Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG
1. DIE GESELLSCHAFTLICHEN MIßSTÄNDE FRANKREICHS - DAS „ANCIEN RÉGIME“.
1.1. DIE KONTINUITÄT IN DER FRANZÖSISCHEN MIßWIRTSCHAFT SEIT LUDWIG XIV
1.2. KLERUS UND ADEL: DIE HEIMLICHEN HERRSCHER IN EINER ABSOLUTISTISCHEN GESELLSCHAFT
2. JEAN-JACQUES ROUSSEAU: VON DER UNGLEICHHEIT DER MENSCHEN BIS ZUM IDEALEN STAAT
2.1. DER NATURZUSTAND UND DER VERFALL DER MENSCHEN IN DER ZIVILISATION
2.2. DER „CONTRAT SOCIAL“ UND DIE REPUBLIK ROUSSEAUS
3. ZWEI UNTERSCHIEDLICHE INTERPRETATIONSANSÄTZE
3.1. DIE GEFAHR EINER TOTALITÄREN DEMOKRATIE?
3.2. ROUSSEAU ALS VERTRETER EINER KONSERVATIVEN STRÖMUNG?
FAZIT
LITERATURVERZEICHNIS
Einleitung
Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) verfasst mit seinem Hauptwerk, („Contrat Social“, 1762) ein demokratisches Idealbild, das im Gegensatz zu anderen bekannten aufklärerischen Theorien (z.B.: Hobbes, Locke, Montesquieu) eine besonders radikale Form darstellt.
Rousseau entwirft in seinem Zweiten Discours ein Menschenbild, nachdem im Naturzustand die Menschen vollkommene Freiheit genießen. Durch die Einführung des Eigentums und der Arbeitsteilung entsteht die Zivilisation und beginnt der gesellschaftliche Verfall, der nach Rousseau nicht mehr rückgängig zu machen ist.
Rousseau stellt in seinem „Contrat Social“ (Gesellschaftsvertrag) eine Form der Gesellschaft vor, in der die Ungleichheit der Menschen überwunden wird und jeder Staatsbürger die gleichen Rechte erhält. Die Volkssouveränität ist das leitende Prinzip des Gesellschaftsvertrags. Jeder Bürger ist verpflichtet, als Souverän mittels dem Gemeinwillen am politischen Willensbildungsprozess mitzuwirken.
Die Folgen der Französischen Revolution (z. B. Jakobinerherrschaft) haben gezeigt, dass Rousseaus Form der Demokratie auch Gefahren birgt: Die Interpretationen gehen in verschiedenartige Richtungen, von denen im Rahmen dieser Arbeit zwei gegenübergestellt werden sollen. Talmon sieht in der Gleichheit aller Menschen und in der Volkssouveränität die Gefahr einer totalitären Demokratie.
Für Iring Fetscher hingegen birgt Rousseaus „Contrat Social“ konservative Tendenzen, namentlich in der Rückentwicklung der Gesellschaft von der konkurrierenden Industrie- zur Subsistenzwirtschaft.
1. Die gesellschaftlichen Mißstände Frankreichs - Das „Ancien Régime“
1.1. Die Kontinuität in der französischen Mißwirtschaft seit Ludwig XIV.
Der Begriff „Ancien Régime“ charakterisiert vor allen Dingen die ständische Ungleichheit zwischen Adel und Klerus auf der einen und dem Dritten Stand auf der anderen Seite. „Ancien Régime“ als Bezeichnung für den Absolutismus verwendeten erstmals die Revolutionäre 1790 für das absolutistische Frankreich, um die „alte“ Gesellschaft zu beschreiben, die nun als überwunden galt.
Die Krönung Ludwigs XVI. am 11. Juni 1754 in der Kathedrale von Rheims war ein prunkvolles Ereignis. Zu prunkvoll, meinte zumindest Finanzminister Anne-Robert Jacques Turgot, der versuchte den König zu überreden, die Feierlichkeiten nach Paris zu verlegen, dieser aber aus traditionellen Gründen dankend ablehnte. Turgots Einwand war nicht grundlos. Die Staatsfinanzen waren von immensen Schulden geprägt. Die Ursachen für die marode finanzielle Lage waren vielfältig: Seit Ludwig XIV. befand sich Frankreich in einer ökonomisch kritischen Situation. Zahlreiche Kriege wurden geführt - und verloren. Finanziell besonders prekär fiel der „Spanische Erbfolgekrieg“ (1701-1714) ins Gewicht. Ein Jahr nach Kriegsende starb Ludwig XIV. und Herzog Philipp II. übernahm stellvertretend für Ludwig XV., Urenkel seines Vorgängers, die Regentschaft. Mit Hilfe des schottischen Bankiers John Law versuchte Philipp II. den Staatshaushalt zu sanieren. Anfangs hatte dieses Bestreben auch Erfolg - Law spekulierte mit Silberminen aus der amerikanischen Kolonie Louisiana und mußte feststellen, dass die Erträge ausblieben. Panikverkäufe waren die Folge - die französische Regierung entschädigte die Gläubiger und schließlich setzte mit dem Zusammenbruch der Staatsbank eine Inflation ein.1
Kardinal Fleury übernahm 1726 nach dem Tod Philipps II. die Regentschaft. Unter Fleury verzeichnete Frankreich einen wirtschaftlichen Aufschwung. Der Außenhandel, die Industrieproduktion der Handel und die Landwirtschaft blühten auf. Die Konjunktur hielt jedoch nur bis 1740 an - inzwischen übernahm Ludwig XV. selbst das Amt des Regenten. Der „Österreichische Erbfolgekrieg“ (1740-1748) und der „Siebenjährige Krieg“ (1756-1763) - in beiden Kriegen war Frankreich der Verlierer - brachte die französische Wirtschaft auf Talfahrt. Inzwischen hatte Frankreich Kanada und etliche Kolonien Indiens an England verloren.2
Doch nicht nur die katastrophale französische Außenpolitik war die Ursache für die Französische Revolution. Die gesellschaftliche Situation war ebenfalls äußerst prekär. Die französische Gesellschaft war in drei Klassen eingeteilt: Klerus, Adel und Tiers Etat3.
1.2. Klerus und Adel: Die heimlichen Herrscher in einer absolutistischen Gesellschaft
Die französische Gesellschaft des Ancien Régime war auch eine Klassengesellschaft. Der erste Stand, der Klerus, setzte sich aus hohen und niederen Geistlichen zusammen. Der Adel als zweiter Stand war eine breit gestreute Schicht vom Hofaristokraten bis zum armen Landadel. Die beiden ersten Stände verkörperten etwa zwei Prozent der Gesamtbevölkerung. Der Dritte - mit einem Bevölkerungsanteil von ca. 98 Prozent - war der größte Stand in der Französischen Hierarchie.
Klerus und Adel genossen in der französischen Gesellschaft eine besondere Stellung: Sie waren fast vollständig von den königlichen Steuern befreit, während der Dritte Stand, die Bourgeoisie und die Bauern, fast die komplette Steuerlast trugen.4 Die Abgaben des Dritten Standes setzten sich aus der „Taille“ (Einkommensteuer), der „Capitation“ (Kopfsteuer), der „Gabelle“ (Salzsteuer) und den Binnenzöllen zusammen. Zudem musste in Kriegszeiten die „Vingtième“ entrichtet werden. Hinzu kamen noch indirekte Steuern, die jedoch territorial schwankten. Trotzdem ist nach heutigem Stand nicht davon auszugehen, dass die steigenden Abgaben der Grund für den Zorn der Steuerzahler war, sondern vielmehr die ungleiche Verteilung.5
Der Versuch von Turgot und Calonne, aufgeklärten Ministern, das französische Steuergesetz zu reformieren, scheiterte zuletzt am Adel. Trotz der kaum zu übersehenen Mißstände im Volk, der sinkenden Kaufkraft und der rasch steigenden Preise, waren die Aristokraten nicht bereit, den Reformgesetzen zuzustimmen.6
2. Jean-Jacques Rousseau: Von der Ungleichheit der Menschen bis zum idealen Staat
2.1. Der Naturzustand und der Verfall der Menschen in der Zivilisation
Um die ihm gegenwärtige Situation der Gesellschaft zu erklären, unterscheidet Rousseau zunächst zwei Formen von Ungleichheit: 1. Die physische bzw. natürliche Ungleichheit bezieht sich auf das menschliche Alter, die Körperkraft und die seelische und geistige Verfassung. Die zweite Form ist die politische bzw. moralische Ungleichheit, die gesellschaftlich bedingt ist. Die Entwicklung dieser politischen Ungleichheit versucht Rousseau in mehreren Etappen vom ursprünglichen Naturzustand bis zur Entstehung der Gesellschaft aufzuzeigen.7
Im Naturzustand sind die Menschen, die Rousseau in seinem Zweiten Discours als Wilde bezeichnet, gleichwertig, weil es keinen Besitz gibt. Die Instinkte beim Menschen sind noch ausgebildet, so dass die Sinne zurückgeblieben sind. Selbstliebe und Mitleid, die Leitmotive des ursprünglichen menschlichen Handelns, stellen eine Vorform der Vernunft dar, die eine sittlich-moralische Entwicklung des Menschen überhaupt erst ermöglicht. Da es unter den Menschen kaum eine Verbindung gibt, sind Verträge, Abmachungen und Gesetze nicht vonnöten.8
Sobald der Mensch seine Fähigkeiten entdeckt, schwinden seine natürlichen Instinkte. Der Mensch beginnt sich niederzulassen und entwickelt die Sprache. Allmählich entstehen verschiedene Völker auf den Kontinenten und die Menschen genießen das Zusammenleben. Die erste Form der Ungleichheit entsteht mit Vergleichen, die die Menschen untereinander (im Tanz und beim Gesang) anstellen. Dieser Zustand losen gesellschaftlichen Zusammenschlusses ist für Rousseau „eine ideale Synthese von Natur und Kultur, ein Gleichgewicht zwischen Vernunft und Phantasie.“9
Die gravierendste Zäsur jedoch findet in dem Moment statt, als der Mensch das Eigentum entdeckt. „Der erste, der ein Stück Land einzäunte, auf den Gedanken verfiel, zu sagen: ‚Das gehört mir‘, und Leute fand, die schlicht genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Gründer der Gesellschaft.“10 Durch die Gründung dieser ersten Gemeinschaftsform und die Einführung des Eigentums werden die Menschen mit der beginnenden Arbeitsteilung in Reiche und Sklaven eingeteilt. Mit dieser Zivilisationsstufe setzt der menschliche Verfall endgültig ein, da ein rücksichtsloser Konkurrenzkampf um ein möglichst hohes Ansehen entbrennt. Die Besitzer machen von ihrem Naturrecht des „ersten Besitzergreifers“ gebrauch, während die Sklaven oder die Besitzlosen sich das „Recht des Stärkeren“ zu eigen machen. Rousseau lehnt sich hier an Thomas Hobbes an, der von einem „Kampf aller gegen alle“ spricht. Der entstandene Interessengegensatz ist also die erste Form der moralischen Ungleichheit.
Der Konflikt bleibt zunächst ungelöst. Die Verhältnisse verschlechtern sich allerdings soweit, dass ein friedensstiftender Vertrag notwendig wird. Der Grundbesitzende hat jedoch das größte Interesse an einem solchen Vertrag und fasst „von der Notwendigkeit gedrängt, schließlich den überlegtesten Plan, der je einem Menschen in den Sinn gekommen ist. Er beschloß, die Kräfte ebenderer, die ihn angriffen, zu seinen Gunsten zu nutzen und aus seinen Gegnern seine Verteidiger zu machen, ihnen andere Grundsätze einzuflößen und neue Institutionen zu geben, die für ihn ebenso günstig waren, wie das Naturrecht seinen Interessen zuwiderlief.“11
Durch diesen Vertragsschluß entsteht die erste Gesellschaft mit Gesetzen (Gesellschaftsvertrag). Diese beseitigen nicht die Ungleichheit unter den Menschen, sondern legitimieren sie und sichern den Reichen ihren Besitz, der bis dahin von Rousseau als „Usurpation“ bezeichnet wird. Der Gesellschaftsvertrag12 verschafft sogar der Unfreiheit eine gesetzliche Grundlage. Von nun an können auch Menschen zum Besitz eines anderen zählen:
„Und die Rechtsgelehrten, die in vollem Ernst erklärt haben, das Kind eines Sklaven werde als Sklave geboren, haben mit anderen Worten entschieden, dass ein Mensch nicht als Mensch geboren wird.“13
Die nun entstandene Regierungsform wird von Rousseau noch weiterentwickelt. Mit Zunahme der Unterdrückung14 werden die Bürgerrechte und nationale Freiheiten gleichermaßen nichtig und „die Verteidiger des Vaterlandes früher oder später zu dessen Feinden [...], wie sie die Waffen auf ihre eigenen Mitbürger richten.“15 Das Maß an Ungleichheit ist irgendwann so groß, dass aus dem chaotischen Zustand des Staates ein Despotismus entsteht. Das Regierungssystem und die Gesetze werden zerstört und von Tyrannei verdrängt. An diesem Punkt, der letzten Stufe der Ungleichheit, werden alle Individuen wieder gleich; sie befinden sich in einem neuen Naturzustand, in dem wiederum das Recht des Stärkeren gilt. Wenn der Despot nicht mehr die mächtigste Kraft im Land ist, wird er vom Stärkeren gestürzt.16
Darauf basierend, stellt Rousseau eine Gesellschaftsform vor, die die Ungleichheit der Menschen beseitigt, in der das Individuum frei und für sein eigenes Schicksal durch Beteiligung an der Willensbildung verantwortlich ist.
2.2. Der „Contrat Social“ und die Republik Rousseaus
„Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten.“17 Mit diesem Satz beginnt der „Contrat Social“. Rousseau versucht, die gesellschaftliche Ungleichheit durch die Schaffung einer neuen Republik zu beseitigen. Gesucht wird also eine Gesellschaftsform, in der alle Individuen die gleichen politischen Rechte besitzen. Da der Naturzustand nicht wiedererlangt werden kann, muß eine solche politische Ordnung von den Menschen geschaffen werden. Jedes Individuum der Gesellschaft entäußert sich und seine Rechte an die Gemeinschaft. „Wenn sich jeder an alle übergibt, übergibt er sich letztenendes an niemand. Da man über keinen Teilhaber ein anderes Recht erlangt, als man ihm selbst einräumt, gewinnt man den Gegenwert für alles, was man verliert, und ein mehr an Kraft zur Erhaltung dessen, was man hat.“18 Durch diese Übereignung wird die Voraussetzung für das freiheitliche Leben in der Gemeinschaft geschaffen. Zudem postuliert Rousseau die politische und soziale Gleichheit.19 Dieses ist der eigentliche Akt der Staatsgründung. Der einzelne Staatsbürger geht in einem Kollektiv auf, welches Rousseau als Staat (passiv) bzw. Souverän (aktiv) bezeichnet. Hier verpflichtet sich der Mensch der Gemeinschaft in doppelter Hinsicht. Zum einen ist er als Teil des Souveräns dem Individuum gegenüber und als Mitglied des Staates, also als Untertan, dem Souverän gegenüber verpflichtet. Regierende und Regierte sind demnach identisch.
Souverän, Regierung und Gemeinwille
Der Staatsbürger als Mitglied des Souveräns trägt politische Verantwortung, im weitesten Sinne auch sich selbst gegenüber. Da das Souverän von Rousseau als ein Gruppenwesen beschrieben und vom Gemeinwillen gelenkt wird, kann es nicht von wenigen Individuen repräsentiert werden. Die Souveränität ist somit unveräußerlich.
Unklar ist, ob Rousseau die gesetzgebende- und die ausführende Gewalt im Sinne der klassischen Gewaltenteilung klar voneinander trennen will. Iring Fetscher ist der Meinung, dass Rousseau die Legislative (Souverän) und die Exekutive (Regierung) als zwei voneinander mehr oder weniger getrennte Körperschaften betrachtet: „[...] während übrigens Legislative und Exekutive bei ihm durchaus auf zwei Organe (die souveräne Volksversammlung und den Magistrat) verteilt sind.“20 Werner Bahners Interpretation lautet allerdings anders: „Indem Rousseau die Souveränität, die Ausübung des Allgemeinwillens, ausdrücklich als unteilbar erklärte, bezog er scharf Front gegen jedwede Theorie der staatlichen Gewaltenteilung.“21
In das Zentrum der Willensbildung setzt Rousseau den Gemeinwillen (volonté générale). Dieser entsteht bei der Entscheidung über Gesetze, an denen alle Staatsbürger gemeinsam mitwirken. Rousseau nimmt an, dass bei einer Befragung der Bürger über ein neues Gesetz der objektiv-richtige Gemeinwille entsteht, wenn jeder isoliert für sich urteilt und mit seinem Gewissen abwägt, ob das Gesetz der Erhaltung der politischen Gemeinschaft dient oder nicht. Trotzdem soll nicht jede getroffene Mehrheitsentscheidung gleich „Gesetz“ sein. Er nimmt an, dass der Gesamtwille (volonté de tous) nicht notwendigerweise immer mit dem Gemeinwillen übereinstimmt. „Oft besteht ein großer Unterschied zwischen dem Gesamtwillen und dem Gemeinwillen: dieser blickt nur auf das gemeinsame Interesse, jener blickt nur auf das private Interesse und stellt nur die Summe von Sonderinteressen dar. Subtrahiert man von diesen nämlichen Willensentscheidungen das Mehr oder Weniger das sich gegenseitig aufhebt, so bleibt als Summe, nach Abzug der Abweichungen der Gemeinwille übrig.“22 Der Gemeinwille ergibt sich somit aus dem Gesamtwillen abzüglich aller egoistischer Einzelinteressen. Zwar gesteht Rousseau jedem „bourgeois“ Sonderwillen zu, wer sich jedoch als „citoyen“ dem Gemeinwillen verweigert, kann mitunter dazu gezwungen werden nach ihm zu handeln. Dem „volonté genérale“ „den Gehorsam“ zu verweigern ist für Rousseau gleichbedeutend auf sein Recht zur Freiheit zu verzichten. Demzufolge muss der Mensch zur Freiheit gezwungen werden.23
Rousseau stellt die Hypothese der Existenz eines eindeutig bestimmbaren, a priori vorgegebenen Gemeinwohls auf, der allgemeine Wille führt also direkt zum Gemeinwohl, da der „volonté général“ nicht irren kann.24
Das Souverän ist konsequenterweise die gesetzgebende Gewalt. Für die Ausführung der Gesetze ist eine zwischengeschaltete Körperschaft, die Regierung (oder Exekutive), zuständig. Diese Regierung setzt sich aus Magistraten, den Regierungsführern, zusammen. Allerdings ist diese Körperschaft streng dem Souverän untergeordnet und unterliegt somit einem imperativen Mandat, um einer möglichen Usurpation ihrerseits vorzubeugen. Um das Souverän aufrechtzuerhalten, schlägt Rousseau eine periodische Zusammenkunft der Staatsbürger vor.
Die Regierungsform kann nach Rousseau unterschiedlich ausgestaltet sein, abhängig von den Voraussetzungen des jeweiligen Staates. Verfügt der Staat über ein großes Territorium und eine große Bevölkerungsanzahl, so ist eine Monarchie die geeignete Staatsform. Sind die territorialen Gegebenheiten kleiner, ist eine Aristokratie, eventuell sogar eine Demokratie denkbar. Rousseau findet kein allgemeingültiges Konzept, welches auf alle Staaten gleichermaßen angewendet werden kann. Stattdessen wird die Regierungsform an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst.
Auch diese Idealvorstellung vom Staat hat laut Rousseau keinen Ewigkeitsanspruch, sie ist immer so langlebig wie der Staatskörper stark ist. „Welcher Staat kann auf ewige Dauer hoffen, wenn Sparta und Rom zugrunde gehen. [...] Der Staatskörper beginnt genauso wie der Körper des Menschen von seiner Geburt an zu sterben und trägt die Ursachen seines Zerfalls in sich selbst. Aber der eine wie der andere können eine mehr oder weniger robuste Konstitution haben, die geeignet ist, sie mehr oder weniger lange zu erhalten.“25
Gesetzgeber, Erziehungsfunktion und patriotische Staatsbürger
Rousseau ist der Auffassung, dass noch bevor die Republik entsteht, eine Verfassung geschaffen werden muss. Diese wird nicht vom späteren Staatsbürger erstellt, sondern namentlich von dem „Gesetzgeber“, der einen gottähnlichen Charakter haben müsse. Er soll jedoch keinen direkten Bezug zu den Menschen und zur Natur haben, um nicht befangen zu sein. Gleichzeitig muss er aber die Menschen und deren Bedürfnisse kennen, um ihnen passende Gesetze zu geben zu können. Er verfügt jedoch über keinerlei Macht und kann Gesetze nur vorschlagen. Ob diese letztendlich auch in Kraft treten, entscheidet der allgemeine Wille der Bürger.26
Außerdem hat der Gesetzgeber noch eine andere Funktion: Er ist für die patriotisch- staatsbürgerliche Erziehung der Bürger zuständig. Die Menschen müssen, noch bevor sie zu Staatsbürgern („citoyen“) werden, ihrer natürlichen Fähigkeiten beraubt und zu moralischen Grundsätzen erzogen werden. „Kurzum: er muß dem Menschen seine eigenen Kräfte nehmen, um ihm fremde zu geben, von denen er ohne die Hilfe anderer keinen Gebrauch machen kann.“27 Der Mensch wird also ein sittlich-moralisches Wesen, um seinem Staat später mit Treue und Hingabe zu dienen. Der angestrebte Patriotismus dient der Erhaltung der Regierungsform.
Die Realisierung einer derartigen Regierungsform sieht Rousseau zu seinem gegenwärtigen Zeitpunkt in Europa problematisch. „Es gibt in Europa noch ein Land, das zur Gesetzgebung befähigt ist, das ist die Insel Korsika. Die Tapferkeit und die Standhaftigkeit, mit der dies mutige Volk seine Freiheit wiederzugewinnen und zu verteidigen wußte, verdiente gar sehr, dass ein weiser Mann es lehrte, sei zu bewahren.“28
3. Zwei unterschiedliche Interpretationsansätze
3.1. Die Gefahr einer totalitären Demokratie?
J.L. Talmon macht zu Beginn seiner Ausführungen den Unterschied zwischen einer liberalen und einer totalitären Demokratie klar. Beide Ansätze haben völlig unterschiedliche Auffassungen von Politik. Von liberaler Seite her wird die Politik als notwendiges Übel mit einem Minimum an regulativen Elementen angesehen. Die Individualität und der Interessenpluralismus stehen im Vordergrund. Von der totalitären Seite her hat die Politik einen ausschließlichen Charakter, d.h. durch sie erfährt der Mensch seine Daseinsberechtigung. Ein entscheidendes Merkmal ist die finalistische Orientierung, das Ziel wird von vornherein festgelegt und der Weg dahin ist ebenfalls durch normative Regeln vorgegeben, während die liberale Theorie eher ihr Augenmerk auf Rahmenbedingungen legt.29
Beide Schulen haben eine unterschiedliche Auffassung des Freiheitsbegriffes. Die liberale Freiheit ist geprägt von Zwanglosigkeit und Spontanität, während die Freiheit im totalitären Sinn das zu verwirklichende Ziel eines kollektiven Seins ist.
Das stärkste totalitäre Element in Rousseaus „Contrat Social“ ist für Talmon der Gemeinwille, über den der Staatsbürger definiert ist. Der a priori festgelegte Kollektivismus des „volonté générale“ und das Verneinen von individuellen Einzelinteressen führt zwangsläufig zum Totalitarismus, da der Mensch, wenn er Entscheidungen nicht nach dem Gemeinwillen trifft, „zu seinem Glück gezwungen“ werden muss.30
Der „volonté générale“ steckt sowohl in jedem Menschen, als auch außerhalb seiner selbst. Der Gemeinwille hat eine eigene Existenz, unabhängig davon, ob er vom Einzelnen wahrgenommen wird oder nicht. Es geht also darum, diesen Willen für sich selbst zu entdecken. Ist ein einzelner Mensch nicht in der Lage, jenen zu erkennen, so kann er durch andere zur Erkenntnis kommen.31 Der „volonté général“ ist damit sowohl Zweck als auch Ziel des rousseauschen Gedankengebäudes.
Talmon fasst den Begriff der Freiheit bei Rousseau als „Sieg des Geistes über natürliche, ursprüngliche Instinkte. Sie ist die Bejahung der sittlichen Verpflichtung und die Zügelung irrationaler und selbstsüchtiger Triebe durch Vernunft und Pflicht“32 auf.
Wird ein Mensch nun gezwungen sich dem Gemeinwillen zu beugen, so ist dies ein Zugewinn von Freiheit, da Vernunft über Egoismus und Selbstliebe siegt und damit der Geist über den Instinkt. Die partikularen Interessen sind also der größte Feind der kollektiven Gemeinschaft.33
Hier liegt die Gefahr laut Talmons Interpretation, denn dieser Zwang wird zu einem notwendigen Schritt, der aber als bloßer Erkenntnisgewinn verharmlost wird.
3.2. Rousseau als Vertreter einer konservativen Strömung?
Nicht totalitär, sondern im Gegenteil, konservativ sieht Iring Fetscher Rousseaus demokratietheoretischen Ansatz. Vor allem die Tendenz zur „kleinbürgerlich-egalitären“ Gemeinschaft ist für Fetschers Interpretation ausschlaggebend.
Das „ancien régime“ und die beginnende Industrialisierung in Frankreich lösen einen bis dahin unbekannten Konkurrenzdruck aus. Um sich diesem zu entziehen, greift Rousseau auf bodenständige Werte wie Moral und Sitte zurück, um die Folgen der industriellen Revolution, nämlich den wachsenden Fortschritt, zu bremsen. Die Ideale des isolierten Menschen, die Rousseau vor allem Naturzustand findet, und die „so sehr gepriesene patriarchalische Großfamilie der Hirten des ‚Goldenen Zeitalters‘“34 heben Rousseau aus dem Zeitgeist der Revolutionäre deutlich heraus. Trotzdem, so Fetscher, fanden die Vorstellungen des Philosophen keinen Anklang bei den Konservativen, sondern wurden entweder als anarchisch oder despotisch abgelehnt.
Vor allem Robespierre hat die Werte des „contrat social“ gepriesen und wollte die Menschen zur Tugendhaftigkeit erziehen, nur hat er laut Fetscher übersehen, dass Rousseau die Staatsbürger durch eine „machtlose Überzeugungskraft“ erziehen wollte. Die Anzeichen zur Gewaltbereitschaft des Souveräns gegenüber dem andersdenkenden Individuum, oder besser einer Minderheit, entsprechen demnach nicht den Vorstellungen Rousseaus, sondern entstanden vielmehr aus falschen Intentionen.35
Fazit
Fassen wir also zusammen: Rousseau leitet von seinem gegenwärtigen Standpunkt die Vergangenheit vom ursprünglichen Zustand der Menschen im Naturzustand über die Entwicklung der Ungleichheit in der Gesellschaft ab, um damit seinem Werk „Contrat Social“ eine Legitimationsgrundlage zu schaffen. Der „Gesellschaftsvertrag“, eine Utopie gesellschaftlicher Gleichheit und Tugendhaftigkeit, versucht zu vermitteln, dass alle Menschen im Rahmen dieser Gemeinschaft moralisch-sittliche Wesen sind und die Entscheidungen auf der Grundlage des „volonté générale“ treffen.
Trotz Iring Fetschers Ansicht über die „gewaltlose“ Gesellschaft, die Rousseau schaffen wollte, lassen sich gewisse totalitäre Elemente, wie den Zwang zum allgemeinen Willen, nicht leugnen. Fetschers Interpretation läuft auf eine Anlehnung Rousseaus an Montesquieu hinaus36, die Rousseau selbst aber verneint, da er eine Teilung der Gewalten kategorisch ausschließt. Allerdings muss man bei allem Kritikeifer, Rousseau zugute halten, dass er im Geist der Zeit des „ancien régime“ die bestehenden Verhältnisse angegriffen hat und auf der Suche nach einer gerechten Gesellschaft im Rahmen der Volkssouveränität war.
Elemente dieser Form der direkten Demokratie finden sich heute z. B. in der Schweiz. Die Frage ist, inwieweit Rousseaus Demokratietheorie auf die heutige Zeit projiziert werden kann. Die Identität von Regierenden und Regierten finden sich stellenweise in der Bundesrepublik Deutschland, auf Landesebene. Trotzdem sind die kollektiven Elemente wie der Gemeinwille ein utopisches Konstrukt, da der Individualismus ein unverzichtbares Gut der pluralistischen Gesellschaft ist. Der real existierende Sozialismus, eine Weiterentwicklung von Rousseaus Gedankengut, ist das beste Beispiel für die Nicht-Realisierbarkeit einer total- kollektiven Gemeinschaft.
Literaturverzeichnis
- P. J. Blumenthal, Ein König auf dem Pulverfass, in: P.M. History, Das große Magazin für Geschichte, Bd. 01/2001, München 2001.
- Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, Frankfurt 1998.
- Fritz-Peter Hager, Pestalozzi und Rousseau. Pestalozzi als Vollender und als Gegner Rousseaus, Bern/Stuttgart 1975.
- Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Köln 1988.
- Jean-Jacques Rousseau, Staat und Gesellschaft (Contrat Social), München 1959.
- Jean-Jacques Rousseau, Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: ders.: Kulturkritische und politische Schriften, Bd. 1, Berlin 1989.
- J. L Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln/Opladen 1961.
- Michel Vovelle, Die Französische Revolution - Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, München/Wien 1982.
[...]
1 P. J. Blumenthal, Ein König auf dem Pulverfass, in: P.M. History, Das große Magazin für Geschichte, Bd. 01/2001, München 2001, S.36.
2 Ders., ebda., S. 36.
3 Tiers état: Dritter Stand. Bezeichnung für den Stand des Bürgertums und der Bauern.
4 Michel Vovelle, Die Französische Revolution - Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, München/Wien 1982, S. 12.
5 P. J. Blumenthal, Ein König auf dem Pulverfass, in: P.M. History, Das große Magazin für Geschichte, Bd. 01/2001, München 2001, S.37 f.
6 Ders., ebda., S. 40.
7 Jean-Jacques Rousseau, Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: ders.: Kulturkritische und politische Schriften, Bd. 1, Berlin 1989, S. 205 ff.
8 Ders., ebda., S. 209 ff.
9 Fritz-Peter Hager, Pestalozzi und Rousseau. Pestalozzi als Vollender und als Gegner Rousseaus, Bern/Stuttgart 1975, S. 16.
10 Ders., ebda., S. 241.
11 Ders., ebda., S. 255.
12 Der Gesellschaftsvertrag, den Rousseau zur Sicherung des Eigentums und zur Legitimation von Reich und Arm beschreibt, ist nicht mit dem Gesellschaftsvertrag („Contrat Social“) zu verwechseln, den er später als Lösung der Ungleichheit verfasst.
13 Jean-Jacques Rousseau, Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: ders.: Kulturkritische und politische Schriften, Bd. 1, Berlin 1989, S. 263.
14 Der Staat bemüht sich um einen größtmöglichen Schutz vor äußeren Feinden, parallel werden die Staatsbürger proportional im Inneren unterdrückt.
15 Jean-Jacques Rousseau, Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: ders.: Kulturkritische und politische Schriften, Bd. 1, Berlin 1989, S. 270.
16 Ders., ebda., S. 270 ff.
17 Jean-Jacques Rousseau, Staat und Gesellschaft (Contrat Social), München 1959, S. 10.
18 Ders., ebda, S.18
19 Dieses ist für Rousseau jedoch gleichbedeutend, da er Staat und Moral miteinander verknüpft.
20 Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, Frankfurt 1998, S. 107.
21 Werner Bahner, Einleitung in: Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Köln 1988.
22 Jean-Jacques Rousseau, Staat und Gesellschaft (Contrat Social), München 1959, S.29.
23 Ders., ebda., S. 21.
24 Ders., ebda., S. 28 f.
25 Ders., ebda., S. 75 f.
26 Ders., ebda., S. 37 ff.
27 Ders., ebda., S. 38.
28 Ders., ebda., S. 46.
29 J. L Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln/Opladen 1961, S. 1 ff.
30 Ders., Ebda., S. 38.
31 Ders., Ebda., S. 37.
32 Ders., ebda., S. 36.
33 Ders., ebda., S. 41.
34 Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, Frankfurt 1998, S. 257.
35 Ders., ebda., S. 254 ff.
36 Ders., ebda., S. 254.
- Citar trabajo
- Benjamin Heilmann (Autor), 2001, Identität Regierende/Regierte: Zur Begründung der Republik bei Jean-Jacques Rousseau, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104280
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