Beantwortung der Interpretationsfragen
Zu: Mearsheimer, John J., 1990: Back to the Future: Instability in Europe After the Cold War. In: International Security, Vol. 15, No.1, S. 5-56.
Frage 1a) Welche Aufgabe stellt sich der Autor (welche Frage will er bearbeiten) und welche ist die zentrale Hypothese, von der er ausgeht?
Der Autor will eine Beurteilung der seiner Ansicht nach herrschenden Vorstellung, dass nun nach Ende des Kalten Krieges ein allgemeiner und ewiger Frieden einkehren würde, vornehmen. Dazu will er ´en Detail´ die Konsequenzen für ein Europa nach dem Ende des Kalten Krieges untersuchen. Er geht dabei von einem Szenario aus, bei dem zunächst die Sowjetunion und dann auch die USA bzw. die NATO ihre Streitkräfte aus Europa abziehen und als Folge eine multipolare Struktur in Europa entsteht. Die Frage, die er sich dabei stellt, ist, wie sich ein solcher fundamentaler Wechsel auf die Möglichkeit eines Friedens in Europa auswirken würde; ob er das Risiko eines Krieges eher steigern oder absenken würde. Die Hypothese, die er zu dieser Fragestellung aufstellt, sieht eine Steigerung des Risikos für größere Krisen sowie für Kriege in Europa nach Ende des Kalten Krieges vor, falls sich die Verhältnisse in der Art entwickeln, wie er es in seinem Szenario darstellt.
Frage 1b) Wie ist der Artikel gegliedert; wie geht der Verfasser vor (Argumentationsaufbau)?
Der Verfasser äußert zunächst seine Grundannahmen für die Entwicklung Europas nach dem Ende des Kalten Krieges und entwickelt daraus seine Hypothese von der Steigerung des Kriegsrisikos in Europa. Des weiteren gibt er eine Erklärung zu seiner Vorgehensweise. Im Hauptteil seines Textes beschäftigt sich Mearsheimer mit einer Erklärung des „langen Friedens in Europa“. Dazu untersucht er zunächst den Zusammenhang zwischen militärischer Macht und Stabilität, wobei er speziell auf die Faktoren Bipolarität - Multipolarität, Gleichgewicht bzw. Ungleichgewicht der Mächte und nukleare Abschreckung eingeht, um anschließend aus seinen Schlussfolgerungen den Beweis für einen kausalen Zusammenhang zwischen den obengenannten Faktoren und Stabilität zu führen. Im Anschluss hieran entwickelt er unter der Fragestellung, ob eine Balkanisierung Europas stattfände, vier Hauptszenarien der Entwicklung der europäischen Sicherheitsordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Darüber hinaus stellt er drei alternativen Theorien zur Erklärung des Nachkriegsfriedens in Europa vor, lehnt sie aber mit der Begründung ab, sie seine überholt. Im Schlussteil fasst er noch mal seine Argumentation zusammen und gibt anschließend eine Empfehlung für den tatsächlichen Fall eines kompletten Abzugs der Sowjetunion aus ganz Osteuropa.
Frage 2a) Welche drei Merkmale der internationalen Ordnung sind nach Mearsheimer in erster Linie für den „langen Frieden“ in der Periode nach 1945 verantwortlich?
Der lange Frieden findet nach Mearsheimer seine Ursachen vor allem in der bipolaren Struktur des Nachkriegseuropas. Er beschreibt damit die Verteilung von Macht zwischen den beiden Hauptakteuren des Kalten Krieges. Mearsheimer spricht dabei von zwei polaren, also entgegengesetzt wirkenden Staaten, womit er die USA und die Sowjetunion meint. Deren ungefähre Gleichheit hinsichtlich ihrer militärischen Macht und die beiderseits großen nuklearen Arsenale, die ein sehr großes Abschreckungspotential besäßen, haben nach Mearsheimer den Frieden der Nachkriegsära erst ermöglicht.
Frage 2b) Mearsheimer stellt fest, dass Bipolarität eher friedensfördernd ist als Multipolarität. Mit welchen Argumenten begründet er dies?
Mearsheimer gibt zunächst drei grundsätzliche Gründe dafür an, warum ein bipolares System eher friedensfördernd ist als ein multipolares. Zum einen seien die Gelegenheiten einen Krieg zu beginnen begrenzter, da es weniger ´Paarverhältnisse´ („dyads“) gebe, in denen Konflikte ausbrechen könnten. Zum anderen gestalte sich Abschreckungspolitik einfacher, weil asymmetrische Machverhältnisse seltener seien und überdies leichter abgewendet werden könnten. Darüber hinaus seien die Möglichkeiten für militärische Abschreckung innerhalb eines bipolaren Systems größer, weil Misseinschätzungen der Macht und der Vorhaben etwaiger Gegner seltener und weniger wahrscheinlich wären. Man könne so leichter darauf vertrauen, dass Abschreckung zum Zwecke des Friedens praktiziert würde und müsse nicht mit anderen Absichten rechnen, wie z.B. versteckte territoriale Wünsche. Die vielen potenziellen Konfliktherde bzw. -situationen eines multipolaren System dagegen ließen einen zu großen Raum für Unsicherheiten über die Möglichkeiten und Ansichten des Gegenübers, dass ein Krieg zur Lösung des jeweiligen Konfliktes wahrscheinlich würde.
Frage 3) Mearsheimer sieht vier Szenarios für die Entwicklung der europäischen Sicherheitsordnung und das Ende des Ost-West-Konfliktes. Welches Szenario zieht er vor? Mit dem Eintreten welchen Szenarios ist nach Mearsheimer am ehesten zu rechnen? Geben Sie jeweils Mearsheimers Begründungen an!
Der Verfasser sieht die größten Vorteile in einer gut organisierten und geregelten Weiterverbreitung nuklearer Waffen. Vor allem und in Hinsicht auf die neue europäische Sicherheitsordnung sollte seiner Ansicht nach ausschließlich Deutschland noch mit in den Kreis der Nuklearmächte aufgenommen werden. Eine weitere Verbreitung, speziell in Richtung Osten, lehnt Mearsheimer als zu riskant ab, da die dortigen Staaten im Gegensatz zu Deutschland kaum die nötige Sicherheit ihrer Atomwaffenarsenale garantieren könnten, oder aber von Eliten geführt würden, die nicht die erforderliche rationelle Einsichtfähigkeit für den Umgang mit Atomwaffen besäßen. Leider, so Mearsheimer, sei aber nicht mit dieser ´verantwortungsvollen´ Weiterverbreitung von Atomwaffen zu rechnen. Eher würde eine Abwandlung seines bevorzugten Szenarios eintreten und eine unorganisierte und ungeregelte Proliferation stattfinden. In diesem Fall sieht er vier verschiedene prinzipielle Gefahren. Zum einen die eines Präventivschlages seitens etablierter Nuklearmächte, um eine Weiterverbreitung zu vermeiden. Des weiteren die Gefahr eines nicht genügend austarierten Wettbewerbes unter den neuen Nuklearmächten und einer auf Grund ungenügender wirtschaftlicher Ressourcen zu sehr auf Erstschlagskapazität und nicht auf sicheres Waffenmanagement ausgerichtete Rüstung. Darüber hinaus wären viele der neuen Nuklearmächte überfordert mit der Aufgabe, bestimmte, für den Umgang mit Atomwaffen erforderliche Doktrinen zu entwickeln und entsprechende Verhaltensweisen zu erlernen, die für die etablierten Nuklearmächte selbstverständlich sind. Auch wäre die Gefahr nicht zu unterschätzen, die von der steigenden Zahl „von Fingern am Abzug“ ausgeht, die es wahrscheinlicher werden lässt, dass Atomwaffen von nicht autorisierter Seite abgefeuert würden.
Frage 4a) Prognosen für die Zukunft Europas lassen sich nicht nur aus Mearsheimers strukturellen Realismus, sondern auch aus alternativen Theorien ableiten. Skizzieren Sie die Grundannahmen dieser alternativen Ansätze (ökonomischer Liberalismus; demokratischer Friede).
Der ökonomische Liberalismus nimmt an, dass jede Gesellschaft in erster Linie nach Wohlstand strebt und die Aufgabe des Staates darin besteht diesen herzustellen und zu sichern. Dieser Wohlstand soll durch freien ökonomischen Austausch zwischen den Staaten erreicht werden und letztendlich dazu führen, dass alle Staaten an diesem Wohlstand teilhaben können. Die Sicherung des erreichten Wohlstands soll durch internationale Kooperation gesichert werden und darüber hinaus eine Plattform zur Konfliktbewältigung bieten. In Europa soll die Europäische Union diese Aufgabe übernehmen und in Konsequenz dazu eine Erweiterung nach Osten anstreben, um die dortigen Staaten am Wohlstand teilhaben zu lassen und gleichzeitig in etwaige Konfliktbewältigung mit einzubinden.
Der demokratische Friede basiert auf der generellen Annahme, das demokratische Staaten keine Kriege untereinander führen. Folgendermaßen wäre der Frieden mindestens im demokratischen Europa gesichert. Um diesen Effekt auch auf die Staaten Osteuropas inklusive der Sowjetunion auszudehnen, müssten diese lediglich demokratisiert werden.
Darüber hinaus gibt es noch die Theorie der „Obsolenz des Krieges“, die auf der Erkenntnis beruht, dass selbst ein nuklearwaffenfreies Europa friedlich bleiben würde, da die Europäer die Schrecken eines selbst konventionellen Krieges so verinnerlicht hätten, dass allein die Ernüchterung diesbezüglich auf die Führer der europäischen Staaten kriegsverhindernd wirken würde.
Frage 4b) Wie erklären Sie, dass Mearsheimers eigene Vorhersagen bisher nicht eingetreten sind? Waren Mearsheimers Annahmen falsch? Hat er etwas übersehen?
Mearsheimer entscheidet sich in seiner Vorhersage für den strukturellen Realismus, was ihn in seiner Sicht auf die Geschehnisse während der Beendigung des Kalten Krieges schon erheblich einschränkt und bestimmte Verhaltensweisen von (den Entspannungsprozess prägenden) Politikern dieser Zeit als äußerst unwahrscheinlich, wenn nicht sogar unmöglich ausklammert. Ethisch-moralische Erwägungen und schließlich ebensolche Entscheidungen auf internationaler Ebene, wenn auch oder gerade auf innenpolitischen Druck hin getroffen, sieht das Modell Mearsheimers nicht vor. Etwaige alternative Theorieansätze (ökonomischer Liberalismus; demokratischer Friede...), die seinen Voraussagen ergänzend zur Seite hätten stehen können, lehnt er als unschlüssig und überholt ab. Er sieht daraufhin auch nicht die Möglichkeit, eines eben nicht aggressiven Deutschlands, dass trotz großer Umbrüche in unmittelbarer Nachbarschaft und eigener Wiedervereinigung bewusst in ein Staatensystem eingebunden bleibt in dem Kooperation untereinander, aber vor allem auch mit dem ehemaligen Ostblock, an erster Stelle steht. Die nun tatsächlich stetig vorangetriebene EU-Osterweiterung hält er zusammen mit dem ökonomischen Liberalismus für unplausibel. Die Bemühungen der etablierten westlichen Demokratien, die sich gerade entfaltenden Demokratien in Osteuropa mit Rat, Tat und finanzieller Hilfe zu unterstützen lehnt er zwar nicht grundsätzlich ab, hält sie aber mit den Grundannahmen der Theorie des demokratischen Friedens ebenfalls für sehr unwahrscheinlich. Die von Mearsheimer im Einleitungskapitel dargestellte Annahme, dass die verschiedenen Theorien der internationalen Politikwissenschaft bestimmte politische Ereignisse immer nur unterschiedlich gut erklären oder sogar vorhersagen können, findet sich durch seine Vorhersagen bestätigt. Letztendlich bekennt er, dass nur die Zeit zeigen kann, ob die von ihm vertretenen Theorien die Ereignisse richtig erklärt bzw. vorhergesagt haben.
- Citar trabajo
- Marcus Funk (Autor), 2001, Interpretationsfragen Zu: Mearsheimer, John J., 1990: Back to the Future: Instability in Europe After the Cold War. In: International Security, Vol. 15, No.1, S. 5-56., Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103723
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