zentriert. Der gestaltete Raum begünstigt den Lichteinfall in der Weise, daß die weibliche Gestalt den Anschein des Wunderbaren erhält („Die Abendsonne spielte darauf, und ihr luftiges Gold schien es mit einer künstlichen Glorie zu umgeben.“, S. 123).
Aus der organisierten Besichtigung der Sehenswürdigkeiten Venedigs resultiert die Verführung des Prinzen durch die Frauengestalt. Die sich anschließende Liebesaffäre trägt zu der Identitätszerrüttung der Hauptfigur bei. Unter Punkt 2 meiner Hausarbeit soll eine mögliche Abhängigkeit zwischen der charakterlichen Veränderung des Prinzen und der Stadt Venedig nachgewiesen werden.
2. Venedigs Einfluß auf die Figuren des „Geistersehers“
2.1. Die Wirkung Venedigs auf das Wesen des Prinzen
Die gesamte Binnenerzählung des „Ersten Buches“ ist auf Venedig oder die unmittelbare Umgebung Venedigs lokalisiert. Auch die Briefe des Barons von F** an den Grafen von O** stammen aus Venedig. Der Graf von O** erzählt die für ihn in der Vergangenheit abgelaufene Geschichte von einem unbekannten Ort aus. Er erlebt mit dem Prinz die mysteriösen Eskapaden in Venedig, bis er aufgrund „wichtige[r] Angelegenheit[en] an den Hof [seines] Souveräns“ (S. 95) gerufen wird. An dieser Stelle wird deutlich, daß die intriganten Kräfte bis in die Heimat des Grafen reichen. Die „unsichtbare Hand [...] hatte Mittel gefunden, [seine] Angelegenheiten dort zu verwirren und Gerüchte [...] auszubreiten“, mit der Folge, daß der Graf den Prinzen in seiner kritischen Situation verlassen mußte. Die Anwesenheit des Grafen konnte zwar nicht die Wesensänderung des Prinzen aufhalten, doch hat sich nach Aussage des Barons von F** im ersten Brief , seitdem der Graf abgereist ist, „allerlei bei [ihnen] verändert“ (S. 97). Die Persönlichkeitsveränderung vollzieht sich ohne den Einfluß des Grafen beim Prinzen, „der durch [des Grafen] Gegenwart nicht mehr Schranken gehalten wird“ (S. 98), maßloser. Erst zum Ende des „Zweiten Buches“ kehrt der Graf von O** nach Venedig zurück, um dem Prinzen „Trost und Hülfe zu bringen“ (S. 161). Jedoch benötigt der Prinz den Grafen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr (Vgl. S. 161).
Obwohl der Prinz schon zu Beginn des „Ersten Buches“ seine Rückreise plant, wobei der Zielort unbekannt bleibt (Vgl. S. 7), bleibt er über die gesamte Handlung des Romans in Venedig. Die geheimnisvollen Ereignisse um den Prinzen nehmen ihren Anfang in Venedig und trotz ständiger Abreisepläne kann der Prinz ihnen nicht mehr entkommen. Die Gründe für die sich wiederholende Abreiseverzögerung sind verschiedenartig. Meist ergeben sich die Verzögerungen aus monetären Gründen. Besonders deutlich wird das im vierten Brief. Aufgrund des Ausbleibens der Wechsel beschafft sich der Prinz Geld bei einem Juden, der als „Wucherer“ (S. 110) bezeichnet wird. Die Folge dieses „unangenehmen Vorfall[s] ist, daß er [die] Abreise verzögert“ (S. 110). Zudem spielen auch zufällige Ereignisse eine Rolle bei der Abreiseverschiebung. Als der Prinz zu Anfang „nur noch Wechsel erwartete, um nach ** zurückzureisen“ (S. 7), vergißt der Baron von F** nach der Briefübergabe an den Prinzen ihm „zu sagen, daß [seine] Wechsel angekommen sind“ (S. 11).
Eine weitere Begebenheit verhindert die feststehende Rückkehr in seine Heimat im letzten Moment. Um „alles Sehenswürdige an Gemälden und Gebäuden noch nachzuholen“ (S. 116), betritt der Prinz, nachdem er kurz zuvor von Civitella darauf aufmerksam gemacht wurde, die Kirche, in der der Prinz auf die bildschöne „Griechin“ trifft (Vgl. S. 119). Das fesselnde Erlebnis in der Kirche veranlaßt den Prinzen wiederum seine Abreise zu verschieben. Er rechtfertigt sich vor dem Baron von F** mit der Aussage, daß er nicht „im voraus wissen [konnte], daß Venedig noch einen solchen Schatz für [ihn] einschließe“ (S. 129). Die daraus resultierenden prekären monetären Auswirkungen sind für den Prinzen in diesem Zusammenhang nur sekundär. Er bemerkt nicht, daß er sich nach und nach in eine finanzielle Abhängigkeit begibt. Statt seine Ausgaben bescheidener zu gestalten, vertraut er auf die Unterstützung seiner Schwester und letztlich auch auf die ihm angebotene Unterstützung durch Civitella. Als Civitella den Prinzen zum Glücksspiel verführt und dieser hohe Geldsummen verliert, finanziert Civitella wiederum die entstandenen Schulden. Der Baron von F**, der den Ernst der finanziellen Lage erkennt, sehnt sich „nach dem Spargelde der frommen Schwester“ (S. 134). Doch durch den Bruch des Prinzen mit seinem Hof in der Heimat sind „alle [...] Ressourcen von daher abgeschnitten“ (S. 153). Der Baron von F** bemerkt die „erniedrigende Abhängigkeit von einem einzigen Menschen, von dem Marchese Civitella“ (S. 158), die plötzlich eingetreten ist. Weiterdenkend spürt der Baron von F** die Gefahr, die entsteht, wenn „einem Menschen, auch dem vortrefflichsten, so viel Wichtigkeit und Macht“ (S. 159) eingeräumt wird.
Es scheint offensichtlich, daß die intriganten Kräfte daran interessiert sind, den Prinzen in ihrem unmittelbaren Einflußbereich zu halten. In Venedig ist der Prinz den geheimnisvollen Machenschaften vollkommen ausgeliefert, so daß Venedig wie ein Gefängnis um ihn wirkt, aus dem er nicht entkommen kann. Der Baron von F** verknüpft im dritten Brief passend dazu das Schicksal des Prinzen mit Venedig, indem er mitteilt: „Wir müssen fort - hier ist keine andre Rettung - wir müssen fort aus Venedig“ (S. 109).
„Venedig als Stadt der Masken, des Glücksspiels, als Ort erotischer Abenteuer, als Finanzplatz und kosmopolitischer Treffpunkt der Begüterten Europas - all diese Funktionen werden in Schillers „Geisterseher“ aktualisiert und in der Figur des Prinzen zentriert.“17 Über den Baron von F** sagt Fritz Martini, er sei „doch nur ein wenig welterfahrener, braver Deutscher“18. Dieses Zitat ist auch auf den Prinzen übertragbar. Für einen Fremden wie den Prinzen strahlt Venedig eine unbezweifelbare Anziehungskraft aus, die der Erzähler zu Beginn ausdrückt, indem er sich wünscht, „das Merkwürdigste dieser Stadt zu sehen“ (S. 7). Dennoch widerstand der Prinz bis dahin „allen Reizungen dieser wollüstigen Stadt“ (S. 8). Der Grund dafür, daß er den Verführungen Venedigs nicht nachgegeben hat, liegt in seiner strengen religiösen Erziehung. Da er „sich selbst leben wollte“ (S. 8), ist er unempfänglich für seine äußere Welt. Seine sittliche, protestantische Erziehung lernt er allerdings nur „als eine Geißel seiner Leidenschaften kennen“ (S. 86), so daß sie für ihn keine dauernde Stütze sein kann.
Die Verführung des Prinzen beginnt „auf dem St. Markusplatz“ (S. 9). Der Prinz und der Graf von O** gehen unkenntlich („in tiefer Maske“, S. 9) und abseits der großen Menschenmassen („abgesondert“, S. 9). Obwohl der Prinz in Venedig „sich selbst leben wollte“ (S. 8), gerät der Prinz durch seine eigene Neugier in die schicksalhafte Intrige. Trotz seiner Introversion bemerkt er die Maske, die ihn und den Grafen verfolgt. Infolge dessen versuchen beide die Maske „durch öftere Veränderung [ihres] Weges irre zu machen“ (S. 9), um sie zu verlieren. Es erscheint seltsam, daß der in seiner Innenwelt lebende Prinz, allen menschlichen Kontakten und Blicken ausweichend, sich durch eine „Maske“ derart verfolgt fühlt. Der Prinz spricht zudem nur von einer personifizierten „Maske“, die ihnen folgt, und nicht direkt von einer Person. Diese Metonymie verdeutlicht, daß die Betrachtungsweise des Prinzen auf die „Maske“ fokussiert ist. Die „Maske“ erzeugt, obwohl es ein übliches Verschleierungsmittel während der „Karnevalszeit“ (S. 7) in Venedig ist, einen Affekt. Vielleicht ist bereits an dieser Stelle die Verführung des Prinzen eingetreten, gegen die er sich mittels Flucht zu wehren versucht. Nach der Prophezeiung der „Maske“ kehren sich sogar die Rollen der Personen komplett um, denn aus dem Verfolger wird der Gejagte und umgekehrt. Der Prinz und der Graf, eben noch selbst Gejagte, „durchkrochen alle Winkel des Markusplatzes“ (S. 10), um die „Maske“ zu finden. Durch die kataphorische Pro-Form19 „er“ bleibt zunächst offen, wer um neun Uhr gestorben ist. Der Prinz ist dadurch derart in Unruhe versetzt worden, daß er unbefriedigt zum Gasthaus zurückkehrt, ohne die „Maske“ gefunden zu haben (Vgl. S. 10). „Am folgenden Abend“ (S. 10) geht vom Prinzen die Initiative aus, den geheimnisvollen Armenier bei „eine[m] Gang über den Markusplatz“ (S. 10) aufzusuchen. Der Prinz spricht bereits dort von „unsern“ Armenier. Es scheint sich ein näheres Verhältnis zwischen der Erscheinung und dem Prinzen aufgebaut zu haben. Ferner verlangt der Prinz „nach der Entwicklung dieser Komödie“ (S. 10). Zusammenfassend kann man seit der Begegnung des Prinzen mit dem Armenier von der Verführung des Prinzen zum Geheimnisvollen sprechen. Das Geheimnisvolle läßt den Prinzen im weiteren Verlauf der Handlung nicht mehr los, so daß sich der „magische Kreis um den Prinzen immer enger“20 zieht.
Die Gefahr der Verführung und die Gefahr allgemein, die von Venedig und seiner Umgebung ausgeht, wird von dem Prinzen unterschätzt. Bei der Rangelei im Kaffeehaus rät der Graf dem Prinzen, „sich in acht“ (S. 13) zu nehmen, denn schließlich sei man „in Venedig“ (S. 13). Die Szene bestätigt die Vorstellung, daß Venedig ein Ort „krimineller Eskapaden“21 ist. Man versichert dem Prinzen, daß „es [...] nur funfzig Zechinen [kostet], [ihn] aus der Welt zu schaffen“ (S. 13). Das folgende rigorose Vorgehen der Staatsinquisition an dem geheimen Ort verdeutlicht das obskure Wirken geheimer Gesellschaften in Venedig. Dieses Ereignis bleibt nicht ohne Auswirkungen für den Prinzen, der infolgedessen „acht Tage“ (S. 16) an Fieber leidet. Die „malerische Landschaft“ (S. 17) bei der Spazierfahrt auf der Brenta lenkt zwar von den dunklen und kriminellen Begebenheiten ab, aber sie dient auch der Vorbereitung auf das nächste mysteriöse Ereignis. Nachdem der Prinz den verloren geglaubten Schlüssel bei der Lotteriebude überraschenderweise durch ein Los gewinnt, spürt er das „unsichtbare Wesen, dem [er] nicht entfliehen kann“ (S. 19). Doch statt der Gefahr aus dem Wege zu gehen, stellt er sich der Aufgabe, die geheimnisvollen Ereignisse aufzuklären („Ich muß den Armenier aufsuchen und muß Licht von ihm haben“, S. 19). Wiederum läßt sich der Prinz durch diesen merkwürdigen Zwischenfall von dem Armenier verführen.
Am Ende siegt zwar die Vernunft des Prinzen über den irrationalen Glauben an das Wunderbare, dennoch ist im „Gemüt des Prinzen eine wichtige Veränderung zu bemerken“ (S. 85). „Die venezianischen Ereignisse [...] bringen eine andere als die bekannte und vertraute Person ans Licht“22. Der Erzählerbericht zu Beginn des „Zweiten Buches“ gewährt psychologische Einblicke in das veränderte Wesen des Prinzen. Mit dem Verlust des Glaubens an Wunder geht einher, daß sein gesamter religiöser Glauben „zum Wanken“ (S. 87) gebracht wird. Seine introvertierte Art „mußte einer zerstreuungsvollen Lebensart Platz machen“ (S. 88). Der Prinz wird durch sein verändertes Gemüt „in den Wirbel der großen Welt“ (S. 88) gerissen und kann sich deshalb nicht mehr den „Reizungen dieser wollüstigen Stadt“ (S. 8) Venedig widersetzen. Durch die veränderten Verhältnisse um seine Person öffnen sich dem Prinzen „die geistvollesten Zirkel in Venedig“ (S. 88). Weil „er sich [dort] mit den hellsten Köpfen der Republik“ trifft, spürt der Prinz „das Bedürfnis höherer Bildung“ (S. 88). Um „seinem Geist die Bildung zu geben, die er bisher versäumt hatte“ (S. 89), wählt der Prinz „die modernste Lektüre“ (S. 89), die allerdings dazu führt, daß sich in ihm keine klare geistige Linie bilden kann. Der Erzähler benutzt in diesem Zusammenhang das Wort „Labyrinth“ (S. 90), um die geistige Verwirrung bildlich darzustellen. Folglich hat der Bucentauro in Venedig mit seiner verheißungsvollen „edel[e]n vernünftigen Geistesfreiheit (S. 90) den Prinzen verführt und ihn damit in ein „Labyrinth“ innerhalb seines Geistes geführt. Der geistigen Verirrung des Prinzen geht die Verführung voraus, die stark an die Stadt Venedig, in der Verkörperung der Bucentauro, geknüpft ist. Der Prinz lernt, „[j]e mehr er zusehends in Venedig Glück machte“ (S. 92), neue „Freunde“ kennen und verliert gleichzeitig seine alten Freunde, die für ihn eine Stütze außerhalb der venezianischen Gesellschaft sind. An dieser Stelle (S. 93) wiederholt der Erzähler nochmals, indem er sagt, „[d]er Strom der großen Welt hatte ihn erfaßt“ (S. 93), die Verirrung des Prinzen innerhalb der venezianischen Gesellschaft. Der Erzähler wählt in diesem Bezug die dynamische Metapher „Strom“, die die latente Bedeutung des „Fortreißens“ mit einschließt.
In den Briefen des Barons von F** lassen sich genügend Hinweise für die Verirrung des Prinzen finden. Er gerät nicht gegen seinen Willen in den Sog Venedigs, aus dem er sich im weiteren Verlauf nicht befreien kann. Da sich der Prinz freiwillig „der großen Welt“ ausliefert, kann man von der Verführung des Prinzen sprechen.
2.2. Affinitäten zwischen der Stadt Venedig und dem geheimnisvollen Armenier
Alle geheimnisvollen Erscheinungen und Begebenheiten des „Geistersehers“ münden in der Figur des Armeniers. Der Armenier erscheint als eine „Regiefigur, die von einer höheren Warte aus das Geschehen leitet und Haupt- und Nebenfiguren dementsprechend zu bewegen vermag“23. Durch seinen großen Einfluß auf Venedig und das venezianische Umland kann er das Schicksal des Prinzen durch den Einsatz von Komplizen mittelbar steuern. Im letzten Abschnitt (2.1) sollte deutlich gemacht werden, daß die Intriganten versuchen, die Abreise des Prinzen aus Venedig zu verhindern, um ihn in ihrem Einflußbereich zu halten. Die übernatürlichen Ereignisse sind auf den Bereich Venedig beschränkt, denn nur dort läßt sich durch eine weitläufig verstrickte Organisation mit vielen Mittelsmännern das massive Einwirken auf den Prinzen verwirklichen. Der Erzähler liefert ein Indiz für eine derartige Organisation in Venedig, indem er sein Erstaunen „über die Größe des Bubenstücks“ (S. 84) zum Ausdruck bringt. Am Ende des „Zweiten Buches“ steht der Prinz unter vollständiger Kontrolle des Armeniers („In seinen Armen finden Sie den Prinzen“, S. 161) und ist in Venedig „gefangen“, da alle seine Kontakte nach außen abgeschnitten sind (Vgl. S. 153ff.).
Im Gegensatz zu der psychologisch bestimmbaren Figur des Prinzen erscheint der Armenier als „eine [vollständig] physiognomisch bestimmte Gestalt“24. Der Armenier zeigt sich in der Gestalt verschiedener Personen. Dennoch berichten die Beobachter des Armeniers von ähnlichen physiogomischen Eigenarten seiner verschiedenen Erscheinungsformen. Der Graf von O** erzählt von einem russischen Offizier, der „so viele Züge und so wenig Charakter, so viel anlockendes Wohlwollen mit so viel zurückstoßendem Frost“ (S. 18) in sich vereinigt. Jedoch erkennt der Prinz nach einiger Zeit „in ihm ohne Mühe die Züge seines Armeniers wieder“ (S. 30f.). Bei der Befragung des Sizilianers durch den Grafen und den Prinzen nennt der Sizilianer den Armenier den „Unergründlichen“ (S. 46). Nach Aussage des Sizilianers gibt es nur „wenige Stände, Charaktere und Nationen“, von denen „er nicht schon die Maske getragen“ (jeweils S. 46) hat. Zudem versucht der Sizilianer, einen regelrechten Mythos um den Armenier aufzubauen, denn er behauptet, niemand wisse, „wer er [der Armenier] sei“, „woher er gekommen“, und „wohin er gehe“ (jeweils S. 46). Der Sizilianer steigert den Mythosgehalt um den Armenier, indem er davon berichtet, daß viele andere den Armenier „für den berühmten Apollonius von Tyana, und andre gar für den Jünger Johannes“ (S. 49) halten. Auch im siebten Brief des Barons von F** wird der Armenier durch den Marchese Civitella näher beschrieben. „Der Eindruck, den er in dem Marchese erregt, ist so mächtig, daß dieser Mann [...], wie eine Heldenfigur, den ganzen erzählten Bühnenraum ausfüllt.“25 Die Beschreibung des äußeren Erscheinungsbildes, geprägt von „so viel Geist, so viel Hohe[m], so viel Göttliche[m]“, deckt sich weitgehend mit der des Sizilianers. Dennoch bleibt die wirkliche Identität des Armeniers über das Ende hinaus unklar. Seine maskenhaftige Physiognomie verschleiert seine konkrete Persönlichkeit.
Ein weitere Auffälligkeit beim Armenier besteht in seiner Fähigkeit, unerwartet aufzutauchen und danach wieder unerkannt zu verschwinden („Wir durchkrochen alle Winkel des Markusplatzes - die Maske war nicht mehr zu finden.“, S. 10). Die Stadt Venedig mit ihrer labyrinthischen Struktur eignet sich hervorragend zum plötzlichen Erscheinen und zum schnellen Untertauchen. Die als übersinnlich gedeuteten Fähigkeiten des Armeniers sind demnach an den strukturellen Aufbau Venedigs gebunden. Der Marchese Civitella entlarvt in seiner Erzählung im siebten Brief das plötzliche Verschwinden des Prinzen als Normalität. Er beschreibt, daß der Armenier „[a]uf einmal [...] im Gebüsche“ (S. 143) verschwindet. Als Civitella letztlich glaubt, den Armenier verloren zu haben, hört er „am Kanal etwas rauschen“ (S. 143). Civitella beobachtet zufällig den Armenier dabei, wie er versucht, unerkannt mit einer Gondel zu verschwinden.
In diesem Abschnitt sollte noch einmal deutlich gemacht werden, daß Venedig einen wesentlichen Anteil an diesem „Beitrag zur Geschichte des Betrugs und de[n] Verirrungen des menschlichen Geistes“ hat.
Schlußbetrachtung
Die Stadt Venedig ist in zweierlei Hinsicht ein idealer Schauplatz für die Romanhandlung des „Geistersehers“. Zum einen suggeriert Venedig als geheimnisvolle Stadt die Möglichkeit von übersinnlichen Ereignissen. Zum anderen bietet Venedig eine derartig unüberschaubare, labyrinthische Struktur, die eine umfassende Intrige erst möglich macht. Der Prinz ist das Opfer dieser Intrige in Venedig und er vermag sich nicht aus der Umklammerung, die in Venedig um ihn herum inszeniert wird, zu befreien.
Der Roman „Der Geisterseher“, „den man als negatives Gegenstück zum Bildungsroman bezeichnen kann: die Verstörung und Zerstörung eines jungen Menschen“26, verunsichert auch den Leser durch seine besondere Erzähltechnik. Jedoch hat der Leser im Gegensatz zum Prinzen die Gewißheit, sich in Sicherheit und nicht in Venedig aufzuhalten.
Literaturverzeichnis
1. Primärquellen:
- Friedrich Schiller: Der Geisterseher. Aus den Memoires des Grafen von O**. Hg. von Mathias Mayer. Stuttgart 1996. (RUB 7435)
2. Sekundärliteratur:
- Angelika Corbineau-Hoffmann: Paradoxie der Fiktion. Berlin, New York 1999. S. 112 - 115
- Hans von Trotha: Angenehme Empfindungen. Medien einer populären Wirkungsästhetik im 18. Jahrhundert vom Landschaftsgarten bis zum Schauerroman. München 1999. S. 284 - 287
- Klaus Brinker: Linguistische Textanalyse. Berlin 1997
- Mathias Mayer in: Friedrich Schiller. Der Geisterseher. Aus den Memories des Grafen von O**. Hg. von Mathias Mayer. Stuttgart 1996. (RUB 7435). S. 219 - 242
- Andreas Käuser: Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1989. S. 189 - 240
- Fritz Martini: Geschichte im Drama, Drama in der Geschichte. Stuttgart 1979. S. 217 - 243
- Gerhard Storz: Friedrich Schiller. Stuttgart 1959. S. 178 - 196
- Hansjörg Garte: Kunstform Schauerroman. Eine morphologische Begriffsbestimmung des Sensationsromans im 18. Jahrhundert von Walpoles ‚Castle of Otranto‘ bis Jean Pauls ‚Titan‘. Leipzig 1935
[...]
1 Gerhard Storz: Friedrich Schiller. Stuttgart 1959. S. 183
2 Vgl. Angelika Corbineau-Hoffmann: Paradoxie der Fiktion. Berlin, New York 1999. S. 114
3 Im folgenden z.n. Friedrich Schiller: Der Geisterseher. Aus den Memories des Grafen von O**. Stuttgart 1996.
4 Gerhard Storz: Friedrich Schiller. Stuttgart 1959. S. 185
5 Gerhard Storz: Friedrich Schiller. Stuttgart 1959. S. 185
6 Gerhard Storz: Friedrich Schiller. Stuttgart 1959. S. 185
7 Hans von Trotha: Angenehme Empfindungen. München 1999. S. 286
8 Gerhard Storz: Friedrich Schiller. Stuttgart 1959. S. 186
9 Mathias Mayer in: Friedrich Schiller. Der Geisterseher. Stuttgart 1996. S. 234
10 Andreas Käuser: Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1989. S. 208
11 Hans von Trotha: Angenehme Empfindungen. München 1999. S. 285
12 Gerhard Storz: Friedrich Schiller. Stuttgart 1959. S. 185
13 Mathias Mayer in: Friedrich Schiller. Der Geisterseher. Stuttgart 1996. S. 234
14 Hansjörg Garte: Kunstform Schauerroman. Leipzig 1935. S. 21
15 Hansjörg Garte: Kunstform Schauerroman. Leipzig 1935. S. 24
16 Angelika Corbineau-Hoffmann: Paradoxie der Fiktion. Berlin, New York 1999. S. 114
17 Angelika Corbineau-Hoffmann: Paradoxie der Fiktion. Berlin, New York 1999. S. 113
18 Fritz Martini: Geschichte im Drama, Drama in der Geschichte. Stuttgart 1979. S. 243
19 Klaus Brinker: Linguistische Textanalyse. Berlin 1997. S. 33f.
20 Gerhard Storz: Friedrich Schiller. Stuttgart 1959. S. 185
21 Mathias Mayer in: Friedrich Schiller. Der Geisterseher. Stuttgart 1996. S. 234
22 Angelika Corbineau-Hoffmann: Paradoxie der Fiktion. Berlin, New York 1999. S. 113
23 Hansjörg Garte: Kunstform Schauerroman. Leipzig 1935. S. 147
24 Andreas Käuser: Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1989. S. 198
25 Fritz Martini: Geschichte im Drama, Drama in der Geschichte. Stuttgart 1979. S. 226
26 Gerhard Storz: Friedrich Schiller. Stuttgart 1959. S. 189
- Arbeit zitieren
- Jens Buchholz (Autor:in), 2000, Die Bedeutung Venedigs für die Romanhandlung in Schillers "Der Geisterseher", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104356
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