Die Arbeit untersucht die nicht affektiven Überzeugungsmittel in der Rhetorik des Aristoteles, Ethos und Pathos.
Mit Rückgriffen auf Gedanken Jakob Wisses wird versucht zu zeigen, dass laut Aristoteles Logos und Enthymem kein exklusiver Anspruch auf Rationalität innerhalb der Pisteis-Trias zuzuweisen ist. Der Affekt ist vielmehr angemessene Reaktion auf einen Sachverhalt und somit Teil der kognitiven Durchdringung eines Sachverhaltes und nicht Hindernis auf dem Weg dahin.
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Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich auf Ethos und Pathos als die zwei nicht logisch-argumentativen Überzeugungsmittel bei Aristoteles eingehen und diese zunächst darstellen, um daraufhin die Frage nach der Rationalität dieser Mittel näher beleuchten. Das Spannungsfeld zwischen Rationalität und Affekt bzw. Authentizität als Hintergrund scheint mir das Verständnis Aristoteles‘ aus heutiger Sicht zu befördern. Bei der Lektüre der Rhetorik drängte sich mir der Eindruck auf, dass das Verhältnis der Pole dieses Spannungsfeldes bei Aristoteles ein anderes ist als im landläufigen Verständnis, das Rationalität und Affekt als sich gegenseitig ausschließende Kategorien betrachtet.
Inhalt
1 EINLEITUNG
2 ETHOS
2.1 ETHOS ALS ÜBERZEUGUNGSMITTEL
2.2 URSACHEN DER GLAUBWÜRDIGKEIT
2.3 DAS RATIONALE ETHOS
3 PATHOS
3.1 PATHOS ALS ÜBERZEUGUNGSMITTEL
3.2 DIE ARISTOTELISCHE AFFEKTTRIAS
3.3 PATHOS UND RATIONALITÄT
4 SCHLUSS
5 LITERATURVERSZEICHNIS
1 Einleitung
Rhetorik zielt immer auf ein Urteil ab. Für den Orator stellt sich demnach die Frage, wie eine für ihn günstige Beeinflussung des Urteils möglich ist. Krisis, die Urteilsdifferenz ist eine entscheidende Kategorie in jeder rhetorischen Situation, sie ist hervorzurufen durch die Überzeugung des Urteilenden, des Hörers. Für Aristoteles ist der Vorgang des Überzeugens keine rein rationales Geschehen, nicht nur durch das logische Argumentieren hervorgerufen, sondern auch durch nicht logisch- argumentative Faktoren bedingt.
Aristoteles sieht drei redetechnische Überzeugungsmittel (Pisteis): “Von den durch die Rede geschaffenen Überzeugungsmitteln gibt es drei Arten: Sie sind zum einen im Charakter des Redners angelegt, zum anderen in der Absicht, den Zuhörer in eine bestimmte Gefühlslage zu versetzen, zule tzt in der Rede selbst, indem man etwas nachweist oder zumindest den Anschein erweckt, etwas nachzuweisen.”(1,2,3)1 Das Ethos, die Rednercharakteristik und das Pathos, die Gefühle der Zuhörer, bilden mit dem Logos, der Rede selbst, damit ist die rationale Argumentation gemeint, den Werkzeugkoffer, aus dem der Redner schöpfen kann, will er überzeugen. In dieser Aufteilung spiegeln sich die drei Instanzen von Kommunikation wieder. Dem Sender ist das Ethos zugeordnet, dem Kanal der Logos, dem Empfänger das Pathos. Alle drei Überzeugungsmittel müssen aber in der konkreten Kommunikationssituation aufgebaut werden, müssen im Text, dem Kanal, produziert werden, es sind “durch die Rede geschaffene” Überzeugungsmittel.
Die Wertigkeit dieser Pisteis untereinander ist umstritten. Die Disposition der Rhetorik und besonders das erste Buch legen nahe, dass Aristoteles den Enthymemen und damit dem Logos eine herausragende Stellung innerhalb der Pisteis einräumt. Die prominente Stellung des Enthymems im ersten Buch wird jedoch zu Beginn des zweiten Buches relativiert: “Da aber die Rhetorik auf ein Urteil abzielt (denn auch Ratschläge beurteilt man, und der Ric hterspruch ist ebenso ein Urteil) ist es notwendig, das Augenmerk nicht nur auf die Aussage zu richten, damit sie beweis- und überzeugungskräftig werde, sondern auch auf sein eigenes Auftreten und darauf, den Urteilenden zu beeinflussen.” (2,1,2) Aristoteles geht sogar soweit, in bestimmten Fällen vom Gebrauch der Enthymeme abzuraten. “Wenn du Pathos heraufbeschwörst, verwende kein Enthymem! Entweder wird es jegliches Pathos ersticken, oder du wirst es vergeblich vorbringen: Denn gleichzeitige Bewegungen hemmen einander und heben einander auf oder schwächen einander. Und wenn die Rede einen ethischen Gehalt hat, soll man nicht gleichzeitig nach einem Enthymem suchen!” (3,17,8) Innerhalb des Systems der Rhetorik, dessen Hauptkategorien bei ihm inventio, elocutio und dispositio sind, sieht Aristoteles die Pisteis in der inventio verankert. “Da es drei Stoffgebiete sind, die man in der Rhetorik behandeln muß, nämlich erstens, woher Überzeugungsmittel zu gewinnen sind, zweitens der sprachliche Ausdruck und drittens die Art der Disposition der Redeteile, so haben wir nun die Überzeugungsmittel folgendermaßen behandelt: aus wie vielen Arten sie bestehen, daßes davon drei gibt, wie diese beschaffen sind und weshalb es nur so viele gibt.” (3,1,1). Spätere Autoren verwiesen Ethos und Pathos an die elocutio innerhalb des auf fünf officia oratoris erweiterten Systems.2 Cicero kehrte zu der Dreiteilung der inventio in Logos, Ethos und Pathos zurück.3
Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich auf Ethos und Pathos als die zwei nicht logisch- argumentativen Überzeugungsmittel bei Aristoteles eingehen und diese zunächst darstellen, um daraufhin die Frage nach der Rationalität dieser Mittel näher beleuchten. Das Spannungsfeld zwischen Rationalität und Affekt bzw. Authentizität als Hintergrund scheint mir das Verständnis Aristoteles‘ aus heutiger Sicht zu befördern. Bei der Lektüre der Rhetorik drängte sich mir der Eindruck auf, dass das Verhältnis der Pole dieses Spannungsfeldes bei Aristoteles ein anderes ist als im landläufigen Verständnis, das Rationalität und Affekt als sich gegenseitig ausschließende Kategorien betrachtet.
2 Ethos
2.1 Ethos als Überzeugungsmittel
Das Ethos ist die zu Tage tretende “Redner-Charakteristik”4, die “Selbstpräsentation des Redners.”5 Ziel des Ethos ist die Erlangung von Glaubwürdigkeit. Ethos ist ein vom Orator produziertes Phänomen, es geht in dieser Kategorie nicht um Spiegelung von Innerlichkeit oder den Charakter im Sinne eines authentischen Ausdrucks von Persönlichkeit. Roland Barthes spricht hier von den “Attributen des Redners”, das Ethos sind “die Charakterzüge, die der Redner dem Zuhörer zeigen muß(seine Aufrichtigkeit ist Nebensache),...”6 Die Betonung liegt hier auf dem Zeigen. Es liegt, zumindest theoretisch, in der Entscheidung des Orators, welche Charakterzüge der Zuhörer an ihm wahrnehmen kann und welche nicht. In diesem Sinne ist das Ethos ein modelliertes rhetorisches Phänomen. Für Roland Barthes ist das Ethos eine implizite Kategorie: “Das Ethos im eigentlichen Sinne ist eine Konnotation: Der Redner äußert eine Information und sagt gleichzeitig: ich bin dies und nicht jenes.”7 Der Rednercharakter tritt also vor allem als ein Subtext zu Tage, fließt sozusagen in die Kommunikation mit ein, ohne explizit in Worte gefasst zu werden. Für Aristoteles muss das Ethos in jeder konkreten Redesituation neu aufgebaut werden, der Orator kann nicht allein auf Vorurteile und Voreingenommenheiten des Publikums zurückgreifen. “Durch den Charakter geschieht dies, wenn die Rede so dargeboten wird, daßsie den Redner glaubwürdig erscheinen läßt. (... ) Doch auch das mußsich aus der Rede ergeben.” (1,2,4) Vorgefasste Urteile des Publikums und bereits vor der Rede bestehenden Meinungen über die Person des Redners sind für Aristoteles atechnische Mittel und darum nicht Teil dessen, was im Rahmen der Rhetorik zu verhandeln ist.
2.2 Ursachen der Glaubwürdigkeit
Was aber lässt den Redner glaubwürdig erscheinen? Aristoteles gibt hier klar Antwort: “Daßder Redner selbst glaubwürdig ist, dafür gibt es drei Gründe, denn so viele Ursachen gibt es, von den Beweisen abgesehen, weswegen wir Rednern Glauben schenken: Es sind dies Einsicht, Tugend und Wohlwollen.” (2,1,5) Wörner sieht in dieser Dreiheit aus Einsicht, Tugend und Wohlwollen drei Aspekte, nach denen der Redner eingeschätzt wird:8 Der Sachaspekt wird in der Kategorie der Einsicht (Phronesis) gefasst. Phronesis steht hier für Rationalität, für den Eindruck, der Redner sei in einsichtiger Art und Weise zu seinen Überzeugungen gelangt.9 Der Eindruck von Sachkenntnis und sachgerechter Meinungsbildung befördert die Glaubwürdigkeit. Roland Barthes spricht in diesem Zusammenhang von “zur Schau gestelltem Menschenverstand.”10 Der Sprecheraspekt entspricht der Tugend (Arete). Gemeint ist hier nicht Tugend als ein moralisches Kriterium des Redners, die tatsächliche Tugendhaftigkeit des Redners an sich ist kein Kriterium innerhalb des Ethos, sondern es geht um Tugend im Sinne des Zeigens und Darstellens von “sittlicher Bestheit”11 und “persönlicher Integrität.”12 Der Redner muss dem Zuhörer integer erscheinen; sittlichen Menschen wird eher Glauben geschenkt, ein als Halunke auftretender Redner wirkt nicht glaubwürdig. Der dritte Aspekt innerhalb des Ethos ist nach Wörner der Höreraspekt, das Wohlwollen dem Publikum gegenüber (Eunoia). Zeigt sich der Orator als dem Zuhörer zugeneigt, wird er eher annehmen, dass der Orator auch zu seinem Besten argumentiert. Aristoteles sagt, dass es vorkomme, “daßLeute nicht den besten Ratschlag geben, obwohl sie ihn kennen” (2,1,6), weil ihnen das Wohlwollen fehlt; dieser Eindruck ist zu vermeiden, will man glaubhaft wirken. Für Aristoteles sind diese drei Gründe für Glaubwürdigkeit exklusiv. Ein Viertes ist nicht gegeben. “Außer diesen (drei Ursachen) gibt es keine weiteren Gründe mehr. Also mußjeder, der diese drei Eigenschaften zu haben scheint, bei den Zuhörern Glauben finden.” (2,1,6) In diesem Zitat wird ein weiteres Mal deutlich, dass für Aristoteles der Anschein ausreichend ist. Das tatsächliche Wohlwollen oder die tatsächliche sittliche Bestheit wird hier nicht diskutiert.
Das Ethos des Redners ist eng geknüpft an zwei zentrale rhetorische Kategorien: Handlungsentschluss (Prohairesis) und Zielvorgabe (Telos).13 “Zum einen ist es (das Ethos) das Mittel, das die Absicht des Redners verdeutlicht, denn wie das eine (das Ethos) beschaffen ist, so ist auch das andere (die Absicht). Die Absicht entspricht irgendwie dem Zweck (der Rede).” (3,16,8)14 Das Ziel der Rede findet sich im Handlungsentschluss, der Handlungsentschluss geht in das Ethos ein. In der Rednercharakteristik muss sich die feste Absicht finden, das Zertum des Redners muss erkennbar werden. Aristoteles formuliert die Forderung, dass im Ethos erkennbar wird, dass der Redner sagt: “‘Ich wollte es so, denn dafür habe ich mich entschieden.‘” (3,16,9) Mathematische Formeln haben für Aristoteles kein Ethos, weil ihnen der Handlungsentschluss fehlt, sie haben kein “Wohin” und darum kein Ethos.15
2.3 Das rationale Ethos
Jakob Wisse identifiziert zwei Möglichkeiten, die Bedeutung des Begriffs Ethos innerhalb des rhetorischen Systems zu verstehen.16 Es können entweder nur diejenigen Qualitäten des Textes eines Orators, die Glaubwürdigkeit hervorrufen als Ethos verstanden werden. Dies würde ein enges Verständnis der drei bei Aristotele s erwähnten Qualitäten des Ethos bedeuten. Die zweite Variante ist die, alle Aspekte, die ein günstiges Licht auf den Redner und den Fall werfen in die Kategorie des Ethos einzuschließen. Die erste Variante nennt Wisse “rational ethos”, die zweite “ethos of sympathy”.17 Das Verständnis des Ethos als “Ethos der Sympathie” im Sinne Wisses wird bei Quintilian besonders deutlich. Bei ihm ist das Ethos eine milde Form der Affekte: “Ich füge hier gleich an, daßEthos und Pathos bisweilen ihrem Wesen nach gleich sind, und zwar so, daßdas eine nur den stärkeren Grad bezeichnet, das andere den schwächeren, z.B. Liebe ein Pathos, Wertschätzen ein Ethos, zuweilen aber auch einander entgegengesetzt, z.B. im Schlußteil der Rede; denn die Erregung, die das Pathos verursacht hat, pflegt das Ethos wieder zu besänftigen.”(VI,2,12)18 Ein solches Verständnis des Ethos ist allerdings nicht ganz unproblematisch. Zum Einen ist die Angrenzung zwischen Ethos und Pathos erheblich erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht, da sich der Schwerpunkt des Ethos vom Redner auf das Publikum verschiebt, denn im Hörer sollen ja diese “schwächeren” Affekte ihren Platz haben, so etwa die Sympathie dem Redner gegenüber. Die Designation von Ethos und Pathos würden sich überlappen.19 Das Verständnis des Ethos als ein Ethos der Sympathie im erwähnten Sinne findet sich bei Aristoteles nicht, wie auch Robling anmerkt: “Eine komplizierte Rezeption (der aristotelischen Rhetorik , K.S.) hat schon in der Antike zu der reduzierten Auffassung geführt, daßman unter ‚ethisch‘ die gemäßigte Affektstufe und entsprechend einen maßvollen - den sog. ‚mittleren‘ Rede- und Schreibstil verstand.”20
Der Begriff Ethos ist in der aristotelischen Rhetorik exklusiv für das Überzeugen durch die Charakteristik des Redners reserviert. “Durch den Charakter geschieht dies, wenn die Rede so dargeboten wird, daßsie den Redner als glaubwürdig erscheinen läßt” (1,2,4) Die Erlangung von Glaubwürdigkeit steht für Aristoteles bei der Behandlung des Ethos im Vordergrund, nicht der Affekt des Zuhörers. Das Ethos ist nicht auf eine reine captatio benevolentiae im Sinne einer Erreichung von Sympathie oder anderer “milder” Gefühle zu reduzieren. Das Ethos ist vielmehr, so Jakob Wisse, insofern ein “rationales Ethos” als es für den Hörer ein Garant für die Richtigkeit einer Argumentation und Hilfsmittel einer rationalen Entscheidung über die Glaubwürdigkeit eines Redners ist.21 Die logische Argumentation eines Halunken mag folgerichtige Enthymeme enthalten, präsentiert er sich als Halunke wird ihm kein Glauben geschenkt. Der Zuhörer hat entschieden, ihn als nicht glaubwürdig einzustufen und seine Darstellung des Sachverhaltes mit kritischen Blick zu beäugen. Diese Entscheidung wird gewiss nicht immer bewusst gemacht, der Hörer hat jedoch immer die Möglichkeit, sich bewusst mit der Frage der Glaubwürdigkeit des Redners auseinanderzusetzen und hierbei auf das Ethos zurückzugreifen. Insofern kann das Ethos, zumindest im aristotelischen Verständnis, laut Wisse als ein argumentum extra causam22 begriffen werden, das zwar außerhalb des konkreten Falles liegt, aber eine potentiell rationale Komponente in sich birgt.
Der Ansatz Wisses, Ethos als ein argumentum extra causam zu betrachten hat allerdings seine Grenzen. Aristoteles fragt bei der Behandlung des Ethos nicht nach der tatsächlichen Tugendhaftigkeit, nach dem tatsächlichen Wohlwollen oder der tatsächlichen Einsicht. Nur gezeigtes und dargestelltes Wohlwollen und “zur Schau gestellter Menschenverstand”23 aber ist nur bedingt als argumentum zu betrachten. Die rationale Entscheidung über die Glaubwürdigkeit des Redners kann allerdings auf keiner anderen Grundlage beruhen. Die Schlüssigkeit einer logischen Argumentation und die affektive Reaktion des Hörers machen hierüber keine Aussage. Die Tatsache, dass die Entscheidung über die Bewertung der Glaubwürdigkeit mitunter auf tönernen Füßen steht schmälert nicht den Grad der mit ihr einhergehenden Rationalität. Insofern mag Ethos als argumentum extra causam im Einzelfall nur von geringer Aussagekraft sein, der Charakter eines potentiell rationalen Argumentes ist aber nicht abzusprechen.
3 Pathos
3.1 Pathos als Überzeugungsmittel
Das Pathos ist die emotionale Gestimmtheit des Zuhörers, seine Affekte in einer konkreten rhetorischen Situation. Ziel der Erregung von Pathos ist Krisis, die Urteilsdifferenz. Krisis entsteht durch eine geänderte Betrachtung des Sachverhaltes durch den Urteilenden, “denn nicht vollkommen gleich erscheint einem etwas, ob man nun liebt oder haßt, zornig oder gutmütig ist, sondern völlig oder dem Ausmaßnach verschieden.” (2,1,4) Die Urteilsdifferenz ist für Aristoteles das Definitionsmerkmal des Pathos: “Unter ‚Affekte‘ verstehen wir das, durch dessen Wechselspiel sich die Menschen in ihren Urteilen unterscheiden und dem Kummer und Vergnügen folgen, z.B. Zorn, Mitleid, Furcht und so weiter, sowie das Gegenteil davon.” (2,1,8) Aristoteles beschreibt die Affekte, von denen angenommen wird, sie existieren; Ziel ist nicht der Entwurf einer Emotionspsychologie modernen Sinne. Die in der aristotelischen Rhetorik verhandelten Affekte sind eine “‘projizierte‘ Psychologie”, ein “éndoxon, eine ‚wahrscheinliche‘ Psychologie”.24 Die Gefühlslage, wie sie vom Publikum angenommen wird ist beschrieben. Die “Tatsächlichkeit” dieser Emotionen als trennscharf fassbare psychologische Kategorie ist rhetorisch wenig interessant. Ob der Zorn im modernen psychologischen Sinne existiert oder nicht ist nicht die Frage, die Aristoteles beschäftigt. Er konzentriert sich auf die Emotionen, von denen das Publikum annimmt, dass sie existieren. Durch diese Bezugnahme auf allgemeine Annahmen über Affekte erhält das Pathos eine topische Qualität. Auf die Affektkategorien, wie sie Aristoteles darstellt kann der Orator zurückgreifen wie auf einen Topos, da es von allen geteilte Auffassungen über Affekte sind.
3.2 Die aristotelische Affekttrias
Aristoteles entwirft eine Affekttrias aus drei Komponenten, die jedem Affekt innewohnen: “Bei jedem einzelnen Affekt sind drei Aspekte zu trennen: Ich tue dies am Beispiel des Zorn: In welcher Gemütsverfassung befindet sich der Zornige? Wem zürnen sie gewöhnlich? Worüber sind sie erzürnt? Wenn wir nämlich eine oder zwei dieser Fragen zu beantworten verstehen, nicht aber alle drei, so können wir wohl unmöglich jemanden in Zorn versetzen.” (2,1,9) Die Aspekte lassen sich fassen in: die Gemütsverfassung des Zornigen (Pathosgehalt), derjenige, dem gezürnt wird (Pathosobjekt) und der Grund des Zorns (Sachverhalt). Werden nicht alle drei Aspekte berücksichtigt ist eine Affekterregung nicht möglich.
Die Erregung von Pathos soll für Aristoteles vor allem durch Erwähnung aller Bestandteile der Affekttrias in der Rede vonstatten gehen. Am Beispiel der Furcht dargestellt: “Daher mußder Redner, immer wenn es vorteilhaft ist, daßdie Zuhörer sich fürchten, sie in einen solchen Zustand versetzen, indem er sagt, daßgerade sie die Leute sind, denen Leid bevorsteht, denn schon andere, größere als sie, hätten Leid erfahren; ferner soll der Redner die Zuhörer darauf hinweisen, daßMenschen, die ihnen ganz ähnlich sind, zur Zeit leiden oder schon gelitten haben, und zwar von Leuten, von denen sie es nicht vermutet, ein Unglück, das sie nicht vermutet, und zu einem Zeitpunkt, an dem sie es nicht vermutet hätten.” (2,2,15) Pathosgehalt (Furcht vor bevorstehendem Leid), Pathosobjekt (Leute, von denen sie es nicht vermuten) und Sachverhalt (ein Unglück, das sie nicht vermuten) werden dargestellt, wenn auch in diesem Fall recht diffus gehalten.
Wisse argumentiert, dass die Struktur der Rhetorik nahe lege, dass Pathoserregung auch eine enthymematische Form annehmen kann, da die Kapitel 2,19-26, die sich mit Topik und Enthymem beschäftigen, an die Kapitel über Ethos und Pathos anschließen, ja sogar durch 2,18 daran gekoppelt sind.25 Diese Auffassung ist jedoch wenig überzeugend, da Aristoteles im dritten Buch der Rhetorik die gleichzeitige Verwendung von Pathos und Enthymem deutlich ausschließt. “Man soll aber nicht für alles Enthymeme suchen. (...) Wenn du Pathos heraufbeschwörst, verwende kein Enthymem!” (3,17,7/8)
Eine erschöpfende Anleitung zur Erregung von Affekten durch das Auftreten des Redners findet sich bei Aristoteles nicht. Im dritten Buch legt Aristoteles nahe, dass der Stil des Redners Pathos erzeugen kann. “Pathos erzeugt, wenn Übermut vorliegt, der Stil eines erzürnten, wenn Gottloses und Schamloses vorliegt, der Stil eines entrüsteten Redners, der die Sachlage fast nicht auszusprechen wagt;...” (3,7,3) Der rednerische Stil muss dem Sachverhalt angemessen sein:“Der Sachverhalt und die ihm angepaßte Ausdrucksweise erst wirken überzeugend.” (3,7,4) Diese Pathoserregung durch den rednerischen Stil, die Annahme, die scheinbare Erregtheit des Redners führe auch zu einer Erregung des Publikums findet sich, in einer elaborierteren Form, auch bei Quintilian, der die Wirkungsmechanismen der Pathoserregung intensiver behandelt.26 Aristoteles behandelt diese Form der Pathoserregung eher stiefmütterlich; erst im dritten Buch, und nicht im zweiten Buch, das sich intensiv mit Ethos und Pathos auseinandersetzt, wird diese Form in einem Satz erwähnt. Die Pathoserregung durch die Darstellung der Aspekte der Affekttrias scheint in seiner Theorie einen größeren Stellenwert einzunehmen.
3.3 Pathos und Rationalität
Pathos ist eine affektive Gestimmtheit des Zuhörers, eine Gemütsbewegung, eine Form der Leidenschaft. Nichtsdestotrotz steht Pathos nicht im Kontrast zu einer rationalen Schlussfolgerung.27 Affekt ist für Aristoteles nicht der Gegensatz zum rationalen Argument, sondern sein Begleiter.
Die Definition des Zorn als “ein vom Schmerz begleitetes Trachten nach offenkundiger Vergeltung wegen offenkundig erfolgter Geringschätzung” (2,2,1) impliziert, dass der Pathosträger eine Handlung als Geringschätzung wertet, also über eine Theorie verfügt, die eine Aussage darüber macht, welche Handlung als geringschätzend einzuschätzen ist und welche nicht. Dieses rationale Element des Pathos geht auch aus der Affekttrias hervor, laut der Pathos die kognitive Einschätzung von Pathosgehalt, Pathosobjekt und Sachverhalt zugrunde liegt. Um zürnen zu können muss ich wissen, wem, warum und in welcher Gemütsverfassung ich zürne. “Ist das also Zorn, dann zürnt notwendigerweise der Zürnende immer einer individuell bestimmbaren Person, z.B. dem Kleon, und nicht der Menschheit allgemein, weil dieser ihm oder den Seinen etwas angetan hat oder antun wollte (...)” (2,2,2) Erst die Information über die Taten des Kleon und eine Einschätzung dieser Taten macht den dem Kleon Zürnenden zürnend. Eine Meinungsbildung des Pathosträgers ist für Affekte im aristotelischen Sinne konstitutiv. “Affekte sind mit Annahmen über menschliche Handlungen oder Sachverhalte verknüpft. Diese können wahr oder falsch sein.”28 Diese These Wörners gipfelt in der Aussage: “Dasjenige aber, was wahr oder falsch sein kann und mit Verstand verknüpft ist, liegt im Bereich des Rationalen.”29 Wisse betont in diesem Punkt den Aspekt der Bewertung: “There is an important element of cognition and judgement to Aristotle’s emotions, since they are based on evaluation.”30, ähnlich Wörner: “Die Annahme selbst enthält vielmehr zugleich eine Bewertung des Angenommenen nach ‚gut‘ oder ‚übel‘.”31 Die zugrundeliegende Bewertung des Sachverhaltes und des Pathosobjektes unterscheidet das Pathos von rein körperlichen Phänomenen, wie beispielsweise den Kopfschmerz. Der Kopfschmerz mag eine Urteilsdifferenz auslösen, hat aber weder ein Ziel noch eine Ursache, die aus einer Bewertung hervorgeht.
Offen bleibt allerdings die Frage, inwieweit die dem Pathos vorgängigen Bewertungen und Annahmen bewusst getroffen werden oder nicht, was für eine Definition als rational, und nicht bloßpotentiell rational, unabdingbar wäre.
Auch die Pathoserregung durch den rednerischen Stil muss kein rationales Element enthalten, da “der Zuhörer stets dem mit Pathos Sprechenden in seinen Emotionen folgt, auch wenn dieser nichts Wesentliches aussagt.” (3,7,5) In diesem Falle ist der Grund für die Erregung des Publikums in der zur Schau gestellten Erregung des Redners zu suchen, rationale Anteile sind hier nicht zwingend vorhanden. Für Wisse steht also fest: “Emotions, therefore, can still be blind impulses.”32 Es offenbart sich hier ein Doppelcharakter des Pathos‘: Die Affekterregung kann entweder, bewusst oder unbewusst, auf rationale Ursachen zurückgeführt werden oder durch die Übernahme der Erregtheit des Redners durch Publikum bedingt sein.
Wörner geht in seiner Analyse der Rationalität von Pathos einen Schritt weiter und betrachtet nicht nur die Entstehungsbedingungen, sondern auch die Funktion. Pathos als eines der drei Pisteis hat die rhetorische Funktion des Überzeugens durch Herbeiführen einer Urteilsdifferenz. Wörner geht von einer zweiten Funktion aus der Sicht des Hörers aus: “Ein Pathostopos, der vom Hörer bewusst oder unbewusst als geltend anerkannt wird, hat somit die Funktion einer Auslegungshilfe von Gesagtem, wobei seine Geltung (für den Sprecher wie den Hörer) eine sachgerechte Verständigung und eine der Sache angemessene affektive Reaktion erst ermöglicht. Diese ist so vernünftig, wie die in der Rede vermittelten Annahmen, Meinungen und Bewertungen es sind. Mehr noch: Es ist vernünftig, affektiv betroffen zu sein.”33 Das Pathos ist Stütze und nicht Hürde auf dem Weg zum Verständnis des Textes, eine affektive Reaktion ist sachangemessen, dem Verstehen dienlich.
4 Schluss
Ethos und Pathos sind die nicht logisch-argumentativen Überzeugungsmittel in der Rhetorik des Aristoteles. Der Stellenwert dieser Pisteis ist nicht eindeutig zu bestimmen. Zwar greift Aristoteles bereits zu Beginn der Rhetorik in einer polemischen Spitze die Fachautoren seiner Zeit an, die das Enthymem vernachlässigen34, aber im weiteren Verlauf der Rhetorik wird immer wieder auf die Wichtigkeit von Ethos und Pathos für den Überzeugungsprozess hingewiesen.35
Das logisch-argumentative Überzeugungsmittel, Logos, hat für Aristoteles keinen exklusiven Anspruch auf Rationalität. Affekte und Rednercharakteristik können nicht als Einfallstore des Irrationalismus, nicht als grundsätzlich der Vernunft entgegenlaufende Überzeugungsmittel betrachtet werden. Besonders deutlich wird dies an der aristotelischen Affekttrias, die Entscheidungen und Urteile des Hörers über einen Sachverhalt voraussetzt, um von Pathos sprechen zu können. Der Affekt ist eine angemessene Reaktion auf einen Sachverhalt, ist Teil des Verstehens und nicht ein Hindernis auf dem Weg zur kognitiven Durchdringung einer Gegebenheit. Dies impliziert allerdings nicht, dass Pathos stets mit einem ähnlich hohen Rationalitätsgrad verknüpft ist wie das Enthymem. Sachverhaltsbewertungen können auch unbewusst stattfinden und der Hörer kann dem Orator in seinen dargestellten Affekten schlicht folgen. Es besteht allerdings immer die Möglichkeit der rationalen Überprüfung der Ursachen des Pathos im Rahmen der aristotelischen Affekttrias.
Ethos, die Rednercharakteristik, die in der rhetorischen Situation zu Tage tritt ist das zweite nicht logisch-argumentative Überzeugungsmittel in der Rhetorik des Aristoteles. Ethos gliedert sich in drei Aspekte, die durch die Selbstpräsentation des Redners zum Ausdruck gebracht werden sollen: Tugend, Einsicht und Wohlwollen.
Dies sind für Aristoteles die Gründe, warum Redner glaubwürdig erscheinen.
Betrachtet als “rational ethos” im Sinne Jakob Wisses birgt Ethos, ebenso wie Pathos, die Möglichkeit der rationalen Überprüfung in sich. Als ein argumentum extra causam kann das Ethos des Redners herangezogen werden bei der Überprüfung der Glaubwürdigkeit einer dargelegten Argumentation. Eine weitere Möglichkeit der Glaubwürdigkeitsüberprüfung des Redners ist in der rhetorischen Situation nicht gegeben. Inwieweit dieser Prozess bewusst vollzogen wird ist für die Rationalität von Ethos als Überzeugungsmittel ebenso von untergeordneter Bedeutung wie das tatsächliche Vorhandensein von Einsicht, Tugend und Wohlwollen beim Orator.
5 Literaturverszeichnis
Aristoteles: Rhetorik. Übers. und hrsg. von Gernot Krapinger. Stuttgart 1999.
Barthes, Roland: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt 1988.
Knape, Joachim: Allgemeine Rhetorik. Stuttgart 2000.
Ottmers, Clemens: Rhetorik. Stuttgart, Weimar 1996.
Quintilian, M. F.: Ausbildung des Redners (institutio oratoria). Hrsg. und übers. von Helmut Rahn, Darmstadt 1995.
Robling , F.H.: Ethos. In: Ueding, Gert: Historisches Wörterbuch der Rhetorik , Tübingen 1997, S.1516.
Ueding, Gert; Steinbrink, Bernd: Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. 2. Auflage Stuttgart 1986.
Wisse, Jakob: Ethos and Pathos from Aristotle to Cicero. Amsterdam 1989.
Wörner, Markus H.: Pathos als Überzeugungsmittel in der Rhetorik des Aristoteles. In: Pathos, Affekt, Gefühl. Hrsg. von Ingrid Craemer-Ruegenberg, Freiburg i. Br. und München 1981, S.60.
[...]
1 Alle Aristoteles-Zitate aus: Aristoteles: Rhetorik. Übers. und hrsg. von Gernot Krapinger. Stuttgart 1999.
2 Vgl. Clemens Ottmers: Rhetorik. Stuttgart, Weimar 1996, S. 118.
3 Vgl. Jakob Wisse: Ethos and Pathos from Aristotle to Cicero. Amsterdam 1989, S. 58.
4 Vgl. Joachim Knape: Allgemeine Rhetorik. Stuttgart 2000, S. 43.
5 F.H. Robling: Ethos. In: Gert Ueding: Historisches Wörterbuch der Rhetorik , Tübingen 1997, S.1516.
6 Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt 1988, S.76.
7 ebd.
8 Vgl. Markus H. Wörner: Pathos als Überzeugungsmittel in der Rhetorik des Aristoteles. In: Pathos, Affekt, Gefühl. Hrsg. von Ingrid Craemer-Ruegenberg, Freiburg i. Br. und München 1981, S.60.
9 Vgl. Knape, Allgemeine Rhetorik. (s. Anm. 4), S. 43.
10 Barthes (s. Anm. 6), S. 76.
11 Wörner (s. Anm. 8), S. 59.
12 Knape (s. Anm. 4), S. 43.
13 Vgl. Knape (s. Anm. 4), S. 43.
14 In Klammern gesetzte Worte sind Einfügungen des Übersetzers.
15 Vgl. Aristoteles (3,16,8).
16 Vgl. Wisse (s. Anm. 3), S. 7.
17 Vgl. Wisse (s. Anm. 3), S. 33
18 M. F. Quintilian: Ausbildung des Redners (institutio oratoria). Hrsg. und übers. von Helmut Rahn, Darmstadt 1995.
19 Vgl. Wisse (s. Anm. 3), S.7.
20 F.H. Robling: Ethos. In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik (s. Anm. 5), S.1517. Eine solche, im Sinne Roblings reduzierte Auffassung, findet sich auch in: Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. 2. Auflage Stuttgart 1986, S.258f, S.261f.
21 Vgl. Wisse (s. Anm. 3), S.33.
22 Vgl. Wisse (s. Anm. 3), S.34.
23 Barthes (s. Anm. 6), S. 76.
24 Barthes (s. Anm. 6), S.75.
25 Vgl. Wisse (s. Anm. 3), S.20f.
26 Vgl. Knape (s. Anm. 4), S.155.
27 Vgl. Knape (s. Anm. 4), S.45.
28 Wörner (s. Anm. 8), S.68.
29 Wörner: , (s. Anm. 8), S.70.
30 Wisse (s. Anm. 3), S. 73.
31 Wörner (s. Anm. 8), S.71.
32 Wisse (s. Anm. 3), S.73.
33 Wörner (s. Anm. 8), S.78.
34 “Diejenigen, die zur Zeit Redetheorien aufstellen, haben nur einen kleinen Teil von ihr (der Rhetorik, K.S.) mühevoll erarbeitet, denn nur die Überzeugungsmittel sind Bestandteil einer Theorie, alles andere ist Beiwerk; über die Enthymeme, die die Grundlage der Beweisführung darstellen, sagen sie nichts aus, sondern sie beschäftigen sich in den meisten Fällen mit Nebensächlichkeiten.” (1,1,3).
35 Vgl. u.a. (1,2,3), (1,7,6), (2,1,2).
- Arbeit zitieren
- Karsten Stölzgen (Autor:in), 2000, Ethos und Pathos in der Rhetorik des Aristoteles, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104157
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