INHALTSVERZEICHNIS
EINFÜHRUNG
1 BIOGRAPHIE
2 NEW URBAN SOCIOLOGY
2.1 GESELLSCHAFTLICHE ENTWICKLUNGEN
2.2 IDEOLOGIEKRITIK
2.3 STRUKTURTHEORIE
3 HAUPTAUSSAGEN (DER FRÜHEN PHASE-DIE KAP. STADT)
3.1 MIKROKOSMOS STADT UND IHRE GESELLSCHAFTLICHE FUNKTION
3.2 KOLLEKTIVE KONSUMTION UND REPRODUKTION DER ARBEITSKRAFT
3.3 ROLLE DES STAATS
3.4 KRISE UND SOZIALE BEWEGUNG
4 BEDEUTUNG VON CASTELLS „LA QUESTION URBAINE“
4.1 VERHÄLTNIS VON GESELLSCHAFT UND STADT
4.2 POLITISIERUNG DER STADT
5 NACHFOLGENDE WERKE
5.1 THE CITY AND THE GRASSROOTS
5.2 THE INFORMATIONAL CITY UND THE INFORMATION AGE
6 SCHLUßBETRACHTUNG
LITERATUR
Einführung
Im Zuge der gesellschaftliche n Veränderungen und Diskussionen vor etwa 30 Jahren entwickelten sich auch die Anfänge der New Urban Sociology. Im Diskurs zwischen englischen, französischen und italienischen Stadtsoziologen wurden neue Ansätze im Rahmen der Stadtsoziologie vor allem mit thematischen Fokus auf den Marxismus formuliert. Ein Zentrum dabei bildete Paris, nicht zuletzt basierend auf den dortigen, sich zeitgleich abspielenden studentischen Bewegungen und öffentlich sichtbaren studentischen Auseinandersetzungen. (vgl. SIEBEL, 1987: 13)
Diese Arbeit soll in ihrer Hauptaussage einen inhaltlichen Zugang zu einem der bekanntesten Vertreter der New Urban Sociology, Manuel Castells, bieten. Neben einem kurzen biographischen Abriß zu seiner Person wird die New Urban Sociology in den zeitlich Kontext ihres Entstehungsumfeldes gesetzt. Die Auseinandersetzung mit ihren Hauptargumentationssträngen wird immer wieder mit der Hauptperson dieser Arbeit verknüpft, um zum einen die enge Anlehnung deutlich zu machen und damit die Behauptung des „Vertretertums“ zu rechtfertigen, zum anderen leitet die Darlegung auch inhaltlich zu Manuel Castells über.
Seine Aussagen werden anhand des 1973 in Frankreich erschienenen Buches „La Question Urbaine“ dargestellt und erläutert. Dieser Darstellung folgt eine kurze Betrachtung der weiterreichenden und weitergeführten Diskussion, welche über seine Thesen geführt wurde.
Die Vorstellung seiner aktuellen Werke soll einen Eindruck über die thematischen Schwerpunkte seines gegenwärtigen Schaffens geben.
1 Biographie
Manuel Castells, geboren am 9.2.1942 in Hellin, Spanien, absolvierte zu Beginn der 60er Jahre zunächst das Studium der Rechtswissenschaft in Barcelona (Lizenziat 1962). Sein anschließender Gang nach Paris zum Studium des öffentlichen Rechts und der politischen Wissenschaften (Lizenziat 1964) kann nach LeGates / Stout als Flucht aus dem autoritären Spanien unter dem Regime Francos gewertet werden (vgl. ebd.: 493). Sein Diplom der Soziologie legte er an der „Ecole Pratique des Ha u- tes Etudes“ ab, promovierte 1967 bei Alain Tourraine1 in Paris (Nanterre) und erwarb ein Doktorat (Docteur d`Etat) in Humanwissenschaften. Während der folgenden drei Jahre bis 1970 ging Castells seiner Lehrtätigkeit an der Sorbonne nach. Von 1970 bis 1979 lehrte er Stadtsoziologie an der „Ecole des Hautes Etudes en Sciences So- ciales“, wiederum in Paris. Zu dieser Zeit wurde er auch Mitglied der „Centre d`Etudes des Mouvements Sociaux“ (CEMS), dessen Leiter Alain Tourraine war. Castells trug dort die Verantwortung für die stadtsoziologische Forschergruppe. Seit 1979 ist er Professor für Stadt- und Regionalplanung an der University of California, Berkeley.
Manuel Castells, geprägt durch seine Erfahrungen in Paris, ist vor allem auch Kosmopolit: als Gastprofessor hielt er sich u.a. an den Universitäten von Chile, Montreal, Caracas, Genf, Kopenhagen, Boston, Hong Kong, Singapur, Moskau, Amsterdam, Taiwan, Tokyo auf.
„Castells has been everywhere, speaks six languages (no Asian ones however), has direct personal experience of the cultures and societies he writes about.“ (BARNEY)
2 New Urban Sociology
Aufgrund seiner frühen Werke - v.a. das 1973 erschienene Buch „La Question Urbai- ne“ spielt eine wichtige Rolle - wird Manuel Castells als Vertreter des Neo-Marxismus innerhalb der Stadtsoziologie eingeordnet. Er ist „bekanntester Protagonist“ der „New Urban Sociology“ („Neue Stadtforschung“) (KRÄMER/NEEF: 1). Dieser Zweig der Stadtsoziologie entwickelte sich gegen Ende der 60er / Anfang der 70er Jahre vor allem in Europa, wobei Frankreich mit der Hauptstadt Paris ein bedeutendes Zentrum dieser Bewegung darstellte.
2.1 Gesellschaftliche Entwicklungen
Während der 50er und 60er Jahre kam es in den westlichen Ländern zu vorher nie dagewesenem Wirtschaftswachstum. Besonders in den bereits bestehenden Agglo- merationsräumen, welche die Wachstumspole des ökonomischen Aufschwungs bil- deten, kam es durch Zuwanderung, zu rasch sich verschärfenden, räumlichen Kon- zentrationsprozessen. Um die notwendige Infrastruktur bereitstellen zu können kam es in der Folge zu einer drastischen Ausweitung der staatlichen Aktivitäten auf den Gebieten Wohnungsbau, Transporteinrichtungen, Erziehung und Bildung, Gesund- heitswesen u.ä.. Die Herausbildung und der Ausbau des Wohlfahrtstaates waren die Folge. Mit Hilfe dieser staatlichen Planung sollte auf allen Ebenen die Koordination und Lenkung der Entwicklung gewährleistet sein. Dennoch waren diese staatlichen Interventionen zunehmend von Konflikten begleitet (vgl. KRÄMER/NEEF: 8).
Bis zu dieser Zeit war der Einfluß des Neo-Marxismus in der Beschäftigung mit der Stadt sehr gering. Städte waren demnach zwar von großer Bedeutung zur Herausbil- dung eines Klassenbewußtseins und Schauplatz der Klassenkämpfe, aber sie waren doch „lediglich“ Produkte von Prozessen auf nationaler Ebene (vgl. SCHWAB: 24). Dies änderte sich jedoch mit dem Auftreten sozialer Bewegungen (Anti-Kriegs-, femi- nistische und Homosexuellen-Bewegung), Konflikten (studentischer Radikalismus) und anderen Entwicklungen (Ölkrise), welche vor allem in den Städten zum Ausdruck kamen und die als Formen des Klassenkampfes und Folgen des kapitalistischen Systems angesehen wurden (edb).
2.2 Ideologiekritik
Castells, wie auch andere Vertreter der neo-marxistisch geprägten Bewegung der „New Urban Sociology“, lehnte die bisherigen raditionellen theoretischen Ansätze der Stadtfo rschung ab.
Für Castells stellten sich die vorhandenen Theorien als ideologisch, also im Kapita- lismus verwurzelt dar. Im Gegensatz zu anderen Meinungen der New Urban Sociolo- gy, welche die Funktion der bestehe nden Theorien darin sahen, die kapitalistischen Klassenverhältnisse zu manifestieren (Lefèbvres), lag für Castells das Ideologische darin begründet, daß deren „Väter“ nicht in der Lage waren, sich bei der Theoriebil- dung über die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse hinwegzusetzen. Die Folge war demnach, daß sie „...die ideologischen Formen der kapitalistischen Gesellschaft sorgfältig aus[zu]arbeiten, statt mit ihnen zu brechen...“ (vgl. SAUNDERS: 153).
2.3 Strukturtheorie
Somit müsse nicht die Frage nach dem Individuum, sondern die Frage nach der ge- sellschaftlichen Totalität - geprägt durch das kapitalistischen System -, welche die Individuen als Subjekte bestimmt, im Mittelpunkt der Theoriebildung stehen. Da Castells die Notwendigkeit sieht, von der Struktur, also vom System der Gesellschaft auszugehen, läßt sich auch seine eher milde Haltung der Humanökologie gegenüber erklären. Den Vertretern der Chicagoer Schule, v.a. Louis Wirth bescheinigt er: „Es handelt sich hier wahrscheinlich um die ernsthafteste theoretische Anstrengung, die jemals in der Soziologie geleistet wurde, um einen der Stadtsoziologie spezifischen theoretischen Gegenstand...zu bestimmen.“ (CASTELLS 1977: 64). Saunders drückt dies noch deutlicher aus: „Der Versuch, territoriale Kollektive durch die Vorstellung eines ökologischen Systems 2 zu erklären, stellt den ernsthaftesten Versuch dar, der Stadtsoziologie, in Verbindung mit dem funktionalistischen Ansatz, einen theoretisch eigenständigen Bereich zuzumessen.“ (ebd.: 159).
Mit der Deklaration der bis dahin entwickelten Stadttheorien als im kapitalistischen System verhaftet, folgt die Forderung nach einer Neudefinition des „Städtischen“, welche nicht nur von Castells, sondern von der Neuen Stadtforschung insgesamt vertreten wird. (vgl. KRÄMER/NEEF: 2)
3 Castells: Vertreter der New Urban Sociology
Im folgenden werden die wichtigsten Hauptaussagen des Buches „Die kapitalistische Stadt“ dargestellt. Das 1973 erstmals in Frankreich erschienene Werk trägt den Orginaltitel „La Question Urbaine“ und wurde in Deutschland 1977 in verkürzter Ausgabe mit dem Untertitel „Ökonomie und Politik der Stadtentwicklung“ in der Reihe „Analysen zum Planen und Bauen“ herausgebracht.
3.1 Mikrokosmos Stadt und ihre gesellschaftliche Funktion
Castells Konzept für eine Neuformulierung der Definition des „Städtischen“ geht zunächst davon aus, daß sich Stadt nicht über Kultur oder Politik bestimmen läßt. Vielmehr kann die Stadt als eine ökonomische Einheit betrachtet werden (vgl. KRÄMER/NEEF: 8; KORTE/ SCHÄFERS: 248).
Zum einen ist die Stadt zwar ein „...Mikrokosmos des Gesamtsystems...“ (SAUNDERS: 173), und dementsprechend lassen sich dort auch konkrete Institutio- nen der drei Ebenen Politik, Kultur (nach Castells: „Ideologie“) und Ökonomie3 finden, jedoch ist für Castells die Frage entscheident, in welcher der drei Ebenen die spezifi- sche Funktion der Stadt für das Gesamtsystem liegt. Der Nachweis, welche gesell- schaftliche Einheit mit der räumlichen Einheit der Stadt zusammentrifft bildet also für Castells die Grundlage für eine Neuformulierung von Stadttheorie und liegt in der Frage nach deren Funktion für die gesellschaftliche (kapitalistische) Gesamtstruktur. (vgl. SAUNDERS: 160ff).
Die spezifische Funktion der Stadt für das Gesamtsystem liegt nach Castells nicht im politischen und auch nicht im kulturellen Bereich. Zum einen kann die kapitalistische Stadt nicht als politische Einheit betrachtet werden, da ihre politisch-administrativen Grenzen der Willkür unterliegen und zudem von übergeordneter staatlicher Stelle Einfluß auf die Stadt genommen werden kann (vgl. KRÄMER/NEEF: 8). Somit kann die Untersuchung, we lche Funktion eine spezifisch städtische Politik für die Gesamt- struktur hat, vernachlässigen, da diese sich deckende Einheit von Politik und Stadt nicht besteht.
Auch der Bereich der Kultur bildet keine spezifische Einheit mit dem räumlichen Be- reich der Stadt. Eine spezielle Funktion für das Gesamtsystem ist in der „Stadt“- Kultur nicht zu finden, da keine Stadtkultur - wie sie z.B. bei Wirth auftaucht - als sol- che existiert. „...the fundamental point is this: erverything described by Wirth as ´urbanism` is in fact the cultural expression of capitalist industialization, the emergence of the market economy and the process of rationalization of modern society.“ (CASTELLS, 1976: 39).
Somit bleibt noch die Ökonomie als dritte Untersuchungsebene bestehen. Das öko- nomische System setzt sich, in Anlehnung an den Marxismus, zusammen aus Pro- duktion, Konsumption und Austausch (vgl. CASTELLS, 1977: 112ff). Für Castells ausschlaggebend ist der Bereich der Konsumtion, denn die Produktion mit ihren un- terschiedlichen Stufen läßt sich auch räumlich unterschiedlich organisieren (ver- schiedene Produktionsstandorte regional, national, international). Auch der Tauschprozeß läßt keine Deckung mit dem Stadtraum zu (z.B. durch Warentrans- port) (vgl. KRÄMER/NEEF:8).
3.2 Kollektive Konsumtion und Reproduktion der Arbeitskraft
Castells geht es letztlich jedoch nicht um die Konsumtion der oder des Einzelnen auf der Grundlage des Genusses, sondern es handelt sich um Konsumtionsprozesse, welche für die Reproduktion der Arbeitskraft unentbehrlich ist. Deren Management und Organisation können aufgrund der Größe und der Natur des Problems nur kol- lektiv sein.
„Was ist es dann, was eine Stadteinheit genannt wird?...Es ist, kurz gesagt, der all- tägliche Raum einer räumlich begrenzten Fraktion der Arbeiterklasse...Es ist eine Frage des Reproduktionsprozesses der Arbeitskraft.“ (CASTELLS in SAUNDERS: 200).
Die „kollektive Konsumeinheit“ ist also das gesellschaftliche Phänomen, welches als gesellschaftliche Einheit mit der räumlichen übereinstimmt. Zudem trägt sie die spezi- fische Funktion für das Gesamtsystem darin, daß sie die Reproduktion von Arbeits- kraft ermöglicht. Dies ist im kapitalistischen System von Bedeutung, da es auf die Ressource Arbeitskraft angewiesen ist. Durch Wohnungen, Krankenhäuser, Sozial- dienste, Schulen, Freizeit- und Kultureinrichtungen ist die „...alltägliche wie intergene- rative, einfache wie erweiterte...“ (SAUNDERS: 174) Reproduktion gewährleistet.
Dieser Reproduktionsprozeß vollzieht sich zunehmend in spezifischen räumlichen Einheiten da einerseits die Konsumtion in ihrer Entwicklung der Konzentration der Bevölkerung folgt und andererseits der Staat zunehmend die Rolle des Versorgers mit diesen Konsumtionsgütern einnimmt.
3.3 Rolle des Staats
Der Staat übernimmt zunehmend Verantwortung für die Versorgung mit Konsumti- onsgütern. Somit wird der städtische Raum und die Reproduktion der Arbeitskraft zunehmend von Ebene und Form der staatlichen Versorgung abhängig (vgl. SAUNDERS: 175).
Die Ursache dafür, daß der Staat (politische Ebene) diese Versorgung übernimmt liegt in einem Widerspruch des kapitalistischen Systems begründet. Dieser ist jedoch ein eigenständiger, sozusagen städtischer4 und entsteht aus dem „Auseinanderdriften“ einerseits von der Notwendigkeit, in die Bedürfnisse der Arbeiterklasse zu investieren um die Reproduktion der Arbeitskraft zu erhalten. Andererseits wollen die ökonomisch handelnden Individuen einen größtmöglichen Gewinn aus ihrem Ha ndeln ziehen und minimieren daraufhin die Kosten. Das Ergebnis ist, daß sich die Lebensverhältnisse der Arbeiter verschlechtern, da die Kapitalisten dem System entsprechend handeln und lediglich Inte resse an der Arbeitskraft als käuflicher Ware haben, jedoch aus Gründen der Gewinnmaximierung keine Motivation haben, in Wohnungsbau, Bildung, medizinischer Versorgung u.ä. zu investieren.
Die Intervention des Staates ist nach Castells die notwendige Folge um den Klas- senkampf zu regulieren und damit das System zu stabilisieren. Durch die staatliche Bereitstellung der Konsumtionsgüter, welche für die Reproduktion der Arbeiterschaft nötig ist, erhält der Staat das städtische System und damit auch die spezifische Funktion des städtischen für das gesamte System, ebendiese Reproduktion. (vgl. SCHWAB: 25)
3.4 Krise und soziale Bewegung
Aus der steigenden staatlichen Intervention ergeben sich jedoch nach Castells weite- re Konflikte und Widersprüche. Durch die Bereitstellung von Dienstleistungen und Konsumtionsgütern erhöhen sich die Kosten für den Staat. Gleichzeitig schöpfen die Kapitalisten die durch die Nutzung der Arbeitskraft entstehenden Gewinne ab. Um weiterhin Klassenkonflikte und somit die Bedrohung des kapitalistischen Systems durch Klassenkämpfe zu unterdrücken, sieht sich der Staat gezwungen, sich zu ver- schulden. Mit zunehmender Verschuldung aber steigt die Tendenz, Streichungen in den Sozialausgaben zu tätigen. Schwab führt zur Verdeutlichung die Entwicklung während der Präsidentschaft Ronald Reagens in den USA an (vgl. ebd.: 25f). So könne man z.B. die Steigerung der Zahl der Obdachlosen in Verbindung mit den Kürzungen im Bereich der Wohnungsprogramme, vor allem für Schichten mit geri n- gen Einkommen, in Verbindung setzten.
Aufgrund der zunehmenden Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Arbei- terklasse wäre die Grundlage zur Entstehung sozialer Bewegungen in der Stadt, we l- che sich gegen das kapitalistische System wenden, gegeben. Allerdings, so Castells, fehlt es in den USA an einer sozialistischen Organisation, die diese sozialen Strö- mungen vereinen und organisieren könnte. Da es also zu keinem systematischen Widerstand gegen diese Entwicklung der sozialen Streichungen kommt, verkörpert sich die Unzufriedenheit und schlechte Lage der Arbeiter in Erscheinungen wie etwa Drogenkonsum, Kriminalität, Jugendbanden usw. (vgl. SCHWAB: 26).
4 Bedeutung
Nach SAUNDERS „...war Castells in den 70er Jahren vielleicht der erste, der sie [die Frage nach dem spezifisch Städtischen] explizit aufwarf...“ (ebd.: 27).
4.1 Verhältnis von Gesellschaft und Stadt
Castells geht in „La Question Urbaine“ von der Analyse der kapitalistischen Produktionsweise aus und schafft somit eine Verbindung von dem auf gesamtgesellschaftlicher Ebene herrschenden ökonomischen Verhältnis, dem System des Kapitalismus, zur räumlichen Einheit Stadt und deren „Spezifikum“ (vgl. ebd.: 28).
Die bis dahin vertretenen Hauptströmungen der Stadtsoziologie basieren auf der Grundlage entweder räumlicher oder kultureller Stadtphänomene, im Sinne von nur 5 in der Stadt auftretenden Erscheinungen. Sie versuchen, die Stadt als „losgelöstes“, eigenes Gebilde zu sehen. Mit dem Anspruch, die Stadt nicht nur aus sich selbst heraus erklären zu wollen, sondern den Bezug zur Gesamtgesellschaft herzustellen 6, deutet Castells „...auf eine Leerstelle innerhalb der Stadtsoziologie...“ (SASSEN: 9) hin.
Als unmittelbarer Beobachter der Krisen und Konflikte, welche sich Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre besonders deutlich in den Städten manifestierten unterschei- det Castells (implizit) zwei verschiedene „Krisenarten“. Zum einen die Krise des Staa- tes aufgrund seiner wachsenden Unfähigkeit, in ausreichenden Maße kollektive Kon- sumgüter zur Verfügung zu stellen und als Hauptakteur in diesem Rahmen die Ent- wicklung zu steuern (s.o. 3.4), zum anderen die daraus folgende Krise auf der Ebene zwischen Staat und Arbeiterklasse, die wiederum als Ursache zur Entstehung von gesellschaftlichen Bewegungen in den Städten gesehen werden kann (s.o. 3.4)
Nach KRÄMER/NEEF vertraten in der damaligen Bundesrepublik u.a. HÄUßERMAN und SIEBEL ähnliche Ansätze (vgl. ebd.: 9).
4.2 Politisierung der Stadt
Sie, HÄUßERMANN/SIEBEL, behandeln ebenso die „Krise der Stadt“. Diese Frage wird unter dem Aspekt der Politisierung der Kommunalpolitik, welcher die Kommu- nalpolitik entgegen anderen Stellungnahmen immer unterlag, da sie stets die Förde- rung der Produktivkraftentwicklung sowie die sozialpolitische Abschwächung der Fol- geprobleme des Kapitalisums zum Inhalt hatte, beleuchtet (vgl. ebd.: 489).
Zwei Tendenzen sind demnach mit der Politisierung der Kommunalpolitik verbunden: „Das unmittelbare Aufbrechen politischer Konflikte in den verstädterten Gebieten und die Krise des staatlichen Steuerungssystems.“ (ebd.: 489). Die Anlehnung an Castells Verbindung von städtischen Konflikten und Krisen mit der Politisierung der Stadt ist deutlich, denn mit „La Question Urbaine“ wirft Castells ebenso die Frage nach der Politisierung städtischer Probleme auf. Diese ist als ein struktureller Grund- zug, welc her „...eine Grundlage neuer gesellschaftlicher und politischer Konflikte...“ (CASTELLS, 1977: 289) darstellt, zu betrachten. Da der Staat immer ausgedehnter in den Bereich der (kollektiven) Konsumtionsprozesse (s.o. 3.3) eingreift und der ein- zelne Akteur letztendlich „...der politische Apparat der herrschenden Klasse ist...“ (ebd.: 290), wird die alltägliche Lenkung der städtischen Problematik auch zu deren alltäglichen Politisierung.
5 Nachfolgende Werke
Obwohl Castells immer wieder durch „La Question Urbaine“ als wichtigster Vertreter des Neo-Marxismus und damit auch der New Urban Sociology innerhalb der Stadt- soziologie eingeordnet wird, sollte man auch seinen nachfolgenden Veröffentlichun- gen beachten.
5.1 The City and the Grassroots
In seinem 1983 erschienenen und mit dem C. Wright Mills Award ausgezeichneten „The City And The Grassroots“ wechselt Castells die Betrachtungsebene hin zu klein- räumigeren „local comminuties“ und den dort entstandenen sozialen Bewegungen inne rhalb der Stadt. Mit dieser Sammlung von Fallstudien über solche Bewegungen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Städten, modifiziert er seine Analyse der Beziehung zwischen Gemeinschaft („community“) und Gesellschaft. Obwohl zahlreiche Parallelen zu seinen früheren Werken bestehen, argumentiert er nun, daß „community organizations“, ob sie nun inhaltlich schwarz, ethnisch oder homosexuell ausgerichtet sind, den sozialen Bedingungen und politischen Realitäten der lokalen Umgebung in welcher sie leben, entsprechen. (vgl. SCHWAB: 26)
Damit entfernt er sich hier von seiner früheren Anlehnung an den Marxismus. Nun steht „...a concern with transforming `the real world by understanding the actual, substantive dynamics of social change´...“ (KATZNELSON: 138) im Vordergrund. Um diese Bewegungen zu erklären sieht Castells die marxistische Lehre als wenig hilfreich an. Sie bildet dennoch immer noch das Grundgerüst. Obwohl diese Gruppen der lokalen Bedingungen entsprechen, tauchen sie doch auch im Kontext der kapitalistischen Gesellschaft auf. (vgl. SCHWAB: 1992, 26)
Nach Katznelson erfolgte diese Verlagerung entsprechend den persönlichen Erfah- rungen Castells. Zum einen als von der Empirie geleiteter Analytiker sozialer Bewe- gungen, zum anderen als aktiver Teilnehmer der Bürgerbewegung in Madrid und als Beobachter der Schwulenbewegung in San Francisco (vgl. KATZNELSON: 138).
5.2 The Informational City und The Information Age
In dem 1989 erstmals veröffentlichten Buch „The Informational City“ beschäftigt sich Castells intensiv mit dem Einfluß der Informationstechnologie, welche eine neue „Weltordnung“7 erschaffen wird. Der entstehende „space of flows“ wird an Bedeutung zunehmen und letztendlich gegenüber dem „space of places“ regieren, d.h. die Macht der in ihrer Handlung territorial gebundenen Institutionen verringert sich wä h- rend im Gegenzug multi nationale, nicht regional verhaftete Institutionen die zukünftige Entwicklung dominieren werden. Auch die Stadt unterliegt durch die Informationstechnologie Veränderungen; sie wird zu einer „Informationsstadt“, so wie in der Vergangenheit die Industrie- oder Kolonialstadt als Kategorien des 19. Jahrhunderts hä t- ten gebraucht werden können. (vgl. LeGATES/STOUT: 493)
„The Information Age: Economy, Society And Culture“, eine in den Jahren 1996 bis 1998 erschienene Trilogie greift thematisch z.T. ältere Werke wie „The City And The Grassroots“ und „The Informational City“ wieder auf. So ha ndelt etwa der zweite Band „The Power Of Identity“ (1997) überwiegend von sozialen Bewegungen, wä h- rend der erste Band „The Rise Of The Network Society“ (1996) auf die Thematik der Informationstechnologie eingeht und dabei auch, als ein Aspekt dieser „informationel- len Revolution“, die Entwicklung und Bedeutung der Städte beleuchtet.
6 Schlußbetrachtung
Castells Bedeutung für die Stadtsoziologie liegt sicherlich - trotz seiner späteren Dis- tanzierung vom Neo-Marxistischen Ansatz welchen er während der Phase der 70er Jahre deutlich vertrat - darin, die Verbindung zwischen Stadt und gesamtgesell- schaftlicher Verhältnisse, im Sinne des Marxismus war dabei die Ebene der Ökono- mie ausschlaggebend, he rzustellen. Er schuf damit einen Ansatz zur Erklärung der Ursachen von in den Städten der 60er und 70er Jahre auftretenden Konflikten und Krisen als Ausdruck der im kapitalistischen System implizierten Folgeprobleme.
Phänomene, öffentlich sichtbar und das gesellschaftliche Leben beeinflussend, ver- suchte Castells auf dem Wege seiner Argumentation zu erklären und auf eine theore- tische Basis zu stellen. Eine Revolution aus den Städten, wie sie von Castells impli- ziert vorhergesagt wurde fand jedoch wenn überhaupt dann nur temporär und wohl nicht in dem von ihm erwarteten Ausmaß statt. Die gegenwärtig geringe Rolle des Marxismus und auch die Beobachtung und Erfahrung, daß es nicht „die Arbeiter“ als gleichförmige Masse mit den gleichen Interessen, sondern vielmehr eine mannigfa- che Aufsplitterung und Differenzierung vor allem der städtischen Bevölkerung gibt, lassen Castells Aussagen inhaltlich in den Hintergrund rücken. Dennoch, trotz vielfa- cher kritischer Betrachtungen seiner frühen Theorie und trotz seiner Distanzierung zum Neo-Marxismus, hat er doch bereits in seinen frühen Werken als in der New Ur- ban Sociology verorteter Stadtsoziologe auf neue Denk - und Betrachtungsrichtungen hingewiesen
Literatur
CASTELLS, MANUEL: Is there an urban sociology? In: PICKVANCE, C.G. (Hrsg.): Urban Sociology, 1976, London.
Ders.: Die kapitalistische Stadt, 1977, Hamburg / Berlin.
HALL, PETER: The Cities of Tomorrow, Chapter: The City of Theory, 1988, Oxford.
KATZNELSON, IRA: Marxism and the City, 1993, Oxford.
HÄUßERMANN, HARTMUT / SIEBEL, WALTER: Thesen zur Soziologie der Stadt. In: Leviathan, 1978 (Jahrgang 6), Heft 4, S. 484-500.
KORTE, HERMANN / SCHÄFERS, RAINER (Hrsg.): Einführung in spezielle Soziologien, 1993, Oplanden.
KRÄMER, JÜRGEN / NEEF, RAINER (Hrsg.): Krise und Konflikte im entwickelten Kapitalismus, 1985, Stadtforschung aktuell Band 9, Stuttgart.
LeGATES, RICHARD / STOUT, FREDEREIC: The City Reader, S. 493ff, 1996, London / New York.
SASSEN, SASKIA: Metropolen des Weltmarkts, (Vorwort), 1996, Frankfurt a. M. / New York.
SAUNDERS, PETER: Soziologie der Stadt, 1987, Frankfurt / New York.
SCHABERT, TILO (Hrsg.): Die Welt der Stadt, 1991, München.
SCHWAB, WILLIAM: The Sociology of Cities, 1992, Emglewood Cliffs, New Yersey.
SIEBEL, WALTER: Vorwort. In: SAUNDERS, PETER: Soziologie der Stadt, 1987, Frankfurt / New York.
Internet:
BARNEY, CLIFF: Manuel Castells’s Global World Report, 1998.
http://www.rewired.com/98/0126.html
[...]
1 1966-69 Professor in Paris, Nanterre. Ab 1970 Leitung „Centre d`Etudes des Mouvements Sociaux“ (CEMS) an der „Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales“ in Paris.
2 Eigene Hervorhebung
3 Politik: städtische Verwaltung; Kultur: „städtische Symbolik“ (die Bedeutungen, die von den gesellschaftlich produzierten räumlichen Formen ausgestrahlt erden); Ökonomie: Produktion, Konsumtion, Tausch mit entspre- chenden Elementen innerhalb des städtischen Systems (Fabriken, Büros, Wohnungen, Transportmittel..). (SAUNDERS: 173).
4 Das städtis che System ist einerseits Abbild des Gesamtsystems, andererseits stellt es der übergeordneten
Struktur auch spezifische Funktionen zur Verfügung (funktionale Einheit), die Reproduktion der Arbeitskraft. Dar- aus ergeben sich auch eigenständige, für die städtische Einheit spezielle Widersprüche (vgl. SAUNDERS: 176).
5 Eigene Hervorhebung
6 „Das Stadtsystem steht nicht außerhalb der Gesellschaftsstruktur, es spezifiziert sie, ist ein Teil von ihr.“ (Castells, 1977: 199)
7 eigene Übersetzung von „...emerging world order...“ (LeGATES / STOUT, 1996:494).
- Arbeit zitieren
- Petra Essenfelder (Autor:in), 1999, Manuel Castells: Neo-Marxistische Ansätze in der Stadtsoziologie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103913
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