1.1. Vorwort
Esstörungen und andere psychische oder psychosomatische Erkrankungen sind eine Er- scheinung, die mit der zunehmenden Leistungsorientierung und Anonymität der Massen- gesellschaft einhergehen und die Funktionalität unseres Gesellschaftssystems in Frage stellen. Kapitalismus, Reichtum und Fortschritt zum Preis von Entindividualisierung und emotionaler Verarmung? Psychosomatische Störungen erreichen zunehmend den Grad einer endemischen Volkskrankheit und sind der Spiegel für den Gesundheitszustand unserer Leistungsgesellschaft und letztendlich unseres politischen und wirtschaftlichen Systems. Es ist schwer, Kritik an dieser unantastbaren Scheingesellschaft zu üben. Die gesamte deutsche Gesellschaft bedient sich der Verdrängung historischer Vergangenheit und der Ersatzbefriedigung des drastischen wirtschaftlichen Aufschwungs, die die wirklichen Bedürfnisse der Gesellschaft und somit des Individuums verdeckt.
Schon George Orwell prophezeite in seinem fiktionalen Gesellschafts-/Zeitkritischen Roman “1984”[1] die Entwicklung zur reinen Leistungsgesellschaft mit streng verteilten Rollen- und Verhaltensmustern. Wer sich der Hierarchie widersetzt und sich des “Denkverbrechens” schuldig macht, gerät schnell ins gesellschaftliche Abseits und wird sanktioniert oder gesellschaftspsychologisch betrachtet “verdrängt”. Wer Eigensinn entwickelt, die Auslebung seines wahren Ichs zuläßt, seine wahren Gedanken und Gefühle äußert riskiert, “als gefährlicher Terrorist im Gefängnis oder als Verrückter in einer Irrenanstalt eingesperrt zu werden”[2]. Auch in dieser negativen Zukunftsvision spielt die Manipulation und absolute Kontrolle durch die Medien, einem “Apparat, ein sogenannter Televisor oder Hörsehschirm” in Form” einer länglichen Metallplatte, die einem stumpfen Spiegel ähnelte” eine große Rolle. Dieses utopische Modell des Gesellschaftssystems entspricht grob gesehen der bei uns prakti- zierten funktionalistischen Rollentheorie. Um ein aktuelles Beispiel der Massenmanipulation durch die Medien aufzuzeigen werfen wir einen Blick auf die Kontainerkandidaten: Müssen wir uns nicht fragen, ob dort wirklich Menschen sitzen, die repräsentativ dem Bild eines deutschen Durchschnittsmenschen entsprechen? In “Big Brother” hält man sich erschreckend nah an der negativen Zukunftsvision . Wer sich nicht anpaßt wird nominiert und aus dem Haus verbannt. Auch in der Realität deckt man Mißstände lieber mit einer großen Decke ab, als dass man ihre
Ursachen bekämpft. So erhält die Parole “Unwissenheit ist Stärke”[3] eine neue Dimension.
“Der Gouverneur, von mir befragt, was nötig wäre Den Frierenden in unserer Stadt zu helfen Antwortete: Eine Decke, zehntausend Fuß lang Die ganze Vorstädte einfach zudeckt.”[4]
Das Gedicht “Die große Decke” zeigt, dass nicht nur die Medien uns “zudecken” sondern auch die Politik sich der Schönmalerei und der “Politisierung der Ästhetik” bedient. Medien sind zunehmend ein Instrument gesellschaftlicher Manipulation geworden und vermitteln uns ein utopisches Bild einer Idealwelt und eines Idealmenschen, dem kaum jemand entspricht. In der Fernsehwerbung und von Werbeplakaten lächeln uns die Idealmenschen einer surrealen fiktionalen heilen Welt entgegen, die nichts mit der Realität und dem deutschen Durchschnittsmenschen gemein haben. Der Idealmensch ist intelligent, erfolgreich, glücklich und vor allen Dingen jung, hübsch, schlank- Konfektionsgröße 36. “Umfragen zufolge sind 70% (!) aller Fauen”[5] mit ihrem Gewicht unzufrieden. Diese immer größer werdende Kluft zwischen Realität und imaginärer Idealwelt- zwischen biologischer und utopischer gesellschaftlicher Identität ist mitverantwortlich für die Entstehung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen. Psychosomatisch erkrankte Menschen werden noch immer leichtfertig als Simulanten verkannt, da auch die Problematik des okkulten Charakters hinzukommt. Diagnostizierbare körperliche Leiden werden anerkannt und behandelt und daher bedient sich auch die erkrankte Psyche oftmals körperlicher Symptome, um “behandelt” zu werden.
2.1. Anorexia nervosa
“Jeder siebte Jugendliche ist ein Magersuchtrisikofall”[6], da sie dem genormten Idealbild des Menschen nacheifern, in dem Glauben, nur dann geliebt, akzeptiert und respektiert zu werden. Diese Überangepasstheit und Abwertung des eigenen Körpers und darüber hinaus der gesamten eigenen Person wird häufig schon in den frühsten Jahren der Kindheit durch die strenge und leistungsorientierte Erziehung geprägt. Magersüchtige verweigern asketisch die Nahrungsaufnahme aus panischer Angst an Gewicht zuzunehmen. “Der Gewichtsverlußt bedeutet für die Frauen Glück”[7]. Sie sind der Ansicht, “daß man von 500 cal. täglich leben könnte”[8] Die Betroffenen entwickeln eine unglaubliche Kreativität um die Nahrungsaufnahme zu umgehen. Die gemeinsamen Mahlzeiten mit der Familie oder sonstige Mahlzeiten mit Freunden, Kollegen oder anderen Menschen werden vermieden. Sie kochen gerne und viel für andere um eine harmonische Einstellung zum Essen zu simulieren, essen aber selbst nichts davon, täuschen vor zu essen, oder verstecken die Lebensmittel. Auf diese Weise minimieren sie ihren Feind den Körper, und meinen durch die Ausmergelung ihres Körpers ihren Geist befreien zu können und schaffen sich eine, durch Verdrängung idealisierte Welt, deren eigentli- ches verborgenes Ziel es ist, ihr unterdrücktes Selbst zu entfalten. Neben der körperlichen und nahrungsbezogenen Askese haben Magersüchtige oftmals einen übertriebenen Reinlichkeits- und Sparsamkeitstrieb und Abneigungen gegen lustbetonte Handlungen. “Trotz ihrer Ausmergelung sind sie sehr ehrgeizig und erstaunlich leistungsfähig”[9]. An der Stelle des für Bulimie typischen Kontrollverlußt und Chaos steht bei Anorektikern harte Selbstdisziplin und Ordnung. Die Erkrankten fühlen sich aufgrund ihrer Selbstdisziplin und ihrer und ihres ausgeprägten Perfektionismus ihren Mitmenschen gegenüber oft überlegen und isolieren sich von ihrem sozialen Umfeld.
Körperliche Folgen sind Absinken des Stoffwechsels, Ausbleiben der Menstruation, Ver- änderungen der inneren Organe, Absinken der Vitalfunktionen wie Puls und Körpertem- peratur. 10% aller Magersüchtigen sterben an ihrer Anorexie. 60% aller Magersüchtigen werden bulimisch.
2.2. Bulimia nervosa
“3,5% der weiblichen Bevölkerung erkranken an einer Bulimie”[10]. Ess-Brechsucht ist eine sehr stark mit Scham und Ekel verbundene Esstörung. Bulimische Mädchen führen daher meist ein Doppelleben und können ihr auffälliges Essverhalten oft geschickt vor ihrer Umwelt verbergen. Nach außen hin sind sie erfolgreiche, beliebte und anscheinend fröhliche Menschen doch in der Sicherheit ihres Zuhauses stillen sie ihren unbändigen emotionalen Hunger durch Ess-Brechanfälle. Daraus ergibt sich ein Konflikt zwischen Innen und Außen, zwischen Es und ÜberIch, zwischen dem Drang nach Individualismus und den starren Rollenmustern der Gesellschaft. Diese Zerrissenheit ist charakteristisch für Bulimie und drückt sich auch in dem Essverhalten aus: Ein ewiges Schwanken zwischen “Symbiose und Separation”[11]. Im Gegensatz zu dem für Ess- Brechsüchtige typischen Schwarz-Weißdenken finden die Erkrankten in ihrem Essverhalten einen symbolischen Kompromiß für die gegensätzlichen Ansprüche, die an sie gestellt werden. Auf der einen Seite steht die Unfähigkeit, die selbstauferlegten Diätpläne einzuhalten, auf der anderen Seite der Wunsch, dem genormten Idealbild der Frau in der heutigen Gesellschaft zu entsprechen. “In der Bulimie spiegelt sich in besonderer Weise der Widerspruch unserer Gesellschaft: Einerseits verführerische Werben für einen hohen Konsumgenuß, andererseits das Propagieren eines asketischen Schönheitsideals”[12].
Die Abnorm dieser Esstörung äußert sich darin, daß in kürzester Zeit von den Erkrankten riesige Mengen an Nahrung zu sich genommen werden. Pro Anfall nehmen Bulimiker 6.000- 8.000, in anderen Quellen bis zu 30.000 (!) Kalorien zu sich. Bevorzugt werden vor allem süße und fettige Speisen, die schnell zuzubereiten und verzehrbar sind. Oftmals führt die Krankheit wegen dem Einkauf großer Nahrungsmengen zum Finanziellen Ruin der Patienten. Ein “Fressanfall” kann bis zu 70DM kosten. Die Heißhungerattacken werden durch verschiedenste Mittel wie dem selbst herbeigeführten Erbrechen der Nahrung nach den Mahlzeiten, der Einnahme von Abfuhr-/ Entwässerungsmitteln oder tagelangem Fasten ungeschehen gemacht. Dieser Zyklus von Überessen und Erbrechen wird als “bequeme” Lösung angesehen, gerät aber schnell außer Kontrolle. Der Kontrollverlußt äußert sich in immer größer werdenden Nahrungsmengen und der Häufigkeit der Heißhungerattacken.
[...]
[1] geschrieben 1948!!
[2] Alice Miller, “Am Anfang war Erziehung”
[3] George Orwell, “1984”
[4] Brechtsche Bearbeitung des Originals von Po Chü-yi; entstanden im Rahmen der Überarbeitung und Übersetzungen der insgesamt 12 chinesischen Gedichte aus dem Englischen ins Deutsche.
[5] Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer, “Die heimliche Krankheit der Frau”
[6] Barmer, “Esstörungen bie Kindern & Jugendlichen”
[7] Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer, “Die heimliche Krankheit der Frau”
[8] Dr. med. Georg-Ernst Jacoby, Facharzt für psychotherapeutische Medizin und Psychatrie, Chefarzt des Fachzentrums für gestörtes Essverhalten.
[9] Barmer, “Esstörungen bie Kindern & Jugendlichen”
[10] Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer, “Die heimliche Krankheit der Frau”
[11] Dr. med. Georg-Ernst Jacoby
[12] Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer, “Die heimliche Krankheit der Frau”
- Quote paper
- Kerstin Schramm (Author), 1999, Ess-Störungen, Versuch einer Erklärung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103620
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