Frage 1: Sokrates vertritt die Auffassung, dass man sich vor allem um seine Seele kümmern muss. Erläutern Sie den Sinn und die Konsequenzen dieser Formel aus dem Text der Apologie heraus. Diskutieren Sie mögliche Zusammenhänge mit anderen Grundsätzen und Motiven der Apologie.
Der Pflege der Schönheit der Seele den Vorzug geben - weltliche Güter nicht mehr zu achten als diese - sich um Vernunft und Wahrheit kümmern (29e Kapitel 17) - dies sind Sokrates Grundsätze. Alle Grundsätze sind eng miteinander verknüpft, ihre Verwirklichung erreicht man durch ständige Selbstprüfung und diszipliniertem Festhalten an diese Grundsätzen (Kriton: „Ich halte es ja nicht erst jetzt, sondern immer schon so, dass ich nichts anderem in mir folge als dem Gedanken, der sich mir beim Nachdenken als der beste erweist. Und die Gedanken, die ich früher ausgesprochen habe, kann ich jetzt nicht von mir werfen ... 45b Kapitel 6) .
Die Seele ist Tugend. An dieser Stelle wird auch deutlich, was Sokrates meint, wenn er bei so vielen im Zwiegespräch getesteten Personen Unwissenheit feststellen muss: die Verkennung der Tatsachen, dass Reichtum aus Tugend (sittlicher Wert) entsteht und nicht die Tugend aus Reichtum (30 b Kapitel 17). Aus der Definition Seele = Tugendhaftigkeit ergeben sich Ungereimtheiten: die Bestätigung eigener Unwissenheit durch die Interpretation des Orakelspruches von Delphi - Sokrates ist der Weiseste bei gleichzeitiger Annahme dass er selbst nichts wisse - führt zu der Frage, wie Sokrates in der Lage ist Tugend zu definieren. Ein neues Motiv tritt auf welches Sokrates als Richtlinie für diese Definition dient: eine innere dämonische Stimme. Diese Stimme - seit seiner Jugend präsent - kontrolliert sein Handeln (31d Kapitel 19), „eine Stimme, die zu mir spricht, die mir, sooft sie spricht stets von dem abrät, was ich gerade zu tun beabsichtige, und die sich niemals zuratend vernehmen lässt.“
So dargestellt ist diese Kontrollinstanz des Handelns nicht geeignet positive Ratschläge für die Einhaltung der Tugend zu geben, da sie nur abratend tätig wird.
Eine genaue Definition der Werte, die die Tugend repräsentieren ist der Apologie nicht zu entnehmen. Was auffällt ist, dass sein Prinzip des Nachdenkens, um somit den besten Gedanken zu finden zwar der Weg ist, diese Tugenden einzuhalten - nichts aber aussagt über die von ihm scheinbar a priori festgesetzten Grundschemata.
Die Konsequenzen, die er freilich zieht sind Gesetzestreue und absolute Konsequenz.
Als Beispiel führt er sein Verhalten während der Verurteilung der schiffbrüchigen Opfer der Seeschlacht auf (32b Kapitel 20). Die gesetzeswidrige Kollektivaburteilung habe er mit Vehemenz angeprangert. So sei er nicht um sich selbst bekümmert gewesen, vielmehr habe er konsequent gehandelt, „statt mich aus Furcht vor Haft oder dem Tod euch und euren Unrechtsbeschlüssen anzubequemen (32c Kapitel 20).“
Sokrates ist sehr darauf bedacht, „kein Unrecht und keinen Frevel zu begehen (32d Kapitel20)“, so sehr eben, dass ihn selbst die Todesgefahr nicht schrecken kann. Das eigene Leben ist vielmehr nichts mehr wert, wenn man sich durch eine solche Tat von dem Pfad der Tugendhaftigkeit entfernt. Als weitere Konsequenz dieses Kümmerns um die Seele ist auch seine Haltung beim Gerichtsprozess zu verstehen: es sei zum einen schädlich für die Stadt, wenn er „Rührstücke“ aufführe (35b Kapitel 23) viel schwerer wiegt aber das Argument, dass er sich selbst auf keinen Fall verraten werde, indem er, nur um der Todesstrafe zu entgehen, „still und ruhig vor sich hin leben werde (37 e Kapitel 28).“ Gegen zwei Grundprinzipien seines Handelns, seiner Sorge um die innere Seelenschönheit, würde er verletzen. Zum einen Gott den Gehorsam verweigern und zum anderen der Fähigkeit beraubt werden, ein Leben mit Prüfungen zu absolvieren (38 a Kapitel28).
Die Unfähigkeit zur Gehorsamsverweigerung gegenüber Gott spiegelt das Festhalten an Prinzipien wieder, die Konsequenz. Sie ist die Grundlage der Seelenschönheit - da die Pythia den Bescheid gab, dass niemand weiser sei als er, er aber nichts wisse folge daraus die Lebensaufgabe der Weisheitsfindung/Überprüfung am Mitmenschen - der Dienst für den Gott (23 c Kapitel 9). Die angewandte Technik der sokratischen Redekunst hat neben der notwendigen noch eine ästhetische Komponente, es mache den Menschen Freude, zuzuhören, „wie Leute auf die Probe gestellt werden, die sich für weise halten, ohne es zu sein (33c Kapitel 22).“ Sokrates ist sich vollkommen sicher mit dieser Technik die Seelenpflege verwirklichen zu können.
Selbst in der Situation des bevorstehenden Todes benutzt Sokrates sie, um zu überprüfen, „wie groß die Hoffung ist, dass es sich um etwas Gutes handelt (40c Kapitel 32).“ Die Menschen, die den Tod fürchteten, handeln in Sokrates Augen falsch, da niemand etwas über den Zustand nach dem Tod aussagen könne. Vielmehr sei der Tod entweder eine Art des Nichtseins, ein Zustand ohne Empfindungen, oder aber eine Reise an einen Ort, an dem man „auf die wahren Richter trifft“ (41a Kapitel 32). Beide Zustände sind für ihn nicht mit Schrecken sondern vielmehr mit Neugierde und positivem Ausgang verbunden.
Was allerdings an diesem letzten Kapitel der Apologie auffällt ist Sokrates Feststellung, dass es das Beste für ihn sei jetzt zu sterben und aller Mühsal enthoben zu sein (41c Kapitel 33). Dieses Argument bringt er auch im Kriton. Wichtig ist auch der Fakt, dass seine innere Stimme sich im Gerichtsgebäude nicht mehr gemeldet habe (40 b Kapitel 31). Seine Zeit zu gehen ist gekommen, es mache keinen Sinn mehr gegen das Urteil aufzubegehren oder es abschwächen zu wollen. Es klingt allerdings so, als ob er einen direkten Bezug zu seinem Alter herstellt - da er sowieso schon alt sei, könne er nicht mehr lange seine Tätigkeit zur Seelenpflege ausführen. Es tritt ganz deutlich die Konsequenz im Handeln zu Tage: die eigene Person nicht zu hoch zu achten und für seine Prinzipien auch bereit sein zu sterben. Die Situation abwägend kommt er zu dem Schluss, dass sein Tod dem für richtig erachteten Weg am besten dient. So droht er den ihn verurteilenden Richtern an, dass andere, jüngere seinem Beispiel folgen werden und dass mit seinem Tod das „Tugendprüfungsamt“ auf keinen Fall geschlossen werde: „wenn ihr nämlich glaubt, ihr könntet, indem ihr Menschen tötet, verhindern, dass man euch Vorwürfe macht, weil ihr nicht richtig lebt, dann urteilt ihr verkehrt (39d Kapitel 30).“
Er prangert an, dass die Richter versuchten, andere abzuurteilen, obwohl sie sich nicht darum scherten, selber möglichst gut zu werden - Recht zu sprechen ohne selbst tugendhaft zu sein. Rein spekulativ, aber zu diesem Zeitpunkt angebracht, scheint die Frage: Was wäre, wenn Sokrates kurz nach dem Erhalt seines göttlichen Auftrages zum Tode verurteilt worden wäre? Hätte er ebenso konsequent den Tod hingenommen, obwohl er seine gerade zugeteilte Aufgabe erst seit kurzer Zeit ausgeführt hätte? Spricht aus dem gealterten weisesten Mann nicht der Wunsch als eine Art Märtyrer der wahren Seelenpflege in die Geschichte Athens einzugehen? Das Verstummen der inneren Stimme löst ihn von den Verpflichtungen, die er sich selbst auferlegt hat, seine Konsequenz gebietet es ihm die Grundsätze nicht zu verraten. Bescheidenheit scheint kein Inhalt des Seele/Tugendbegriffes zu sein. Selbstsicher behauptet Sokrates gegenüber den Bürgern Athens: „ Denn wenn ihr mich tötet, dann werdet ihr nicht leicht einen anderen finden, der gleichsam durch göttlichen Ratschluss der Stadt beigegeben ist...(30e Kapitel 18).“ Sein Weg erscheint ihm als der einzig Wahre, er verschanzt sich hinter dem Gedanken, dass er nichts wisse und somit legitimiert sei, alle anderen in Frage zustellen. Was er anzubieten hat ist der Hinweis für alle, sich tugendhaft zu verhalten - sich ständig neu in Frage zu stellen. Eingesetzt von Gottes Hand zum Segen der Athener. „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ - so sind auch seine Motive. Ihm geht es nicht um die konkrete Erziehung einzelner, sondern um die Überprüfung aller zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Tugendhaftigkeit (33a Kapitel 21).
Die Grundlage Sokrates Selbstsicherheit ist wiederum sein unbedingter Bezug auf einmal gewonnene Überzeugungen: „denn so ist´s doch richtig (...) wo einer sich aufstellt, im Glauben, es sei das beste so, oder wo er von seinem Vorgesetzten aufgestellt wird, dort muss er, meine ich , ausharren und die Gefahr auf sich nehmen, ohne an den Tod zu denken oder an irgend etwas anderes außer der Schande (29 b Kapitel 16).“
Seele bedeutet für ihn also auch Selbstehrlichkeit. Sokrates kann sich einen Menschen nicht vorstellen, der gegen innere Überzeugungen verstößt. Ein solches Leben scheint ihm gänzlich sinnlos zu sein. Allerdings setzt er bei allen Menschen voraus, dass sie eine gewisse Tugendhaftigkeit verinnerlicht haben müssen, um so einen Bezugspunkt für ihr handeln in der Welt zu haben.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Eine schöne Seele, eine gepflegte Seele existiert nur bei Einhaltung von Tugenden. Die Werte, die tugendhaftes Verhalten bestimmen, werden nicht explizit genannt, sie lassen sich aber im Gespräch finden und müssen immer neu definiert werden. Die Tugendlehre muss Experten überlassen bleiben, die sich vor allem, so wie er selbst, nicht um weltliche Dinge wie Reichtum, Kleidung, ansehen, etc. kümmern, da sonst der Blick verstellt sei. Die Politiker seien die Hauptverantwortlichen für die intellektuelle Vorspiegelung falscher Tatsachen so dass, „ wer sich ernstlich für die Gerechtigkeit einsetzen will, muss unbedingt, wenn er auch nur für kurze Zeit am Leben bleiben möchte, als Privatmann auftreten, nicht als Politiker (32a Kapitel 19).“
Die höchste Tugend ist die Tugend der Erkenntnis und des Wissens. Aus dieser heraus formt Sokrates seine Technik der Redekunst, die es ihm ermöglicht, diese Tugend bei anderen Menschen zu überprüfen. Alle Menschen, die behaupten, das sie Wissen über die menschliche Existenz besäßen sind in seinen Augen nicht tugendhaft, sie erkennten nicht, dass nur Gott die absolute Weisheit besitzt, so wie die Richter denen er mangelnde Seelenpflege vorwirft. Sokrates geht sogar so weit anzuordnen, seine eigenen Kinder zu tadeln, sollten sie sich nicht um die wahren Dinge im Leben kümmern, sondern als Nichtsnutze enden (42e Kapitel 33). Was wahr ist, welches der beste Weg ist, kann Sokrates nicht sagen, bis zu seinem Ende hält er an dieser Maxime des relativen Wissens fest, zu viele Menschen habe er kennengelernt, die meinten, sie seien in allen Dingen ungeheuer weise, nur weil sie sich auf eine Sache verstünden (Beispiel der Handwerker 22d Kapitel 8).
„Doch jetzt ist’s Zeit für mich fortzugehen: für mich um zu sterben, für euch um zu leben. Wer von uns dem besseren Los entgegengeht, ist uns allen unbekannt - das weiß nur Gott.“
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- Peter Borschdorf (Author), 2001, Platon Apologie - Warum man sich um die Seele kümmern muß, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103812
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