Gerhart Hauptmann: (1862-1946)
... war deutscher Dramatiker, Erzähler und Dichter, Hauptvertreter des Naturalismus in der deutschen Literatur. Er erhielt 1912 den Nobelpreis für Literatur.
Hauptmann wurde in Obersalzbrunn (heute Szczawno Zdroj, Polen) geboren. Nach einem kurzen Bildhauerstudium in Breslau (heute Wroclaw, Polen) und Jena wandte er sich dem Schreiben zu. Er wurde entscheidend von den realistischen Werken des norwegischen Dramatikers Henrik Ibsen beeinflußt. Nach Erfolgen in unterschiedlichen literarischen Genres, so mit der naturalistisch- psychologischen Novelle Bahnwärter Thiel (1888), erlangte er vor allem als Dramatiker Berühmtheit. Sein erstes Stück Vor Sonnenaufgang (1889) gilt als grundlegendes Werk des Naturalismus, gezeigt wird der moralische Verfall mehrerer Bauernfamilien, die plötzlich zu Wohlstand gelangt sind, als auf ihrem Land Kohlevorkommen entdeckt wurden. In Die Weber (1892), seinem bedeutendsten Drama, thematisiert er das Schicksal einer Gruppe schlesischer Weber zu Zeiten der Weberaufstände, wobei er eine ganze soziale Schicht zu Protagonisten des Stückes macht, um so die sozialen und politischen Dimensionen des Konflikts zu verdeutlichen.
Hauptmann wandte sich mit der Traumdichtung Hanneles Himmelfahrt (1893) vom rein naturalistischen Drama ab, indem er naturalistische Elemente mit romantisch symbolischen Versen kombiniert. Die Hinwendung zur Neuromantik zeigt sich im Versdrama Die versunkene Glocke (1897). Im gleichen Jahr wandte sich Hauptmann wieder dem realistischen Drama zu, aber statt das soziale Anliegen hervorzuheben, nimmt er sich nun der Auswirkungen moralischer Korruption auf den einzelnen an. Im Fuhrmann Henschel (1898) und in Rose Bernd (1903) stellt er das Schicksal von Menschen dar, deren Scheitern bereits in ihren Unzulänglichkeiten angelegt ist.
Hauptmann schrieb außerdem die Dramen Der rote Hahn (1901) und Der arme Heinrich (1902), die Komödie Der Biberpelz (1893), in der die preußischen Repräsentanten des Kaiserreiches bloßgestellt werden, den Roman Der Ketzer von Soana (1918) und Erzählgedichte. In der Atriden-Tetralogie (1941-1945), denen die antike griechische Sage des zum Untergang verdammten Geschlechts der Atriden zugrunde liegt, zeigt sich wie in vielen seiner späten Werke eine Annäherung an das Gedan- kengut des Nationalsozialismus, mit dem er sich zurückgezogen lebend arrangiert hatte. Hauptmann starb am 6. Juni 1946 in Agnetendorf.
Inhalt:
Bahnwärter Thiel regelt einen Bahnübergang mitten im Wald. Er ist ein sehr kräftiger Mann und daher ist es verwunderlich, daß er ein schmächtiges Fräulein kennenlernt, das ihn von nun an auf seinem langen Weg zur Arbeit begleitet. Die beiden heiraten und seine zierliche Frau bekommt ein ebenso zartes Kind, das auf den Namen Tobias getauft wird. Nach zweijähriger Ehe stirbt des Bahnwärters Frau. Thiel schwört an ihrem Sterbebett, für das Wohlergehen des Jungen zu sorgen.
Nach knapp einem Jahr heiratet er abermals. Seine Frau Lene ist eine eher korpulente, aber starke Bauernmagd. Thiel ist der Meinung, daß sein von Geburt an schwächlicher Sohn Tobias mütterliche Fürsorge benötige. Obwohl Lene eine musterhafte Wirtschafterin ist, muß der Bahnwärter drei Dinge in Kauf nehmen: ihre harte, herrschsüchtige Gemütsart, ihre Zanksucht und ihre brutale Leidenschaftlichkeit. Schon bald hat seine Frau das Sagen im Haus. Nur wenn sie vorhat, Tobias zu bestrafen, schreitet Thiel ein. Mit der Zeit schwindet auch dieser Widerstand. Sein einsamer Arbeitsplatz mitten im Wald wird zu seinem liebsten Aufenthalt. Thiels Gedanken sind fortwährend bei seiner verstorbenen Frau, wenngleich er von seiner jetzigen Angetrauten abhängig geworden ist.
Zwischen dem Bahnwärter und seinem Sohn entwickelt sich eine liebevolle Beziehung. In dem Maße, wie diese zunimmt, verringert sich die Liebe der Stiefmutter zu Tobias und schlägt sogar in Abneigung um, als Lene ebenfalls einen Jungen zur Welt bringt. So kommt es, daß sie Tobias immer öfter grundlos mit Schlägen bestraft. Dies geschieht freilich nur, wenn der Bahnwärter nicht Zuhause ist. Als Thiel zu ungewohnter Zeit von seiner Arbeit zurückeilt, um den vergessenen Proviant zu holen, hört er bereits vor der Haustür, wie Lene seinen Sohn mißhandelt. Erzürnt betritt er sein Haus. Als er Lene erblickt, überkommt ihm jedoch wieder seine Gleichgültigkeit, die ihm jeglichen Widerstand untersagt. Thiel steckt sich seinen Proviant ein und verschwindet.
Um einen Acker in der Nähe seines Arbeitsplatzes zu bewirtschaften, nimmt er Lene und seine beiden Söhne mit. Während seine Frau eifrigst den fruchtbaren Boden bearbeitet und auf ihren Säugling aufpaßt, geht der Wärter mit seinem älteren Sohn entlang der Schienen spazieren. Nach einer Mittagspause besteht Lene darauf, daß Tobias nun auf seinen Bruder aufpassen solle, während sie arbeite. In seiner Wärterbude in der nächtlichen Waldeinsamkeit, an welcher nur hin und wieder ein Zug vorbeirast, versucht er das Geschehene zu verarbeiten.
Er verbringt eine unruhige Nacht in dieser, ganz dem Andenken seiner ersten Frau geweihten Hütte. Draußen tobt ein Gewitter, und aus seinem Inneren steigen Bilder vom gemarterten Tobias und von seiner toten Frau. Seine Seele ist voller Scham über die schmachvolle Duldung seines jetzigen Le- bens. Er kann das Ende seines Dienstes kaum erwarten, zuhause aber sind die quälenden Bilder beim Anblick seines rotwangigen Sohnes wieder verschwunden. Dies war ein Sonntag und in der nächsten Woche hatte Thiel wieder Tagdienst. Beim Bahnwärterhäuschen war ihm ein neues Stück Acker überlassen worden, und seine Frau beschließt, ihn am folgenden Tag umzugraben und Kartof- feln zu setzen. Ihm ist das Eindringen seiner Frau in seinen ureigenen Bereich sehr unrecht, aber er kann auch wieder nichts Rechtes einwenden, und zusammen geht die Familie los. Das Wetter ist schön, die Frau ist zufrieden und friedlich und vor allem Tobias hat viel Freude vor allem an den vor- überbrausenden Zügen.
Am Nachmittag tritt Thiel seinen Dienst an, während Lene die Kartoffeln setzt. Der „schlesische Zug“ kommt pünktlich, gibt aber plötzlich Notsignale und bremst, denn Tobias ist unter seine Räder ge- kommen und wird zwar noch atmend, aber mit völlig zerbrochenen Gliedern auf eine Bahre gelegt. Thiel ist vor Entsetzen ganz stumpfsinnig, Lene jammert in einem fort und der Knabe wird zur nächs- ten Station getragen. Wie betäubt geht Thiel zurück an seine Arbeit, er hat wieder Visionen, stolpert die Gleise entlang und redet mit seiner unsichtbaren Frau, verspricht ihr, sich mit dem Beil zu rächen. Der zurückgebliebene Säugling meldet sich schreiend. In rasender Wut beginnt Thiel ihn zu würgen, aber die Signalglocke reißt ihn aus seiner Raserei. Ein Zug, der Arbeiter transportiert hält an und in feierlicher Stille wird der tote Tobias ausgeladen. Dahinter folgt die völlig verheulte Helene. Aber sie erschrickt auch über das verstörte Aussehen ihres Mannes, der auch gleich darauf bewußtlos zu- sammenbricht. Man trägt den Bewußtlosen mühsam ins Dorf in seine Wohnung und Lene umsorgt ihn aufopferungsvoll.
Am nächsten Morgen findet man die Frau mit dem Beil erschlagen und dem Säugling den Hals durch- geschnitten. Thiel wird erst am darauf folgenden Tage gefunden, auf den Gleisen sitzend, wo sein Sohn überfahren wurde. Mit Gewalt muß er vom Gleis wegbefördert werden. Er wird in eine Irrenan- stalt gebracht und noch bei der Einlieferung hält er das Mützchen seines Sohnes in den Händen.
Bahnwärter Thiel:
Seine Gefühle und seine Zuneigung zu seiner ersten Frau und zu seinem Sohn lassen ihn als lie- benswerten Menschen erscheinen. Thiel schätzt die Ordnung, und sein Leben findet gut geplant statt. Er läßt seine Gefühle kaum der Umwelt spüren, es sei denn seine Emotionen übersteigen sein Zu- rückhaltevermögen. Den Tod seiner Frau überwindet Thiel nur mit großer Mühe und versucht seinen Schmerz mit der Liebe zu dem, seinem Sohn zu lindern. Als ihm bewußt wird, wie seine zweite Frau mit seinem Sohn umgehen zu pflegt, flüchtet er sich, nicht im Stande irgendwelche Maßnamen dage- gen zu unternehmen, in seine Traumwelt, welche ihm am bitteren Ende zu erdrücken scheint!
Minna:
Sie ist Thiels erste Gattin, die kränklich, blaß und zierlich beschrieben wird. Bei der Geburt ihres ersten Sohnes Tobias verstirbt sie. Thiel beginnt sich in seine Traumwelt zu flüchten.
Lene:
Sie wird von Thiel, nachdem seine Frau verstorben ist, geheiratet da er der Ansicht ist, daß sein Sohn Tobias unbedingt eine Mutter benötigt. Doch sie ist unbeherrscht, herrsch- und streitsüchtig und Thiel sieht sich nicht im Stande Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Nach der Geburt ihres eigenes Kindes wendet sie sich nur mehr diesem zu und mißhandelt Tobias stets wenn Thiel die Arbeit besucht. Na- türlich weiß Thiel, daß Lene Tobias schlägt, doch er kann sich nicht dazu überwinden ihm zu Hilfe zu kommen.
Tobias:
Thiels Sohn ist seine einzige Verbindung zur Realität. Er erinnert Thiel an Minna, die er einfach nicht vergessen will, kann. Tobias’ Äußeres ähnelt dem seiner Mutter. Als er von dem Zug erfaßt wird und wenige Stunden später stirbt bricht Thiels Verbindung zur Realität ab und er ist in seiner Traumwelt gefangen, die schließlich seiner zweiten Frau und seinem zweiten Kind zum Verhängnis wird, da er diese Personen für den Tod Tobias’ verantwortlich macht.
INTERPRETATION:
Ort: ein kleiner Ort in der Nähe von Berlin Familienwohnhaus und Bahnwärterhäuschen
Zeit: zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts
Textgattung: Novelle
Aufbau: fortlaufend (nur eine Rückblende)
Sprache: expressionistische Ausdrucksweise (abgebrochene Sätze)
Form: die Psyche des Bahnwärters wird beschrieben Traumebene romantische Züge Denken an die tote Frau und an die Natur Phantasiedenken psychische Rolle der toten Frau à Hauptperson symbolistische Züge Traum von Tobias‘ Tod
Themen: Der unterdrückte Mann Milieutheorie Vererbungstheorie Evolutionstheorie (lt. Darwin)
- Arbeit zitieren
- Danielle Roquelaure (Autor:in), 2001, Hauptmann, Georg - Der Bahnwärter Thiel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104321
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