Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Definition und Abgrenzung des Begriffs „Ethik“
2. Ethische Dimension der Wirtschaft
3. Ethische Dimension der Versicherungsbranche
3.1 Historische Entwicklung des Versicherungswesens
3.2 Charakteristika privater Versicherungen
3.3 Sicherheit als menschliches Grundbedürfnis
3.4 Private und gesetzliche Versicherung im sozialen Kontext
3.5 Ethische Aspekte im Verhältnis zwischen Versicherung und Versicherungsnehmer
3.5.1 Ethische Aspekte des Versicherungsunternehmens
3.5.2 Ethische Aspekte des Versicherungsnehmers
3.5.3 ‚Moral hazard’
3.5.4 Auffassung des Versicherungsgedankens
3.6 Besondere ethische Aspekte der Lebensversicherung
3.7 Versicherungsaußendienst
Schlußbemerkung
Literaturverzeichnis
Einleitung
„Unsere Maxime aber sei: Opfere den bösen Dämonen!“, schrieb schon 1850 Arthur Schopenhauer in seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“, als er die Notwendigkeit und Chance zur Wahrung des Lebensstandards in der Versicherung sah. Nach seiner Auffassung „wird der Versicherungsvertrag [...] [zum] sakralen Handelsgeschäft, weil das Opfer in Gestalt des Assekuranzbeitrages den Zufall von seiner nachteiligen Seite her ausschließt.“1 Der Versicherungsgedanke scheint nicht neu zu sein und die Tatsache, daß sich schon namhafte Philosophen mit ihm auseinander gesetzt haben, macht die Themen Ethik und Versicherung auch heute noch nicht weniger interessant.
In den letzten Jahren ist die Ethik in den verschiedensten Zusammenhängen wieder vermehrt ins Gespräch gekommen und es hat teilweise einen regelrechten Boom für Ethik gegeben. Kamen in den USA schon um die Jahrhundertwende und in den dreißiger Jahren erstmals Diskussionen um das gesellschaftliche Rollen- und Verantwortungsverständnis des Unternehmens auf, so wurden die fünfziger Jahre von der Frage personenbezogener- und insbes. der Managerverantwortung geprägt. Ende der sechziger Jahre dann entbrannte die Auseinandersetzung um die ökologische und soziale Verantwortung des Unternehmens. In den letzten Jahren schließlich ging es um die Vermarktung der Ethik als solcher: Nicht nur Ethik-Seminare erfreuten sich steigender Beliebtheit; durch „Ethische Investmentfonds“2 beispielsweise wurden ethisch-moralische Anschauungen selbst zum Produkt.
Die vorliegende Hausarbeit soll einen ersten Einblick in das Themenfeld ethischer Fragestellungen in Gesellschaft und Wirtschaft am Beispiel der Versicherungsbranche eröffnen und die Relevanz ethischer Fragestellungen verdeutlichen. Die Frage der Ethik wird sich dabei als in sich sehr komplex erweisen und auch nicht abschließend und allumfaßend beleuchtet werden können. Zum besseren Verständnis wird zunächst der Frage der Ethik an sich entsprechende Bedeutung zugemessen werden müssen. Des weiteren geht es um die Frage der Ethik in der Wirtschaft im allgemeinen. Anschließend wird die Ethik im Licht der Versicherungsbranche betrachtet und der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Versicherungsbranche ggf. besondere ethische Dimensionen eröffnet. Der Aufbau der vorliegenden Hausarbeit berücksichtigt diese Anforderungen und räumt den entsprechenden Abschnitten den nötigen Raum ein.
1. Definition und Abgrenzung des Begriffs „Ethik“
Neben dem Begriff „Ethik“ tauchen in der Literatur weitere Begriffe auf, die im engen Zusammenhang mit diesem Begriff stehen und diesen in seiner Bedeutung weiter ausfüllen. Die begriffliche Differenzierung ist nicht in jedem Fall von praktischer Notwendigkeit, als oft vielmehr von akademischen Wert. Zum Zwecke einer umfassenderen Verständnisgebung sei jedoch ein kurzer Hinweis darauf gegeben.
Erste Versuche zur Beschreibung des weitgefaßten Ethik-Begriffs machte mitunter schon Plato, als er die vier Kardinaltugenden Tapferkeit, Mäßigung, Klugheit und Gerechtigkeit postulierte. Die Verbundenheit von individueller und sozialer Ethik wird offenbar. Ethik3 ist die philosophische Wissenschaft vom Sittlichen. Die Ethik soll Richtlinien zur sittlichen Richtigkeit des Verhaltens und Handelns setzen. Konkret kann Ethik als geordnete Ansammlung von Werten in einer Gesellschaft betrachtet werden, also die Menge ganz bestimmter Werte, für die ein Konsens in der Gesellschaft erreicht worden ist, welche als fundamentale Orientierungsleitlinie menschlichen Handelns und sozio-kulturellen Zusammenlebens wirken. Philosophie und Religion, Vorbilder und Tabus, Anstandsregeln und Politik können Werkzeuge der Ethik sein, wenn mit ihnen Werte kommuniziert und zur Durchsetzung gebracht werden.4 Werte können durch Tabus gefördert oder geschützt werden und stellen so gewissermaßen eine „psychotherapeutische Institution zur Bewahrung möglichst großer Seelenhygiene“5 dar. „Ethik ist [.] die Reflexion auf der Meta-Ebene über das Objekt Moral. Ethik verhält sich zu Moral wie Lehre zu handeln“6, schreibt Bauer. Ethik beschreibt das zwischen absoluten Wertmaßstäben (Ethik im weiteren Sinne) und der konkreten Befolgung derselben (Ethik im engeren Sinne oder Moral) gespannte Spannungsnetz. Und so differenziert sich Moral als die in einer bestimmten Gesellschaft faktisch vorherrschende Norm von Ethik als eher theoretischem Begriff. Doch in der Praxis werden die Begriffe Ethik und Moral oft gleichbedeutend verwendet.
2. Ethische Dimension der Wirtschaft
Die These, wirtschaftliche Tätigkeiten könnten doch ob ökonomischer Vernunft jeglicher Sinn- und Wertfragen entbehren, darf so nicht weiter bestehen bleiben.
Zunehmende Machtkonzentrationen in der Wirtschaft und abnehmende Markttransparenzen in vielen Wirtschaftszweigen erfordern eine permanente Überdenkung und ggf. Neuausrichtung unternehmerischen Handelns und ziehen eine immer größerer werdende Verantwortung der Unternehmen auch für ihre (potentiellen) Kunden unweigerlich mit sich.
War die christliche Ethik über viele Jahrhunderte hinweg einzige sinnvermittelnde Instanz, wird diese in der Wirtschaft von heute durch die Ethik des Managements substituiert oder zumindest komplementiert. Gleichzeitig erlebt Immanuel Kants kategorischer Imperativ eine Renaissance, wenn unternehmerische Entscheidungen z.B. auf ihre Sozialverträglichkeit geprüft werden. Handle stets so, daß die Maxime Deines Handelns zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte. Entsprechend zitiert Bauer: „Would I feel comfortable, explaining to a national TV audience why I took this action?“7 Als Leitfrage unternehmerisch korrekten Handelns ist die Antwort quasi überflüssig da implizit mit der Fragestellung verbunden.
Allerdings steht die Frage unternehmerischen Tuns nicht nur im Fadenkreuz der Sozialverträglichkeit; denn warum sollte der (gerechte) Arbeitnehmerlohn eine höhere ethisch-moralische Wertigkeit haben als der unternehmerische Profit? Schließlich sind auch die Erhaltung und Steigerung des shareholder value oder die Schaffung von Arbeitsplätzen durch den Unternehmer ethisch wertvolle Güter, die ohne einen entsprechenden Unternehmerlohn nicht realisierbar wären.
3. Ethische Dimension der Versicherungsbranche
3.1 Historische Entwicklung des Versicherungswesens
Es gibt zunächst keinen Grund zu der Annahme, daß die grundlegenden Überlegungen zur Ethik in der Wirtschaft nicht auch für die Versicherungsbranche gelten sollten. Im Hinblick auf die geschichtliche Entwicklung der Versicherung jedoch wird offenbar, daß es in der Vergangenheit Bestrebungen gegeben hat, der Versicherung ihre ethische Existenzberechtigung zu verwehren, die eine interessante Bereicherung in der Diskussion um die Versicherung und ihrer Ethik darstellen. Im folgenden muß daher der Frage nachgegangen werdem, inwiefern Ökonomie und Philosophie, inwiefern Assekuranz und Ethik in der heutigen Zeit ein unter ethischen Gesichtspunkten vereinbares Begriffspaar bilden oder nicht.
Noch heute gibt es einige religiöse Vereinigungen, welche die Versicherung ernsthaft und grundlegend ablehnen. Einige mögen wohl behaupten, die Versicherung an sich sei völlig unchristlich. Deren Argumentation fußt zumeißt auf den Überlieferungen der Bibel, welche in der Eschatologie die Hoffnung lehrt. So gesehen bedeutet Versicherung den Eingriff in gottgewolltes Schicksal: Wer sich versichert, erhebt Hand gegen Gott.
Im Laufe der Zeit jedoch hat sich gezeigt, daß derartige in Religionen verwurzelte Vorstellungen zwar einen gewissen Einfluß auf wirtschaftliche Tätigkeiten haben, letztendlich aber doch der Taler die Welt regiert. Der heute komplexe Baum des Versicherungswesens konnte sich geschichtlich betrachtet aus zwei Wurzeln entwickeln.
Der genossenschaftliche Ursprung basiert auf der Überlegung, Gefahren durch die Sippschaft zu übernehmen. Nicht von ungefähr haben sich später die ersten Versicherungen aufgrund kirchlicher Bemühungen gegründet, welche sich auf das Gebot der Nächstenliebe beriefen, was durchaus als sozial und damit ethisch wertvoll zu erachten ist. Im Grunde genommen ist dies nichts anderes als das Gegenseitigkeitsprinzip, welches sich auch heute noch in den Bezeichnungen einiger Versicherungen8 wiederfindet und eine wesentliche Grundlage des Versicherungswesens bildet.
Der erwerbswirtschaftliche Ursprung basiert einfach auf der Idee, den mit den Methoden der Mathematik berechenbar gemachten Zufall gewinnbringend zu nutzen.
Beide Wurzeln haben sich fest miteinander vereint, so daß die professionelle heutige Versicherung auf einem ethisch hochstehenden Ideal fußt.
3.2 Charakteristika privater Versicherungen
Versicherung9 ist heute ein juristisches Produkt. Bedeutete sie früher gegenseitige Unterstützung bei Schadenfällen, bietet die heute primär wirtschaftlich tätige Versicherung ihren Versicherten sogar einen Rechtsanspruch10 auf Unterstützung im Schadenfall. Durch die Rückversicherung11 ist es sogar möglich geworden, die Risiken des Eintritts von Großschäden zu übernehmen, welche ein Einzelner oder ein einzelnes Unternehmen niemals tragen könnte.
Gefahren werden nicht mit absoluter Sicherheit, sondern nur mit relativer Wahrscheinlichkeit realisiert: Schäden drohen zwar vielen, aber nur wenige werden davon getroffen. Die Statistik macht den Zufall kalkulierbar und berechnet die Wahrscheinlichkeit des Schadeneintritts anhand von Erfahrungswerten. Nach Bernoullis Gesetz der großen Zahl weichen relative Häufigkeiten zufällig eintretender Ereignisse um so weniger voneinander ab, je größer die Zahl der Objekte oder Personen ist, bei denen eben jene Ereignisse eintreten könnten. Zufällige Schwankungen im Schadenverlauf werden darüber hinaus durch den Zeitfaktor mit den Jahren wieder kompensiert. Die Versicherung agiert dabei nach gerechten Grundsätzen: Sie selektiert die übernommenen Risiken und gruppiert sie in gleiche Risikogruppen (Nivellierung), so daß sich nur gleichartig Bedrohte zu einer Gefahrengemeinschaft zusammenschließen.12 Die Prämie oder der Beitrag wird damit gerecht und bestätigt den ethischen Anspruch der Versicherungstätigkeit um ein weiteres Mal.
3.3 Sicherheit als menschliches Grundbedürfnis
Die Maslow’sche Bedürfnispyramide ist sicherlich jedem Akademiker ein Begriff. Nach ihr zählt Sicherheit zu den elementarsten Bedürfnissen und ist unmittelbar nach dem Grundbedürfnis nach Nahrung eingestuft. Natürlich gibt es verschiedene Möglichkeiten, sich gegen drohende Gefahren abzusichern. Riskante Situationen nach Möglichkeit vermeiden oder gestaltend auf Umwelteinflüsse einwirken stellen eine Möglichkeit dar. Von Bedeutung ist aber insbesondere die Möglichkeit, sich gegen die (finanziellen) Folgen eines unerwünschten Ereignisses abzusichern. Neben Sparen und individueller Rücklagenbildung steht jedoch die Delegation von Risiken an eine Versicherung eindeutig im Vordergrund. Der Risikotransfer hin zu einer Gruppe, der Gefahrengemeinschaft, die viel besser als der Einzelne geeignet ist, die finanziellen Folgen möglicherweise eintretender Gefahren, zu übernehmen, hängt in der Regel letztendlich vom subjektiven Willen des Einzelnen ab, einen bestimmten Versicherungsvertrag abzuschließen oder nicht. In der Regel ist zudem niemand gezwungen -von den wenigen Bereichen, in denen der Gesetzgeber eine Pflichtversicherung vorgesehen hat einmal abgesehen-, eine Versicherung abzuschließen.
3.4 Private und gesetzliche Versicherung im sozialen Kontext
Der Staat hat zwar die Notwendigkeit sozialer Sicherungssysteme schon vor langem erkannt und für einige Bereiche sogar Pflichtversicherungen eingeführt; andererseits stehen die Leistungen der gesetzlichen Sozialvericherungen denen privater Versicherungsträger oft um einiges nach. Die gesetzlichen Sicherungssysteme sind zwar ein wichtiges Element unseres Sozialstaates und als solche nicht mehr wegzudenken; sie stehen aber auch vor wachsenden Problemen: Der demographische Wandel z.B. macht der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherungen zu schaffen. Wer ist da nicht sogar dankbar, daß er privat Vorsorge treffen kann. Die „Konkurrenz“ privater Versicherungsunternehmen und gesetzlicher Versicherungsträger, bzw. deren Ergänzung, führen letztendlich auch zu einem verbesserten Gesamtangebot an Vorsorgemöglichkeiten, wovon jeder Einzelne ja wieder profitiert.
3.5 Ethische Aspekte im Verhältnis zwischen Versicherung und Versicherungsnehmer
3.5.1 Ethische Aspekte des Versicherungsunternehmens
In erster Linie kommt dem Versicherer die Aufgabe zu, den vereinbarten Versicherungsschutz zu bieten, d.h. im Schadensfall die vereinbarte Summe zu leisten bzw. den Schaden enstprechend der vereinbarten Bedingungen zu erstatten. In der Haftpflichtversicherung geht es zudem um die Prüfung, ob ein angetragener Anspruch berechtigt ist sowie ggf. um die Abwendung unberechtigter Ansprüche (passiver Rechtsschutz).
Probleme sind insbesondere dann zu erwarten, wenn es um große Summen geht. Wir stoßen auf eine doppelte Moral, wenn die korrekte Schadenregulierung lediglich aufgrund hoher Schadensummen in ihre Schranken verwiesen wird.
Dem Versicherungsnehmer sind die Vertragsbedingungen nicht selten Böhmische Dörfer; ähnlich wie bei den Bestimmungen eines Mobilfunkvertrages oder einer Urlaubsreise bedarf er nicht selten der Hilfe eines Sachkundigen. In den Versicherungsunternehmen sitzen entsprechend ausgebildete Fachleute, deren Pflicht es sein sollte, den Versicherungsnehmer (oder in der Haftpflichtverischerung den geschädigten Dritten) im Schadenfall auch auf seine Rechte hinzuweisen. Dazu gehören auch Geduld für den Anspruchsteller, persönliche/objektive Korrektheit und die Benutzung einer für den unkundigen oder unfähigen Laien verständlichen Sprache, ganz zu schweigen von der Höflichkeit.13 Wo diese grundlegenden Dinge fehlen, weicht das Verhalten des Versicherers von seinem ethischen Ideal ab.
Nach den Grundsätzen von Treu und Glauben und unter Einhaltung von Gesetz und Vertrag sollte die Schadenregulierung schnell und unbürokratisch erfolgen. Es ist ethisch verwerflich, wenn Versicherer mit der typischen Formulierung „...und müssen wir im Interesse der Gesamtheit unserer Versicherten ablehnen...“ die Zahlung aufgrund eines berechtigten Anspruchs abzulehnen versuchen oder aufschieben wollen. Der Versicherer darf seine höhere Machtposition gegenüber seinen Kunden nicht ausspielen, nur um eine Zahlung zu umgehen. Wenn vergessen wird, daß derjenige, der im Schadenfall Anspruchsteller ist, während der vorangegangenen Vertragszeit auch Geschäftspartner des Versicherers war (und ist), stoßen wir auf eine ethisch abzulehnende Doppelmoral.
Allerdings hat der Versicherer neben seinen Verpflichtungen gegenüber dem einzelnen Versicherungsnehmer unbestritten auch eine Verantwortung gegenüber der Versichertengemeinschaft, der bei allzu häufiger großzügiger Zahlungswilligkeit irgendwann die Beiträge aller anpassen muß.14
3.5.2 Ethische Aspekte des Versicherungsnehmers
Sowohl im vertraglichen Anbahnungsverhältnis als auch während der Vertragsdauer und im Leistungsfall hat der Versicherungsnehmer entsprechend vor allen den Bestimmungen des BGB15 und des VVG16 diverse Gefahranzeigepflichten, die der Jurist unter den Begriffen „culpa in contrahendo“ und der „positiven Vertragsverletzung“ abhandelt, sowie Unterlassungs- und Mitwirkungspflichten (Obliegenheiten) zu erfüllen, damit der Versicherungsschutz nicht entfällt. Es liegt in der Natur der Sache, daß der Versicherungsnehmer aufgrund seiner Nähe zum versicherten Objekt oder der besseren Kenntnis der Umstände, die für das Risiko erheblich sind, eher als der Versicherer in der Lage ist, die Gefahr zu beeinflussen oder diese im Schadenfall abzuwenden oder zu mindern. Wo der Gefahr allzu freier Lauf gelassen wird mit der lapidaren Aussage, man sei ja versichert, wird der Grundgedanke der Versicherung verfehlt17.
3.5.3 ‚Moral hazard’
Es ist nachgewiesen, daß Versicherungsschutz Verhaltensänderungen beim Versicherten induziert . Diese Tatsache wird in der Literatur mit dem Begriff des ‚moral hazard’ belegt. Einige Fachleute vermuten, daß beispielsweise die großen Wachstumsraten im Bereich des Gesundheitswesens zu einem nicht unerheblichen Teil auf Verhaltensänderungen beruhen, die versicherungsinduziert sind. Der Substitutions- bzw. Komplemetäreffekt beschreibt in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die Kombination risikoverringernder Aktivitäten des Versicherten einmal mit und einmal ohne Versicherungsschutz jeweils eine andere ist. Für den Versicherer ergibt sich dann ein Problem, wenn er zwischen Zufall und Verhalten des Versicherten nicht differenzieren kann (internes moralisches Risiko), weil er im Zweifelsfall auch dann leisten muß, wenn der Zufall seine Hand nicht mit im Spiel hat. Für den Versicherten bedeutet das, daß sich der für ihn faktisch zu zahlende Preis für die Behebung eines Schadens verringert, was in der Regel zu einer Verringerung der Preielastizität der Nachfrage auf dem Markt führt. Die veränderte Nachfrage läßt eine Anpassung der Preise auf den entsprechenden Märkten der Schadenbeseitiger vermuten, was wiederum zu verstärkten Schadenzahlungen rückwirkt (externes moralisches Risiko).18
Es stellt sich die Frage, wie solche Effekte ethisch zu bewerten sind. Der utilitaristische Ansatz der Ethik könnte die Frage stellen, inwiefern die oben beschriebenen Effekte ethisch neutral sind, da ja das Verhalten aller oder zumindest vieler Versicherten erst zu diesem Phänomenen führt. Es sind jedoch nicht selten bewußt getroffene Entscheidungen, die mit der typisch leichtfertigen Begründung, man habe nun schon lange in seine Versicherung gezahlt, einen eben nur vermeintlichen Rechtsanspruch begründen und damit zumindest den Versicherer benachteiligen.
3.5.4 Auffassung des Versicherungsgedankens
Im vorangegangenen Kapitel habe ich versucht deutlich zu machen, daß ‚moral hazard’ als Verpflichtung des Versicherungsnehmers gegenüber seinem Vertragspartner Versicherung gesehen werden muß, die über die bloße Zahlung von Beiträgen hinaus geht. In der Praxis scheint diese Überlegung jedoch nicht weit verbreitet zu sein. Versicherungskunden scheinen sich gar betrogen zu fühlen, wenn ihnen nichts Schlimmes widerfahren ist -und die Versicherung deshalb nicht zahlt. Oft stößt man auf die Meinung, ein Rechtsanspruch auf Leistung entstünde allein aufgrund (jahrelanger) Beitragszahlung. 67% der Versicherten halten es gar für ihr gutes Recht, einen möglichst hohen Geldbetrag von ihrer Versicherung zurückzubekommen; wen wundert es da, wenn bis zu 30% der Bevölkerung es für richtig halten, die Versicherung mehr zahlen zu lassen, als eingentlich korrekt wäre und Versicherungsbetrug damit zum Kavaliersdelikt degeneriert.19 Diese Meinungen scheinen Trend zu sein und deuten sowohl auf einen möglichen Wandel im gesellschaftlichen Werteverständnis an sich als auch darauf hin, daß die originäre Idee der Versicherung in breiten Teilen der Bevölkerung weder verankert, geschweige denn überhaupt verstanden worden ist.
Aber auch die Versicherungsbranche sollte sich dazu aufgefordert fühlen, einen grundlegenden Wandel im Bewustsein der Versicherten herbeiführen zu wollen, was teilweise auch schon in neuen Strategien durch beispielsweise Einführung von Selbstbehalten durchklingt, welche die Versicherten dazu „zwingen“, sich bewußter mit der Versicherungsmaterie zu befassen.
3.6 Besondere ethische Aspekte der Lebensversicherung
Eine weitere ethische Dimension der Versicherung eröffnet die Sparte der Lebensversicherung. Eine umfangreiche Darstellung dieses Themas würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, daher kann dieses Kapitel nur kurz angesprochen werden. Hier blüht das „Geschäft mit dem Tod“. Steigende Umsätze in der Branche dokumentieren die Notwendigkeit und Bereitschaft zum Abschluß einer Lebens- oder Rentenversicherung. Der hier geltende ethische Anssatz ist der, daß gefragt wird, ob es ethisch vertretbar ist, daß der Tod eines Menschen zum Handelsobjekt gemacht wird und die Versicherung daran verdient. Genauer betrachtet wird jedoch nicht direkt am Tod verdient -dennn gerade im Todesfall leistet ja die Versicherung. Die Absicherung hinterbliebener Familienmitglieder oder die Sicherung der Befriedigung von Gläubigeransprüchen können somit gewährleistet werden. Die Lebensversicherung ist hier zwar nicht urs ä chlich ethisch wertvoll, denn der Grund der Versicherungstätigkeit besteht heute sicher großenteils in der Absicht der Gewinnerzielung; aber in der Entfaltung ihrer positiven Wirkung liegt der ethische Wert der Lebensversicherung.
3.7 Versicherungsaußendienst
Auch das Thema Vertrieb von Versicherungen kann hier nur angerissen werden, obwohl hiermit nicht uninteressante, wenn gleich schier unendliche ethische Themenfelder betreten werden. Wenn etwa 80%20 der Verbraucherbeschwerden über den Versicherungsaußendienst auf „Drücker“ (unseriöse Versicherungsvertreter) zurückzuführen sind, wird die Probematik ersichtlich. Wenn kommunikative Mittel mißbraucht werden, um den potentiellen Versicherungsnehmer von der Notwendigkeit eines Versicherungsproduktes zu „überreden“, muß die Frage erlaubt sein, ob der Versicherungsausßendienst großenteils unredlich handelt. Im Grunde genommen handelt es sich jedoch weniger um ein ausschließlich im Versicherungsbereich angesiedeltes Problem, sondern vielmehr um eine Problematik, die im Produktvertrieb an sich liegt. Provisionssysteme an sich scheinen negative Phänomene im Vertrieb zu generieren oder zu amplifizieren.
Schlußbemerkung
In den vorangegangenen Ausführungen ist deutlich geworden, daß ethische Fragestellungen ein philosophisches Faß ohne Boden sein können. Auch für Betriebswirtschaftler und angehende Solche ist es aber von immanenter Wichtigkeit, sich mit ethischen Fragen zumindest ansatzweise zu beschäftigen, um das später in der Praxis geforderte Sozialverständnis zu sensibilisieren und zu fördern.
Ich danke der Versicherungsgruppe Debeka in Koblenz für die Überlassung und Unterstützung bei der Beschaffung von Informationsmaterial.
Literaturverzeichnis
Bauer, H. H.: Marketing und Ethik? Vermarktete Ethik! in: Vermarktete Ethik, herausgegeben von A.-F. Jacob, Stuttgart 1993
Jacob, A.-F. (Hrsg.): Vermarktete Ethik, Stuttgart 1993
Kasten, H.-H.: Ethische Grundlagen und Grenzen der Versicherungswirtschaft, in: Versicherungswirtschaft, 46. Jahrg., Heft 4, S. 192-202
Koch, P.: „Opfere den bösen Dämonen!“ - Arthur Schopenhauers Vorstellung vom Versicherungsgedanken, in: Versicherungswirtschaft, 43. Jahrg., Heft 4, S.258-261
Mahr, W.: Ethik und Moral im Versicherungswesen, München 1971, in: Ethische Grundlagen und Grenzen der Versicherungswirtschaft, von H.-H. Kasten, in: Versicherungswirtschaft, 46. Jahrg., Heft 4, S. 192-202
M ü ller-Reichart, M. / Kurtz, H.-J.: Das Erscheinungsbild des Vertreters ist ausschlaggebend - Psychologische Hintergründe der individuellen Risikobereitschaft im Lichte des Versicherungsproblems, in: Versicherungswirtschaft, 45. Jahrg., Heft 4, S. 218-225
Nell, M.: Versicherungsinduzierte Verhaltensänderungen von Versicherungsnehmern, in: Versicherungswirtschaft, 48. Jahrg., Heft 11, S. 744
R ü rup, B. (Hrsg.) / Gaulke, J.: Kursbuch Versicherung 96/97, Frankfurt am Main 1996 Wangen, H. H.: Korrektheit der Schadenregulierung - Wertbegriff oder Floskel? in: Versicherungswirtschaft, 51. Jahrg., Heft 5, S.321-323
[...]
1 Koch, P.: „Opfere den bösen Dämonen!“ - Arthur Schopenhauers Vorstellung vom Versicherungsgedanken, in: Versicherungswirtschaft, 43. Jahrg., Heft 4, S. 259
2 Vgl. Kasten, H.-H., Ethische Grundlagen und Grenzen der Versicherungswirtschaft, in: Versicherungswirtschaft, 46. Jahrg., Heft 4, S. 192
3 griech. „éthos“=Gewohnheit, Sitte
4 Vgl. Bauer, H.: Marketing und Ethik? Vermarktete Ethik! in: Vermarktete Ethik, herausgegeben von A.- F. Jacob, Stuttgart 1993, S. 6
5 Bauer, H., a. a. O., S. 6
6 Bauer, H., a. a. O., S. 5
7 Bauer, H., a. a. O., S. 4
8 z.B. Debeka Krankenversicherungsverein auf Gegenseitigkeit
9 ital. „assicuranca“=Assekuranz, Versicherung
10 ital. „polizza“=Versprechen,Verpflichtung
11 Rückversicherung ist quasi die „Versicherung der Versicherer“
12 Es besteht sogar ein Verbot der sog. „Quersubventionierung“
13 Vgl. Wangen, H. H., Korrektheit der Schadenregulierung - Wertbegriff oder Floskel? In: Versicherungswirtschaft, 51. Jahrg., Heft 5, S.321-323
14 Vgl. Kapitel 3.5.4
15 BGB=Bürgeliches Gesetzbuch
16 VVG=Versicherungsvertragsgesetz
17 Vgl. Kapitel 3.5.3
18 Vgl. Nell, M., Versicherungsinduzierte Verhaltensänderungen von Versicherungsnehmern, in: Versicherungswirtschaft, 48. Jahrg., Heft 11, S. 744
19 Vgl. Kasten, H.-H., a. a. O., S. 198-199
20 Vgl. Müller-Reichart, M. / Kurtz, H.-J.: Das Erscheinungsbild des Vertreters ist ausschlaggebend - Psychologische Hintergründe der individuellen Risikobereitschaft im Lichte des Versicherungsproblems, in: Versicherungswirtschaft, 45. Jahrg., Heft 4, S. 219
- Citation du texte
- Martin Schäfer (Auteur), 2000, Ethische Aspekte der Versicherung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103689
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