Es verging viel Zeit, bis sich die Zunft der deutschen Historiker öffentlich eingehender mit ihrer jüngsten Vergangenheit zu beschäftigen begann. Genauer gesagt dauerte es 53 Jahre, bis auf dem 42. deutschen Historikertag, der vom 8. bis zum 11. September 1998 in Frankfurt abgehalten wurde, erstmals offen und kontrovers über die mittelbare oder unmittelbare Beteiligung deutscher Geschichtswissenschaftler an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik diskutiert wurde.1 „Schließlich hatten an der imperialistischen Theorie des Nazismus zahllose Historiker mitgearbeitet und zuvor oder gleichzeitig definiert, wo deutscher ‚Volksboden’ und Lebensraum zu finden, wer minderwertig oder höherwertig sei.“2 Dabei konzentrierten sich die Konferenzteilnehmer nicht nur auf jene Geschichtswissenschaftler, die im Zuge der Entnazifizierungen aus öffentlichen Ämtern suspendiert worden waren,3 sondern speziell auf diejenigen, die nach 1945 das bundesrepublikanische Bild der Geschichtswissenschaft entscheidend mitgeprägt hatten. Theodor Schieder ist dabei nur ein Beispiel für die Kontinuitäten im geschichtswissenschaftlichen Betrieb nach 1945. Er war nach Aussage eines seiner ehemaligen Studenten, „in den fünfundzwanzig Jahren vor seinem Tod 1984 die einflußreichste Persönlichkeit in der westdeutschen Geschichtswissenschaft“4 und verdient daher besondere Aufmerksamkeit. Der späte Zeitpunkt, an dem die Debatte über die braune Vergangenheit deutscher Historiker aufkam und eine breitere Öffentlichkeit erreichte, ist auch insofern interessant, weil Angelika Ebbinghaus und Karl-Heinz Roth bereits 1992 ein bevölkerungspolitisches Geheimgutachten Schieders – die sogenannte Polendenkschrift - vom September 1939 editierten.5 Die deutsche Historikerschaft, unter ihnen nicht wenige Schüler Schieders, wie z.B. Hans Ulrich Wehler, ignorierten diese Funde jahrelang – bis zum besagten Historikertag in Frankfurt. Die von Roth und Ebbinghaus erforschten Quellen zeichnen ein neues Bild vom Vater der Sozialgeschichte in der BRD: Schieder hatte sich während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland besonders für den vor 1918 ehemals deutschen Osten interessiert und war auf dem Gebiet revisionistisch orientierter ‚Ostforschung’ einer der vielversprechensten Nachwuchsakademiker [...]
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Der ,Generalplan Ost'
- Vorgeschichte
- Volkstums- und Ostforschung in der Weimarer Republik
- Ostforschung im NS
- Angewandte ,Ostforschung'
- Die ,Polendenkschrift' und der „Generalplan Ost'
- Ost- und Volkstumsforscher im Feld
- Verantwortlichkeit und Nachkriegskarriere am Beispiel Schieders
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit untersucht die Rolle deutscher Geschichtswissenschaftler bei der Entwicklung und Umsetzung des „Generalplan Ost". Dabei werden insbesondere die Kontinuitäten zwischen der Ostforschung in der Weimarer Republik und dem nationalsozialistischen Projekt beleuchtet. Die Arbeit analysiert, wie die Ostforscher ihre wissenschaftliche Expertise in die Planungs- und Vernichtungspolitik des NS-Regimes einbrachten und welche Rolle sie bei der Deportation und Ermordung von Millionen Menschen spielten.
- Die Entwicklung der Ostforschung in der Weimarer Republik und ihre Verknüpfung mit nationalistischen und revisionistischen Ideologien
- Die Radikalisierung der Ostforschung unter dem Nationalsozialismus und ihre Einbindung in die NS-Ideologie
- Die Rolle von Theodor Schieder und anderen Ostforschern bei der Erstellung des „Generalplan Ost" und der Umsetzung der nationalsozialistischen Ostpolitik
- Die Nachkriegskarrieren von Ostforschern und die Kontinuitäten in der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
- Die Verantwortung von Geschichtswissenschaftlern für ihre Rolle in der NS-Zeit und die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Debatte über die Rolle deutscher Historiker im Nationalsozialismus vor und hebt die Bedeutung von Theodor Schieder für die westdeutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 hervor.
Das Kapitel „Der ,Generalplan Ost'" beschreibt die Entstehung und Inhalte des Planes, der die gewaltsame Germanisierung Osteuropas und die Deportation und Ermordung von Millionen Menschen vorsah.
Das Kapitel „Vorgeschichte" beleuchtet die Entstehung der Ostforschung und der Volkstumsforschung in der Weimarer Republik. Es wird gezeigt, wie diese Disziplinen mit nationalistischen und revisionistischen Ideologien verknüpft waren und bereits in der Zwischenkriegszeit die Grundlage für die nationalsozialistische Ostpolitik legten.
Das Kapitel „Angewandte ,Ostforschung'" analysiert die Rolle von Theodor Schieder und anderen Ostforschern bei der Erstellung des „Generalplan Ost". Es wird gezeigt, wie die Ostforscher ihre wissenschaftliche Expertise in die Planungs- und Vernichtungspolitik des NS-Regimes einbrachten und welche Rolle sie bei der Deportation und Ermordung von Millionen Menschen spielten.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen den „Generalplan Ost", die Ostforschung, die Volkstumsforschung, Theodor Schieder, die nationalsozialistische Ostpolitik, die Deportation, die Ermordung, die Kontinuitäten in der deutschen Geschichtswissenschaft und die Verantwortung von Geschichtswissenschaftlern für ihre Rolle in der NS-Zeit.
- Citar trabajo
- Nico Sutter (Autor), 2003, Deutsche Geschichtswissenschaftler und der Generalplan Ost - Theodor Schieder und die Ostforschung, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/10417
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