Caspar David Friedrich - Kreidefelsen auf Rügen
„Der Künstler sollte nicht nur das malen, was er vor sich sieht, sondern auch das, was er in sich selber sieht. Sieht er dennoch nichts in sich, so kann er auch das weglassen, was er vor sich sieht.“
Zitat nach Caspar David Friedrich
Nach dieser Auffassung, die Caspar David Friedrich auch sich selber auferlegt hatte, entstand auch das vorliegende Werk „Kreidefelsen auf Rügen“. Es handelt sich dabei um ein auf Leinwand gemaltes Ölgemälde, was im Jahre 1818 entstand. Die Originalgröße des Bildes beträgt 90,5 x 71 cm.
Bereits im Namen des Bildes ist das wesentliche Thema zu erkennen. So ist im äußersten Hintergrund, hier im Mittelpunkt des Bildes das Meer zu erkennen. Das unendliche, bis zum Horizont reichende, Meer nimmt etwa ¼ der Gesamtfläche des Bildes ein. An beiden Seiten des Bildes, sowie auch von unten wird das Meer von Kreidefelsen „eingerahmt“, die ebenfalls ca. ¼ des Bildes an Platz einnehmen. Die Kreidefelsen nehmen dabei von oben nach unten hin an Breite zu, so das die Sicht des Betrachters also stark eingeschränkt ist.
Wiederum vor den Kreidefelsen befinden sich zwei Laubbäume. Jeweils ein Baumstamm befindet sich vor einem Kreidefelsen. Im Gegensatz zu den Kreidefelsen, die nach unten hin beide proportional zueinander breiter werde, ist genau der umgekehrte Fall bei den Bäumen zutreffend. Die beiden Baumkronen nehmen im obersten Viertel des Bildes die gesamte Fläche ein, und sind dort wie eine Hecke zu einer Einheit zusammengewachsen. Der über den Horizont liegende Himmel ist somit verdeckt. Durch die Bäume oben, sowie den Kreidefelsen an den Seiten ist das weite Meer somit total eingerahmt.
Noch vor den Bäumen, also im äußersten Vordergrund dieses Bildes befinden sich drei Personen. Am rechten Rand des Bildes, am Baumstamm anlehnend, steht, in schwarzer Kleidung und Dreieckshut, die erste, männliche Person, was auch an der Körperhaltung zu erkennen ist. Ein weiterer Mann ist links vom ersten zu erkennen. Mit dem Gesicht nach unten am Boden liegend, sein Hut versetz von ihm, ist auch er völlig schwarz gekleidet. Am linken Baumstamm kniet eine Frau, wobei von ihr halbwegs Gesichtszüge zu erkennen sind. Gekleidet in ausschließlich roter Farbe, deutet sie mit ihren Arm auf einen Bruch in der Felswand hin. Von allen Person ist jedoch die totale Anonymität durch die Wahrung deren Gesichter erhalten. Zusätzlich wirken sie völlig klein und bedeutungslos, vergleicht man sie nur im Größenverhältnis zum Meer, den Kreidefelsen oder den Bäumen. Dennoch bilden die Personen einen Bezugspunkt zwischen Betrachter und der Landschaft, da sie im äußersten Vordergrund stehen. Zusammen mit dem matt erscheinenden, dunkelgrünen Boden ist das letzte Viertel des Bildes gefüllt.
Das gesamte Bild ist auf dem Prinzip der Achsensymmetrie aufgebaut. Durch eine vertikale Linie, die das Bild genau in der Mitte in zwei Hälften teilt, kann diese Symmetrie verdeutlicht werden. Dabei ist es sogar möglich diese Linie genau durch die zwei Segelschiffe zu zeichnen. Diese sind schon vertikal angeordnet und sollen eine Symmetrie verdeutlichen. Auf jeder Seite befindet sich jeweils ein Kreidefelsen, eine Hälfte vom Meer, sowie ein Baum. Bei den Bäumen muß jedoch auf ihre Natürlichkeit geachtet werden, da es sich um ein reales Landschaftsbild handelt. So können die Bäume nicht gleich aussehen, sondern muß die Individualität beachtet werden. Auch auf die Positionen der menschlichen Figuren trifft diese Symmetrie zu, da sich an jeder Seite eine Person befindet. Dabei kann die am Boden liegende Person sowie auch die Person ganz rechts den symmetrischen Kontrast zur Frau links darstellen, abhängig davon, wo das Bild durch eine gedachte Linie geteilt wird.
Die darauf schließenden Kompositionsfiguren sind somit besonders von den Kreidefelsen bestimmt. Es handelt sich dabei um zwei Linien, die unten zusammentreffen und so ein unten geschlossenes, aber nach oben hin offenes Oval bilden, gut zu vergleichen währe diese Form mit einer Parabel. Geschlossen wird diese hier aber durch die quer liegende Baumäste, die somit eine horizontale Linie bilden und die nicht klar zu erkennende Horizontlinie ersetzen. Zusätzlich ist aber auch die Linienführung bei der Darstellung des Meeres horizontal ausgeprägt. Das Meer wird somit automatisch als Gegensatz zu den Felsen dargestellt. Zu den Bäumen aber ist ein anderer Gegensatz zu erkennen. Durch die Zentralperspektive ist das Meer „fern des Betrachters“, die Bäume jedoch befinden sich im Vordergrund, ein Baumzweig verdeckt sogar ein Teil des Wassers, was diesen Kontrast noch weiter verstärkt.
Der Unterschied zwischen Meer, Felsen, Bäume und Personen ist auch durch Farbkontraste hervorgehoben. Der größte Farbunterschied besteht zwischen Kreidefelsen, die sich im Mittelgrund befinden, und den Personen im absoluten Vordergrund. Hier besteht ein schwarz- weißer Farbkontrast. Ausschließlich von den Farbtönen gesehen, bilden Menschen und Pflanzen eine Einheit. Grund hierfür wahre, daß die Baumstümpfe ebenfalls schwarz dargestellt sind und erst nach oben hin aufhellen. Dennoch sind Baumkronen und der Boden, auf den sich die Personen befinden in einer Farbe dargestellt. Daraus wiederum bildet die gesamte Pflanzenwelt dieses Bildes einen „Rahmen“ um das gesamte Bild, einschließlich um den Kreidefelsen. Bereits durch die Linienführung wurde das Meer bereits „eingerahmt“, dies wird nochmals durch die bläuliche Färbung hervorgehoben. Der mit grünen und braunen Pflanzen durchsetzte Küstenstreifen zeigt allerdings, daß das Meer zur Pflanzenwelt und zur Natur dazugehört. Besonders durch die rote Farbe tritt eine menschliche Figur hervor. Das rote Kleid der am linken Rand hockenden Frau deutet auf eine besondere Stellung der Person im Bild hin. Als in diesem Bild genutzte Farbe paßt Rot überhaupt nicht in diese Landschaftsbild hinein, somit hat diese Person eine besondere Stellung im Bild, die bei ausschließlicher Betrachtung des Bildes nur vermutet werden kann. Zusammenfassend kann über die Farbgebung gesagt werden, daß sie harmonisch, im Einklang mit der Wirklichkeit zusammengestellt wurde. Absolute Farben, also reine Farbtöne sind nicht verwendet worden, durch gezielte Farbmischung sind reine Gegenstands- und Erscheinungsfarben genutzt worden, das Bild ist als Naturbild perfektioniert.
Durch die verschiedenen Farbgebungen ist im Bild eine unterschiedliche Räumlichkeit gegeben. Die Darstellung der wesentlichen Fläche des Meeres, ist sehr beschränkt, die Nähe der Kreidefelsen und der Bäume wirken durchaus erdrückend. Dies kommt hauptsächlich durch Überdeckungen und der Zentralperspektive zustande. Die Zentralperspektive so realisiert, daß der Standpunkt des Betrachters direkt zwischen den Kreidefelsen befindet. Die Lichtquelle ist nicht direkt zu sehen, es ist aber erkennbar, daß vom Meer aus Helligkeit zwischen die Felsen durchdringt und somit der Schatten sich hinter den Felsen ausbreitet. Genau in diesem Schatten befinden sich die bereits beschriebenen Personen, die sich den Schatten durch ihre dunkle Kleidung anpassen. Hier liegt auch der Grund, warum die Bäume und Boden sehr dunkel dargestellt wurden. Die realistische Darstellung ist durch den Schatten nochmals verdeutlicht worden, Räumlichkeit ist gegeben.
Aufgrund der Farbgebungen, der Raumwirkung, der Komposition und der Ordnungsstrukturen kann man das Bild in vier unterschiedliche Teile deuten: Das Meer als einziger Teil der eine weite, offene Sicht bietet; die Kreidefelsen als erdrückende, spitze und unberechenbare Hindernisse für die Personen, die den dritten Teil bilden; und die Pflanzenwelt als äußerer Rahmen des Bildes. Werden die historischen Fakten zur Entstehungszeit sowie die eigenen Lebensauffassungen des Malers nicht berücksichtigt, so kann man diese vier Teile des Bildes als etwas gegensätzliches deuten. Das Meer ist in diesem Bild wie der Lichtblick am Ende eines Tunnels. Die Helligkeit und Größe ist wie das Ziel der dargestellten Menschen. Um diese neue, farbenfrohe Welt zu entdecken und zu erreichen, müssen Hindernisse, hier die Kreidefelsen überwunden werden. Die Menschen in dem Bild haben jedoch den Anschein, als ob sie sich danach sehnen, jedoch wenig dafür machen wollen. Während die ganz links sitzende Person sogar auf den Weg zum Ziel, durch die Kreidefelsen weist, schaut die andere Person nur stumpf auf das Meer. Die Personen selber befinden sich in einer dunklen Welt, der sie den Rücken gekehrt haben. Die Pflanzenwelt, insbesondere die Bäume sind hier als zusätzliches Hindernis dargestellt, doch gleichzeitig ist sie auch auf der anderen Seite, also auf dem Meer als Algenkultur vertreten. Die Natur, obwohl sie, rational gesehen, ein Hindernis ist, gehört in die Welt des Menschen.
Dieses Bild kann man noch in der heutigen Welt auf Rügen erkennen. Mit seinen „weiß leuchtenden Kreidefelsen, kilometerlangen Sandstränden und den stillen ausgedehnten Buchenwäldern“ ist Rügen Deutschlands größte Insel. Rügen wurde schon vor mehr als 1000 Jahren besiedelt und kann auf eine bewegte Geschichte zurücksehen.
Caspar David Friedrich holte sich seine Anregungen für seine Werke oftmals vor Ort. So besuchte er nicht nur die Insel Rügen, sondern auch Nordböhmen, den Harz oder das Riesengebirge. Friedrich wurde am 05.09. 1774 in Greifswald geboren und ist bis heute mit seinen religiös- symbolischen Naturgemälden einer der bedeutendsten Vertreter der deutschen Romantik. Der gesellschaftliche Hintergrund ist in seinen Bildern immer zu finden, im Mittelpunkt steht dabei der Mensch, der sich der Natur widmet. Die landschaftlichen Bildern müssen aber nicht exakt mit der Wirklichkeit übereinstimmen, es handelt sich dabei um eine idealisierende Darstellung der Natur. „Kreidefelsen auf Rügen“ entstand gleich nach der Zeit der französischen Besatzung. Besonders in Deutschland widmeten sich viele Intellektuelle der deutschen Einheit, die zur Enttäuschung vieler auf dem Wiener Kongreß 1814/15 nicht zustandekam.
Die monarchisch, absolutistische Friedensordnung sollte wieder erschaffen werden, was viel Kritik verursachte. Da jedoch offene Kritik nach wie vor verboten war, war Kunst eines der wenigen Mittel zur verdeckten Kritikausübung, wovon „Kreidefelsen auf Rügen“ das Vorzeigebeispiel ist. Somit könnte das Bild sowohl für die breite Bevölkerungsmasse geschaffen sein, aber auch für andere Intellektuelle. Es ist aber fraglich, ob das Bild für die Herrschenden geschaffen ist, da diese „den Schuß aus dem Dunkeln“ durchaus verstehen könnten und eventuell das Bild der Zensur aussetzen. Da dies offensichtlich nicht geschah, außerdem mehr als die Hälfte der Menschen nicht lesen konnte, kann de m Bild große geschichtliche Bedeutung zugewiesen werden. Es ist ein Stück Kritik an der politischen und gesellschaftlichen Situation 1818.
Wie auf alle Bilder, entsteht zu Beginn ein sehr oberflächlicher Eindruck. Betrachtet werden Farbgebung, Qualität und wesentlicher Inhalt des Bildes, wobei oftmals spontane Ablehnung zu einem Bild entstehen kann, was aber nicht bei „Kreidefelsen auf Rügen“ der Fall war. Was jedoch immer zutrifft ist die im inneren herrschende Ratlosigkeit.
Doch nachdem man bereits die äußere Struktur des Bildes, wie Farben, Komposition, Raumwirkung und Darstellung beschreibt und wahrnimmt, sind mit Hilfe historischer Fakten die wahren Inhalte eines Meisterwerks zu erkennen. Fakt ist jedoch, daß für das vorliegende Bild große zeichnerische Begabung vorliegen muß und sich diese gut entfaltet hat. Zusammen mit dem Zweck des Bildes als Kritik an der Obrigkeit ist es ein künstlerisches Meisterwerk und ein Vorzeigebeispiel deutscher Kunstgeschichte.
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- Siegmar Kahl (Autor), 2001, Caspar David Friedrich - Kreidefelsen auf Rügen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103141