Die erste Marokko Krise 1904 - 1906
Eine ernsthafte Kriegsgefahr für die europäischen Mächte?
Die von Großbritannien und Frankreich am 8. April 1904 geschlossene Entente cordiale bedeutete für die deutsche Außenpolitik eine der schlimmsten Niederlagen seit dem französisch- russischen Zweibund von 1892. Denn beide Bündnisse zusammen, Entente cordiale und Zweibund brachten das Deutsche Reich genau jener Lage näher, die Bismarck in seiner Bündnispolitik am Ende des 19. Jahrhunderts stets zu vermeiden suchte. Seit diesem Tag war in der deutschen Regierung eine wachsende Furcht vor der diplomatischen Isolierung zu konstatieren.
In der Entente erklärten die Bündnispartner Großbritannien und Frankreich die Abgrenzung ihrer kolonialen Interessensphären. Frankreich erkannte die englische Vorherrschaft in Ägypten uneingeschränkt an, wodurch ihm im Gegenzug Marokko als französisches Einflußgebiet überlassen wurde.
Frankreich begann nach Abstimmung mit Spanien noch im gleichen Jahr mit der verstärkten so genannten „friedlichen Durchdringung“ von Marokko mit dem Ziel, es in ein französisches Protektorat umzuwandeln. Diese Pläne betrachtete das Deutsche Reich mit Argwohn, da nicht klar war, in wie weit die eigenen wirtschaftlichen Interessen in Marokko durch das französische Vorgehen gefährdet würden. Doch nicht nur um demonstrativ die Ansprüc he Deutschlands in dieser Region, sondern auch um seine Stellung als unumgängliche Weltmacht zu unterstreichen, inszenierte Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow daher einen Besuch des deutschen Kaisers Wilhelm II. in der marokkanischen Hafenstadt Tanger.
Dass der Hauptgrund für den Besuch eher die Weltmachtstellung des deutschen Reiches war und wirtschaftliche Interessen nur eine sekundäre Rolle spielten, wurde nie wirklich in Frage gestellt. Auch hatte das deutsche Reich kein Interesse am Erwerb marokkanischen Territoriums. Der Einfluß sowohl der 1902 gegründeten Marokko Gesellschaft als auch anderer Handels- und Kolonialgesellschaften auf die Politik war gering und die Finanzwelt war an Marokko völlig desinteressiert. Der deutsche Import aus Marokko belief sich zu jener Zeit auf 0,1 Prozent aller deutschen Importe. Marokko selbst war in der Madrider Konvention von 1880 die Souveränität des Sultans verbrieft worden und galt als ein für den internationalen Handel offenes Land. In der Konvention wurden zudem die Rechte der mit Marokko Handel treibenden Nationen festgelegt. Insofern verteidigte das deutsche Reich hier einen internationalen Rechtsstandpunkt. Allerdings
war offensichtlich, dass in einer Zeit in der die europäischen Mächte die Welt unter sich aufteilten, die uneigennützige Wahrung eines Rechtsstandpunktes nicht das vordergründige Interesse der deutschen Politik sein konnte.
Der triumphale Empfang Kaiser Wilhelms II. am 31. März 1905 in Tanger erregte bei der französischen Regierung und in der Öffentlichkeit großes Aufsehen. Deutschland hatte die Marokkokrise provoziert - eine Krise, die nicht zuletzt auch durch das unzulängliche Zusammenspiel der Protagonisten in der deutschen Reichsregierung noch größere Ausmaße annahm und vielleicht erst dadurch zu einer solchen Gefahr für die europäischen Mächte heranwuchs. Denn nach rund 15 Jahren Amtszeit war der direkte Einfluß des Kaisers auf die deutsche Politik auf Grund seines mehr theatralischen denn politischen Engagements bereits von vielen Seiten eingedämmt worden. Diese Tatsache wie auch die eher frankreichfreundliche Haltung Kaiser Wilhelms, der bereits dem Besuch in Tanger skeptisch gegenüber stand, führte dazu, dass das Auswärtige Amt ihn über vieles in Unkenntnis ließ und ihm so manche Vorenthalt ung machte. Aber auch der Kaiser überraschte führende Politiker immer wieder mit spontanen Alleingängen. Diese Differenzen besonders in der deutschen Außenpolitik führten zum Beispiel dazu, dass der Kaiser das geheime Verhandlungsangebot des französischen Ministerpräsidenten Rouvier bezüglich Marokko vom Mai 1905 nie zu Gesicht bekam.
Brachte die erste Marokkokrise die europäischen Mächte wirklich ernsthaft an den Rand eines Weltkrieges? Die Frage, ob von der deutschen Politik ein solcher Präventivkrieg gegen Frankreich erwogen worden ist bzw. erwogen worden sein könnte, wurde in der Geschichtswissenschaft sehr kontrovers diskutiert und soll im Folgenden näher erläutert werden.
Der Zeitpunkt für einen Krieg gegen Frankreich schien sicherlich günstig, da der französische Verbündete Rußland durch die Niederlage im russisch-japanischen Krieg zumindest vorübergehend militärisch und durch die Revolution im eigenen Land politisch geschwächt war. Die Befürchtung eines Krieges war nicht unbegründet, denn ein entsprechender Aufmarschplan existierte bereits in Form des so genannten Schlieffenplans. Für einen Angriffskrieg des Deutschen Reiches gegen Frankreich sprach neben der günstigen Lage im Osten (Rußland) auch die Tatsache, dass Frankreich selbst zu diesem Zeitp unkt nicht kriegsbereit war, da die französische Armee sich in einem desolaten inneren Zustand befand. Dies waren die beiden Hauptargumente, die in zeitgenössischen Quellen immer wieder auftauchen und oft aus dem Umfeld Friedrich August von Holsteins stammen, dem als Politiker und Diplomaten zu jener Zeit eine Schlüsselstellung in Außenpolitik zu kam, sowie dem Militär. Hier kamen die Stimmen allerdings nicht, wie oft behauptet wurde von Moltkes Vorgänger, Generalstabschef Alfred Graf von Schlieffen, sondern eher aus den Kreisen höherer Heeresoffiziere.
Gegen die Erwägung eines Präventivkriegs des Deutschen Reiches gegen Frankreich sprach die Tatsache, dass sich die deutsche Kriegsflotte noch im Aufbau befand und die britische Flotte ihr zu jenem Zeitp unkt weit überlegen war. Das deutsche Heer befand sich zudem in einer Umbruchphase und war daher nicht kriegsbereit, auch wenn Kriegsminister von Einem dies gegenüber dem Kaiser gern behauptete. Wirtschaft und Gesellschaft waren für einen Krieg der länger als wenige Wochen dauern würde ebenfalls völlig unzureichend vorbereitet.
Ob Großbritannien Frankreich im Falle eines Krieges unterstützt hätte, ist nicht bewiesen. Das ist darauf zurückzuführen, dass es zu jener Zeit widersprüchliche Erklärungen verschiedener offizieller Stellen sowohl von Großbritannien als auch von Frankreich gab, was letztendlich zu einem Mißtrauen in Deutschland und zu vielen Spekulationen und Einschätzungen führte. Wie unterschiedlich diese waren, machte schon die deutsche Staatsspit ze deutlich. Im Gegensatz zu Kanzler Bülow, der eine Beteiligung Großbritanniens geradezu ausschloß, war sie für Wilhelm II. selbstverständlich. Zwar hat Großbritannien den Franzosen Marokko überlassen, doch hatte es damit nicht die Verpflichtung übernommen, Frankreichs Interessen in Marokko militärisch zu verteidigen. Zudem war das englische Volk einem Krieg zu jener Zeit abgeneigt, erst recht einer Auseinandersetzung in dem es nicht einmal direkt um britische Interessen ging. Dennoch betrachtete die britische Öffentlichkeit die deutsche Marokkopolitik als einen Angriff auf die Entente cordiale. Zudem fühlten sie sich durch den deutschen Flottenbau sehr provoziert und die Angst im Deutschen Reich vor einem britischen Präventivschlag gegen die deutsche Flotte war entsprechend weit verbreitet. Es muss also davon ausgegangen werden, dass Großbritannien im Fall eines Kriegs zumindest nicht tatenlos zugesehen hätte. Die Frage ist nur, ob eine Unterstützung zu Wasser oder auch zu Lande erfolgt wäre. Im Laufe der Krise zeichnete sich dann ab, dass Großbritannien Belgien seine Unterstützung für den Fall eines deutschen Durchmarsches durch das Land zusicherte. Dass dies im Falle eines Krieges gegen Frankreich zwangsläufig der Fall sein würde, hatte Kaiser Wilhelm dem belgischen König Leopold ganz unverhohlen klar gemacht. Zudem konnte das Deutsche Reich nicht unbedingt von einer Unterstützung durch Österreich-Ungarn ausgehen, da der Zweibund von 1879 eine rein defensive Allianz war. Quellen aus jener Zeit legen den Schluß nahe, dass die Habsburgermonarchie einen Krieg wegen Marokko nicht unterstützt hätte und eine Umsetzung des Schlieffenplanes galt ohne die Unterstützung der Doppelmonarchie als äußerst schwierig. Spanien hatte sich 1887 zwar förmlich dem Dreibund angeschlossen, schwenkte allerdings während der Krise immer mehr in Richtung Entente-Mächte. Auf Grund der Gefahr einer Umklammerung durch Frankreich und der Bedrohung durch die britische Flotte, mußte Spanien der Entente folgen, ob es wollte oder nicht. Italien bekräftige zwar offiziell seine Bündnistreue zum deutschen Reich und der Doppelmonarchie, denen es 1882 angeschlossen hatte, inoffiziell versicherte Italien allerdings Frankreich, ihre Marokkopolitik nicht zu gefährden, wofür Frankreich Tripolis als italienisches Interessengebiet anerkannte. Zudem war klar, dass sich Italien - ähnlich wie Spanien - auf Grund seiner langen Küsten nie die Feindschaft Großbritanniens zu ziehen würde. Das deutsch- italienische Verhältnis wurde zusätzlich durch den italienischen Irredentismus belastet, der die Habsburgermonarchie über einen Präventivkrieg gegen den Appeninenstaat nachdenken ließ. Das seit 1883 mit dem Dreibund assoziierte Rumänien hätte Deutschland in einem Krieg gegen Frankreich ebenfalls nicht unterstützt, weil Wien sich heraus gehalten hätte und es allein dem eigenen Nachbarstaat und französischen Bündnispartner Rußland keinen Anlaß zu Mobilmachung geben wollte. Während Portugal in der Krise als Anhängsel der Entente betrachtet werden konnte, wäre von den anderen Mächten Europas keine Kriegsbeteiligung zu erwarten gewesen.
Das äußerst schlecht auf einen Krieg vorbereitete deutsche Reich hätte einen Krieg also ohne jegliche militärische Unterstützung führen müssen. Der Glaube an den vermeintlich „günstigen Augenblick“ ist daher eher unter dem Eindruck der späteren weltpolitischen Sackgasse zu sehen, in die das Reich sich durch ihre Weltpolitik hineinmanövrierte. Außerdem wären die Ziele eines solchen Krieges äußerst dubios gewesen. Beibehaltung des Status Quo in Marokko? Territorialgewinne in Frankreich und Rußland? Die Schwächung der englischen Kriegsflotte? Angesichts der Unterlegenheit des Deutschen Reiches in einem kriegerischen Konflikt schien die Durchsetzung solcher Ziele mehr als unrealistisch. Zudem hätten die zu erbringenden Opfer in einem krassen Mißverhältnis zu den vermeintlichen Kriegszielen gestanden. Die deutsche Politik mußte während der Marokkokrise vielmehr andere Ziele verfolgt haben. Dass die Frage eines Krieges gegen Frankreich innerhalb der Reichsleitung zur Debatte stand ist unbestritten. So scheute sich Bülow nicht, die Franzosen vor die Kriegsfrage zu stellen. In diesem Zusammenhang ist oft vom „ deutschen Bluff “ die Rede, denn die Kriegsdrohung hatte vielmehr den Zweck, den nötigen Druck auszuüben, um entweder Rußland für ein Bündnis zu gewinnen oder zu Frankreich das Verhältnis zu verbessern, um so die Zweifrontenbedrohung zu überwinden und die Gefahr eines britisch-russisch-französischen Zusammengehens zu bannen. So war Deutschland stets um ein gutes Verhältnis zu Rußland bemüht. Ein von Deutschland angestrebtes Bündnis mit Rußland, um es aus dem französisch-russischen Bund heraus zu brechen, scheiterte allerdings kurz vor der Konferenz (Björkovertrag). In der Anfangsphase der Marokkokrise schloß der Kaiser gar ein Kontinentalbündnis mit Frankreich und Rußland nicht aus. In seinen Augen stellte die vermeintliche deutsche Kriegsdrohung eine Reaktion auf einen eventuellen Angriff der Entente gegen das deutsche Reich dar, den er stets fürchtete. Einen englischen Zeitungsartikel, der über die günstige Lage für einen Präventivkrieg gegen Frankreich berichtet, quittiert der Kaiser mit den Worten: „ Nein! Niemals werde ich einer solchen Handlung fähig sein! “ Auch bei Bülow und Holstein läßt sich die wirklich ernsthafte Absicht eines Präventivkrieges nicht nachweisen - vielmehr waren sie bemüht, die Krise auf diplomatischem Wege beizulegen und eine Annäherung an Frankreich zu erreichen. Die Kriegsdrohungen wurden eher als Mittel der Diplomatie dazu eingesetzt, den Verhandlungspartner einzuschüchtern und gefügig zu machen; sie waren aber nicht der Ausdruck einer wirklichen Kampfentschlossenheit. So sollte Frankreich demonstriert werden, dass Großbritannien das deutsche Heer nicht an einem Einmarsch in Frankreich hindern könne und die Franzosen daher gut daran täten, die Verständigung mit dem Deutschen Reich zu suchen. Durch sein energisches Auftreten wollte das Deutsche Reich den Franzosen zeigen, dass Deutschland sich in wichtigen internationalen Fragen nicht übergehen lassen würde.
Dass die Deutschen die Einberufung einer internationalen Konferenz bereits seit Juli 1904 anstrebten bestätigt die Auffassung, dass ein Krieg zur Lösung der Krise von Deutschland nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurde. Ziel der Konferenz sollte die Regelung der Marokkofrage und ein Zurückhalten Frankreichs von einem Alleingang in diesem Land sein, indem es öffentlich ins Unrecht gesetzt würde. Die Entlassung des französischen Außenministers Théophile Delcassé reichte dem Deutschen Reich nicht. Die deutsche Regierung erhoffte sich von der Konferenz viel mehr, dass Frankreich eingeschüchtert und isoliert werden könne. Frankreich sollte die Wertlosigkeit des Bündnisses mit Großbritannien einsehen und sich für ein Kontinentalbündnis mit Deutschland und Rußland entscheiden. Als die Konferenz schließlich von Januar bis April 1906 im südspanischen Algeciras zustande kam - an ihr nahmen neben den fünf europäischen Großmächten auch die anderen Signatarmächte der Madrider Konvention Italien, Spanien, Portugal, Belgien, die Niederlande und die USA teil - mußte die deutsche Delegation eine unerwartete, schwere diplomatische Niederlage hinnehmen. Denn nicht Frankreich, das die Unterstützung Großbritanniens, aber auch anderer Staaten und der USA erhielt, war politisch isoliert, sondern das Deutsche Reich, das sich lediglich auf Österreich-Ungarn als Verbündeten stützen konnte. In der am 7. April 1906 unterzeichneten Algeciras-Akte wurde die Souveränität des Sultans von Marokko - also der seit der Madrider Konvention von 1880 bestehende Status Quo - im wesentlichen anerkannt und die internationale Handelsfreiheit garantiert. In den acht Häfen des Landes wurde die marokkanische Polizei jedoch französischen und spanischen Offizieren unterstellt. Diese Regelung sollte von je einem französischen, britischen, spanischen und deutschen Beauftragten kontrolliert werden. Äußerlich war damit die deutsche Forderung erfüllt; die schrankenlose Vereinnahmung des Landes durch Frankreich war verhindert worden. Dennoch hatte Frankreich damit die wirksame Handhabe für eine stufenweise wirtschaftliche und politische Annexion des Landes. Aber der Verlauf der Verhandlungen hatte allen Teilnehmern deutlich gemacht, dass das Deutsche Reich mit seinem habsburgischen Verbündeten eine empfindliche Niederlage erlitten hatte, während die britisch-französische Entente cordiale gestärkt aus der Konferenz hervorgegangen war. Der Versuch, durch eine kurzsichtige Drohpolitik Frankreich in die Enge zu treiben war nicht nur gescheitert, sondern führte letztendlich auch noch zu einer Festigung der Bande zwischen den Ententepartnern, die später in militärischen Absprachen über gemeinsame Aktionen für den Fall eines Krieges mit den Mittelmächten mündeten. Dass eine solche Drohpolitik noch immer möglich war, resultiert nicht zuletzt auch auf der Entstehungsgeschichte des Deutschen Reiches, als einem Ergebnis eines siegreichen Krieges gegen Frankreich 1870/71, dass sich in einem deutlichen Überlegenheitsgefühl gegenüber dem westlichen Nachbarn auch noch zu jener Zeit ausdrückte.
Festzuhalten bleibt, dass eine Kriegsgefahr für die europäischen Mächte während der ersten Marokkokrise zwar durchaus existent war, dass diese Gefahr vor dem Hintergrund des in jener Zeit herrschenden Nationalismus und Imperialismus in Europa, in dem Krieg als eine politische Option galt, dennoch weniger groß war als oft angenommen wird.
Literatur:
Raulff, Heiner, Zwischen Machtpolitik und Imperialismus. Die deutsche Frankreichpolitik 1904- 05, Düsseldorf 1976
Moritz, Albrecht, Das Problem des Präventivkrieges in der deutschen Politik während der ersten Marokkokrise, Bern, Frankfurt a.M. 1974
Geiss, Imanuel, Das Deutsche Reich und die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, München, Wien 1978
- Citation du texte
- Ralf Beunink (Auteur), 2001, Die erste Marokkokrise 1904 - 1906, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104089
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