Selektive Vertriebssysteme sind Absatzorganisationen, bei denen sich der Hersteller eines Produktes in einem bestimmten Gebiet auf einzelne Händler unter Ausschluß aller übrigen beschränkt. Diese Bindung begründet sowohl Rechte als auch Pflichten zwischen Hersteller und gebundenem Händler.
Die Händler funktionieren daher - besonders im Bereich der hochwertigen Konsumgüter - als verlängerter Arm des Herstellers und somit auch als Imageträger der Ware. Die Anzahl dieser gebundenen Händler wird daher vom Hersteller qualitativ wie auch quantitativ reglementiert, um ein besonderes Qualitätsmaß seines Vertriebssystems zu gewährleisten.
Logische Konsequenz dieser Reglementierung sind Versuche von Außenseitern, in dieses in sich weitgehend geschlossene System einzudringen, sich Zugang zu der gebundenen Ware zu verschaffen und diese ihren Kunden am Vertriebssystem vorbei zu Billigpreisen zu offerieren.
Ziel dieser Arbeit ist es, den Schutz selektiver Vertriebssysteme vor derartigen Eingriffen zu erläutern.
GLIEDERUNG
A Einleitung
B Anwendungsbereich des europäischen Kartellrechts
I. Rechtsnormenkonkurrenz
1. Zwischenstaatlichkeitsklausel
2. Kollisionsnorm
3. Grundsatz des EuGH
II. Rechtsanwendungskonkurrenz
1. Feststellung der Nichtigkeit nach Art. 81 II EGV
2. Gewährung einer Freistellung nach Art. 81 III EGV
3. Anwendung des Art. 81 I EGV
4. Würdigung des EuGH
5. Würdigung der EG-Kommission
C Schutzfähigkeit selektiver Vertriebssysteme
I. Kartellrechtliche Unbedenklichkeit
1. Nichtigkeit nach Art. 81 II EGV
2. Inter / Intra-Brand -Wettbewerb
3. Freistellung vom Verbot des Art. 81 I EGV
II. Wettbewerbsrechtliche Schutzfähigkeit
1. Lückenlosigkeit
a. Definition
a) Theoretische Lückenlosigkeit
b) Praktische Lückenlosigkeit
b. Deutsches Recht
c. Europäisches Recht
2. Auswirkungen der europäischen Rechtsprechung auf das deutsche Recht
D Verletzung geschützter Vertriebssysteme
I. Schleichbezug
II. Vertragsbruch
1. Verleiten zum Vertragsbruch
2. Ausnutzen des Vertragsbruchs
E Verwaltungs- und ordnungsrechtliche Sanktionen der Kommission
I. Erteilung eines Negativtestes
II. Anmelde- oder Freistellungsverfahren
III. Überleitung
F Wettbewerbsrechliche Schutzgesetze
I. Unterlassungsanspruch
1. Sittenwidrige Verletzungshandlung
a. Schleichbezug
b. Verleiten zum Vertragsbruch
a) Objektiv sittenwidrig
b) Subjektiv Sittenwidrig
c) Zwischenergebnis
c. Ausnutzen fremden Vertragsbruchs
a) Sittenwidrig per se
b) Besondere Umstände
aa) Verhältnis zu ungebundenen Händlern
bb) Verhältnis zu gebundenen Händlern cc) Lückenlosigkeit
d. Gesamtwürdigung
2. Verletzung eines Kontrollnummernsystems
a. Problemstellung
b. Wettbewerbspolitisch positive Vertriebsbindungen
c. Beseitigen von Kontrollnummern
a) Verstoß durch Entfernen der Nummer
b) Art. 28 EGV
c) besondere Umstände 3. Wiederholungsgefahr
II. Anspruch auf Schadensersatz
1. Verschulden
2. Schaden
G Zivilrechtliche Schutzgesetze
I. Vertragliche Ansprüche
II. Sachenrechtliche Ansprüche
III. Deliktische Ansprüche
H Gewerbliche Schutzgesetze
I. Bestand der Schutzgesetze
1. Legitimität nationaler Schutzrechte
2. Art. 30 EGV
3. Markenrecht
a. Doppelidentität
b. Erschöpfung nach § 24 MarkenG und Art. 13 I GemeinschaftsmarkenVO
a) Außerhalb der EWG
b) Innerhalb der EWG
c. Ausnahmen vom Erschöpfungsgrundsatz
a) Beeinträchtigung der Wertschätzung einer Marke
b) Weitere Fälle
d. Darlegungs- und Beweislast 4. Patentrecht
a. Schutzgegenstand
b. Formelle Schutzvoraussetzungen
c. Rechtsinhaber
d. Bestand des Patentes
e. Ansprüche bei Schutzrechtverletzung
a) § 9 PatG
aa) Erschöpfung
bb) Einwendungen des Außenseiters
b) § 10 PatG
c) Verletzungshandlung
d) Rechtswidrigkeit
e) Verschulden
f) Anspruchsumfang 5. Urheberrecht
a. Schutzgegenstand
b. Verfahren
c. Rechtsinhaber
d. Bestand des Rechts
e. Wirkung des Urheberrechts
f. Ansprüche bei Schutzrechtverletzung
II. Ausübung der Schutzgesetze
1. Einschränkung der Ausübung durch Art. 28 und 30 S. 2 EGV
2. Praktische Auswirkung der Art. 28 und 30 S. 2 EGV
3. Patent recht
4. Urheberrecht
J Ausblick auf das zukünftige Kartellrecht
LITERATURVERZEICHNIS
Lehrbücher:
Baumbach / Hefermehl: Wettbewerbsrecht, 20. Auflage, München 1998
Gassner, Ulrich: Grundzüge des Kartellrechts, München 1999, Verlag Vahlen
Ilzhöfer, Volker: Patent- Marken- und Urheberrecht, 4. Auflage, München 2000, Verlag Vahlen
Lässig, Peter: Dezentrale Anwendung des europäischen Kartellrechts, FIW-Schriftenreihe, Heft 170, Köln 1997, Carl Heymanns Verlag
Larenz / Canaris: Schuldrecht Besonderer Teil Band II / 2, 3. Auflage, München 1994, Beck Verlag
Stockenhuber, Peter: Europäisches Kartellrecht, Wien 1999, Manz Verlag
Kommentare:
Baumbach / Hefermehl: Wettbewerbsrecht, Kommentar, 20. Auflage, München 1998, Beck Verlag
Benard, Georg: Patentgesetz, Kommentar, 9. Auflage, München 1993, Beck Verlag Fezer, Karl-Heinz: Markenrecht, Kommentar, 2. Auflage, München 1999, Beck Verlag Geiger, Rudolf: EG-Vertrag, Kommentar, 3. Auflage, München 1998
Grabitz/ Hilf: Kommentar zur Europäischen Union, München 1998
Amtsblätter:
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaft, Luxembourg
Zeitschriften:
Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW), Beck Verlag, München
Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR), Wiley-Vch Verlag, Weinheim
Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil (GRUR int), Wiley-Vch Verlag
Neue juristische Wochenschrift - Rechtsprechungsreport (NJW - RR), Beck Verlag, München
Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW), Verlag Recht und Wirtschaft, Heidelberg
Sammlung der Rechtsprechung des EuGH (EuGH Slg.), Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaft
Wettbewerb in Recht und Praxis (WRP), Deutscher Fachverlag, Franfurt am Main
Wirtschaft und Wettbewerb (WuW), Verlagsgruppe Handelsblatt, Düsseldorf
Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht (ZHR), Verlag Recht und Wirtschaft
Sonstige Beiträge:
Baudenbacher, GRUR int 1988, S. 931
Bayreuther, Frank: WRP 1996, S. 867
Bayreuther, Frank: Rechtsprobleme im Zusammenhang mit dem Schutz von Vertriebs- bindungssystemen nach Markenrecht, WRP 2000, S. 349
Beier: GRUR 1987, S. 131
Bunte: GRUR 1987, S. 90
Busche, Jan Der Schutz selektiver Vertriebssysteme gege Außenseiter - Abschied vom Dogma der Lückenlosigkeit ?, WRP 1999, S. 1231
Ebel: WRP 1985, S. 387
Ehri>ZHR 1994, S. 170
Esser-Weile: WuW 1995, S. 457
Heath: GRUR 1996, S. 275
Hoth: GRUR 1964, S. 68
Kraft: GRUR 1969, S. 120
Loewenheim: GRUR int 1996, S. 307
Lubberger: WRP 2000, S. 139
Sack, Rolf: RIW 1994, S. 837
Sack, Rolf: WRP 1998, S. 549
Sack, Rolf: Markenrechtlicher Schutz von Vertriebsbindungen, WRP 199, S. 467
Sack, Rolf: Vertriebsbindungen und Außenseiter, WRP 2000, S. 447
Schütz, Jörg: Zur Änderung des Kartellverfahrens gemäß Artikel 81 EGV, WuW 2000, S. 686
Troller: GRUR int 1960, S. 244
Ullrich: GRUR 1984, S. 89
von Gamm: WRP 1993, S. 793
Wolter/Labberger: GRUR 1999, S. 17
A Einleitung
Selektive Vertriebssysteme sind Absatzorganisationen, bei denen sich der Hersteller eines Produktes in einem bestimmten Gebiet auf einzelne Händler unter Ausschluß aller übrigen beschränkt. Diese Bindung begründet sowohl Rechte als auch Pflichten zwischen Hersteller und gebundenem Händler.
Die Händler funktionieren daher - besonders im Bereich der hochwertigen Konsumgüter - als verlängerter Arm des Herstellers und somit auch als Imageträger der Ware. Die Anzahl dieser gebundenen Händler wird daher vom Hersteller qualitativ wie auch quantitativ reglementiert, um ein besonderes Qualitätsmaß seines Vertriebssystems zu gewährleisten.
Logische Konsequenz dieser Reglementierung sind Versuche von Außenseitern, in dieses in sich weitgehend geschlossene System einzudringen, sich Zugang zu der gebundenen Ware zu verschaffen und diese ihren Kunden am Vertriebssystem vorbei zu Billigpreisen zu offerieren.
Ziel dieser Arbeit ist es, den Schutz selektiver Vertriebssysteme vor derartigen Eingriffen zu erläutern.
B Anwendungsbereich des europäischen Kartellrechts
Die Wettbewerbsregeln der Art. 81 bis 87 EGV sind aus Sicht des räumlichen Geltungsberiechs des EG-Vertrages (EGV) grundsätzlich auf das gesamte Territorium aller Mitgliedsstaaten anwendbar. Da der EGV eine derartige supranationale Rechtsordnung darstellt, ist zu untersuchen, wie für den Bereich des Kartellrechts eine mögliche Kollision zu den nationalen Rechtssystemen zu bewerten ist. Dieses Spannungsverhältnis soll hier anhand des deutschen Rechts nahegebracht werden.
I. Rechtsnormenkonkurrenz
Auch nach Inkrafttreten der 6. GWB-Novelle unterscheiden sich die Normen des deutschen und des europäischen Kartellrechts in vielerlei Hinsicht. Dies wirft unvermeidlich die Frage auf, wie mögliche Konflikte zwischen europäischem und den nationalen Rechtssystemen zu behandeln sind (Rechtsnormenkonkurrenz).
1. Zwischenstaatlichkeitsklausel
Die Klärung dieses Verhältnisses würde sich freilich dann erübrigen, wenn das europische Recht neben dem einzelstaatlichen Kartellrecht von vorn herein keine Geltung beansprucht.
Das europäische Kartellrecht beansprucht ebendiese Geltung doch nur für Fälle, die den Handel zwischen Mitgliedsstaaten betreffen, also von übernationaler Bedeutung sind. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der Handel zwischen Mitgliedsstaaten dann betroffen, wenn eine Maßnahme von Unternehmen "unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder der Möglichkeit nach geeignet ist, die Freiheit des Handels zwischen Mitgliedsstaaten in einer Weise zu gefährden, die der Verwirklichung der Ziele eines einheitlichen zwischenstaatlichen Marktes nachteilig sein kann."[1]. In neuerer Zeit wird jedoch mehr und mehr - auch unter dem
Eindruck des Subsidiaritätsprinzips des Art. 5 EGV - eine Einschränkung dieser Zwischenstaatlichkeitsklausel diskutiert[2]. Art. 5 EGV könnte eine restriktivere Auslegung dieses Prinzips zur Folge haben, als nur theoretisch denkbare Auswirkungen auf den
zwischenstaatlichen Handel nicht mehr ausreichen, um zur Anwendung des Art. 81 EGV zu gelangen[3]. Praktisch anwendbar ist die Zwischenstaatlichkeitsklausel jedenfalls dann, wenn Vereinbarungen zwischen Unternehmen verschiedener Mitgliedsstaaten vorliegen[4]
2. Kollisionsnorm
Zwar ist in Art 83 II e EGV der Rat der europäischen Gemeinschaft dazu ermächtigt, auf Vorschlag der Kommission das Verhältnis zwischen dem nationalen Kartellrecht und den europäischen Wettbewerbsregeln festzulegen. Diese Ermächtigung ist jedoch bisher nicht gebraucht worden, so daß es keine Kollisionsnorm gibt
Auch die Zwischenstaatlichkeitsklausel in Art. 81 I und Art. 82 EGV kann nicht als Kollisionsnorm verstanden werden, weil durch sie nur der sachliche Anwendungsbereich dieser beiden Bestimmungen eingegrenzt wird.
3. Grundsatz des EuGH
Im Fall der Art 81, 82 EGV muß deswegen oft auf den vom EuGH postulierten Grundsatz vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts[5] zurückgegriffen werden. Darin stellte der EuGH nämlich fest, daß die Anwendung der Wettbewerbsregeln der EWG die Anwendung nationalen Rechts grundsätzlich nicht ausschließe, daß jedoch bei einer Normenkollision das Gemeinschaftsrecht Vorrang habe.
II.Rechtsanwendungskonkurrenz
Von der Rechtsnormenkonkurrenz ist die Frage der Rechtsanwendungskonkurrenz zu unterscheiden. Diese betrifft die Aufgabenteilung zwischen Kommission und nationalen Behörden (Art. 9 III VO Nr. 17/62)[6] bzw. Gerichten[7] bei der innerstaatlichen Anwendung des EG-Kartellrechts.
Auszugehen ist bei dieser Umsetzung der Normziele des europäischen Kartellrechts von verschiedenen Kompetenzregelungen, die von verschiedenen Aufgabenbereichen abhängen[8]:
1. Feststellung der Nichtigkeit nach Art. 81 II EGV
Eine ausschließliche Zuständigkeit des nationalen Zivilrichters liegt vor zur Feststellung der Nichtigkeit eines Vertriebssystems.
2. Gewährung einer Freistellung nach Art. 81 III EGV
Ausschließlich zuständig ist hingegen die Kommission der EG für die Gewährung einer Freistellung gemäß Art. 81 III EGV.
3. Anwendung des Art. 81 I EGV
Größere Probleme bereitet die Abgrenzung des Anwendungsbereichs bei Art. 81 I EGV.
Auszugehen ist hier von einer konkurrierenden Zuständigkeit von Kommission, nationalen Zivilgerichten und Wettbewerbsbehörden.
Ein paralleles Vorgehen des europäischen sowie des nationalen Rechtskreises ist grundsätzlich denkbar, da beide Rechtskreise wettbewerbsbeschränkendes Verhalten unter verschiedenen Gesichtspunkten auffassen.
Beispielhaft sei hier das deutsche Kartellrecht erwähnt: Während Art. 81, 82 EGV die Auswirkungen eines wettbewerblich erheblichen Sachverhalts auf den zwischenstaatlichen Handel erfassen, regelt das GWB denselben Sachverhalt im innerstaatlichen Bereich. Es ist daher auch eine parallele Rechtsanwendung möglich, solange die nationale Rechtsprechung nicht der der europäischen Gemeinschaft zuwider läuft. Tut sie das, dann gelten wegen der Supranationalität und der Integrationsfunktion des EG-Rechts die Normen des Gemeinschaftsrechts. Tut sie dies nicht, dann können die nationalen Kartellbehörden sogar dann noch nach dem jeweiligen staatlichen Recht vorgehen, wenn die Kommission ein Verfahren eingeleitet hat und die betreffende Vertriebsbindung auf seine Vereinbarkeit mit Art. 81 I EGV untersucht[9].
Sollte diese parallele Anwendung allerdings zu einer Doppelsanktion führen, so ist aus Billigkeitsgründen die frühere Sanktionsentscheidung bei der Bemessung der später zu verhängenden Sanktion zu berücksichtigen[10].
4. Würdigung des EuGH
Der Gerichtshof hat für diese Rechtsanwendungskollision Grundsätze festgelegt: Danach sei davon auszugehen, " [...] daß der Vertrag zwar für Privatpersonen mehrere Möglichkeiten der direkten Klage zum Gerichtshof eröffnet hat, daß er aber zusätzlich zu den ... bestehenden Rechtsbehelfen vor den staatlichen Gerichten schaffen wollte ... daß es möglich sein muß, zur Gewährleistung der Beachtung unmittelbar wirkenden Gemeinschaftsrechts von jeder im nationalen Recht vorgesehenen Klagemöglichkeit unter denselben Zuläsigkeits- und sonstigen Verfahrensvorussetzungen Gebrauch zu machen, wie wenn es sich um die Gewährleistung der Beachtung des nationalen Rechts handele"[11].
5. Würdigung der Kommission
Die Kommission hat sich dieser Meinung angeschlossen und festgestellt, daß diese Grundsätze auch bei einer Verletzung des Wettbewerbsrechts Anwendung finden können. Es müsse der Gemeischaftsbürger das Recht haben, daß die staatlichen Gerichte einstweilige Verfügungen erlassen, daß ihn beeinträchtigende Zuwiderhandlungen tatsächlich abgestellt ürden und der ihm daraus entstandene Schaden ersetzt würde[12].
C Schutzfähigkeit selektiver Vertriebsbindungssysteme
Erste materielle Voraussetzung für den Schutz eines selektiven Vertriebssystems vor Außenseitern ist ein gewisses Maß an Schutzwürdigkeit des Systems, das sich nach den Regeln der Art. 81ff EGV bemisst.
I. Kartellrechtliche Unbedenklichkeit
Um als schutzwürdig vor dem europäischen Kartellrecht zu gelten, muß ein selektives Vertriebssystem als kartellrechtlich unbedenklich gelten. Maßgebend ist hier Art. 81 EGV (ehemals Art. 85 EGV), der die Kriterien kartellrechtlicher Unvereinbarkeit einer solchen Vertriebsbindung mit dem gemeinsamen Markt aufstellt.
1. Nichtigkeit nach Art. 81 II EGV
Für das Erfordernis der Unbedenklichkeit dürfte das Vertriebssystem logischerweise nicht nichtig im Sinne des Art. 81 II EGV sein.
Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift sind namentlich solche Vereinbarungen zwischen Unternehmen nichtig, die geeignet sind, eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken. Diese Nichtigkeitsfolge trifft für selektive Vertriebssysteme jedoch nicht automatisch zu, sondern nur dann, wenn die Auswahl der gebundenen Händler nicht nach objektiven, qualitativen, einheitlich festgelegten und diskriminierenden Kriterien erfolgt und
die Eigenschaft des Erzeugnisses einen selektiven Vertrieb überhaupt nicht erst erfordert. Von dieser Nichtigkeit nach Art. 81 I EVG gibt es Ausnahmen:
2. Inter/Intra-Brand -Wettbewerb
Der Wettbewerb zwischen Händlern beim Vertrieb von Waren mit derselben Marke (Intra- Brand-Wettbewerb) wird durch eine selektive Vertriebsbindung beschränkt, da diese zumindest eine gewisse Erhöhung des Preisniveaus denkbar mit sich bringen kann[13]. Jedoch hat der EuGH festgestellt, daß die sich aus Vertriebsbindungen ergebenden anderen Formen des Wettbewerbs die Zielsetzungen eines funktionellen Wettbewerbs trotz dieser negativen Beeinflussung erfüllen können[14].
Zu nennen ist hier der Inter-Brand-Wettbewerb. Vertriebsbindungen können diesen verschärfen und somit zu einer Qualitäts- und Servicesteigerung zwischen den Markeninhabern führen[15]. Sich daraus ergebende Vorteile für den Verbraucher sind zum Beispiel eine fachkundigere Beratung, umfangreichere Garantieleistungen und Servicedienstleistungen[16]. Diese positiven Auswirkungen auf den Inter-Brand-Wettbewerb können daher die negativen Einflüsse des Intra-Brand-Wettbewerbs kompensieren. Deshalb hält der EuGH derartige Vertriebsbindungen für schutzwürdig[17].
3. Freistellung vom Verbot des Art. 81 I EGV
Auch können selektive Vertriebssysteme nach Art. 81 III EGV im Wege der Gruppenfreistellung oder durch Einzelfreistellung vom Verbot des Art. 81 I EGV ausgenommen sein. Hier einschlägig sind die Gruppenfreistellungsverordnung (GFVO) 2790/1999 für vertikale Vereinbarungen, sowie die GFVO 1475/95 speziell für den KFZ- Vertrieb. Grund dieser Verordnungen war immer, daß gewisse unternehmerische Tätigkeiten, die den Tatbestand des Kartellverbots zwar erfüllten Art 81 I EGV) daneben auch unübersehbare positive Auswirkungen auf den Wettbewerb hatten und haben. Art 81 III kennt hierbei zwei positive und zwei negative Freistellungsvoraussetzungen, die hier wegen ihres
Umfangs nicht genauer erläutert werden sollen.
II.Wettbewerbsrechtliche Schutzfähigkeit
Ein selektives Verttriebssystem kann weiterhin nur dann als schutzwürdig gelten, wenn es eine konforme Wettbewerbslage geschaffen hat.
1. Lückenlosigkeit
Streitig ist in Literatur und Rechtsprechung, ob die Lückenlosigkeit des Vertriebssystems eine weitere Voraussetzung dafür ist.
a. Definition
Unter Lückenlosigkeit eines selektiven Vertriebssystems ist zu verstehen, daß sich ein nicht gebundener Händler vertriebsgebundene Waren nur durch Beteiligung an einem Vertragsbruch eines gebundenen Händlers beschaffen kann.
a) Theoretische Lückenlosigkeit
Theoretisch lückenlos ist das System dann, wenn der Hersteller eine konforme Wettbewerbslage unter allen gebundenen Abnehmern seiner Ware herstellt, indem er sie vertraglich gleichermaßen bindet und verpflichtet. Schon einzelne Sondervereinbarungen mit Abnehmern führen daher schon zu einer gedanklichen Lückenhaftigkeit.
b) Praktische Lückenlosigkeit
Zur praktischen Lückenlosigkeit muß das Herstellerunternehmen darlegen und gegebenenfalls beweisen, daß es die Einhaltung seines Vertriebssystems mit geeigneten Maßnahmen zu gewähreisten versucht und Verstöße gegen sein System auch gerichtlich verfolgt.
b. deutsches Recht
In der europäischen Gemeinschaft liegen in der Regelung der Lückenlosigkeit eines Vertriebssystems große Unterschiede begründet. Vor allem das deutsche Rechtsgebiet steht mit seinen Erfordernissen an ein solches System hinsichtlich der Lückenlosigkeit beinahe allein da.
In der Vergangenheit hat der BGH nur dann einen Anspruch des Herstellers gegen den Außenseiter angenommen, wenn der Hersteller beweisen kann, ein praktisch und theoretisch lückenloses Vertriebssystem zu besitzen[18] ; Grund hierfür war die Annahme, es sei einem gebundenen Händler nur dann zumutbar, die Vertriebsbindung einzuhalten, wenn er sicher gehen könne, nicht durch Eingriffe von Außenseitern durch ein lückenhaftes Vertriebssystem hindurch benachteiligt zu werden. Von diesen Vorraussetzungen eines Anspruchs hat der
BGH nunmehr auf Grund mehrerer Entscheidungen des EuGH Abstand genommen[19].
c. europäisches Recht
Für den EuGH kam es für einen Anspruch nicht darauf an, ob das selektive Vertriebssystem praktisch und theoretisch lückenlos sei. Dies hat er zuletzt in seiner Entscheidung "Metro gegen Cartier"[20] deutlich gemacht. Wolle man, so die Begründung, die Rechtswirksamkeit eines selektiven Vertriebssystems nach Art. 81 I EGV von seiner Lückenlosigkeit abhängig machen, so hätte dies die paradoxe Folge, daß die starrsten und geschlossensten Vertriebssysteme nach Art. 81 EGV günstiger behandelt würden als die flexiblen und dem europäischen Parallelhandel geöffneteren Vertriebssysteme. Auch sei es vielen Herstellern auf Grund der Eigenarten der Vertriebssysteme oft schlicht nicht möglich, eine Lückenlosigkeit zu gewährleisten.
2. Auswirkungen der europäischen Rechtsprechung auf das deutsche Recht
In seiner Entscheidung VAG/SYD-Consult vom 27.2.1997 hat der EuGH unmissverständlich festgestellt, daß dem Urteil in der Sache Metro/Cartier gerade nicht zu entnehmen ist, daß die deutsche Rechtsprechung wegen des Erfordernisses der Lückenlosigkeit mit Art. 81 EGV unvereinbar sei. Vielmehr stehe, so der Gerichtshof, das Gemeinschaftsrecht der Anwendung eines nationalen Rechtsgrundsatzes auf dem Gebiet des unlauteren Wettbewerbs in der oben beschriebenen Weise nicht entgegen.
D Verletzung geschützter Vertriebsbindungssysteme
Um in der Folge die Rechtsgrundlagen eines Schutzes selektiver Vertriebssysteme systematisch besser einorden zu können, soll an dieser Stelle erläutert werden, in welcher Hinsicht eine Gefahr von Außenseitern überhaupt droht.
I. Schleichbezug
Von einem Schleichbezug spricht man dann, wenn der Außenseiter den gebundenen Händler durch Täuschung zum Verkauf der Ware an ihn veranlaßt. Exemplarisch sei hier auf die Verhältnisse im Kraftfahrzeughandel hingewiesen:
Die zum Teil großen Preisniveau-Unterschiede zwischen einzelnen nationalen Automobilmärkten in der EU haben zu einem zunehmenden "Re-Import-Handel" geführt. Außenseiter begeben sich in der Regel zu den ausländischen, gebundenen Vertragshändlern und geben ihnen wahrheitswidrig vor, sie seien Angehörige des Vertriebssystems, wobei sie lediglich Wiederverkäufer sind und vom gebundenen Händler nicht beliefert werden dürften[21]. Daraufhin erfolgt der Re-Import in das Herkunftsland des Neuwagens durch den Wiederverkäufer - zumeist unter der Anpreisung des KfZ als "EU-Neuwagen"[22].
II.Vertragsbruch
Der zweite Sachverhalt beinhaltet die Tatbestände, die mit einem Vertragsbruch des gebundenen Händlers einhergehen.
[...]
[1] EuGH Slg. 1966, S. 322 [289]
[2] siehe Lässig, S. 5 ff
[3] BKartA, Protokoll der Diskussion des AK Kartellrecht am 4./5. 10.1994, S. 17
[4] Kommissionsentscheidung (KOME) 69/240/EWG; 69/243/EWG; 64/566/EWG(Grundig(Consten)
[5] EuGH Slg. 1964, S. 1251 [1269ff]; Slg. 1969, S. 1 [14]
[6] EAbl. 996, C 262/5
[7] EuGH Slg. 1991, I-935; EAbl. 1993, C 39/6
[8] maßgeblich nach Stockenhuber, Europ. KartellR, S. 106
[9] EuGH Slg. 1969, S. 1 [13]; EuGH Slg. 1987, S. 405 [453]; EuGH Slg. 1980, S. 2327 [2374]
[10] EuGH Slg. 1969, S. 1 [15]
[11] EuGH Slg. 1981, S. 1805 [1838]
[12] WuW 1993, S. 402 ff [403]
[13] EuGH Slg. 1983, S.3151ff; Slg. 1986, S.3021ff; Slg. 1977, S.1875ff
[14] EuGH Slg. 1977, S.1875ff [1905f]
[15] EzGH Slg. 1977, S. 1875ff [1906]
[16] Sack, WRP 2000, S. 447
[17] EuGH Slg. 1977, S. 1875ff [1901]; Slg. 1983, S. 3151ff [3153 Nr.4]
[18] maßgeblich BGH GRUR 1964, S. 629 [631]
[19] BGH Beschluß vom 15.7.1999 - I ZR 130/96
[20] EuGH, Urteil vom 13.1.1994, RIW 1994, S. 234ff
[21] Busche, WRp 1999, S. 1231, [1232]
[22] BGH EuZW 1999, S. 697ff; EuGH 1997, S. 2667f; AblEG 1998, Nr. L 124/60
- Arbeit zitieren
- Philipp Fischer (Autor:in), 2001, Schutz selektiver Vertriebssysteme vor Außenseitern im europäischen Kartellrecht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103649
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