Die leitende Forschungsfrage dieser Studie lautet: Wie nehmen Sportlehrkräfte der Sekundarstufe 1 die kultusministeriellen Ansprüche an eine Benotung im Sportunterricht wahr und wie deuten sie diese mit Blick auf eventuelle Modifikationen ihrer eigenen Benotungspraxis und -prinzipien? Es geht demnach darum, die Wahrnehmung und Deutung der kultusministeriellen Ansprüche an eine Benotung im Sportunterricht seitens der verantwortlichen Sportlehrkräfte zu rekonstruieren. Hierzu werden leitfadengestützte Interviews geführt.
Bei der Erstellung des Leitfadeninterwies wird nach dem „SPSS-Prinzip“ der Leitfadenerstellung nach Helfferich vorgegangen, wobei themenbezogene Fragen zunächst gesammelt, geprüft, sortiert und abschließend subsumiert werden. Die Stichprobe dieser qualitativ ausgelegten Studie umfasst fünf Sportlehrkräfte (n=5), die in Baden-Württemberg in der Sekundarstufe 1 das Fach Sport unterrichten. Die potenziellen Differenzen, die sich aus den Ansprüchen und der rekonstruierten Wirklichkeit ergeben, sollen im Forschungsprozess abschließend bestimmt und verstanden werden, um einen angemessenen Umgang diesbezüglich zu empfehlen. Dabei geht es ebenfalls darum, herauszustellen, welche Gründe die Lehrkräfte nennen, weshalb sie eventuell nicht den Benotungsansprüchen gerecht werden können oder wollen.
Des Weiteren ist es wichtig bei der Erläuterung der Differenzen Anschluss an die sportpädagogische Diskussion zu suchen, Stellung zu beziehen und Empfehlungen auszusprechen. Nachdem in Kapitel 2 die Begrifflichkeiten Anspruch, Wirklichkeit, Differenz und Leistung definiert und voneinander abgegrenzt werden, wird in Kapitel 3 mit dem dargestellten Forschungs- und Diskussionsstand zur Benotung im Sportunterricht der Grundstein für eine substanzielle Diskussion der Ergebnisse gelegt. Hierbei wird auf die Zusammensetzung der Sportnote eingegangen, praktische Umsetzungsmöglichkeiten verschiedener Beurteilungsbereiche kritisch dargelegt, Bezugsnormen einer Leistungsbewertung unterschieden sowie Funktionen der Sportnote hinterfragt.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffsklarungen
2.1 Anspruch
2.2 Wirklichkeit
2.3 Differenz
2.4 Leistung im Schulsport
2.5 Fazit
3. Forschungs- und Diskussionsstand zur Benotung im Sportunterricht
3.1 Die Zusammensetzung der Sportnote
3.2 Die praktische Umsetzung moglicher Beurteilungsbereiche
3.2.1 Die Bewertung des sozialen Handelns
3.2.2 Die Bewertung der Leistungsbereitschaft
3.2.3 Die Bewertung motorischer Leistung
3.2.4 Die Bewertung kognitiver Leistung
3.3 Bezugsnormen einer Leistungsbewertung
3.4 Funktionen der Sportnote
3.5 Probleme bei der Benotung im Sportunterricht
3.5.1 Professionalisierungsdefizite der Sportlehrerrolle
3.6 Fazit
4. Methodologische Voruberlegungen zum differenzanalytischen Forschungsansatz
4.1 Die sportpadagogische Differenzanalyse
4.2 Prazisierung und Begrundung der Forschungsfrage
4.3 Prazisierung und Begrundung des Forschungsdesigns
4.4 Begrundung des Leitfadeninterviews als Forschungsmethode
4.4.1 Hinweise zur Transkription des Interviews
4.4.2 Beschreibung der Stichprobe
4.5 Fazit
5. Datenerhebung
5.1 Kategorisierung der Anspruche
5.2 Das Leitfadeninterview
5.3 Fazit
6. Datenauswertung
6.1 Die Wahrnehmung der Sportlehrkrafte
6.1.1 Kategorie I: Verstandnis der Begrifflichkeiten
6.1.2 Kategorie II: Wertung der Anspruche
6.1.3 Kategorie III: Wertung der Handreichung
6.1.4 Kategorie IV: Wunsche und Forderungen
6.2 Die Deutungen und Modifizierungen der Anspruche
6.2.1 Kategorie V: Zusammensetzung der Sportnote
6.2.2 Kategorie VI: Benotete Kompetenzen
6.2.3 Kategorie VII: Verwendung der individuellen Bezugsnorm
6.3 Interpretation der Ergebnisse
6.4 Fazit
7. Diskussion und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Anspruchsebenen in Differenzstudien
Abb. 2: Wirklichkeitsfacetten in Differenzstudien
Abb. 3: Formen des Umgangs mit Differenzen
Abb. 4: Zusammenhang von schulischen Leistungsfacetten
Abb. 5: Wahrgenommene Probleme bei der Notengebung
Abb. 6: Losungsstrategien der Sportlehrkrafte bei der Notengebung
Abb. 7: Ablaufplan des differenzanalytischen Forschungsansatzes
Abb. 8: Ausschnitt der Handreichung zur Benotung im Fach Sport
Abb. 9: Die Eroffnung eines Interviews
Tabellenverzeichnis
Tab. 1: Differente Zusammenstellungsmoglichkeiten der Sportnote
Tab. 2: Vergleich zwischen den Unterteilungen der Handreichung und denen der sportpadagogischen Fachliteratur
Tab. 3: Hinweise zu den Sportlehrkraften der Interviewreihe
Tab. 4: Forschungsdesign und Auswertungsverfahren der Studie
Tab. 5: Kenntnis der Handreichung zur Benotung im Fach Sport
Tab. 6: Aussagen zum Verstandnis der padagogisch-fachlichen Gesamtwertung
Tab. 7: Wertung der optionalen Verwendung weiterer Kompetenzen
Tab. 8: Wertungen der Handreichung
Tab. 9: Wunsche und Forderungen der Sportlehrkrafte
Tab. 10: Zusammensetzung der Sportnote
Tab. 11: Modifizierungen des Verbots einer individuellen Bezugsnorm
1. Einleitung
Die Vergabe von Schulnoten ist an staatlichen Schulen in Baden-Wurttemberg ein unumgang- liches Element des Berufsalltags von Lehrkraften. Schulrechtlich werden Beurteilungen und Zensuren der Schuler*innen1 gefordert, da eine Lehrkraft „zwar hinsichtlich der Unterrichts- gestaltung viele Freiheiten hat, sich jedoch keineswegs die Freiheit nehmen darf, auf Schu- lerbeurteilung und Notengebung zu verzichten" (Terhart, 2009, S. 39). Um die bildungssyste- mische Qualitat sicherzustellen, unterliegt die Benotung einer Vielzahl an Anspruchen, die im Besonderen hinsichtlich der Benotung im Sportunterricht zum Tragen kommen. Diesen An- spruchen gerecht zu werden ist kaum moglich, insbesondere dann, wenn sich Anspruche wi- dersprechen (vgl. Grunder et al., 2010, S. 304 f.). Da „die Spannung zwischen den padagogi- schen Zielen und einer an Normen ausgerichteten Notengebung [...] im Sport in besonderer Weise gegeben [ist]" (Aschebrock & Pack, 2004, S. 10), ist es interessant zu fragen, inwiefern Sportlehrkrafte mit diesen Spannungen umgehen.
In der Handreichung zur Benotung im Fach Sport, die das Kultusministerium im Juli 2019 ver- offentlicht hat, lassen sich Anspruche an die Benotung im Sportunterricht feststellen. Inwie- fern diese Anspruche im Sportunterricht umgesetzt werden, bleibt offen. Aufgrund der Aktu- alitat dieser Handreichung ist es kaum verwunderlich, dass Studien bezuglich der Differenz zwischen dem gestellten Benotungsanspruch und der schulsportlichen Wirklichkeit fehlen. Um diese potenziellen Differenzen aufzuarbeiten, lehnt sich die Untersuchung dieser Arbeit an das Forschungsdesign der sportpadagogischen Differenzanalyse nach Balz und Neumann (2005) an. Wegen der aktuellen Corona-Situation ist es kaum moglich die Anspruche des Kul- tusministeriums auf deren Verwirklichung zu uberprufen, da eine Beobachtung, wie sie Balz und Neumann (2005) zur Erfassung der schulsportlichen Wirklichkeit vorschlagen, in der Praxis notig ware, um dies valide durchzufuhren. Deswegen wird sich auf die Wahrnehmungen und Deutungen der Anspruche seitens der Sportlehrkrafte konzentriert. Die leitende Forschungs- frage dieser Studie lautet somit:
Wie nehmen Sportlehrkrafte der Sekundarstufe 1 die kultusministeriellen Anspruche an eine Benotung im Sportunterricht wahr und wie deuten sie diese mit Blick auf eventuelle Modifikationen ihrer eigenen Benotungspraxis und -prinzipien?
Es geht demnach darum, die Wahrnehmung und Deutung der kultusministeriellen Anspruche an eine Benotung im Sportunterricht seitens der verantwortlichen Sportlehrkrafte zu rekon- struieren. Hierzu werden leitfadengestutzte Interviews gefuhrt.
Bei der Erstellung des Leitfadeninterwies wird nach dem „SPSS-Prinzip“ der Leitfadenerstel- lung nach Helfferich (2011) vorgegangen, wobei themenbezogene Fragen zunachst gesam- melt, gepruft, sortiert und abschlieBend subsumiert werden (vgl. Helfferich, 2011, S. 182 ff.). Die Stichprobe dieser qualitativ ausgelegten Studie umfasst funf Sportlehrkrafte (n=5), die in Baden-Wurttemberg in der Sekundarstufe 1 das Fach Sport unterrichten.
Die potenziellen Differenzen, die sich aus den Anspruchen und der rekonstruierten Wirklich- keit ergeben, sollen im Forschungsprozess abschlieBend bestimmt und verstanden werden, um einen angemessenen Umgang diesbezuglich zu empfehlen (vgl. Balz & Neumann, 2007, S. 326). Dabei geht es ebenfalls darum, herauszustellen, welche Grunde die Lehrkrafte nennen, weshalb sie eventuell nicht den Benotungsanspruchen gerecht werden konnen oder wollen. Des Weiteren ist es wichtig bei der Erlauterung der Differenzen Anschluss an die sportpada- gogische Diskussion zu suchen, Stellung zu beziehen und Empfehlungen auszusprechen (vgl. Neumann, 2014, S. 204). Nachdem in Kapitel 2 die Begrifflichkeiten Anspruch, Wirklichkeit, Differenz und Leistung definiert und voneinander abgegrenzt werden, wird in Kapitel 3 mit dem dargestellten Forschungs- und Diskussionsstand zur Benotung im Sportunterricht der Grundstein fur eine substanzielle Diskussion der Ergebnisse gelegt. Hierbei wird auf die Zu- sammensetzung der Sportnote eingegangen, praktische Umsetzungsmoglichkeiten verschie- dener Beurteilungsbereiche kritisch dargelegt, Bezugsnormen einer Leistungsbewertung un- terschieden sowie Funktionen der Sportnote hinterfragt.
Insbesondere der Sportlehrerberuf hat in der heutigen Zeit mit Professionsdefiziten zu kamp- fen, die sich auch auf die Benotung im Sportunterricht auswirken. Da die Sportnote in Bezug auf Versetzungen und Berufsaussichten der Schuler nur wenig bedeutsam zu sein scheint und die Selektionsfunktion von Schule dem Sportunterricht in groBen Teilen deshalb abgespro- chen werden kann, entstehen oft Professionalisierungsdefizite der Sportlehrerrolle (vgl. Cachay & Kastrup, 2006, S. 164 f.). Fur diese Arbeit scheint es deshalb stringent, in Kapitel 3 nicht nur auf die bereits genannten Aspekte einer Benotung im Sportunterricht einzugehen, sondern daruber hinaus auch Probleme bei der Benotung im Sportunterricht aufzuzeigen und die Auswirkungen dieser Probleme auf die verantwortlichen Sportlehrkrafte herauszuarbei- ten. Dies wird dann relevant, wenn es darum geht, die Anspruche der Handreichung mit den Aussagen der Sportlehrkrafte zu vergleichen und festzustellen, wieso eventuelle Differenzen bestehen.
AnschlieBend werden in Kapitel 4 die methodologischen Voruberlegungen der Untersuchung dargelegt und konkludiert, inwieweit das Forschungsdesign dieser Arbeit an den differenzana- lytischen Forschungsansatz angelehnt ist. In Kapitel 5 wird die Datenerhebung der Studie voll- zogen. Ziel ist es, die Anspruche der Handreichung zu kategorisieren, um die Wahrnehmungen und Deutungen der Sportlehrkrafte bezuglich dieser Anspruche besser analysieren zu konnen. Insbesondere die folgenden zwei Anspruche der Handreichung erscheinen schon vorab disku- tabel:
> „Neben inhaltsbezogenen motorischen Kompetenzen [...] konnen weitere Kompeten- zen, wie z. B. sportspezifisches Fachwissen, Fairplay, Teamfahigkeit, Kooperationsfa- higkeit, verlassliches Helfen und Prasentationsfahigkeit in die Fachnote [...] einflieBen > [und] fur die im Bildungsplan genannten Kompetenzen bzw. den daraus abgeleiteten Anforderungen im Kurs/in der Klasse gilt eine absolute Bezugsnorm. Eine individuelle Bezugsnorm, z.B. durch die Einbeziehung der Lernvoraussetzungen, ist rechtlich nicht moglich" (Ministerium fur Kultus, Jugend und Sport, 2019, S. 1).
Der erste Aspekt fokussiert stark die motorische Kompetenz, da weitere Kompetenzen aus- schlieBlich als „kann"-Kriterien fur die Sportnote formuliert werden. Hierbei ist zu bedenken, dass bei einer ausschlieBlichen Konzentration auf motorische Kompetenzen, wichtige pada- gogische Ziele des Sportunterrichts in der Sportnote nicht abgebildet werden. Der Doppelauf- trag des Schulsports mit einer Entwicklungsforderung durch Bewegung, Spiel und Sport sowie einer ErschlieBung der Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur ruckt damit in den Hintergrund. Daruber hinaus widerspricht der zweite Anspruch, die individuelle Bezugsnorm nicht zu nut- zen, einigen Vorschlagen der sportpadagogischen Fachliteratur, in der gefordert wird, unter keinen Umstanden auf die individuelle Bezugsnorm im Prozess der Notengebung zu verzichten (vgl. Lerche, 2014, S. 106).
In Kapitel 6 werden die Ergebnisse der einzelnen Interviews zusammenfassend dargestellt. Hierzu wird die kategorienbildende Analyse genutzt, wobei die Transkripte in sinnvolle Analy- seeinheiten segmentiert und durch Markierungen kodiert werden. Die kodierten Interviews dienen somit als Grundlage der Kategorienbildung (vgl. Doring & Bortz, 2016, S. 599). In einem anschlieBenden Fazit wird die leitende Forschungsfrage beantwortet.
Kapitel 7 diskutiert abschlieBend die wesentlichsten Erkenntnisse der Untersuchung und dient als Ausblick fur weitere Forschungsansatze.
2. Begriffsklarungen
Da die Begriffe Anspruch, Wirklichkeit und Differenz bei einer Differenzanalyse eminent im Vordergrund stehen, ist es an dieser Stelle unumganglich, sie voneinander abzugrenzen und zu klaren, wie die einzelnen Begriffe in dieser Arbeit zu verstehen sind und wie sie zusammen- hangen. Daruber hinaus ist der Begriff der Leistung im Schulsport sehr eng mit der Benotung im Schulsport verknupft, weshalb auch hier eine Erlauterung des Begriffs notig scheint.
2.1 Anspruch
Der deutsche Duden untergliedert bei den Bedeutungen des Wortes Anspruch drei unter- schiedliche Auslegungen. Entweder kann ein Anspruch als eine Forderung an, als ein Recht beziehungsweise Anrecht auf oder als ein Qualitatsanspruch verstanden werden (vgl. Duden- redaktion, o. J.). In Bezug auf Differenzanalysen wird in der sportpadagogischen Literatur un- ter Anspruchen eine Forderung an Jemanden oder an Etwas verstanden. Demnach konnen Anspruche an eine Lehrkraft (Jemanden) oder an das Curriculum (Etwas) gestellt werden. Da- bei sind diese Anspruche meist explizit als Soll-Aussagen formuliert oder implizit als Ist-Aussa- gen (vgl. Balz & Neumann, 2007, S. 325).
Da diese Anspruche als normative Aussagen aufzufassen sind, konnen sie weder wahr noch falsch sein, sondern sind besser oder schlechter begrundet (vgl. Wright, 1994, S. 24 ff.). Dem- nach ware der implizite Anspruch „Die Gesamtnotenbildung am Ende des Halbjahres oder Schuljahres ist eine padagogisch-fachliche Gesamtwertung der vom Schuler im Beurteilungs- zeitraum erbrachten Leistungen" (MfKJuS, 2019, S.1), der so in der Handreichung des Kultus- ministeriums gestellt wird, nicht als wahr oder falsch zu bewerten, sondern als legitim oder illegitim. Daruber hinaus konnen solche Anspruche - als Forderung an Etwas oder Jemanden - „von Dritten als hoch oder niedrig, als angemessen oder unangemessen, als erfullbar oder unerfullbar [...] wahrgenommen, eingeschatzt und beurteilt werden" (Neumann, 2014, S. 55). Die Fulle der Anspruche an den Schulsport ist enorm und spiegelt sich unter anderem in Richt- linien, didaktischen Prinzipien, Sicherheitsbestimmungen, Schulverwaltungsgesetzen, Eltern- erwartungen und Schulerwunschen wider (vgl. Scherler, 1995, S. 13).
Im Kontext Schulsport werden nach Neumann (2014) vier verschiedene Anspruchsebenen un- terschieden. Um einen groben Uberblick daruber zu bekommen, welche unterschiedlichen Anspruchsebenen es bezuglich des Schulsportes geben kann, folgt anschlieBend eine darstel- lende Ubersicht der Anspruchsebenen, welche insbesondere bei Differenzstudien untersucht werden konnen:
1. Wissenschaftliche Ebene:
Bei der wissenschaftlichen Ebene entsteht der Anspruch durch Sportpadagogen, welche normative Aussagen zur padagogischen Gestaltung des Sportunterrichts vertreten und verbreiten und somit Forderungen an den Schulsport stellen.
2. Bildungspolitische Ebene:
Bei der bildungspolitischen Ebene wird der Anspruch durch Vertreter der Kultus- ministerien in Form von Lehrplanen, Verordnungen, Bestimmungen, Erlassen oder anderweitigen Vorschriften gestellt. Auch andere kultusnahe Institutionen und Einrichtungen oder Versicherungstrager konnen Anspruche stellen, welche sich der bildungspolitischen Ebene zuordnen lassen.
3. Schulische Ebene:
Bei der schulischen Ebene entstehen die Anspruche bezuglich des Fachs Sport durch schulinterne Regelungen. Somit werden zum Beispiel im Rahmen von Kon- ferenzbeschlussen, Schulsportprogrammen oder schuleigenen Sportlehrplanen Ziele festgelegt, die dann jeweils fur die einzelne Schule und deren Mitarbeiter relevant sind.
4. Unterrichtsebene:
Mit der Unterrichtsebene sind alle Anspruche gemeint, die durch Sportlehrkrafte oder Schuler im Sportunterricht relevant werden. So kommen sowohl die Schuler als auch die Lehrkrafte mit Erwartungen und Wunschen, die sich oft in Forderun- gen manifestieren, in die Sportstunde und wollen diese umsetzen.
Abb. 1: Anspruchsebenen in Differenzstudien (in Anlehnung an Neumann, 2014, S. 196).
Daruber hinaus konnen auch weitere Anspruche an den Schulsport bestehen, die zum Beispiel von den Erwartungen der Eltern und Hausmeistern oder den Forderungen der Fachverbande gepragt sein konnen. Insgesamt berucksichtigen diese vier Anspruchsebenen allerdings alle Forderungen von Gruppierungen, die entscheidend und bestandig Einfluss auf den Sportun- terricht ausuben (vgl. Balz & Neumann, 2007, S. 325).
Da die bildungspolitische Ebene so definiert ist, dass der Anspruch von Vertretern der Kultus- ministerien in Form von Lehrplanen, Verordnungen, Bestimmungen, Erlassen oder anderwei- tigen Vorschriften gestellt wird, konnen die in der Handreichung entstandenen Anspruche, dieser bildungspolitischen Ebene zugeordnet werden.
Anspruche sind also im schulischen Kontext und somit auch im Schulsport allgegenwartig und werden kontextbezogen auch padagogische Anspruche genannt. Immer wenn padagogische Anspruche gestellt werden, richten sich diese in der Regel an andere. Dies ist nur dann nicht der Fall, wenn es sich dabei dezidiert um Selbst-Anspruche handelt. Ein Selbst-Anspruch ist, wie es sich vermuten lasst, ein Anspruch, den ein Anspruchssteller an sich selbst richtet. Fur gewohnlich ist davon auszugehen, dass diejenigen, an die ein padagogischer Anspruch gestellt wurde, diesen auch versuchen nach bestem Wissen und Gewissen zu verwirklichen. So geht Kuhler (2013), nach dem Prinzip „Sollen impliziert Konnen", davon aus, dass Anspruche immer auch einen Verwirklichungsanspruch innehaben, denn „von einem Sollen zu sprechen, ohne dass die Adressaten diesem nachkommen konnen, ware [.] sinnlos" (Kuhler, 2013, S. 105).
Wenn davon ausgegangen werden kann, „dass Anspruchssteller gute Grunde fur ihre Anspru- che haben und [.] das Gesollte prinzipiell auch verwirklichbar ist, liegen Fragen zum Verwirk- lichungsprozess auf der Hand" (Neumann, 2014, S. 57). Doch was bedeutet Wirklichkeit bezie- hungsweise Verwirklichung in diesem Kontext? Dieser Frage wird sich im nachsten Teilab- schnitt angenommen.
2.2 Wirklichkeit
Die Bedeutung des Begriffs Wirklichkeit wird im deutschen Duden als der Bereich dessen be- schrieben, „was als Gegebenheit oder Erscheinung wahrnehmbar und erfahrbar ist" (Duden- redaktion, o. J.). In philosophischen Werken wird der Begriff Wirklichkeit haufig aus verschie- denen Blickwinkeln betrachtet, ohne dass er einheitlich und klar definiert bestehen bleibt. Da keine klar definierte begriffliche Variante der Wirklichkeit existiert, lasst sich folglich die „Wirk- lichkeit [.] auf verschiedene Weise zutreffend beschreiben" (Schweizer, 2000, S. 10).
Balz und Neumann (2007) orientieren sich in Bezug auf den Begriff der Wirklichkeit bei Diffe- renzanalysen an einer konstruktivistischen Sichtweise von Wirklichkeit. Dabei wird die Wirk- lichkeit durch Erkenntnisprozesse hervorgebracht und bezeichnet somit eine subjektive und erkenntnisabhangige Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, die jeder Einzelne wahrnehmen kann, ist demnach immer eine subjektive Wirklichkeit. Daraus leitet sich ab, dass es sinnvoll ist, die schulsportliche Wirklichkeit nicht nur aus einer Perspektive zu konstruieren beziehungsweise zu rekonstruieren (vgl. Balz & Neumann, 2007, S. 326).
Die Schulsportwirklichkeit, wie sie Balz und Neumann (2005) beschreiben, ist eine Wirklich- keit, die mittels einer der drei folgenden Wirklichkeitsfassungen konstruiert und abgeglichen werden kann:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Wirklichkeitsfacetten in Differenzstudien (in Anlehnung an Balz & Neumann, 2005, S. 145).
In der vorliegenden Arbeit wird die Schulsportwirklichkeit aus Lehrersicht durch ein fokussie- rendes leitfadengestutztes Interview konstruiert beziehungsweise rekonstruiert und die zwei weiteren Wirklichkeitsfacetten ignoriert. Weshalb dies der Fall ist, wird in Kapitel 4.2 ausge- fuhrt und erklart. Allgemein gilt davon abzusehen, dass sich die Wirklichkeit des Schulsports objektiv und auf allen Ebenen korrekt abbilden lasst, da „die Wirklichkeit [...] eben differen- zierter, komplizierter und aufreibender [ist], als es sich je beschreiben lasst" (Soll, 1997, S. 12). Daraus ableitend stellt sich die Frage, inwiefern uberhaupt von einer Wirklichkeit als solche ausgegangen werden kann. Da die Wirklichkeit im Rahmen sportpadagogischer Differenzstu- dien eben nie ganzlich und objektiv dargestellt werden kann und zudem konstatiert werden muss, „dass Forschende im Rahmen ihrer Arbeit auch selbst zum Produzenten von Schulsport- wirklichkeit werden, indem sie beispielsweise mundlich Mitgeteiltes in Leitfadeninterviews zu Bildern von Wirklichkeiten (re)konstruieren" (Neumann, 2014, S. 197), ist es deshalb einleuch- tend nicht von einer Wirklichkeit zu sprechen, sondern den Prozess der Anspruchsumsetzung zu fokussieren. Demnach eignet sich in diesem Zusammenhang der Begriff der Verwirklichung oder der Nichtverwirklichung sportpadagogischer Anspruche besser (vgl. Neumann, 2014, S. 197).
Wenn somit im Verlauf dieser Arbeit von sportpadagogischer Wirklichkeit gesprochen wird, ist damit eine Verwirklichung oder Nichtverwirklichung sportpadagogischer Anspruche ge- meint. Dennoch wird nachfolgend haufig der Begriff Wirklichkeit benutzt, da die Kombination der Begriffe zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu einem festen Begriffsterminus der sport- padagogischen Forschung geworden ist.
Das nachste Kapitel beschaftigt sich mit der noch fehlenden Begrifflichkeit des Dazwischen, welche bei dem obigen Begriffsterminus im Vordergrund steht. In sportpadagogischen Diffe- renzstudien wird diese Begrifflichkeit als eine mogliche Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit beschrieben. Wie diese Differenz und die damit verbundenen Differenzerfahrun- gen genau charakterisiert sind, wird im nachsten Kapitel geklart.
2.3 Differenz
Der Begriff Differenz stammt ursprunglich von dem lateinischen Wort differentia ab, was mit Verschiedenheit ubersetzt werden kann. Des Weiteren wird Differenz entweder kaufmanns- sprachlich als ein falscher Betrag oder Fehlbetrag, mathematisch als ein Ergebnis einer Sub- traktion oder bildungssprachlich als ein Unterschied zwischen Etwas oder Jemandem begrif- fen (vgl. Dudenredaktion, o. J.).
In Bezug auf Differenzstudien ist der Begriff Differenz gleichzusetzen mit einem „Unterschied, der aufgrund eines bestimmten Kriteriums, das zur Beobachtung herangezogen wird, erkannt und beschrieben werden kann" (Neumann, 2014, S. 197). Neumann (2014) spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Dazwischen", welches sich zwischen einem Anspruch und der Wirklichkeit entfaltet. Der Begriff Differenz wird dabei dem Begriff Unterschied vorgezo- gen, da dieser im Gegensatz zu der alltagssprachlichen Bezeichnung Unterschied einem eher fachwissenschaftlichen Ausdruck entspricht (vgl. Neumann, 2014, S. 197).
Differenzerfahrungen, die immer dann entstehen, wenn Lehrer Differenzen wahrnehmen, be- stimmen nicht selten den Schulalltag von Lehrkraften. Insbesondere im Sportunterricht hau- fen sich Differenzerfahrungen, wenn ein geplanter Unterricht aufgrund von fehlendem Material oder beispielsweise einem defekten CD-Spieler nicht wie beabsichtigt umgesetzt werden kann. Daruber hinaus bestehen auch grundlegende Differenzen, welche sich beispielsweise dadurch ergeben, dass curriculare Forderungen nicht oder nur teilweise umgesetzt werden konnen (Balz & Neumann, 2007, S. 326). Diese Problematik der Differenz zwischen den An- spruchen und der vorgefundenen Wirklichkeit auf curricularer Ebene, spricht bereits Soll (1997) an. Er stellt fest, dass die Praktiker bemangeln, die in der Theorie entstandenen Forde- rungen seien in der Praxis nicht umzusetzen, wahrend die Theoretiker auf der anderen Seite negativ anmerken, dass die Praktiker an langst uberholten Gewohnheiten festhalten (Soll, 1997, S. 9). Dieses bruchige Theorie-Praxis-Verhaltnis zwischen der Wirklichkeit des Schul- sports und den Anspruchen der Fachdidaktik beziehungsweise der curricularen Vorgaben kann zwar nie ganzlich aufgelost werden, ist allerdings veranderbar (vgl. Balz & Neumann, 2005, S. 146).
Der Umgang mit diesen Differenzen ist von Lehrkraft zu Lehrkraft unterschiedlich. Kastrup (2009) hat in einer Studie untersucht, wie Sportlehrkrafte diese Differenzen wahrnehmen und wie sie damit umgehen. Es konnte gezeigt werden, dass sich Sportlehrkrafte, bezuglich des Umgangs mit diesen Differenzen, in drei Gruppen einordnen lassen. Diese drei Gruppen wer- den anhand der nachfolgenden Abbildung ubersichtsschaffend dargestellt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Formen des Umgangs mit Differenzen (in Anlehnung an Kastrup, 2009, S. 333).
Demnach gibt es Sportlehrkrafte, die Differenzen im Sportunterricht wahrnehmen, diese al- lerdings ausblenden und aushalten, da sie der Meinung sind, dass immer und grundsatzlich Differenzen zwischen Anspruchen und der unterrichtlichen Wirklichkeit bestehen und gegen einige Differenzen nichts auszurichten ist, selbst wenn sie es wollen wurden. Diese Sportlehr- krafte fuhlen sich durch die Differenzen allerdings nicht belastet, da sie diese ignorieren. Im Gegensatz dazu, gibt es Sportlehrkrafte, die diese Differenzen als Belastung wahrnehmen und sie abschaffen wollen. Sie finden allerdings oft keine Losung und resignieren deshalb. Die dritte Gruppe nimmt die Differenzen ebenfalls wahr und versucht nach Losungen zu suchen, um sie zu minimieren. Demnach beziehen sie beispielsweise Schuler in die Unterrichtsgestal- tung mit ein oder verandern eigenstandig auBere Bedingungen. Die Strategie, Differenzen zu ignorieren, wird aus schulsportlicher und sportpadagogischer Sicht als bedenklich eingestuft. Meist wird diese Strategie von alteren Lehrkraften verwendet, die kaum Anspruche an sich selbst stellen und deshalb auch keine Differenzen wahrnehmen (vgl. Kastrup, 2009, S. 332 f.). Festzuhalten ist, dass Sportlehrkrafte wahrend der Ausubung ihrer Lehrtatigkeit immer mit Differenzen konfrontiert werden. Wie sie diese Differenzen bewerten und inwiefern sie kon- struktiv mit ihnen umgehen, liegt an ihrer Einstellung. Insbesondere in Bezug auf die curricu- laren Vorgaben, sollte jede Sportlehrkraft mit Differenzen rechnen, die bei dem Versuch diese Vorgaben umzusetzen einerseits und der vorgefundenen unterrichtlichen Realitat anderer- seits, entstehen. Im nachfolgenden Kapitel wird der Begriff Leistung thematisch eingeordnet und beschrieben. Den Begriff Leistung zu Beginn der vorliegenden Arbeit zu klaren bezie- hungsweise zu definieren ist wichtig, da in der Handreichung zur Benotung im Fach Sport des Ofteren die Begriffe Schulerleistung und Leistungsbeurteilung zu finden sind.
2.4 Leistung im Schulsport
Der Begriff Leistung ist sehr eng mit unserem gesellschaftlichen Wertesystem verknupft und nimmt in unserer heutigen modernen industriellen Gesellschaft einen groBen Stellenwert ein (vgl. Paradies et al., 2018, S. 29). Im schulischen Kontext wird traditionell davon ausgegangen, dass ein Schuler, der nachweislich etwas gelernt hat, automatisch auch etwas geleistet hat, womit „alles, was [...] im schulischen Kontext als lernbar angesehen wird, bzw. fur das Lern- ziele formuliert werden konnen, grundsatzlich als Leistung definierbar [ist]“ (Anand, 2020, S. 25).
Nerowski (2018) hat Leistungen in der Schule als schulische Leistung versucht zu charakteri- sieren und dabei eine uberschaubare Anzahl an Kriterien identifiziert. Schulische Leistung ist demnach gekennzeichnet durch Aktivitat, Tatigkeit und Anstrengung der Schuler und ist eine zielgerichtete und absichtsvolle Handlung. Des Weiteren sind schulische Leistungen prinzipiell durch geeignete Aufgaben initiiert und gesteuert sowie an GutemaBstaben orientiert, damit eine Bewertung zuganglich gemacht werden kann (vgl. Nerowski, 2018, S. 230 ff.).
Die Autoren um Paradies (2018) beschreiben, dass sich im Kontext Schule im 19. Jahrhundert ein Leistungsbegriff gebildet hat, der sich an uberprufbarem Konnen und Wissen orientiert. Mit Hilfe von Leistungsuberprufungen durch Tests, Klassenarbeiten oder anderweitigen Pru- fungssituationen werden individuelle Leistungen bewertet beziehungsweise zensiert. Dem- nach ist die schulische Leistung durch nachweisbare Ergebnisse respektive Produkte, wie eine Turnchoreografie im Sportunterricht, gekennzeichnet und charakterisiert. Im Zuge der Reformpadagogik Anfang des 20. Jahrhunderts entsteht dagegen ein Leistungsbegriff, der sich ausgehend von der Chancenungleichheit der Schuler sowie fehlenden Kriterien und MaBsta- ben zur Leistungserfassung und -messung, mehr am jeweiligen Individuum orientiert und die individuellen Lern- und Entwicklungsmoglichkeiten der Schuler in den Vordergrund stellt. Heute wird versucht diese beiden Leistungsbegriffe zu verbinden, wobei sich folgende pada- gogische Dimensionen der Leistungsbewertung herauskristallisiert haben:
- Leistung ist nicht in Ganze feststellbar, da der Bewertende immer Normen und Schwer- punkte setzt.
- Um die eigene Leistungsfahigkeit realistisch einschatzen und Lernsituationen selbst- standig bewaltigen zu konnen, bedarf es nicht nur einer Fremdbeurteilung, sondern auch einer Selbstbeurteilung.
- Leistung ist subjektbezogen, da objektive und testtheoretische Messverfahren immer weniger die individuellen Leistungen messen, je mehr objektivierte Kriterien vorhan- den sind.
- Leistung ist in erheblichen MaBen prozessorientiert, da nicht nur das Produkt bewertet wird, sondern auch eine Beurteilung des Lern-Prozesses stattfinden sollte (vgl. Paradies et al., 2018, S. 31f).
Der letztgenannten padagogischen Dimension einer Leistungsbewertung schlieBen sich Balz und Kuhlmann (2003) an. Anhand ihrer Ausfuhrungen wird von Leisten gesprochen, „wenn wir die selbstverursachte Handlung einer Person mit ihren Leistungsvoraussetzungen und ihren Leistungsfortschritten uber einen Zeitraum betrachten. Dabei geht es um das Leisten als Pro- zess." (Balz & Kuhlmann, 2003, S. 194).
Es lasst sich resumieren, dass „der eng gefasste, auf das Endergebnis bezogene und mit test- theoretischen (Schein-)Vorgaben operierende Leistungsbegriff [...], um wesentliche Dimensi- onen erweitert werden [muss]" (Paradies et al., 2018, S. 33). Dies ist insbesondere dann inte- ressant, wenn bei der Auswertung und einer eventuellen Kritik bezuglich der Handreichung durch diese Dimensionen Ruckschlusse stattfinden. Auch padagogische Funktionen der Leis- tungsbewertung sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung, die allerdings erst in Kapitel 3.4 erortert werden.
Bei dem Versuch den Begriff Leistung sportthematisch zu definieren, wird man einer Fulle von unterschiedlichen Definitionen - je nach Fachdisziplin der Sportwissenschaft - gegenuberge- stellt. Demnach kann der Begriff Leistung zum Beispiel biomechanisch, sportmedizinisch, trai- ningswissenschaftlich, sportpsychologisch oder auch sportpadagogisch aufgefasst werden (vgl. Brautigam & Blotzheim, 2016, S. 179 f.).
In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff Leistung vornehmlich aus sportpadagogischer Sicht betrachtet, weshalb nachfolgend eine weitere Fokussierung diesbezuglich vorzunehmen ist. Allgemein kann schulische Leistung aus sportpadagogischer Sicht als ein Erfullen von Anforde- rungen verstanden werden (vgl. Scherler, 2000, S. 169). Erdmann (2008) konkretisiert dabei, dass unter der schulischen Leistung „das bewertete Ergebnis einer absichtsvollen Handlung [...], zu dessen Erbringen individuelle Fahigkeiten und Anstrengungen erforderlich waren" (Erdmann, 2008, S. 154), zu verstehen ist. Schlussfolgernd ist das Leisten und die Leistung, schulsportlich betrachtet, stets wertgebunden. Die Wertung am Ende der Handlung differen- ziert die Leistung von anderen absichtsvollen Handlungen, womit die Verabredung zu einem Mittagessen zwar eine absichtsvolle Handlung ware, allerdings keine Leistung (vgl. Funke-Wie- neke, 2003, S. 4).
Kuhlmann & Kurz (2013) nennen vier wesentliche Voraussetzungen, anhand derer eine Handlung als Leistung bestimmbar wird. Um diesbezuglich einen Uberblick zu erlangen und Hand- lungen als Leistungen verstehen und bewerten zu konnen, werden die vier Bedingungen nach- folgend dargestellt:
1. Eine Handlung wird zu einer Leistung, indem ein objektivierbares Ergebnis definiert wird. Dies bedeutete, dass das Ergebnis deutlich erkennbar sein muss.
2. Das Ergebnis wird auf ein Gutekriterium bezogen, unter dem sich die Leistung betrach- ten lasst.
3. Die Gute des Ergebnisses wird unter einer Bezugsnorm eingestuft, indem das Ergebnis mit einer bestehenden Norm oder mit Ergebnissen anderer verglichen wird.
4. Es wird angenommen, dass die Qualitat des Ergebnisses entscheidend von den Han- delnden verursacht wird, womit diese eine besondere „Ich-Bedeutsamkeit" erlangen.
Bei diesen kurzen Ausfuhrungen bleibt allerdings offen, wie und wann ein Ergebnis einer Handlung als Leistung geltend wird, welches Gutekriterium dabei eine Rolle spielt oder welche Bezugsnorm angewandt werden soll. Dies unterliegt immer den einzelnen Lehrkraften, wes- halb eine Bewertung einer erbrachten Leistung sehr subjektiv bleibt (vgl. Kuhlmann & Kurz (2013, S. 65 f.).
Wird von schulsportlicher Leistung gesprochen, ist es unabdingbar, diese von motorischer und sportlicher Leistung zu trennen und zu beschreiben, inwiefern diesbezuglich Unterschiede festzustellen sind. Die Unterscheidung dieser drei Leistungsarten wird in der nachfolgenden Abbildung verdeutlicht und anschieBend kurz erlautert:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die sportliche Leistung setzt die motorische Leistung unabdingbar voraus, weshalb in der obi- gen Darstellung die motorische Leistung als kleinster Bereich der sportlichen Leistung abge- bildet wird. Die sportliche Leistung unterscheidet sich dahingehend von der motorischen, als dass sie sowohl emotionale als auch kognitive und soziale Aspekte beinhaltet. Die schulsport- liche Leistung erschlieBt sich daruber hinaus aus dem Doppelauftrag des Schulsports2 und um- fasst eine personale, soziale und motorische Dimension. Unter der personalen Dimension sind beispielsweise die Selbststandigkeit, Lern- und Anstrengungsbereitschaft und Verantwortlich- keit zu verstehen. Die soziale Dimension kennzeichnet sich durch Kooperationsfahigkeit, Hilfs- bereitschaft, Fairplay und Toleranz, wohingegen die motorische Dimension konditionelle und koordinative Fahigkeiten, technisches, taktisches und gestalterisches Konnen abdeckt (vgl. Aschebrock & Pack, 2004, S. 15).
Zusammenfassend wird deutlich, dass im Sportunterricht, wie auch in jedem anderen Fach, Anforderungen an die Schuler gestellt werden. Diese Anforderungen fuhren dazu, dass die Schuler im Sportunterricht eine schulsportliche Leistung erbringen, wie immer diese auch zu bewerten sein mag. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit ist, bedingt durch die Ausfuhrungen von Aschebrock & Pack (2004), mit dem Begriff Leistung im schulsportlichen Kontext immer eine schulsportliche Leistung im Sinne der personalen, sozialen und motorischen Dimensionen ge- meint.
2.5 Fazit
In diesem Kapitel wurden die Begrifflichkeiten Anspruch, Wirklichkeit und Differenz definito- risch geklart und voneinander abgegrenzt. Dabei wurde expliziert, dass Anspruche im schuli- schen Kontext auf verschiedenen Anspruchsebenen basieren und immer als Forderung an Je- manden oder an Etwas gestellt werden. Dem gegenuber steht die schulsportliche Wirklichkeit, die anhand unterschiedlicher Wirklichkeitsfacetten (re)konstruiert werden kann. Mit Blick auf die Untersuchung in dieser Arbeit ist es das Ziel, die Differenzen, die sich aus den Anspruchen der Handreichung und den Wahrnehmungen sowie Deutungen dieser kultusministeriellen An- spruche seitens der Lehrkrafte eventuell ergeben, offen zu legen und sinnstiftend zu analysie- ren. Deshalb war es eminent zu klaren, was unter Differenzen und damit zusammenhangen- den Differenzerfahrungen zu verstehen ist. Da in dem nachsten GroBkapitel (insbesondere in Kapitel 3.8) immer wieder das Spannungsverhaltnis zwischen Anspruchen an die Lehrkrafte auf der einen Seite und der schulsportlichen Wirklichkeit auf der anderen Seite im Fokus steht, war eine vorlaufige Klarung dieser Begrifflichkeiten notwendig.
In Kapitel 2.4 wurden unterschiedliche Definitionen von schulischer Leistung dargelegt und festgestellt, dass „der eng gefasste, auf das Endergebnis bezogene und mit testtheoretischen (Schein-)Vorgaben operierende Leistungsbegriff [...] um wesentliche Dimensionen erweitert werden [muss]" (Paradies et al., 2018, S. 33). In diesem Zusammenhang ist noch zu erwahnen, dass jede Lehrkraft und auch jeder Schuler einen eigenen Leistungsbegriff ausbilden. Dies spie- gelt sich auch in der Fachliteratur wider, sodass eine Vielzahl an unterschiedlichen Leistungs- begriffen kursiert, es aber nicht die Leistung zu geben scheint (vgl. Kretschmann, 2009, S. 330). Nach der Klarung dieser Begrifflichkeiten und der Schlussfolgerung, dass schulische Leistungen immer sehr eng mit Bewertungen verknupft sind, stellt sich allerdings die Frage, wie aus der schulsportlichen Leistung eines Schulers eine Note entstehen kann und welche Problematiken damit verbunden sind. Dies wird in dem nachfolgendem GroBkapitel durch die Darstellung des Forschungs- und Diskussionsstandes zur Benotung im Sportunterricht beleuchtet.
3. Forschungs- und Diskussionsstand zur Benotung im Sportunterricht
Dieses GroBkapitel beschaftigt sich einleitend damit, den Diskussionsstand zur Benotung im Fach Sport nachzuzeichnen und Aspekte wie die Zusammensetzung der Sportnote, mogliche Beurteilungsbereiche, Bezugsnormen einer Leistungsbewertung, Funktionen der Sportnote und Probleme bei der Benotung im Sportunterricht darzustellen. Diesen Diskussionsstand auf- zuzeigen und die differenziert vertretenden Positionen der Fachliteratur zu thematisieren, ist insofern hilfreich und notwendig, um die geforderten Anspruche der Handreichung besser einordnen und Ergebnisse der Interviews sinnstiftender vergleichen und analysieren zu kon- nen. Um nicht einen zu unreflektierten Sprung von den eben definierten schulsportlichen Leis- tungen, hin zu den Aspekten einer Benotung vorzunehmen, wird anschlieBend dargelegt, wie aus einer schulischen Leistung eines Schulers, typischerweise eine Sportnote entsteht. Dies beschreibt Kretschmann (2009) ubersichtlich, indem er drei Stufen der Notenfindung unter- scheidet. Nachdem eine Anforderung an die Schuler gestellt wurde, diese anschlieBend eine zu bewertende Handlung ausfuhren und somit eine schulsportliche Leistung erbringen, folgen sukzessive die nachfolgenden Schritte.
1. Leistungsmessung/ -feststellung:
Leistungsmessung/ -feststellung bedeutet, dass ein Ergebnis einer Handlung qualifi- ziert oder quantifiziert wird und somit eine sachliche Bestandsaufnahme erfolgt, wo- bei entweder eine Zuordnung von Eigenschaften oder Handlungen zu bestimmten Kategorien (qualifiziert) oder eine Zuordnung von Zahlen zu den Handlungsweisen beziehungsweise -ergebnissen (quantifiziert) stattfindet (vgl. Brautigam, 2015, S. 204). Dabei mussen Leistungsmessungen fur Qualitatsnachweise bestimmte Gutekri- terien erfullen (vgl. Scherler, 2000, S. 172). Diese Gutekriterien werden in Kapitel 3.2.3 kritisch beleuchtet.
2. Leistungsbewertung:
Die Leistungsbewertung schreibt dem Ergebnis der Leistungsfeststellung einen Wert zu, womit eine bewertete Bestandsaufnahme erfolgt. Diese Bewertung kann nur er- folgen, wenn eine Bezugsnorm oder ein MaBstab zugrunde liegt. In dieser Phase steht noch keine Note fest (vgl. Brautigam, 2015, S. 206 f.). Auf die Bezugsnormen wird in Kapitel 3.5 gesondert eingegangen.
3. Leistungsbenotung:
Bei dem Schritt der Leistungsbenotung erfolgt eine Transformation der gemessenen und bewerteten Leistung in eine Zensur beziehungsweise in eine Ziffernote. Die Lehrkraft benotet beziehungsweise zensiert3 somit erst in diesem Schritt. Dabei sollen neben den Kenntnissen, Fahigkeiten und Fertigkeiten der Schuler auch padagogische Aspekte wie Einsatzbereitschaft, individueller Lernfortschritt und die Ubernahme von Sonderaufgaben berucksichtigt werden (vgl. Klinge, 2001, S. 106).
Kretschmann (2009) fuhrt an dieser Stelle kritisch an, dass zwischen Schritt zwei und drei in der Schulpraxis meist nicht trennscharf unterschieden wird. Daruber hinaus muss ein doppel- ter MaBstab angelegt werden, da zunachst ein wertender MaBstab (Schritt 2) erstellt wird und anschlieBend der nachste MaBstab bestimmt, wie zum Beispiel eine gute Leistung in die Zif- fern Eins oder Zwei transformiert wird. Dabei wird dilemmatisch angemerkt, dass Informatio- nen uber die eigentliche Leistung verloren gehen (vgl. Kretschmann, 2009, S. 331).
Mit den drei Schritten der Notengebung wurde skizziert, inwiefern eine Benotung im Sport- unterricht vollzogen werden kann. Daran anschlieBend wird im nachsten Kapitel aufgezeigt, wie sich die Sportnote zusammensetzen kann beziehungsweise welche differenzierten Mei- nungen diesbezuglich in der Fachliteratur kursieren. Die Eminenz dieses Kapitels begrundet sich dadurch, dass in der Handreichung eine Unterscheidung zwischen Verhaltensnote, Mitar- beitsnote und Fachnote getroffen wird. Was unter den einzelnen Unterscheidungen zu ver- stehen ist und inwiefern die Fachliteratur damit ubereinstimmt, wird binnen des nachfolgen- den Kapitels geklart.
3.1 Die Zusammensetzung der Sportnote
Bei der Zusammensetzung der Sportnote ist die Eigenart des Fachs Sport zu berucksichtigen, denn „die Besonderheit des Faches Sport machen u. a. die Vielfalt der padagogischen Mog- lichkeiten, Ziele und Perspektiven sowie die praktische Unbegrenztheit der Gegenstande aus" (Kloos et al., 2016, S. 50). Daraus resultiert, dass auch die Bewertung der schulsportlichen Leistung anhand unterschiedlichster Dimensionen gefordert und beurteilt werden sollte. Hier- bei ist es als Sportlehrkraft wichtig, nicht nur eine Dimension, wie beispielsweise die sportmo- torische Leistung, zu bewerten, denn dies wurde „eine Beschneidung der padagogischen Chancen und eine Verarmung des Fachs bedeuten" (Kloos et al., 2016, S. 50).
Vor 1937 setzte sich die Sportnote einzig aus der sportlichen Leistungsbewertung zusammen. Dies anderte sich 1937, indem in den Richtlinien fur die Leibeserziehung in Jungenschulen erstmals auch eine Personlichkeitsbeurteilung gefordert wurde. In dieser Zeit war das Ziel der Bewertungserweiterung durch Personlichkeitsbeurteilungen, die Jugend daraufhin zu prufen, inwieweit ihre personliche Haltung, ihre Disziplin oder ihr Kampfgeist ausgebildet waren. Diese Auswahl an Eigenschaften lasst unschwer das „rassistische, militaristische und antide- mokratische Erziehungsprogramm der Nationalsozialisten" (Peiffer, 1998, S. 118) erkennen. Trotz dieser negativen Gesinnung wurde mit dieser Hinzugabe einer Personlichkeitsbeurtei- lung der Grundstein fur eine padagogisch ausgerichtete Note gelegt. Dies verfestigte sich mit dem Beschluss des Kultusministeriums von 1952, in dem erstmals gefordert wurde, die Sportnote in drei unterschiedliche Bereiche zu teilen. Es wurde festgelegt, dass sich die Leis- tungsbewertung auf folgende drei Bereiche stutzen soll:
1. Auf die Leistungsvoraussetzungen (zum Beispiel Alter, GroBe, Gewicht).
2. Auf die Leistung, die in den Teilgebieten der Leibesubungen gezeigt wurden
3. und auf den Leistungswillen, der anhand der Mitarbeit der Schuler erkennbar war (vgl. Soll & Kern, 2005, S. 171 ff.).
Die Aufteilung der Leistungsbewertung in diese drei Bereiche wurde in der Fachliteratur unter anderem kritisch gesehen. Demnach kritisierten Soll und Kern (2005), dass es sehr schwer sein konne zwischen einer ehrlichen und vorgetauschten Mitarbeit zu unterscheiden, denn „sobald die Schuler wissen, dass der Lehrer bestimmte Verhaltensweisen mit und in der Note belohnt, sind sie gezwungen, diese zu zeigen oder notfalls auch einmal vorzutauschen" (Soll & Kern, 2005, S. 176).
Die sogenannte Leistungsfortschrittnote wird im Sportunterricht immer weniger gefordert. Soll (2011) ist dementsprechend der Meinung, dass eine Leistungsfortschrittsnote weder den leistungsstarkeren Schulern etwas nutzt, da Leistungsfortschritte immer schwieriger zu erzie- len sind, je hoher das Niveau ist, noch den Leistungsschwacheren, da diese in der Regel zu keinen Verbesserungen fahig sind. AuBerdem wurde eine Leistungsfortschrittnote eventuell dazu fuhren, dass Schuler zu Beginn einer Unterrichtseinheit absichtlich schlechtere Leistun- gen vortauschen (vgl. Soll, 2011, S. 170 f.).
Einigkeit besteht in der sportdidaktischen und sportpadagogischen Fachliteratur zunachst dar- uber, dass die sportmotorische Leistung in die Benotung miteinflieBen soll. Dies mag zwar selbstverstandlich und einleuchtend erscheinen, ist allerdings trotzdem festzuhalten, da es auch Kompetenzmodelle gibt, die deutlich kognitiver ausgerichtet sind. Hierbei wird meist in- tendiert „kognitive Fahigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse im eigenen sportlichen Bewe- gungshandeln auch umzusetzen [zu] konnen" (Gogoll, 2011, S. 49).
Ferner ist sich die Fachliteratur daruber einig, dass nicht nur die sportmotorische Leistung be- wertet werden soll. Welche weiteren Beurteilungsbereiche beziehungsweise Bewertungsdi- mensionen zur Zusammenstellung der Sportnote beitragen sollen ist nicht eindeutig geklart, da es diesbezuglich unterschiedliche Standpunkte gibt. Fur GroBing (2007) sind die Beurtei- lungsbereiche fur die Zusammensetzung der Sportnote die „Leistungsfahigkeit im motori- schen Tatigkeitsbereich, die subjektive Leistungsbereitschaft und die Mitarbeit im Unterricht" (GroBing, 2007, S. 268). Dabei merkt der Autor an, dass die Grundlage der Sportnote, die mo- torische Leistung darstellen soll und von dieser, unter Berucksichtigung der Mitarbeit und der konstitutionellen Voraussetzungen, abgewichen werden kann. Dabei soll jeder Faktor eine un- terschiedliche Gewichtung erfahren. GroBing (2007) spricht sich des Weiteren dafur aus, nicht an einem einheitlichen Schema fur die Notengebung in allen Schulstufen festzuhalten, da sich die Kriterien zur Festlegung der Sportnote in den verschiedenen Schulstufen und bei differen- zierten Formen des Sportunterrichts andern (vgl. GroBing, 2007, S. 266 f.). Auch Fetz (1996) sieht die sportliche Leistungsnote als Grundlage fur die Benotung im Sportunterricht. Die Mit- arbeit im Sportunterricht soll dabei so weit berucksichtigt werden, dass die Sportnote jeweils um eine Notenstufe nach oben oder unten von der Leistungsnote abweichen kann (vgl. Fetz, 1996, S. 287 ff.). Diese Ansicht vertreten mehrere Sportpadagogen, die sich mit dem Problem der Notengebung im Sportunterricht befasst haben (vgl. GroBing, 2007, S. 264).
Balz (2007) unterscheidet drei Bewertungsdimensionen bei der Zusammenstellung der Sportnote. Neben dem motorischen Bereich pladiert Balz (2007) fur einen kognitiven und sozial- affektiven Bereich. Der motorische Bereich soll dabei beispielsweise konditionelle Fahigkeiten oder Bewegungsleistungen abdecken, wobei anzumerken ist, dass Praxisdemonstrationen und Anwendungssituationen am Stundenende zur Uberprufung oftmals nicht ausreichend sind. Der kognitive Bereich soll bei der Zusammensetzung der Sportnote beachtet werden, indem beispielsweise kurze Bewegungsbeschreibungen oder eigenstandige Problemlosungen zu unterschiedlichen sportspezifischen Handlungsablaufen (wie zum Beispiel zur Raumde- ckung bei Mannschaftssportarten) mundlich eingeholt werden. Bei dem sozial-affektiven Be- reich werden die Schuler anhand ihrer Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Mitarbeit bewer- tet. Dabei bleibt allerdings festzuhalten, dass eine Operationalisierung und Uberprufung dieses Bereichs besonders schwierig zu sein scheint (vgl. Balz, 2007, S. 212).
Ahnlich pladiert auch Scheid (2012) fur eine Unterteilung der Sportnote in die Bewertungsdi- mensionen Leistungsfahigkeit, soziales Handeln und kognitive Leistungen. Unter Leistungsfa- higkeit im Bewegungshandeln versteht Scheid (2012) eine Bewertung beziehungsweise Be- rucksichtigung des Leistungszuwachses, der Leistungsbreite und der Leistungsbereitschaft. Wenn es um das Bewertungskriterium soziales Handeln geht, soll die Beteiligung und Mitwir- kung bei der Unterrichtsgestaltung relevant sein. Mit kognitiven Leistungen der Schuler sind beispielsweise sporttheoretische Kenntnisse und Diskussionsbeitrage gemeint (vgl. Scheid, 2012, S. 129). Um diese Vorschlage zur Zusammensetzung der Sportnote ubersichtlich darzu- stellen, folgt eine Abbildung, in der die unterschiedlichen Begrifflichkeiten der Autoren inhalt- lich sortiert werden. Dabei zeigen die vier Zeilen inhaltliche Uberschneidungen auf.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 1: Differente Zusammenstellungsmoglichkeiten der Sportnote (eigene Darstellung).
Die DSB-Sprint Studie (2006) hat Sportlehrkrafte zu Benotungskriterien im Sportunterricht be- fragt und es hat sich herausgestellt, dass die Mitarbeit und das Sozialverhalten zu den wich- tigsten Kriterien fur die Notengebung im Sportunterricht gehoren (vgl. DSB, S. 2006, S. 167). Zusammenfassend lasst sich festhalten, dass in diesem Themenfeld in der sportpadagogischen Fachliteratur unterschiedliche Begriffe und Meinungen kursieren, die allerdings inhaltliche Ahnlichkeiten aufweisen. Die Mitarbeit, das Verhalten sowie die praktischen Leistungen der Schuler werden folglich in allen dargelegten Ausfuhrungen auf unterschiedliche Weise inhalt- lich angesprochen. Es kristallisiert sich heraus, „dass das Fach Sport eine besondere, von der Theorie der Leibeserziehung ubernommene und in den amtlichen Erlassen der Bundeslander mehr oder weniger deutlich festgeschriebene, eigene Notentheorie, die sogenannte padago- gische Notengebung, verfolgt“ (Soll & Kern, 2005, S. 164). Dabei sollen nicht nur die sportmo- torischen und kognitiven Leistungen, sondern auch Mitarbeit und korperliche Voraussetzun- gen in die Sportnoten eingehen (vgl. Soll & Kern, 2005, S. 164).
In der Handreichung wird die Zusammensetzung und Bildung der Sportnote ebenfalls ahnlich dargelegt, indem die Fachnote, als eine Bewertung aller „vom Schuler im Zusammenhang mit dem Unterricht erbrachten Leistungen (schriftlich, mundlich und praktische Leistungen)“ (MfKJuS, 2019, S. 1), von der Verhaltensnote und der Mitarbeitsnote abgegrenzt wird. Die Verhaltensnote soll hierbei das allgemeine Benehmen und die Fahigkeit und Bereitschaft zur Zusammenarbeit bewerten, wohingegen die Mitarbeitsnote insbesondere den Arbeitswillen der Schuler bewerten soll (vgl. MfKJuS, 2019, S. 1). Wie Balz (2007) schon feststellt, ist eine Bewertung bezuglich der Mitarbeit allerdings sehr diffizil (vgl. Balz, 2007, S. 212). Doch worin bestehen Problematiken bei diesen Beurteilungsbereichen und inwiefern sind diese praktika- bel und umsetzbar fur den Sportunterricht? Diese Fragen werden im nachfolgenden Kapitel diskutiert.
3.2 Die praktische Umsetzung moglicher Beurteilungsbereiche
Mit Blick auf die Untersuchung dieser Arbeit, ist durch die gerade dargestellten Ausfuhrungen klar geworden, dass insbesondere bei der Forderung der Handreichung nach einer Mitarbeits- note, kritische Meinungen und unterschiedliche Modifikationen der Benotungspraxis und - prinzipien bei den zu interviewenden Lehrkraften zu Stande kommen konnen. Um vorab einen Uberblick zu erlangen, inwiefern die dargestellten Beurteilungsbereiche praktikabel sind, wird in diesem Kapitel das soziale Handeln beziehungsweise der sozial-affektive Bereich, die Leis- tungsbereitschaft, die sportmotorische Leistung und die kognitive Leistung hinsichtlich der Be- notungspraxis diskutiert. Die Fokussierung dieser Beurteilungsbereiche leitet sich dadurch ab, dass sich die Handreichung auf selbige stutzt. Das soziale Handeln wird mit der Verhaltens- note, die Leistungsbereitschaft mit der Mitarbeitsnote und die sportmotorische beziehungs- weise kognitive Leistung mit der Fachnote abgedeckt (vgl. MfKJuS, 2019, S.1). Um diese Schlussfolgerung anschaulich zu verdeutlichen, wird mit der folgenden Abbildung ein Ord- nungsversuch unternommen, welcher die Forderungen und Ausfuhrungen der Handreichung mit denen der Literatur vergleicht und aufeinander bezieht:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 2: Vergleich zwischen den Unterteilungen der Handreichung und denen der sportpadagogischen Fachliteratur (eigene Darstellung).
Des Weiteren ist anzumerken, dass die Mitarbeit im Unterricht und das Sozialverhalten der Schuler die groBte Bedeutung fur die Benotung im Sportunterricht darstellen. Dies ist den Er- gebnissen der Sprint-Studie (2006) zu entnehmen, bei der Sportlehrkrafte zu unterschiedli- chen Themen des Sportunterrichts befragt wurden. Der Kategorie Wissen und Kenntnisse, die dem kognitiven Bereich zugeschrieben wird, wurde die geringste Bedeutung fur die Sportnote beigemessen (vgl. DSB, 2006, S. 167).
AnschlieBend werden die Beurteilungsbereiche, die auch in der Handreichung gefordert wer- den, auf ihre praktische Umsetzung hin diskutiert und Problematiken diesbezuglich dargelegt. Wie in den vorangegangenen Ausfuhrungen beschrieben, werden dabei folgende Beurtei- lungsbereiche fokussiert: soziales Handeln, Leistungsbereitschaft und sportmotorische- sowie kognitive Leistung.
3.2.1 Die Bewertung des sozialen Handelns
Das soziale Handeln der Schuler spiegelt sich, wie in den obigen Ausfuhrungen beschrieben, in der Verhaltensnote der Handreichung wider. Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit soziales Handeln von der Lehrkraft bewertet werden kann. Wie bereits festgestellt wurde, ist eine Operationalisierung und Uberprufung dieses Bereichs besonders schwierig (vgl. Balz, 2007, S. 212). Schon Volkamer (1978) stellte fest, dass bei der Zensur sozialen Verhaltens Prob- leme auftreten. Da ein Merkmal wie das soziale Verhalten der Schuler nicht eindeutig definiert und operationalisiert werden kann, kann es auch nicht valide, objektiv und reliabel gemessen werden. Daruber hinaus ist davon auszugehen, dass die Lehrkraft in hohem MaB fur das Ver- halten der Schuler mitverantwortlich ist, da die Sportlehrkraft, mehr als in allen anderen Fa- chern, als ein Lernmodell fungiert und Verhaltensweisen der Lehrkraft ubernommen werden. Somit ist kaum gesichert festzustellen, inwieweit die Sportlehrkraft an den Verhaltensweisen der Schuler beteiligt ist (vgl. Volkamer, 1978, S. 53). Diese Meinung vertritt auch Gunzel (1975), indem er ausfuhrt: „Das Schulerverhalten als zu schatzende Leistung hangt auch von der padagogischen Leistung des Lehrers ab. Schulerversagen hat nicht selten seine Ursache im Lehrerversagen" (Gunzel, 1975, S. 94).
Des Weiteren stellt Soll (2011) fest, dass in der Bewertung des sozialen Verhaltens der Schuler eine ideologietrachtige Benotungsweise zu befurchten ist, „da bei der Mitbewertung von [...] Verhaltensweisen, die ja zu einem groBen Teil milieubedingte Sozialisationsprodukte sind, der Lehrer immer in der Gefahr ist, nach seiner Weltordnung zu urteilen und auf diese Weise un- zulassige Macht ausubt" (Soll, 2011, S. 169). Daruber hinaus ist das erste allgemeine Prinzip der Leistungsbewertung, welches Soll (2011) aufstellt, dass nur das bewertet werden darf, was im Unterricht behandelt und geubt worden ist (vgl. Soll, 2011, S. 171). Doch inwiefern kann eine Lehrkraft das soziale Verhalten eines Schulers dann noch beurteilen? Da das soziale Ver- halten, wie bereits in den Uberlegungen von Soll (2011) beschrieben, in erheblichen MaB auch von milieubedingten Sozialisationsprozessen abhangt, ist wohl kaum davon auszugehen, dass es ausschlieBlich im Sportunterricht behandelt und geubt worden ist.
Klieme, Artelt und Stanat (2014) beschreiben schulsportunabhangige Problematiken, wenn es darum geht, soziales Verhalten zu bewerten. Fur sie ist die soziale Kompetenz, welche Grund- lage fur eine gute Bewertung des sozialen Verhaltens ist, ein „facherubergreifender Kompe- tenzbereich, dem in der aktuellen Diskussion uber Schlusselqualifikationen ein hoher Stellen- wert beigemessen wird" (Klieme et al., 2014, S. 215). Daruber hinaus ist offensichtlich, dass die Schule fur die Entwicklung sozialer Kompetenzen eine eminente Rolle einnimmt. Doch die soziale Kompetenz lasst sich nicht einfach als ein Personlichkeitsmerkmal bewerten, denn sie ist „eine facettenreiche und vielschichtige Handlungskompetenz, die durch verschiedene Fa- higkeiten, Fertigkeiten, Wissensstrukturen, motivationale Tendenzen, Einstellungen, Prafe- renzen usw. bestimmt wird“ (Klieme et al., 2014, S. 215). Dadurch, dass die soziale Kompetenz nicht anhand eines universellen Indikators erfasst werden kann, ist eine Bewertung dieser Kompetenz auBerst diffizil (vgl. Klieme et al., 2014, S. 218).
Wenn man beachtet, dass die Verhaltensnote „sowohl das Betragen im Allgemeinen als auch die Fahigkeit und tatige Bereitschaft zur Zusammenarbeit“ (MfKJuS, 2019, S. 1) bewerten soll, so ist zu kritisieren, dass die unterschiedlichen Bewertungskriterien, die in dieser Definition zu finden sind, schwierig in einer Ziffernote zusammengefasst werden konnen. Bohl (2003) ver- weist auf Schwierigkeiten bezuglich der Verhaltensnote und fuhrt dazu an: „Im Dienste der Ziffernote wird das breite Kategorienspektrum zu einer Durchschnittsnote zusammenge- staucht und vereinheitlicht“ (Bohl, 2003, S. 555).
Trotz dieser Problematiken ist die Bewertung des sozialen Verhaltens der Schuler ein wichti- ges Bewertungskriterium fur den Sportunterricht und wird, wie in Kapitel 3.1 bereits darge- legt, im fachdidaktischen Diskurs gefordert. In dem nachsten Teilabschnitt steht die Bewer- tung der Leistungsbereitschaft im Fokus und wird pragnant bezuglich einiger Problematiken im Bewertungsprozess diskutiert.
3.2.2 Die Bewertung der Leistungsbereitschaft
In der Handreichung wird eine Beurteilung der Leistungsbereitschaft gefordert, indem unter der Mitarbeitsnote vor allem der Arbeitswillen bewertet werden soll, welcher „sich in Beitra- gen zu den selbststandig oder gemeinsam mit anderen zu losenden Aufgaben auBert“ (MfKJuS, 2019, S. 1). Doch auch bei einer Bewertung der Leistungsbereitschaft ergeben sich Problematiken bezuglich einer Notengebung im Sportunterricht, denn ob sich ein Schuler wirklich bemuht hat, ist kaum messbar festzustellen und bleibt sein Geheimnis (vgl. Funke- Wieneke, 2003, S. 5). Der Lehrkraft bleibt schlicht nichts anderes ubrig, als einem Schuler zu glauben, dass er sich bei einer Leibesubung angestrengt hat und somit einen Arbeitswillen aufbringt. Die Uberprufung dessen wird wohl kaum moglich sein. Dem schlieBt sich auch Scherler (2000) an, indem er es zwar als wunschenswert bezeichnet, dass Leistungen mit An- strengungen verbunden sind, er allerdings keine Moglichkeit fur die Sportlehrkrafte sieht, wie sie hinlanglich genau beurteilen und eventuell auch beweisen sollen, ob sich ein Schuler an- gestrengt beziehungsweise die individuelle Grenze des Moglichen erreicht hat (vgl. Scherler, 2000, S. 170).
Aschebrock und Pack (2004) fuhren dazu an, dass der Arbeitswillen der Schuler schulrechtlich betrachtet per se noch keine schulsportliche Leistung darstellt. Der Arbeitswillen ist allerdings die Voraussetzung fur schulische und somit auch schulsportliche Leistungen und ein destruktives und storendes Verhalten ist durchaus als Fehlleistung negativ zu bewerten. Dar- uber hinaus ist jedoch das Unterlassen von destruktiven und storenden Verhalten noch kein Grund eine gute Note geltend zu machen. Anders ist es, wenn ein Schuler im Sportunterricht eine Leistung erbringt, die von ihm nicht selbstverstandlich erwartet werden kann. Somit soll es nicht bei einem Lob der Lehrkraft bleiben, wenn ein Schuler beispielsweise eine spezifische Angst uberwindet, den beschwerlichen Kampf gegen das eigene Ubergewicht annimmt oder engagierten Einsatz bei korperlicher Behinderung zeigt. In Fallen wie diesen fordert Asche- brock und Pack (2004) eine Anerkennung in Form von Verbesserungen der Sportnote (vgl. Aschebrock & Pack, 2004, S. 78). Soll und Kern (2005) kritisieren diese Forderung allerdings, indem sie anmerken, dass Ubergewicht eine behandlungsdurftige Krankheit sei und eine Lehrkraft lieber dagegen vorgehen sollte, als eine Notengutschrift zu erteilen (vgl. Soll & Kern, 2005, S. 176). Eng verknupft mit der Leistungsbereitschaft, ist die daraus resultierende moto- rische Leistung. Inwieweit diesbezuglich Problematiken bei einem Benotungsprozess festzu- stellen sind, wird im nachsten Kapitel umrissen.
3.2.3 Die Bewertung motorischer Leistung
Mit dem Ziel, Einfluss auf die Entwicklung der motorischen Leistung von Schulern zu nehmen, wird aus sportwissenschaftlicher Sicht die motorische Leistung zu einem bedeutenden Inhalt des Sportunterrichts erklart (vgl. Seiler, 2019, S. 40). Doch inwiefern kann diese motorische Leistung von Sportlehrkraften beurteilt werden?
Ein klarer Kritikpunkt in Bezug auf die Bewertung motorischer Leistungen im Sportunterricht, ist die Subjektivitat der Sportnote. Dem Anspruch den Gutekriterien Objektivitat, Reliabilitat und Validitat zu genugen, kann die Schulnote nicht standhalten, da das Erfullen von Gutekri- terien der allgemeinen Testtheorie fur die Schulpraxis nicht erreichbar ist. Dies zeigen zahlrei- che Studien (vgl. Winter, 2012, S. 91). Zur Erfassung und Benotung von Leistungen in der Schule gilt allerdings die Objektivitat von Noten als ein Basiskriterium, denn Lehrkrafte mussen stets bemuht sein, Leistungen so objektiv wie moglich festzustellen. Objektivitat bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Messergebnisse bei einer Leistungsbeurteilung unabhangig von der beurteilenden Person sein sollen und unterschiedliche Personen bei der derselben Messung dasselbe Ergebnis erhalten (vgl. Ingenkamp, 1995, S. 22). Die Reliabilitat beschreibt die Zuverlassigkeit einer Messung hinsichtlich ihrer Sicherheit und Exaktheit, wohingegen die Validitat Aussagen uber die Gultigkeit der Messung macht (vgl. Jurgens, 2010, S. 76 f.). Fur Ingenkamp (1994) ist die Validitat das wichtigste Gutekriterium, „fur das die vorhergenannten eigentlich nur die Voraussetzung schaffen" (Ingenkamp, 1994, S. 769).
Speziell fur die Sportnote hat Volkammer (1978) gezeigt, dass insbesondere die Objektivitat und Reliabilitat bei der Bewertung von motorischen Leistungen als so niedrig einzuschatzen sind, dass sie eher einen Ruckschluss auf den Lehrer als auf die Leistungen des Schulers zulas- sen, weshalb sie als Grundlage fur die Zensur im Sportunterricht vollig untauglich sind (vgl. Volkammer, 1978, S. 48). Da allerdings die Gerechtigkeit eines der grundlegendsten Unter- richtsprinzipien ist, sollen die Lehrkrafte eine moglichst objektive Leistungsbewertung vorneh- men. Denn nur aus einer objektiven Leistungsbewertung kann auch eine gerechte Notengebung resultieren (vgl. GroBing, 2007, S. 256). Es ist demnach festzuhalten, dass eine Sportnote auf der einen Seite zwar moglichst objektiv vergeben werden soll, auf der anderen Seite je- doch nicht den testtheoretischen Gutekriterien standhalten kann. Das „Ziel schulsportlichen Leistungsbewertung kann [es demnach] nur sein, die unkontrollierte Subjektivitat zugunsten einer kontrollierten und transparenten Leistungsbewertung moglichst weit zuruckzudrangen“ (Paradies et al., 2018, S. 42).
Ein weiterer Kritikpunkt zeigt sich in der oftmals fehlenden Inhaltsvielfalt des Fachs Sport. Brodtmann (1996) konstatiert, dass die Auswahl der Inhalte im Sportunterricht eine enorme Auswirkung auf die Ziffernote hat. Demnach stellt eine fehlende Inhaltsvielfalt im Sportunter- richt eine Ungerechtigkeit dar, da Schuler, die beispielweise hervorragende sportmotorische Leistungen in der Sportart Schwimmen darbieten, in einem Schuljahr, in dem hauptsachlich Ballsportarten unterrichtet werden, eventuell deutlich schlechtere sportmotorische Leistun- gen erbringen konnen. Insbesondere die Bereiche Gymnastik und Tanz wurden laut Brodt- mann (1996) trotz Lehrplanvorgaben haufig nicht genugend Beachtung in der Auswahl der Unterrichtsinhalte erfahren (vgl. Brodtmann, 1996, S. 61).
Des Weiteren sieht Brautigam (2015) eine Gefahr darin, dass sich die thematische Ausrichtung des Sportunterrichts weitgehend an vermeintlich leicht zu messenden Themenfeldern orien- tiert, bei denen es beispielsweise um das Erreichen einer bestimmten Weite, Hohe oder Tref- feranzahl geht, womit es der Lehrkraft leichter fallen konnte, die motorische Leistung der Schuler zu bestimmen (vgl. Brautigam, 2015, S. 205 f.). Wie Theis (2010) belegt, wunschen sich auch Schuler selbst eine groBere inhaltliche Vielfalt im Sportunterricht und „mehr Leistungs- kontrollen in unterschiedlichen Sportarten, damit das Leistungsvermogen [..] nicht nur in einer Sportart festgestellt wird. Durch die vielfaltigen Bewertungen soll eine gerechtere Sportnote zustande kommen“ (Theis, 2010, S. 231).
In der Handreichung wird die motorische Leistung durch die Fachnote abgedeckt. Die Fach- note soll demnach alle praktischen Leistungen im Unterrichtsfach bewerten. Doch neben praktischen Leistungen wird ebenfalls gefordert schriftliche und mundliche Leistungen in die Fachnote miteinflieBen zu lassen (vgl. MfKJuS, 2019, S. 1). Diese mundlichen und schriftlichen Leistungen werden im Sinne der kognitiven Leistungen (siehe Tab. 2) im nachsten Teilab- schnitt beleuchtet.
3.2.4 Die Bewertung kognitiver Leistung
Es ist unbestritten, dass sportliche Leistungen eine erhebliche kognitive Komponente aufwei- sen und deshalb auch im Sportunterricht eine explizite Berucksichtigung erfahren sollen (vgl. Soll, 2011, S. 171). Fragen der Sportlehrkraft oder der Schuler sind als theoretische Lernphasen im Unterricht aufzufassen. Doch nicht nur traditionelle Fragen im Unterricht wie beispiels- weise „Wie wird der Ball gefasst und warum?“ oder „Kann ich durch sportliche Tatigkeiten mein Gewicht reduzieren?“, sind der kognitiven Dimension des Sportunterrichts zuzuschrei- ben. Durch den Einsatz von Medien konnen Informationen zum Lernprozess beigefugt werden und dabei helfen, sportspezifisches oder gesundheitsrelevantes Fachwissen zu erweitern. Dar- uber hinaus werden in didaktischen Konzepten, wie dem des mehrperspektivischen Sportun- terrichts oder des offenen Sportunterrichts, kognitive Lernphasen vorausgesetzt (vgl. Groth, 2007, S. 169 f.). Somit wird „das Machen bewusst machen, sich der eigenen Sportpraxis auch reflexiv zu vergewissern, [...] zum methodischen Prinzip" (Groth, 2007, S. 170). Dabei ist aller- dings zu beachten, die Bewegungszeit im Sportunterricht nicht zu weit zu reduzieren. Neumann (2006) konstatiert, dass „die curricular offenbar notwendig gewordene Ausweitung der Reflexionszeit [...], die ohnehin schon knapp gewordene Bewegungszeit im Sportunterricht [bedroht]" (Neumann, 2006, S. 54).
Bei der DSB-Sprint-Studie wurde gezeigt, dass die befragten Lehrkrafte das Kriterium Entspan- nung und Ausgleich zu anderen Fachern schaffen, als ein wichtiges Ziel des Sportunterrichts sehen. Somit ergibt sich auch hier eine Kritik an einem kognitiv orientierten Sportunterricht, da „dem Sportunterricht eine Kompensationsfunktion gegenuber den Belastungen durch die anderen Schulfacher zugeschrieben wird" (DSB, 2006, S. 165) und somit der Sportunterricht durch die Pramisse Hauptsache Bewegung kognitiv ausgerichteten Sportunterricht marginali- siert.
Insgesamt ist festzuhalten, dass die unterschiedlichen Beurteilungsbereiche soziales Handeln, Leistungsbereitschaft, sportmotorische Leistung und kognitive Leistung bei der Umsetzung der Benotungspraxis fur Sportlehrkrafte problematisch werden konnen. Dies ist eine wichtige Erkenntnis und muss beachtet werden, wenn es darum geht, die in dieser Arbeit durchgefuhr- ten Lehrerinterviews auszuwerten. Es hilft dabei, die Wahrnehmung der kultusministeriellen Anspruche an eine Benotung im Sportunterricht und die Deutungen derer, mit Blick auf even- tuelle Modifikationen der eigenen Benotungspraxis der Lehrkrafte, mit den dargelegten Prob- lemen zu vergleichen. Es zeigt sich, dass eine Sportnote, die aus den aufgefuhrten Beurtei- lungsbereichen besteht, einen enormen Komplexitatsgrad aufweist und keineswegs einfach zu erteilen ist. Daruber hinaus mussen wahrend des Prozesses der Leistungsbewertung, Be- zugsnormen angewandt werden, die unerlasslich fur die Notenfindung im Schulsport sind (vgl. Kretschmann, 2009, S. 331). Im folgenden Kapitel wird daher naher auf Bezugsnormen wah- rend des Schritts der Leitungsbewertung eingegangen und damit einhergehende Probleme thematisiert.
3.3 Bezugsnormen einer Leistungsbewertung
Eine Bewertung einer Schulerleistung kann nur erfolgen, wenn eine Bezugsnorm oder ein MaBstab zugrunde gelegt wird. Da unterschiedliche MaBstabe die Leistung der einzelnen Schuler pragen und daruber entscheiden, ob eine Leistung gut oder schlecht ist, sind sie als normative Grundlagen fur die Bewertung von Schulerleistungen zu verstehen (vgl. Paradies et al., 2018, S. 35). Brautigam (2015) unterscheidet dabei drei verschiedene Bezugsnormen, wel- che zur Leistungsbewertung herangezogen werden konnen. Die soziale, individuelle und kri- teriumsorientierte Bezugsnorm (vgl. Brautigam, 2015, S. 206). Die Begriffe Bezugsnorm und Mafistab sind aquivalent zu gebrauchen und werden als „Standard, mit dem ein Resultat ver- glichen wird, wenn man es als Leistung wahrnehmen und bewerten will" (Rheinberg, 2018, S. 56), definiert. Nachfolgend werden die drei unterschiedlichen Bezugsnormen kurz beschrie- ben und anschlieBend auf mogliche Probleme eingegangen.
Die soziale Bezugsnorm:
Bei der sozialen Bezugsnorm wird die Lernleistung der einzelnen Schuler mit den Leistungen der Klasse verglichen. Dabei werden die Schuler „entsprechend ihrer erreichten Punktzahl bei der Uberprufung in einer Rangreihe geordnet. Die Zuordnung von Noten zu einzelnen Punkten erfolgt dann in Anlehnung an die GauB'sche Normalverteilung" (Paradies et al., 2018, S. 37). Sportlehrer sind zwar zumeist in der Lage, die einzelnen Schuler einer Klasse nach ihren Un- terrichtsleistungen in eine Rangfolge einzuordnen, neigen allerdings dazu, im Zuge dessen zu- nachst einen Leistungsdurchschnitt zu errechnen und dann die abweichenden Leistungen, da- von ausgehend, in besser und schlechter einzuteilen. Dabei ergibt sich das Problem, dass die Bestimmung des Durchschnittswerts ausschlieBlich von der jeweiligen Klasse abhangt und so- mit einheitliche Anforderungen nur teilweise berucksichtigt werden konnen, da kein Vergleich mit anderen Lerngruppen erfolgt. Des Weiteren werden die Abstande der Schulerleistungen zum errechneten Durchschnittswert willkurlich festgelegt, was dazu fuhrt, dass die Notengebung eine unzulassige Zufalligkeit erlangt (vgl. Brautigam, 2015, S. 206). Das Team um Paradies (2018) sehen in dieser Form der Bewertung die Problematik, dass die Zusammensetzung einer Schulklasse nur eine zufallige Testgruppe darstellt und deshalb nicht fur standardisierte Tests geeignet ist (vgl. Paradies et al., 2018, S. 37).
Eine weitere Problematik der sozialen Bezugsnorm sieht Saldern (2011) darin, dass die Leis- tung, die im Vergleich zu den Mitschulern bewertet wird, nicht die tatsachliche Leistung ab- bildet. Demnach kann die Bewertung einer durchschnittlichen Leistung in einer Klasse, trotz gleicher Leistung, in einer anderen Klasse stark variieren, da sie dort mit den Leistungen an- derer Schuler verglichen wird (vgl. Saldern, 2011, S. 97). Die eigentliche Leistung der Schuler spielt bei dieser Bewertungsform demnach nur eine untergeordnete Rolle, da primar beachtet wird, wie ein Schuler im Vergleich zu den Mitschulern abgeschnitten hat (vgl. Lerche, 2014, S. 103). Dieser Vergleich mit den Mitschulern, respektive die Anwendung der sozialen Bezugsnorm, zieht allerdings insbesondere bei schwacheren Schulern, die Jahre lang mit schu- lischen Misserfolgserlebnissen zu kampfen haben, negative Auswirkungen nach sich (vgl. Bohl, 2009, S. 64).
Als Reaktion auf die Problematiken, die mit der sozialen Bezugsnorm einhergehen, hat sich Vierlinger (1999) dafur ausgesprochen, die soziale Bezugsnorm als kollektive Norm zu bezeich- nen, damit der positiv besetzte Begriff „sozial“ keine falschen Assoziationen weckt (vgl. Vier- linger, 1999, S. 80).
Die kriteriumsorientierte Bezugsnorm:
Bei der kriteriumsorientierten Bezugsnorm werden die Schulerleistungen mit den Lernzielen einer Unterrichtseinheit verglichen. Dabei geben die Kriterien und Anforderungen der Unter- richtsthemen einer Unterrichtseinheit, Ruckmeldung uber den Erfolg oder Misserfolg der Schuler und daruber hinaus Aufschluss uber den allgemeinen Unterrichtserfolg. Eine Schwie- rigkeit der kriteriumsorientierten Bezugsnorm besteht darin, dass die Schulerleistungen meist nicht eindeutig den einzelnen Kriterien zugeordnet werden konnen. Demnach bleibt oft un- gewiss, welche Leistung welches Kriterium erfullt und welche nicht. Es mussen somit abge- stufte Bewertungen vorgenommen werden, um eine aussagekraftige Benotung zu initiieren. Schlussfolgernd werden in der Unterrichtsrealitat der einzelnen Sportlehrkraft die Bewer- tungsvorgange subjektiv ausfallen, da nicht nur eine inhaltliche Vermischung einzelner Krite- rien zustande kommen kann, sondern Schulerleistungen nicht eindeutig einzelnen Kriterien zugeordnet werden konnen (vgl. Brautigam, 2015, S. 207). Des Weiteren fuhrt die Anwendung einer kriteriumsorientierten Bezugsnorm zu „Ja-nein-Entscheidungen, die fur informelle Lern- kontrollen zwar bestens geeignet sind, sich im Einzelfall aber gar nicht und im Bundel nur sehr schwer in eine gleitende Notenskala umsetzen lassen“ (Soll, 2011, S. 169).
Paradies und Kollegen (2018) fuhren dazu an, dass bei einer kriteriumsorientierten Bezugs- norm die Kriterien und Normen, nach denen bewertet werden soll, auch aus sozialen oder methodischen Lernfeldern definiert werden konnen. Problematisch sehen sie allerdings eine fehlende Routine der Lehrkrafte bezuglich der Messung und Bewertung solcher Kriterien. Ins- besondere die klare Beschreibung der Leistung und deren kriteriengeleitete Erfassung fallt den Lehrkraften oft noch schwer (vgl. Paradies et al., 2018, S. 36). Die Handreichung fordert eine Bewertung der Schulerleistungen prozessual und/oder am Ende einer Unterrichtseinheit anhand von maBgebenden Kriterien . Es fehlt allerdings der Hinweis, was genau mit maBge- benden Kriterien gemeint ist (vgl. MfKJuS, 2019, S. 1). Doch wie ist es dann fur die Sportlehr- krafte moglich, eine klare Beschreibung der Leistung und deren kriteriengeleitete Erfassung durchzufuhren? Eine Annaherung an diese Frage erfolgt in Kapitel 6.1.1.
Die individuelle Bezugsnorm:
Bei der individuellen Bezugsnorm werden festgestellte Leistungen mit fruheren Leistungen eines Schulers verglichen. Dabei bezieht sich der Vergleich nur auf die aktuellen und fruheren Leistungen eines Einzelnen. Es findet demnach kein Vergleich zu anderen Schulern statt. Der individuelle Lernfortschritt steht dabei im Mittelpunkt der Bewertungspraxis. Die Differenz, die sich aus den ursprunglichen Eingangsvoraussetzungen und den Endleistungen ermitteln lasst, wird fur die Bewertung festgestellt und soll dem Schuler als Ruckmeldung dienen, die personliche Entwicklung seines Lernfortschritts zu erfassen (vgl. Brautigam, 2015, S. 206). Voll- zieht man eine Bewertung unter Berucksichtigung der individuellen Bezugsnorm, kann ein Schuler in seinem Lernverhalten bestatigt und individuell gefordert werden (vgl. Paradies et al., 2018, S. 35). Die Autoren um Paradies (2018) pladieren im Zuge dessen fur eine Beurteilung in Form von mundlichen Ruckmeldungen oder fur Lernentwicklungsberichte (vgl. Paradies et al., 2018, S. 35). Scherler (2000) schlieBt sich dem an und beschreibt die Note des Sportunter- richts, die sich auf eine individuelle Bezugsnorm stutzt, als Leistungsfortschrittsnote. Sie ent- spricht einem unterrichtlichen Lob, das insbesondere die subjektiven Leistungsvoraussetzun- gen eines Schulers berucksichtigt (Scherler, 2000, S. 175).
Durch die Berucksichtigung der individuellen Bezugsnorm bietet sich die Chance, korperlich benachteiligten Schulern gerecht zu werden, da die Bewertung der schulsportlichen Leistung dann mehr von ihrem personlichen Leistungsfortschritt abhangt. Da sich Schuler allerdings haufig an den Leistungen der Mitschuler orientieren, wird die fehlende Anerkennung dieser Bezugsnorm nicht selten von den Schulern selbst kolportiert (vgl. Brautigam, 2015, S. 207). Die Handreichung spricht sich klar gegen eine individuelle Bezugsnorm aus: „Eine individuelle Bezugsnorm, z.B. durch die Einbeziehung der Lernvoraussetzungen, ist rechtlich nicht mog- lich“ (MfKJuS, 2019, S. 1). Demnach ergibt sich an dieser Stelle ein Widerspruch zwischen den kultusministeriellen Anspruchen von Baden-Wurttemberg und einigen Forderungen der sportpadagogischen Fachliteratur, denn „aus padagogischen Grunden ware eine individuelle Bezugsnorm sicher wunschenswert [...] und ergibt sich fast zwangslaufig: Uber einen erwei- terten Lernbegriff und einen padagogischen Leistungsbegriff treten individuelle Starken eher hervor und erfordern weiterfuhrende Begleitung“ (Bohl, 2009, S. 64). Lerche (2014) geht sogar noch einen Schritt weiter und fordert, dass aus padagogischer Sicht und mit Blick auf den For- dergedanken, unter keinen Umstanden auf die individuelle Bezugsnorm im Prozess der Notengebung verzichtet werden darf (vgl. Lerche, 2014, S. 106). Soll (2011) hingegen merkt an, dass eine Relativierung der Sportnote durch die individuelle Bezugsnorm nicht dazu fuhren darf, die tatsachliche Leistungsreihenfolge einer Klasse auf den Kopf zu stellen. Ein Schuler mit einer offensichtlich deutlich besseren erbrachten motorischen Leistung darf somit nicht schlechter benotet werden, als ein Schuler, der eine schlechtere motorische Leistung erbracht hat, nur weil dieser sich eventuell mehr gesteigert oder angestrengt hat (vgl. Soll, 2011, S. 169). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die individuelle Bezugsnorm zwar padagogisch befurwortet, praktisch aber selten in der Ziffernote mitberucksichtigt wird und nach den kul- tusministeriellen Forderungen auszuschlieBen ist.
AbschlieBend ist bezuglich aller Bezugsnormen auszumachen, dass ein erzieltes Resultat erst durch leistungsthematische Bezugssysteme als Leistung in Erscheinung treten kann und es in erheblichem MaB darauf ankommt, welches Bezugssystem eine Lehrperson wahlt. Denn durch die Anwendung der verschiedenen Bezugssysteme entstehen meist unterschiedliche Leistungen (vgl. Rheinberg, 2018, S. 57). Auch wenn verschiedene Bezugsnormen bei einer Leistungsbewertung beachtet werden konnen, gibt es meist eine Bezugsnorm, die im Vorder- grund der Leistungsbewertung steht. Es sind zwar alle Kombinationen zwischen individueller, kriteriumsorientierter und sozialer Bezugsnorm moglich, allerdings nicht gleich wunschens- wert: „Weniger gunstig ist die Kombination von sozialer und sachlicher4 („Wer ist dem Lernziel am nachsten?“) oder sozialer und individueller Bezugsnorm („Wer hat sich im Vergleich zu den Mitschulern am meisten verbessert?“)“ (Rheinberg & Krug, 2017, S. 52). Die Kombination von individueller und sachlicher Bezugsnorm wird von Jurgens (2010) praferiert. Er ist der Mei- nung, dass sowohl die soziale als auch die individuelle Bezugsnorm einen blinden Fleck auf- weisen, da beide Bezugsnormen keine gesicherte Aussage daruber treffen konnen, ob ein Schuler einer Klasse mehr oder weniger kann, als das, was durch den Lehrplan vorgegeben ist. Der Gebrauch der sachlichen Bezugsnorm sei imminent, weil dieser die notige Klarheit schaf- fen wurde. Da jedoch aufgrund unterschiedlicher Eingangsvoraussetzungen und einer hetero- genen Schulerschaft unterschiedliche Lernstande bestehen, „wurde eine durchgangige An- wendung von fur alle [...] Schuler gleichermaBen geltende sachliche Bezugsnorm keinen Lern- und somit auch keinen Leistungs-Sinn machen“ (Jurgens, 2010, S. 53). Durch die Hinzunahme der individuellen Bezugsnorm konnten stattdessen zieldifferente Anforderungen gestellt wer- den und die Zufriedenheit der Schuler mit der eigenen Leistung wurde sich moglicherweise erhohen. Nicht nur aus Sicht der unterrichtlichen Qualitatssicherung, sondern auch wegen in- dividuellen Gesichtspunkten der Motivation und Leistungsruckmeldung, sei die Kombination aus individueller und sachlicher Bezugsnorm zu empfehlen (vgl. Jurgens, 2010, S. 53).
Die Forschungsgruppe um Paradies (2018) pladiert dafur, die individuelle Bezugsnorm und die soziale Bezugsnorm, sowohl bei der Messung als auch bei der Form der Beurteilung, deutlich voneinander zu trennen. Des Weiteren wird sich dafur ausgesprochen, alle Bezugsnormen zu berucksichtigen, auch wenn das in der Praxis oft schwer umzusetzen ist (vgl. Paradies et al., 2018, S. 37). Es ist also - folgt man der einschlagigen Fachliteratur - wichtig, auch die indivi- duelle Bezugsnorm bei der Notengebung zu berucksichtigen und es stellt sich die Frage, weshalb die kultusministeriellen Forderungen von Baden-Wurttemberg dies in der Handrei- chung negieren. Daruber hinaus verscharfen Vergleichsstudien wie beispielsweise die PISA- Studie die Orientierung an einer kriteriumsorientierten Norm, womit immer weniger Spiel- raum fur eine individuelle Bezugsnorm besteht. Diese komplexe Situation, in der sich Lehr- krafte befinden, manifestiert sich in dem immanent zugrundeliegenden Dilemma zwischen Fordern und Selegieren (vgl. Grunder et al., 2010, S. 305).
Dieses Dilemma besteht auch im Zusammenhang mit der Notengebung, indem die Ziele und Absichten einer Leistungsbewertung in der Schule - dargestellt durch die Funktionen schuli- scher Leistungsbewertung - teilweise widerspruchlich sind. Es herrscht ein Spannungsverhalt- nis der Schule als eine gesellschaftliche und padagogische Institution. Schule als gesellschaft- liche Institution soll Zugangsberechtigungen und Abschlusszeugnisse erteilen, wohingegen Schule als padagogische Institution dabei helfen soll, die Schuler in ihrer Personlichkeitsent- faltung zu fordern (vgl. Jurgens, 2010, S. 56). Auf die Funktionen der Leistungsbewertung wird nachfolgend eingegangen. Dabei werden Probleme dieser Funktionen in Bezug auf die Sportnote fokussierend thematisiert.
3.4 Funktionen der Sportnote
Initial sei erwahnt, dass die Notwendigkeit und Berechtigung der Notenvergabe in der Schule grundlegend auf den Funktionen einer Notengebung basiert. Dies gilt nicht nur fur den Sport- unterricht, sondern auch fur alle anderen Facher. Ware die Schule nur fur den Schuler als ein- zelnes Individuum verantwortlich, so wurde die Notengebung obsolet werden. Die Schule musste sich nur noch daran orientieren, den einzelnen Schuler zu unterrichten und konnte Funktionen, die durch die Schule als gesellschaftliche Institution hinzukommen, vernachlassi- gen. Dadurch, dass die Schule allerdings nicht nur eine padagogische, sondern auch eine ge- sellschaftliche Institution darstellt, entstehen weitere Funktionen. Demnach muss die Sportlehrkraft, wie jeder andere Fachlehrer auch, gleichzeitig zwei unterschiedlichen Erwartungen und Anspruchen nachkommen. Auf der einen Seite soll er jeden einzelnen Schuler anhand seiner individuellen Voraussetzungen entsprechend fordern und auf der anderen Seite als Re- prasentant der Institution Schule durch Zensuren und Zeugnisse selektieren. Es entsteht also eine Doppelrolle der Sportlehrkraft, die sich zwischen Helfer und Richter aufspannt und derer sich jeder Sportlehrer bewusst sein sollte (vgl. Brautigam, 2015, S. 208).
Im Laufe des letzten Jahrhunderts entstanden in der padagogischen Fachliteratur unterschied- liche und teilweise widerspruchliche Funktionen in Bezug auf die Benotung von Schulern. Diese Fulle von Funktionen fasst Jurgens (2010) umfassend zusammen, weshalb auf eine Dar- stellung aller unterschiedlichen Auffassungen verzichtet wird. Es lasst sich zusammenfassen, „dass den zum Teil erstaunlich vielfaltigen und ausdifferenzierten Funktionen der Notengebung im GroBen und Ganzen vergleichbare Zielsetzungen zugrunde gelegt werden" (Jurgens, 2010, S. 65). Um einen groben Uberblick bezuglich der verschiedenen Funktionen zu erlangen, werden nachfolgend die zehn Funktionen von Ziffernoten nach Zielinski (1975) zusammenge- fasst.
1. Die Ruckmeldefunktion fur Lehrkrafte, womit der Erfolg des Unterrichts durch die Zif- fernote abgelesen werden kann.
2. Die Ruckmeldefunktion fur Schuler, wodurch jeder Schuler seine Leistungen mit denen der anderen Schuler vergleichen kann.
3. Die Berichtsfunktion, mit deren Hilfe die Eltern den Leistungsstand des Kindes erfahren konnen.
4. Die Anreizfunktion, wodurch die Schuler motiviert werden sollen.
5. Die Disziplinierungsfunktion, durch die Schuler eine Bestrafung erfahren sollen, die dazu fuhren soll, sich mit dem dargebotenen Lernstoff zu beschaftigen.
6. Die Sozialisationsfunktion, wodurch sich Schuler mit den Leistungsnormen der Schule auseinandersetzen mussen, welche sich von denen des Elternhauses unterscheiden konnen.
7. Die Klassifizierungsfunktion, womit die Schuler in unterschiedliche Bewertungsklassen eingeteilt werden, die dann die Grundlage fur Forderungs- und SelektionsmaBnahmen bilden.
8. Die Selektionsfunktion, mit deren Hilfe Schuler ihren Leistungen entsprechend passen- den Institutionen zugefuhrt werden konnen.
9. Die Zuteilungsfunktion, durch welche Berechtigungen fur den sozialen Aufstieg ausge- sprochen oder verwehrt werden.
10. Die Chancengleichheitsfunktion, wobei insbesondere benachteiligte Schuler, im Ver- haltnis zu ihren objektiv erbrachten Leistungen, bessere Noten erhalten konnen (vgl. Zielinski, 1975, S. 881 f.).
Um diese sehr ausfuhrliche Liste an Funktionen fur die Notengebung zu komprimieren und dadurch anschaulich greifbar zu machen, wird nachfolgend auf die drei Funktionen der Notengebung, die Brautigam (2015) erwahnt, eingegangen. Er unterscheidet lediglich die Mittei- lungsfunktion von der Anreiz- und Disziplinierungsfunktion sowie der Sozialisations- und Se- lektionsfunktion. Dabei wird deutlich, dass die Mitteilungsfunktion als ubergeordnete Funk- tion der ersten vier Funktionen von Zielinski (1975) zu verstehen ist, die Anreiz- und Diszipli- nierungsfunktion durch die Funktionen funf und sechs abgedeckt wird und die Sozialisations- und Selektionsfunktion den Funktionen sechs bis neun entspricht (vgl. Brautigam, 2015, S. 208). Trotz der differenten aber meist ahnlichen Benennungen von Funktionen, die in der pa- dagogischen Fachliteratur zu finden sind, ist der Zweifel daran, ob Zensuren die ihnen zuge- wiesenen Funktionen erfullen, omniprasent.
[...]
1 Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird aus Grunden der besseren Lesbarkeit auf gendertypische Unterscheidungen verzichtet. In dieser Arbeit wird stets das generische Maskulinum verwendet. Dieses bezieht alle anderen Geschlechter zu jeder Zeit mit ein.
2 „Die Ziele des Schulsports werden durch dessen Doppelauftrag bestimmt, welcher sich als „Erziehung zum Sport und Erziehung im und durch den Sport“ beschreiben lasst“ (Kultusministerium, Jugend und Sport Baden-Wurttemberg, 2016, S. 3).
3 Das Begriffspaar Benoten und Zensieren wird in dieser Arbeit synonym verwendet. Dies begrundet sich mit Ruckbezug auf das digitale Worterbuch der deutschen Sprache, in dem dieses Begriffspaar ebenfalls synonym verwendet wird (DWDS, o. J.).
4 Die kriteriumsorientierte Bezugsnorm wird in der Fachliteratur stellenweise auch als Sachnorm bezeichnet. Die Erweiterung der Lern- oder Kompetenzfelder hat den Begriff „Sachnorm“ [allerdings] veralten lassen“ (Paradies et al., 2018, S. 36).
- Citation du texte
- Anonyme,, 2021, Schulsport zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Eine Differenzanalyse zur Benotung im Sportunterricht der Sekundarstufe 1, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1043043
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