In dieser Masterarbeit wurden die Effekte verschiedener Faktoren auf das Kulturtransmissionsmotiv untersucht. Dies wurde mithilfe eines faktoriellen Surveys, als deutschsprachiges Webexperiment gestaltet, an einer Stichprobe von 96 Personen getestet. Die Teilnehmer*innen erhielten in Textform die Beschreibung zwei verschiedener Migrationssituationen, in denen jeweils sechs verschiedene Faktoren in ihrer Ausprägung variiert wurden von denen angenommen wurde, dass sie sich auf die Wahrnehmung von der Bedrohung der Herkunftskultur auswirken würden.
Der Unterschied in den beiden Situationen lag in dem Grund für den Umzug in das Migrationsszenario. Im Anschluss an eine Situationsbeschreibung wurde die Ausprägung von Items gemessen, die die Emotionen, die Handlungsbereitschaft und einen Wunsch bezüglich der Herkunftskultur erfassten. Jede teilnehmende Person erhielt 8 Variationen für die jeweils zwei unterschiedlichen Szenarien, also insgesamt 16 Vignetten zur Bearbeitung. Im zweiten Teil des Experiments wurde ein Fragebogen mit Items aus vorherigen Untersuchungen präsentiert, der das Kulturtransmissionsmotiv messen sollte.
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung
Abstract
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretischer und empirischer Hintergrund
2.1 Motive bestimmen das menschliche Handeln
2.2 Das Bedurfnis nach Zugehorigkeit
2.3 Kulturtransmission
2.4 Die Teilprozesse Sozialisation, Enkulturation und Akkulturation
2.5 Horizontale, vertikale und schiefe Kulturtransmission
2.6 Das Kulturtransmissionsmotiv
2.7 Die Aktivierung des Kulturtransmissionsmotivs
2.8 Die Messung des Kulturtransmissionsmotives
2.9 Uberblick uber die vorliegende Studie
2.10 Fragestellung und Hypothesen
2.10.1 Forschungshypothese H
2.10.2 Forschungshypothese H
2.10.3 Forschungshypothese H
3 Methode
3.1 Stichprobe
3.2 Versuchsdesign und Versuchsplanung
3.3 Versuchsmaterialien
3.4 Versuchsablauf
3.5 Datenanalyse
4 Ergebnisse
4. 1 Effekte einzelner Faktoren
4.2 Kumulativer Effekt ungunstiger Faktoren
4.3 Das Kulturtransmissionsmotiv
5 Diskussion und Ausblick
5.1 Interpretation und Diskussion der Forschungshypothesen
5.1.1 Die Bedrohung der Kulturtransmission
5.1.2 Jobangebot versus Ruckkehrwunsch des Partners*der Partnerin
5.1.3 Die theorierelevanten Faktoren
5.1.4 Effekte des Kulturtransmissionsmotives
5.2 Limitationen der Studie
5.3 Implikationen fur die weitere Forschung
Literatur
Anhang A: Eingangstext der Untersuchung
Anhang B: Ablauf der Untersuchung
1 Einleitung
Viele verschiedene Ursachen bewegen Menschen aus der ganzen Welt in den letzten Jahrzehnten vermehrt dazu, ein neues Leben in Europa zu suchen. Durch die verstarkte Immigration sind europaische Gesellschaften starken Veranderungen unterworfen. Migrant*innen bringen ihre eigene Herkunftskultur in schon bestehende kulturelle Gesellschaften mit. Auf- grund dieser Multikulturalitat wird das Verstandnis von Kultur und ihren zugrunde liegenden psychologischen Mechanismen immer bedeutender. Denn mit der Kultur einer Person geht auch der Wunsch einher, diese an ihre Kinder und Kindeskinder weiterzugeben. Dieser Wunsch nach Aufrechterhaltung und Weitergabe der Kultur, das Kulturtransmissionsmotiv, wird umso starker und salienter, je starker die eigene Kultur und die Weitergabe dieser als bedroht erlebt wird, beispielsweise durch gesetzliche Rahmenbedingungen, die das Ausleben der eigenen Kul- tur erschweren, aber auch durch Xenophobie im zwischenmenschlichen Kontakt und auf ge- sellschaftlicher Ebene. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, aufzuzeigen, dass alle Menschen den Wunsch nach Erhalt und Weitergabe ihrer Kultur haben und dass, wenn sie ihre Kultur als bedroht einschatzen, dieser Wunsch ansteigt, genauso wie Handlungstendenzen, die zum Kul- turerhalt beitragen sollen und Emotionen wie Sorge um den Kulturerhalt.
Die Arbeit gliedert sich in funf Abschnitte. Zu Beginn wird der theoretische Hintergrund von Motiven allgemein und dem Kulturtransmissionsmotiv erlautert. Dabei wird auf die Fragen eingegangen, ob die wahrgenommene Bedrohung von Kultur die Auspragung des Kulturtrans- missionsmotives erhoht und ob der Grund, weshalb sich eine Person in einer Migrationssitua- tion befindet, die Auspragung des Motives verandert. Dies wurde mithilfe zwei verschiedener Situationen untersucht. Weiterhin wird sich der Frage gewidmet, welche Faktoren durch ihre Auspragung die Kulturtransmission erschweren bzw. erleichtern. Hierfur wurden sechs poten- ziell bedeutsame Faktoren extrahiert, die dann durch einen faktoriellen Survey innerhalb eines deutschsprachigen Webexperiments untersucht wurden. Im Anschluss werden die herangezo- genen Methoden beschrieben und die Ergebnisse der graphischen und statistischen Analyse vorgestellt. AbschlieBend werden die gewonnenen Erkenntnisse dieser Arbeit diskutiert und die mogliche Relevanz fur die Praxis aufgezeigt.
2 Theoretischer und empirischer Hintergrund
Den Ausgangspunkt dieser Arbeit und der in ihr berichteten empirischen Untersuchung bildet das Konzept der (ethnischen) Kultur. Dafur wird in diesem Kapitel eine Definition ange- boten. Spezieller geht es um die Frage der Transmission von Kultur. Grundlage der Arbeit ist in diesem Punkt die Theorie der Kulturtransmission von Mchitarjan und Reisenzein (2014), mit der sich die Autorin dieser Arbeit bereits in ihrer Bachelorarbeit befasst hat (Schmuck, 2018). In diesem Kapitel wird auBerdem der aktuelle Stand der Forschung zum Thema Kulturtrans- mission resumiert und dabei auf die Untersuchungen von Mchitarjan und Reisenzein (2015) und Schmuck (2018) eingegangen. Diese Arbeiten werden auch deshalb ausfuhrlicher vorge- stellt, weil Items aus den in diesen Untersuchungen verwendeten Fragebogen auch fur die vor- liegende Online-Studie genutzt wurden. Vorab soll in diesem Kapitel jedoch zunachst auf Motive des menschlichen Handelns, Kulturtransmission und dessen Teilprozesse eingegangen werden und schlieBlich auf das Kulturtransmissionsmotiv.
2.1 Motive bestimmen das menschliche Handeln
In der Motivationspsychologie ist die Frage nach der Entstehung von menschlichem Han- deln zentral. Als zentrale Ursache fur Handlungen werden in der Motivationspsychologie Motive gesehen, die (in einer engeren Bedeutung) als Wunsche nach bestimmten Zustanden ver- standen werden, deren Erfullung als Konsequenz durch die jeweilige Handlung angestrebt wird (Reisenzein, 2005). Das heiBt, Menschen fuhren Handlungen durch, weil sie glauben, dadurch erwunschte Zustande realisieren zu konnen. Die unmittelbar gewunschten Zustande (oder Ziele) sind meist keine Endziele, sondern werden angestrebt, weil die Person glaubt, dadurch grundlegendere Wunsche erfullen zu konnen. Diese Kette an Wunschen nach Zustanden lasst sich allerdings nicht endlos weiterverfolgen, sondern kommt fruher oder spater zu einem Punkt, an dem ein Wunsch nicht mehr auf einen noch grundlegenderen Wunsch zuruckgefuhrt werden kann. Diese Wunsche, die nicht auf noch weitere Wunsche zuruck gefuhrt werden konnen, werden Grundmotive genannt (Reisenzein, 2005). Eine der altesten und grundlegendsten Fra- gen der Motivationspsychologie ist in Anbetracht dieses theoretischen Hintergrundes, wie viele und welche Grundmotive der Mensch hat. Dazu wurden verschiedene Theorien vorgeschlagen, welche stark unterschiedliche Anzahlen von Grundmotiven postulieren. Das eine Extrem bilden monistische Theorien wie die Theorie des Hedonismus, wonach es nur ein einziges Grundmotiv gibt (laut der Theorie des Hedonismus ist das das Streben nach Lust und das Vermeiden von Unlust) (Cox & Klinger, 2004). Drei Grundmotive postulieren dagegen die Personlichkeitspsy- chologen Deci und Ryan (Deci & Ryan, 2000): Kompetenz, Autonomie und soziale Zugeho- rigkeit. Diese drei Grundbedurfnisse seien universell und kulturubergreifend. Am anderen Ext- rem liegen pluralistische Theorien der Grundmotive (z. B. McDougall, 1908; Aunger & Curtis, 2013; Reiss, 2004), welche eine Vielzahl von Grundmotiven postulieren - beispielsweise 16 von Reiss (2004) und etwa 15 vom Aunger und Curtis (2013). Insgesamt sprechen neuere Be- funde eher fur pluralistische Theorien (Reisenzein, 2006).
Obwohl die Frage nach den Grundmotiven bislang also nicht abschlieBend geklart ist, besteht doch Einigkeit daruber, dass dem menschlichen Handeln immer Motive (Wunsche nach bestimmten Zustanden) zugrunde liegen - ebenso wie die Uberzeugung, dass die jeweilige Handlung zu dem gewunschten Zustand fuhren wird (Reisenzein, 2001). Ohne Wunsch gibt es also keine Motivation und ohne Motivation kein Handeln. Neben den grundlegenden Motiven gibt es also eine prinzipiell unbegrenzte Anzahl spezifischerer Motive (Wunsche), die sich aus den Grundmotiven ableiten. Diese konkreteren Wunsche sind es, die (unmittelbar) das mensch- liche Handeln bestimmen (Reisenzein, 2005).
2.2 Das Bedurfnis nach Zugehorigkeit
Die Wichtigkeit, Kultur(en) und die ihr zugrundeliegenden psychischen Prozesse besser zu verstehen, ist insbesondere durch die verstarkte Zuwanderung in den letzten Jahre deutlich geworden (Rogoff, 2003) . In der Psychologie besteht weitgehend Einigkeit daruber, dass Kultur (kulturelle Normen und Werte, Traditionen usw.) fur das Handeln des Einzelnen in der Gesellschaft eine bedeutende Rolle spielt, das heiBt, das Handeln von Individuen bedeutsam (mit-) bestimmt.
Obwohl der Begriff „Kultur“ fur die Sozialwissenschaften von zentraler Bedeutung ist, gibt es bis heute keine allgemein geteilte Definition dieses Begriffs (Whiting, 1976). In der interkulturellen Psychologie nutzt man den Begriff der Kultur deshalb oft, ohne ihm eine Definition zu geben und ohne ihn klar von anderen Konzepten wie etwa „soziales System“ oder „Ethnie“ zu unterscheiden. Einige Psychologen (vgl. Betancourt & Lopez, 1993) sehen das Fehlen einer allgemeingultigen Definition von Kultur als bedeutsames Hindernis fur den For- schungsprozess an. In dieser Arbeit wird dagegen die Auffassung vertreten, dass eine allge- meingultige Definition von Kultur vor Forschungsbeginn weder moglich noch fur den Wis- sensgewinn zwingend notwendig ist, solange eine brauchbare Arbeitsdefinition vorliegt, die fur die jeweilige Untersuchung expliziert wird (Segall, 1984).
Je nach Fokus finden sich in der Forschung zu Kultur verschiedene Definitionen des Kul- turbegriffes . In dieser Arbeit dient die folgende Definition als Ausgangspunkt bzw. Arbeitsde- finition: Kultur ist „ein System von Uberzeugungen, Einstellungen, Wertorientierungen, Wahr- nehmungs-, Denk- und Beurteilungsmustern einer sozialen Gruppe, das sowohl im Verhalten der Gruppenmitglieder als auch in ihren geistigen und materiellen Produkten sichtbar wird“ (Mchitarjan, 2013, S. 2) .
Zusatzlich wird angenommen, dass Kultur erlernt und von einer bestimmten Generation in die nachste ubermittelt wird und somit „menschengemacht“ ist (Rohner, 1984), wobei die Wichtigkeit des Kollektivs fur die Entstehung und Transmission von Kultur deutlich wird. Hof- stede (1980) postuliert in diesem Zusammenhang drei verschiedene Stufen der „mentalen Pro- grammierung“, die entweder vererbt oder erlernt sind: die individuelle, die universelle sowie die kollektive Stufe. Die universelle Stufe beinhaltet biologische Mechanismen, die allen Men- schen gemeinsam sind und ist somit die grundlegendste, am wenigsten einzigartige Stufe. Die einzigartigste Stufe ist die individuelle, sie beinhaltet die interindividuellen Unterschiede in Personlichkeitsmerkmalen und -mustern. Zwischen diesen beiden Stufen der mentalen Pro- grammierung findet sich die kollektive Stufe, deren Inhalte mit einigen (dem Kollektiv), aber nicht allen Menschen (insbesondere nicht anderskulturellen Kollektiven) geteilt werden. Zu der kollektiven Stufe zahlen insbesondere soziale Normen (z.B. Geschlechternormen, der Umgang mit Alteren), Essensgewohnheiten und Sprache. Kultur beinhaltet also immer bestimmte Uber- zeugungen und Werte einer bestimmten Gruppe und deren Mitglieder (Hofstede, 1980).
Nach Gezentsvey Lamy et al (2013) machen Mitglieder sozialer Gruppen vor allem in Zeiten sozialer Veranderung Vergleiche uber vergangene, aktuelle und zukunftig erwunschte Zustande, die dazu dienen, den kollektiven Selbstwert zu verbessern. Dabei gelingt ihnen das Zurechtfinden im Alltag besser, wenn sie sich auf einen Satz von Bestrebungen konzentrieren, die von einer Gruppe geteilt werden. Dadurch entstehen innerhalb der kulturellen Gruppe eine Reihe gruppenorientierter und wunschenswerter Ziele, die zumindest scheinbar alle Mitglieder der Gruppe gemeinsam haben (Gezentsvey Lamy et al., 2013).
De la Sabbloniere et al. (2009) fanden, dass die erlebte soziale kollektive Entbehrung steigt, je haufiger soziale Veranderung wahrgenommen und als negativ erlebt wird. Diese wahr- genommene soziale kollektive Entbehrung fuhrt zum starkeren Verfolgen von gruppenorien- tierten Zielen und Werten, wodurch der kollektive Selbstwert verbessert werden soll (de la Sabbloniere et al., 2009). Das Erschaffen und die Kontinuitat einer kollektiven Identitat bzw. das Gefuhl der Zugehorigkeit zu einer bestimmten kulturellen Gemeinschaft sagt zuverlassig Wohlbefinden voraus (vgl. Dimitrova et. al., 2014) Fur Menschen ist es also notwendig, sich mit anderen Personen verbunden zu fuhlen (Gifford, 2008). Dieses angeborene Bedurfnis nach Zugehorigkeit wird als universell angesehen, es fuhrt zum Eingehen interpersoneller Bindung- en. Menschen bilden Gruppen, die zwar verschiedene auBere Erscheinungsformen annehmen konnen, aber alle das Ziel verfolgen, das Bedurfnis nach Zugehorigkeit zu befriedigen (Baumeister & Leary, 1995). Diese Gruppen und Beziehungen helfen dem Individuum, evolu- tionar betrachtet, zu uberleben. Sie werden deshalb nach Moglichkeit aufrechterhalten. Wenn dies nicht gelingt bzw. wenn es zu sozialem Ausschluss kommt, zeigen Laborergebnisse als erste Reaktion reduziertes Schmerzempfinden sowie emotionale Unempfindlichkeit und beein- trachtigte Selbstregulation (Baumeister et al., 2007) .
Durch die Sozialisierung von Individuen werden die jeweiligen kulturellen Inhalte dann weitergegeben. Sie werden durch Lernprozesse ubertragen und bieten eine Orientierungsricht- linie innerhalb von Gruppen fur die Aufgaben des alltaglichen Lebens und fur den sozialen Umgang mit anderen Menschen (Mchitarjan, 2013).
Von daher ist es naheliegend anzunehmen, dass Gruppen, deren Lebenswelt sich deutlich voneinander unterscheidet, verschiedenartige Kulturen und entsprechend verschiedene kultu- relle (kulturbedingte) Verhaltensweisen entwickeln; aber auch Gruppen unter gleichartigen Umweltbedingungen konnen verschiedene kulturelle Verhaltensweisen entwickeln (Gifford, 2008). Aus evolutionarer Perspektive betrachtet sind Kulturen fur ihre Gruppenmitglieder au- Berdem nutzlich, da sie zur Anpassung an vorherrschende Umweltbedingungen (inklusive an- dere Gruppen) beitragen. Kulturelle Systeme konne deshalb als „das nicht-biologische Erbgut von sozialen Gruppen“ interpretiert werden (Wilson 2002, zitiert nach Mchitarjan 2013).
2.3 Kulturtransmission
Verschiedene Studien bestatigen das Vorhandensein des Bedurfnisses nach sozialen Bin- dungen vor allem dann, wenn diese aus verschiedensten Grunden gefahrdet sind (vgl. Maner et al., 2007; Twenge et al., 2001). In der Studie von Maner et al. (2007) zeigten die Teilnehmer*in- nen zum Beispiel dann, wenn die Gefahr der sozialen Ausgrenzung bestand, ein groBeres Inter- esse an neuen Freundschaften, hatten einen starkeren Wunsch mit anderen zusammen zu arbei- ten, und belohnten ihre Interaktionspartner*innen starker. Eine kulturelle Gruppe kann als ein Bundel von sozialen Bindungen verschiedener Art betrachtet werden, das von den meisten ihrer Mitglieder positiv bewertet wird. Dieses System von Beziehungen (Freundschaften, Partner- schaften, Dienstleistungsbeziehungen verschiedener Art etc.) wird als Uberlebenshilfe und zur Sicherung der Reproduktion genutzt. Die Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern werden dabei wesentlich durch das kulturelle System, die geteilten Uberzeugungen, Werte und Normen der Gruppe, definiert und geregelt. Da sich dieses System als nutzlich herausstellt, haben sich in der kulturellen Evolution vermutlich eine Reihe von Mechanismen herausgebil- det, die die Weitergabe von Kultur sicherstellen sollen. Zentral dabei ist der implizite Wunsch nach Erhaltung und Weitergabe des kulturellen Erbes bzw. das Motiv zur Transmission der Kultur (Mchitarjan, 2013). Die Transmission von Kultur wird dabei als Erganzung zur bio- logischen Transmission betrachtet, wobei statt genetischer kulturelle Inhalte an die adressierte Person ubermittelt bzw. weitergegeben werden. Kulturtransmission findet durch die Integration in eine bestehende Kultur und durch Sozialisation statt (Cavalli-Sforza et al., 1982) mittels Ak- kulturation, Enkulturation oder Sozialisation.
2.4 Die Teilprozesse Sozialisation, Enkulturation und Akkulturation
Akkulturation, Enkulturation und Sozialisation sind Teilprozesse der Kulturtransmission, die hier kurz beschrieben werden sollen. Sowohl Enkulturation als auch Sozialisation beschrei- ben das erfolgreiche Erlernen kultureller Inhalte wie etwa Normen, Werte, Sprache und Tradi- tionen. Enkulturation findet durch das Erleben der eigenen Kultur statt, d.h. die Erfahrung von Kultur, die man unmittelbar und direkt macht, wenn man als Kind und Jugendlicher von den Mitliedern einer kulturellen Gruppe umgeben ist (Schultheis, 2008). Sozialisation in einer Kul- tur hingegen beschreibt den Prozess des bewussten Lehrens und Instruierens uber die jeweilige Kultur, wie etwa das Beibringen von Tischmanieren, die Instruktion daruber, wie man kulturell angemessen mit Alteren redet oder welche Praktiken der Korperhygiene angemessen sind (Chen et al., 2014). Sowohl Eltern als auch Freunde und andere Mitglieder der kulturellen Ge- meinschaft beteiligen sich an diesem Sozialisationsprozess (Berry, 2011).
Der Begriff der Akkulturation ist nicht einheitlich definiert, er wird von Berry (2000) aber als derjenige Prozess beschrieben, der eintritt, wenn zwei Gruppen, die verschieden kulturell gepragt sind, in Umgang miteinander treten. Hier kann es eine dominante und eine nicht-domi- nante Gruppe geben, die sich unterschiedlich stark beeinflussen. In Gang gesetzt wird der Ak- kulturationsprozess durch den Erstkontakt zwischen Gruppen, und er kann sowohl bewusste als auch unbewusste Aspekte haben (Maddox, 2019). Er wird gewohnlich durch Akteure, die nicht zur eigenen kulturellen Gruppe gehoren, angestoBen, zum Beispiel durch Gleichaltrige, Insti- tutionen und andere Erwachsene auBerhalb der eigenen kulturellen Gruppe (Berry, 2000). Ty- pischerweise betrifft der Akkulturationsprozess Immigrierende, die in ein Land mit einer von der eigenen Kultur abweichenden Kultur einwandern. Diese Personen stehen vor der Frage (bewusst oder unbewusst), inwieweit sie ihre eigene kulturelle Identitat bewahren oder sich an die vorherrschenden kulturellen Bedingungen anpassen wollen. Diese Frage kann sich auf Ver- haltensweisen beziehen (beispielsweise den Kleidungsstil) aber auch auf Werte und Normen. Dieser Akkulturationsprozess kann fur die Person problemlos verlaufen, er kann aber auch Stress auslosen und Unsicherheit und Sorge hervorrufen (Berry, 2000). Berry (2000) postuliert vier verschiedene Hauptformen der Akkulturation nach ihrem Resultat: Integration (sowohl Aufrechterhaltung der Herkunftskultur als auch intensiver Kontakt zur Kultur der Mehrheit), Separation (Aufrechterhaltung der Herkunftskultur, Ablehnung neuer kultureller Einflusse), Assimilation (Aufgabe der eigenen Kultur, intensiver Kontakt mit der Kultur der Mehrheit) und Marginalisierung (Aufgabe der eigenen Kultur ohne Kontaktaufnahme zur Kultur der Mehr- heit).
2.5 Horizontale, vertikale und schiefe Kulturtransmission
Nach Cavalli-Sforza und Feldmann (1981) kann zwischen drei Wegen der Kulturtrans- mission unterschieden werden (bestatigt durch Berry et al., 2011): vertikale Transmission, horizontale Transmission und schiefe Transmission.
Vertikale Kulturtransmission findet statt, wenn Eltern ihre Herkunftskultur an ihre Kinder weitergeben (Manrubia, 2001). Horizontale Kulturtransmission wird durch Menschen der glei- chen Generation vermittelt, beispielsweise durch Geschwister oder Freund *innen, welche die Kultur weitergeben (Maddox, 2019). Es wird teilweise angenommen, dass Kinder eher durch Gleichaltrige als durch ihre Eltern lernen (Sjogren & Saez-Marti', 2008). Die schiefe Kultur- transmission bezeichnet die Weitergabe der Kultur durch Akteure der elterlichen Generation, ausgeschlossen die eigenen Eltern. Oft wird jedoch auch die Weitergabe der Kultur durch die Gesellschaft allgemein als schiefe Transmission bezeichnet (Sjogren & Saez-Marti', 2008). Das konnen zum Beispiel andere Verwandte, Bekannte, Lehrer*innen oder die Massenmedien sein (Cavalli-Sforza et al., 1982).
2.6 Das Kulturtransmissionsmotiv
Der Wunsch nach dem Erhalt der Kultur und der Weitergabe der Kultur wird den Mit- gliedern einer kulturellen Gruppe vor allem dann bewusst, wenn Individuen langere Zeit aus verschiedensten Grunden nicht in ihrer Herkunftskultur leben (Mchitarjan, 2013). Dieser Fall liegt beispielsweise bei der Immigration in ein anderes Land vor, dessen Kultur sich von der Herkunftskultur deutlich unterscheidet. Durch die Immigration erlebt sich die immigrierte Person der Minoritat zugehorig, der eine Majoritat gegenubersteht. Minderheiten werden auf- gefasst als eine Gruppe mit wenig Einfluss in der Gesellschaft mit einer eigenen kulturellen Identitat (Mchitarjan & Reisenzein, 2013). Mchitarjan und Reisenzein (2015) postulieren ein handlungstheoretisches Modell der Wechselwirkung zwischen kulturellen Mehr- und Minder- heiten. Relevant sind nach diesem Modell fur die Interaktion zwischen Minoritat und Majoritat drei Faktorengruppen: motivationale Faktoren (die Ziele und Motive von Mehr- und Minder- heiten), epistemische Faktoren wie die Uberzeugung von der Moglichkeit zur Zielerreichung und objektive Handlungsbeschrankungen wie finanzielle Ressourcen oder Gesetze, die in dem jeweiligen Land des Aufenthaltes vorliegen. Ob und wie gut kulturelle Transmission gelingt, hangt besonders von der Anzahl der neuen Mitglieder einer sozialen Gruppe ab: Wenn wenige Mitglieder neu dazukommen, kann die Transmission langsam und zerstreut stattfinden. Sind es jedoch viele neue Gruppenmitglieder, wie zum Beispiel durch die Aufnahme von Immigranten in die Mehrheitsgesellschaft, muss die Kultur schnell und intensiv ubermittelt werden, um er- halten zu bleiben (Nauck, 2007).
Wie bereits erwahnt, wird von Mchitarjan und Reisenzein (2014) das Kulturtransmissi- onsmotiv vorgeschlagen, das zusatzlich zu weiteren Motiven, die in Gruppen salient werden, existiert. Es kann als eine Kumulation spezifischerer Motive gesehen werden, die den Erhalt und die Weitergabe bestimmter Aspekte der eigenen Kultur betreffen, wie zum Beispiel soziale Orientierungen in Form von Normen und Werten, verschiedene Fertigkeiten wie Lesen und Schreiben, Wissen (z.B. das Wissen um verschiedene Heilkrauter und Heilmethoden) und Ver- haltensweisen (z.B. sich die Hand zur BegruBung geben, Hochzeitsringe tauschen) usw. (Schonpflug, 2008). Mchitarjan (2013) postuliert, dass das Kulturtransmissionsmotiv selbst ein Bestandteil der weitergegebenen Kultur ist: Es wird in der Sozialisation erworben und hat eine interindividuelle starke Auspragung, da verschiedene Personen das Motiv in unterschiedlichem MaBe internalisiert haben. Das heiBt, dass die Individuen im Zuge ihrer Sozialisation auch das Kulturtransmissionsmotiv erlernen (Mchitarjan & Reisenzein, 2015).
Einen entscheidenden Faktor fur die Transmission von Kultur, inklusive des Kulturtrans- missionsmotivs, ist die eigene Familie (Sabatier & Berry, 2008) . Sie tragt insbesondere bei kulturellen Minderheiten in einer Mehrheitsgesellschaft oft den Hauptanteil dazu bei, die Her- kunftskultur zu erhalten. Damit die Kultur erhalten werden kann, mussen zumindest gewisse zentrale Elemente der Kultur an die nachste Generation weitergegeben werden. Religiositat und die Ubermittlung der Werte stellen einen dieser zentralen Aspekte der Kultur dar (Hadjar et al., 2014). In einer Studie von Hadjar et. al (2014) wurde ein positiver Zusammenhang zwischen subjektivem Wohlbefinden der Kinder und der Ahnlichkeit ihrer Werte zu denen ihrer Eltern gefunden.
Zusatzlich zu den Normen und Werten bildet die Weitergabe der Herkunftssprache einen Fokus des Kulturtransmissionsmotives. Die Sprache dient einerseits der Identitatsstiftung und stellt ein externes Symbol fur die Mitgliedschaft in einer bestimmten kulturellen Gruppe dar. Zudem werden durch die Sprache explizit kulturelle Inhalte verbal ubermittelt, das Kulturtrans- missionsmotiv als solches eingeschlossen (Mchitarjan & Reisenzein, 2013). Ob Kulturtrans- mission erfolgreich stattfindet, hangt also in hohem MaBe mit der Fahigkeit und Bereitschaft der Eltern zusammen, die Inhalte der Herkunftskultur zu ubermitteln ohne sich der Mehrheits- kultur anzupassen (Ryabichenko & Lebedeva, 2017) .
Die Eltern bzw. die direkten Bezugspersonen haben fur die Ubertragung der zentralen Kulturelemente wie bereits erwahnt einen sehr starken direkten aber ebenso indirekten Einfluss. Auch die Ubertragung des Kulturtransmissionsmotivs selbst ist besonders stark von den Eltern abhangig (Mchitarjan, 2013; s. auch Maddox, 2019). Neben den Eltern spielen aber ebenso andere soziale Netzwerke, wie der Verwandtschaftskreis, die Nachbarschaft und der Freundes- kreis, aber auch offentliche Bildungseinrichtungen wie die Schule oder die Medien eine bedeu- tende Rolle fur die Kulturtransmission (Mchitarjan, 2013).
2.7 Die Aktivierung des Kulturtransmissionsmotivs
Sowohl Mitglieder der kulturellen Mehrheit als auch der Minderheit haben ein Kultur- transmissionsmotiv (Maddox, 2019). Dieses ist jedoch - ebenso wie andere Motive - nicht permanent aktiv und deshalb den Personen nicht standig bewusst. Insbesondere bei Mehrheits- mitgliedern ist es in der Regel deaktiviert, da die Transmission der Kultur dort meist als gesi- chert betrachtet wird (Mchitarjan & Reisenzein, 2014). Zur Aktivierung des Kulturtransmissi- onsmotives kommt es vor allem dann, wenn eine Bedrohung fur die eigene Kultur bzw. fur die erfolgreiche Weitergabe der Herkunftskultur wahrgenommen wird. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Bedrohung lediglich wahrgenommen wird oder tatsachlich vorhanden ist (Mchitarjan & Reisenzein, 2014): In beiden Fallen kommt es zur Aktivierung des Kulturtransmissionsmo- tives. In vielen Fallen ist eine Bedrohung der Kulturtransmission jedoch tatsachlich gegeben, namlich in Situationen, in denen die gebrauchlichen Arten der Kulturweitergabe nicht (mehr) verfugbar sind oder nur noch in abgeschwachter Form vorhanden sind, wie es fur Migrations- situationen typisch ist. Dort sind meist die Sozialisierungs- und Enkulturationsprozesse durch Mitglieder der eigenen Herkunftskultur nicht mehr im selben MaBe wie im Herkunftsland verfugbar, ebenso fehlen offentliche Einrichtungen zur Transmission der Herkunftskultur wie die Schule (Maddox, 2019). Gleichzeitig konnen externale Einflusse, wie kulturelle Elemente der Einwanderungsgesellschaft, die Weitergabe der eigenen Kultur erschweren oder verhin- dern. Es gibt also verschiedene Faktoren, deren Vorhandensein sich gunstig bzw. ungunstig auf die Kulturtransmission auswirken konnen (Mchitarjan & Reisenzein, 2013).
Diese Annahmen sind analog zu Annahmen, die von anderen Autoren (z. B. Baumeister und Leary, 1995) uber das Bedurfnis nach Zugehorigkeit gemacht worden sind. Auch dieses Bedurfnis ist nicht standig bewusst, sondern wird nur unter bestimmten Bedingungen aktiviert, namlich dann, wenn das Bedurfnis bedroht oder nicht befriedigt wird (Baumeister & Leary, 1995).
Da sich Gruppen von Immigranten haufiger mit der tatsachlichen oder wahrgenommenen Bedrohung der Herkunftskultur konfrontiert sehen als Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft, ist ihr Wunsch nach der Weitergabe ihrer Kultur haufiger aktiviert als bei den Mitgliedern der kulturellen Mehrheit (Mchitarjan & Reisenzein, 2013). Das fuhrt dazu, dass Mitglieder der Minderheit starker motiviert sind, Dinge zu unternehmen, die der wahrgenommenen Bedro- hung der Kulturtransmission entgegen wirken, zum Beispiel suchen sie intensiver nach Part- ner*innen der gleichen Kultur und sozialisieren ihre Kinder starker in der Herkunftskultur (Bisin & Verdier, 2000). Zusammenfassend kann man also ableiten: Die wahrgenommene oder tatsachliche Bedrohung fuhrt zur Aktivierung des Kulturtransmissionsmotives, was wiederum dazu fuhrt, dass die betroffenen Personen den Impuls zu Verhaltensweisen verspuren, deren Funktion der Erhalt bzw. die verstarkte Weitergabe der eigenen Kultur ist.
Es gibt eine groBe Anzahl verschiedener Verhaltensweisen, die den Kulturerhalt beguns- tigen. Welche Handlung letztlich angewandt wird, obliegt vor allem der Bewertung des Grup- penmitglieds dahingehend, ob es diese Handlung als umsetzbar und erfolgversprechend ein- schatzt (Mchitarjan, 2013). Der jeweilige Schwerpunkt der Aktivitaten zum Kulturerhalt kann dabei auch zwischen kulturellen Gruppen variieren. So fanden beispielsweise Gezentsvey- Lamy et al. (2013) heraus, dass die intrakulturelle Heirat in judischen Gemeinschaften einen besonders hohen Stellenwert einnahm, wahrend fur die Maori vor allem die Weitergabe der Sprache und des traditionellen Wissens im Vordergrund stand .
2.8 Die Messung des Kulturtransmissionsmotives
Die beschriebenen Annahmen der Kulturtransmissionstheorie wurden erstmalig umfas- send von Mchitarjan und Reisenzein (Mchitarjan & Reisenzein, 2013; vgl. auch Mchitarjan & Reisenzein 2015) dargelegt und uberpruft. Ziel war es, mittels eines Fragebogens das Kultur- transmissionsmotiv bei Jugendlichen mit turkischem oder russischem Hintergrund in Deutschland zu messen. Die Messung des Kulturtransmissionsmotives beruhte dabei auf der Annahme, dass diese einerseits durch eine direkte Befragung danach moglich ist, da sich das Kulturtrans- missionsmotiv in dem expliziten Wunsch der Weitergabe oder des Erhalts der Herkunftskultur oder bestimmter Elemente davon ausdruckt. Anderseits kommt das Motiv aber auch indirekt zum Ausdruck, namlich sowohl in bestimmten, diagnostischen Verhaltensweisen und Hand- lungstendenzen als auch in Emotionen, die auftreten, wenn das Motiv befriedigt oder frustriert wird. Dem entsprechend beinhaltete der Fragebogen von Mchitarjan und Reisenzein (2013) zur Erfassung des Kulturtransmissionsmotives einerseits Items, die das Motiv direkt erfragten (also nach dem Wunsch der Aufrechterhaltung der Herkunftskultur fragten), und andererseits Items, die es indirekt uber emotionale Reaktionen und Handlungstendenzen in fur das Motiv charak- teristischen Situationen erfassen sollten.
Die Untersuchung von Mchitarjan und Reisenzein (2013) bestatigte eine mittlere bis hohe Auspragung des Kulturtransmissionsmotives bei den meisten der 55 befragten Personen. Diese waren in Deutschland lebende Jugendliche mit turkischer oder russischer Herkunft. Weiterhin fanden sich Belege fur die Annahme, dass das Motiv sich auf die Herkunftssprache und auf die Normen und Werte der Herkunftskultur konzentriert, und ebenso fur die Annahme, dass das Kulturtransmissionsmotiv in elementaren Motiven wie Sicherheit oder Unterstutzung verwur- zelt ist.
Die Onlineumfrage fand auBerdem eine hohe Stabilitat des Kulturtransmissionsmotives innerhalb einer Generation und ebenso eine relativ hohe Stabilitat zwischen verschiedenen Ge- nerationen. Ein statistisch signifikanter Zusammenhang mittlerer Starke wurde ferner gefunden zwischen der Starke der Auspragung des Kulturtransmissionsmotives und der Bereitschaft ei- ner Person, aktiv zu werden gegen den moglichen Sprachverlust oder die kulturelle Distanzie- rung beim eigenen Kind (Mchitarjan & Reisenzein, 2014).
In einer anschlieBenden, weltweit angelegten Internetbefragung von insgesamt 844 im- migrierten Personen wurden die Kernaussagen der Theorie abermals bestatigt (Mchitarjan & Reisenzein, 2015). Hierfur wurde der ursprungliche deutsche Fragebogen zur Kulturtransmis- sion ins Englische ubersetzt und erweitert. In einer nachfolgenden Untersuchung verwendete die Autorin dieser Arbeit (Schmuck, 2018) den 2015 angewendeten Fragebogen zur Erstellung eines Leitfrageninterviews fur 55 Personen (hauptsachlich Studierende) mit migrantischem Hintergrund. Die Daten wurden mittels der sogenannten „Intuitiven Beurteilermethode“ ausge- wertet (die in diesem Rahmen erstmals zur Auswertung von Interwies angewandt wurde). Auch mit diesem qualitativen Erhebungsverfahren konnten die Annahmen der Kulturtransmissions- theorie bestatigt werden.
2.9 Uberblick uber die vorliegende Studie
Die vorliegende Untersuchung basiert auf den Ergebnissen von Mchitarjan und Reisen- zein (vgl. 2014; 2015) sowie Schmuck (2018) zur Existenz, Beschaffenheit, relativen Stabilitat und vor allem der motivierenden Wirkung des Kulturtransmissionsmotives. Bisher wurden zur Theorie der Kulturtransmission bei Minderheiten nur nichtexperimentelle Studien durchge- fuhrt. In der vorliegenden Untersuchung wurde dagegen erstmals eine experimentelle Uberpru- fung der Theorie vorgenommen.
Dazu wurde die hypothetische Szenario-Methode verwendet, deren Anwendung in diversen Forschungsfeldern zunehmend Anklang findet (z.B. Barrera & Buskens, 2007; Dulmer 2001). Es wurde ein Webexperiment mit zwei verschiedenen Migrationsszenarien konzipiert, in die sich die Teilnehmenden hineinversetzen sollten. Im ersten Teil der Untersuchung kamen unterschiedliche Versionen dieser zwei Migrationssituationen zum Einsatz, in denen potenziell bedeutsame Faktoren fur die Aktivierung des Kulturtransmissionsmotives experimentell mani- puliert wurden. Nach jeder Situationsbeschreibung wurden den Teilnehmenden sechs Fragen gestellt (immer dieselben), die sich auf die Auswirkungen der Motivaktivierung auf MaBnah- men zum Kulturerhalt (Handlungen), Emotionen und Wunsche bezuglich der Kultur beziehen. Diese Fragen wurden teilweise aus dem Fragebogen der vorherigen Untersuchungen extrahiert und entsprechend angepasst. Sie sollten sowohl die direkte als auch indirekte Erfassung des durch die experimentellen Manipulationen unterschiedlich stark aktivierten Kulturtransmissi- onsmotives erlauben. Im zweiten Teil der Untersuchung wurden den Teilnehmenden abschlie- Bend und einmalig sechs weitere Fragen (Items K1 bis K6) gestellt, die sie aus ihrer Perspektive beantworten sollten. Auch diese wurden dem Fragebogen der vorherigen Untersuchungen ent- nommen.
2.10 Fragestellung und Hypothesen
Auf Grundlage des bisherigen Forschungsstandes und dem Hintergrund der Erkenntnisse von Mchitarjan und Reisenzein (vgl. 2014; 2015) sowie Schmuck (2018) wurde fur die vorlie- gende Untersuchung die Annahme abgeleitet, dass die Bedrohung der Kultur und Kulturtrans- mission zu einer Aktivierung des Kulturtransmissionsmotivs fuhrt. Wie zuvor dargelegt wurde, spielt es dabei keine Rolle, ob die Bedrohung tatsachlich erlebt oder lediglich wahrgenommen wird.
Die wahrgenommene Bedrohung der Kulturtransmission, die sich durch die Gefuhle der Teilnehmer*innen ausdruckt, wurde durch zwei Items gemessen (Items „gemischte oder negative Gefuhle (G)“ und „besorgt (B)“, vgl. Abschnitt 3.2 ). Drei weitere Fragen messen die Hand- lungsbereitschaft der Teilnehmer*innen, MaBnahmen gegen den moglichen Kulturverlust zu unternehmen („Privatunterricht (P)“, „Anstrengungen (A)“, „Heimaturlaub (H)“). Die letzte Frage, die danach fragt, wie schwer es einer Person fallt, umzuziehen („schwerfallen (S)“), wird als indirekte Frage nach dem Wunsch verstanden, auswandern zu wollen oder nicht. Fur die Fragen und die Untersuchung wurde angenommen, dass die Handlungsbereitschaft hoher ist, je hoher die wahrgenommene Bedrohung der Kulturtransmission ist. Aus den bisherigen An- nahmen leitet sich also folgende Forschungsfrage ab: Ist durch eine wahrgenommene Bedro- hung der eigenen Kultur in Migrationssituationen das Kulturtransmissionsmotiv starker akti- viert und seine Auspragung abhangig vom Grund des Standortswechsels? Diese Fragestellung wird mithilfe von 3 Haupthypothesen beantwortet.
2.10.1 Forschungshypothese H1
H1: Je starker die (wahrgenommene oder tatsachliche) Bedrohung der Kultur in Migrationssi- tuationen ist, desto starker ist die Aktivierung des Kulturtransmissionsmotivs.
2.10.2 Forschungshypothese H2
H2: Die Starke der wahrgenommenen Bedrohung, und damit auch die Bereitschaft, etwas da- gegen zu tun, ist abhangig von der jeweiligen Migrationssituation.
In der vorliegenden Untersuchung gab es zwei verschiedene Migrationssituationen, wel- che sich sowohl durch den Hauptgrund fur den geplanten Umzug in ein anderes Land als auch die Partnerschaftsbeziehung unterschieden. In der ersten Situation war die am Versuch teilneh- mende Person selbst der Grund fur den Umzug aufgrund eines verlockenden Jobangebots und sie hatten eine*n Partner*in, der*die aus dem gleichen Herkunftsland stammt wie die Versuchs- person selbst; in der anderen Situation war der Hauptgrund fur die geplante Migration dagegen, dass sich der*die aus dem Migrationsland stammende Partner*in wunscht, in sein*ihr Her- kunftsland zuruckzukehren. Manipuliert wurden Merkmale des Migrationslandes, die fur den Erhalt und die Transmission der Herkunftskultur mehr oder weniger gunstig oder ungunstig waren. Insgesamt wurden sechs solcher Faktoren variiert. Diese werden in Hypothese 3 genauer beschrieben.
2.10.3 Forschungshypothese H3
H3: Das Vorhandensein folgender Faktoren, in ihrer fur die Kultur gunstigen Auspragung, re- duziert die Starke der wahrgenommenen Bedrohung der Kulturtransmission in Migrationssitu- ationen.
H3.1: Die Moglichkeit fur das eigene Kind, die Sprache der Herkunftskultur zu lernen, redu- ziert die wahrgenommene Bedrohung der Kulturtransmission.
H3.2: Das Vorhandensein von anderen Migranten des Herkunftslandes im eigenen Alter und im Alter des Kindes reduziert die wahrgenommene Bedrohung der Kulturtransmission.
H3.3: Die Moglichkeit zum Erwerb von Produkten des Herkunftslandes reduziert die wahrge- nommene Bedrohung der Kulturtransmission.
H3.4: Gesetzliche auslanderfreundliche Regelungen reduzieren die wahrgenommene Bedro- hung der Kulturtransmission.
H3.5: Die Verfugbarkeit von Medien aus dem Herkunftsland reduziert die wahrgenommene Bedrohung der Kulturtransmission.
H3.6: Die Ahnlichkeit der Normen und Werte sowie der sozialen Umgangsformen reduziert die wahrgenommene Bedrohung der Kulturtransmission.
Durch die sechs gestellten Fragen (vgl. Abschnitt 3.2) die die Personen nach Beschrei- bung jeder Situation erhielten (vgl. Abschnitt 3.4), konnte fur jeden dieser Faktoren festgestellt werden, ob und zu welchem Grad er die erlebte Bedrohung der Kulturtransmission und die Handlungsbereitschaft der Person, etwas dagegen zu unternehmen, beeinflusste. Da erwartet wurde, dass die Bedrohung der Kulturtransmission durch die sechs Faktoren (Forschungshypothese 3) beeinflusst werden wurde, wurde deshalb auch vorhergesagt, dass alle Faktoren auch die Handlungsbereitschaft in dieselbe Richtung beeinflussen wurden. Da die Faktoren mit zwei Auspragungen konzipiert wurden, wurde vorhergesagt, dass die gunstige Auspragung der Faktoren die wahrgenommene Bedrohung und damit Handlungsbereitschaft (und damit das gemessene Kulturtransmissionsmotiv reduziert, wahrend die ungunstige Aus- pragung die wahrgenommene Bedrohung und damit Handlungsbereitschaft (und damit das ge- messene Kulturtransmissionsmotiv). Somit wurde also getestet, ob sich die sechs manipulierten Faktoren auf die vorhergesagte Weise auf die abhangigen Variablen auswirken.
3 Methode
In diesem Kapitel werden die Stichprobe, das Versuchsdesign, die Versuchsplanung so- wie das Material und der Versuchsablauf beschrieben. Zum Schluss wird auf die Methodik, mit der die erhaltenen Daten ausgewertet wurden, eingegangen.
3.1 Stichprobe
Die Onlinestudie wurde von insgesamt 96 Personen durchgefuhrt. Von diesen gaben 35 an, mannlichen Geschlechts zu sein, 59 waren weiblich, eine Person gab als Geschlecht „ande- res“ an und eine weitere Person machte keine Angabe zum Geschlecht. Die Probanden waren zwischen 19 und 60 Jahre alt (M = 28.7 Jahre, SD = 8.4 Jahre).
Die Teilnehmer*innen wurden durch einen Aufruf bei Facebook auf den Internetseiten der Universitat Rostock und der Universitat Greifswald angeworben. Zusatzlich wurde der Link zur Untersuchung an Bekannte der Verfasserin dieser Arbeit geschickt, die nach Teilnahme an dem Experiment den Link an weitere Bekannte weitergaben. Das Weiterleiten der Links er- folgte per E-Mail, aber auch per WhatsApp. Im weiteren Verfahren wurden einige zusatzliche Versuchspersonen durch einen Aufruf im Web Panel der Universitat Greifswald angeworben. Studierende der Universitat Greifswald hatten die Moglichkeit, als Aufwandsentschadigung fur die Teilnahme ein halbe Versuchspersonenstunde zu erhalten. Alternativ dazu konnten die Teil- nehmer*innen an einer Verlosung von zehn 20-Euro-Gutscheinen fur eine Auswahl verschie- dener Shops, wie zum Beispiel avoadostore.de oder Cafe Kustenkind teilnehmen.
3.2 Versuchsdesign und Versuchsplanung
Das Ziel der Untersuchung ist, zu zeigen, dass verschiedene Faktoren, welche die Kul- turtransmission erleichtern oder erschweren sich auf die Bereitschaft zu MaBnahmen, die dem Kulturerhalt dienen, auswirken, ebenso wie auf die erlebten Emotionen und die direkt formu- lierten Wunsche nach dem Kulturerhalt. Zur Uberprufung dieser Hypothesen wurde ein fakto- rielles Surveydesign gewahlt. Die experimentelle Variation ermoglichte es, auch nicht-migran- tische Personen mit Migrationsszenarien zu konfrontieren; deshalb war die Untersuchung nicht auf Personen mit migrantischem Hintergrund begrenzt. Im faktoriellen Survey wird davon aus- gegangen, dass Personen sich durch anschaulich beschriebene Situationen in diese hineinver- setzen konnen und die angegeben Reaktionen auf die Situationen ihren tatsachlichen Reaktio- nen relativ ahnlich sind (Atzmuller & Steiner, 2010).
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