Die drei Unterscheidungen des Bewusstseins der Sprache nach Gadamer finden kreative und greifbare Anwendung in Elias Vorphal's Roman "Der Wortschatz", der auf unterhaltsame Weise Phänomene der Sprache, Identität und Zugang zu Perspektiven und Realität zeichnet, die an Lewis Carroll's "Alice im Wunderland" erinnern.
Essay zu Hans – Georg Gadamer: Hermeneutik II: Mensch und Sprache
Im Kapitel „Mensch und Sprache“ des Werkes „Hermeneutik II: Wahrheit und Methode“ aus dem Jahr 1966 gibt Hans – Georg Gadamer zuerst so etwas wie einen historischen Abriss der Entwicklung der Phänomenologie der Sprache von Aristoteles bis Humboldt. Die Sprache galt lange als Untersuchungszugang zum Wesen des Menschen und seiner Position in der Geschichte, anstatt als eigenständiges Phänomen betrachtet zu werden. Daraufhin entwirft Gadamer drei Unterscheidungen des Bewusstseins der Sprache: Die wesenhafte Selbstvergessenheit, die Ichlosigkeit und die Universalität der Sprache. Diese wiederum bezieht er zurück auf die Aussage Aristoteles, dass der Mensch das Wesen sei, das Sprache habe.
In seinem ersten Roman „Der Wortschatz“ von 2018 liefert Elias Vorpahl Bilder, die sich bestens auf Gadamers Thesen anwenden lassen. Ganz grundsätzlich stimmt die Sicht des Romans schon mit der Sicht Gadamers überein: die Sprache ist von sich selbst her zu sehen, und nicht vom Sprechenden her. Der Roman „Der Wortschatz“ begleitet ein Wort auf der Suche nach seiner eigenen Bedeutung, welche diesem durch den Prozess des Ausgesprochen-Werdens verloren gegangen ist. Auf dieser Suche nach sich selbst kommen immer wieder Situationen vor, die das Wort navigieren muss. Diese Situationen lassen sich als Illustration der Kernaussagen Gadamers verwenden.
Dass Aristoteles den Menschen als Wesen bezeichnet, das das „Logos“, also die Sprache hat, ist eine der Grundlagen, auf denen Gadamer hier aufbaut. Dabei setzt er diese Aussage dem Gedanken gleich, dass der Mensch das Wesen ist, das Vernunft hat. Doppelt besetzt ist der Mensch also dann Mensch, wenn er sprechen und denken kann. Dabei beinhaltet Sprechen können bei Aristoteles auch, zwischen Recht und Unrecht unterscheiden zu können, denn darin unterscheidet sich die Nützlichkeit von etwas. Dieser Unterschied, wie der zwischen Gegenwärtigem und Zukünftigem, kann nur durch Sprache erkannt werden, da diese das „Nicht-Gegenwärtige“ offenbart.1 Durch die Mitteilung desselben wird ein Raum des „Meinen des Gemeinsamen“2 geschaffen, der das Zusammenleben von Menschen ermöglicht. Diese Überlegungen definieren Sprache aber durch den Menschen, anstatt anders herum, wie Gadamer es von gelungen betriebener Sprachforschung und Phänomenologie der Sprache verlangt. Denn die Folge der Fragen über Sprache als Werkzeug des Menschen erklärt eine Vorzeit ohne Sprache, Gadamer zufolge kann die „Natürlichkeit der Sprache“ jedoch keinen „sprachlichen Vorzustand“ erlauben.3 Denn Sprache macht den Menschen aus, nicht umgekehrt. Wenn der Mensch ein Mensch sein soll, braucht er Sprache. Trotzdem lässt sich meiner Meinung nach sagen, dass im Rückschluss auch die Sprache nur dort Sprache ist, wo sie gesprochen – oder, nach Gadamer, gedacht wird. Doch hier ist dann der Mensch das Werkzeug der Sprache, statt wie herkömmlich gerne gesehen, die Sprache das Instrument des Menschen. „Denn zum Wesen des Werkzeugs gehört, daß wir seinen Gebrauch beherrschen, und das heißt, es zur Hand nehmen und aus der Hand legen.“4
Dieser Charakter des Werkzeugs wird in „Der Wortschatz“ deutlich, als das Wort seinen tauben Freund „Zeig“ besucht, der mittels Angestellter kommuniziert: In dieser Welt ist jedes Wort eine Person, und „Zeig“ lässt nach und nach die Angestellten hervortreten, die genau das Wort als Namen tragen, welches er aussprechen lässt.5 Da die Worte als Personen dargestellt sind, lässt sich die Herrschaft des Wortes „Zeig“, das seinem Namen nach auf die Worte zeigt, um sie verlauten zu lassen, sich gut auf das umgekehrte Konzept der Instrumentalisierung anwenden. Gleichzeitig klingt hier die Selbstaussage eines jeden Wortes an, das immer für das steht, was sein Name ist. Wenn man hier noch weiter ausholt, könnte man behaupten, dass der Mensch durch die Sprache definiert wird. Im Roman wird dies dadurch dargestellt, dass die Charaktere der Worte immer auch das sind, was sie sagen. Der Name bestimmt nicht nur den Charakter, sondern auch die Lebensumstände und Fähigkeiten.
Der Bezug, bzw. die „Richtung“, die ein Wort angibt, bleibt hier jedoch unausgearbeitet. Gadamer bezieht sich darauf im Zusammenhang mit Übersetzungen und sagt, dass diese den „Raum“, in dem die Worte sich im Original bewegen, nicht überliefern können.6 Auch im Roman lassen gerade die Charaktere der Worte nicht unbedingt einen Bezug aufeinander erkennen, sondern eher nur mit ihrer eigenen, individuellen Bedeutung. Gerade mit einer Sprache, die nach Gadamers Verständnis des „Welt durch Sprache kennenlernen“7 erlernt wurde, können so viele Nuancen der Bedeutung und Wirklichkeit anklingen, dass sie zu erörtern den Rahmen jedes Buches und Werkes sprengen würde. Genau darin liegen der Reichtum und die Eigenständigkeit einer jeden Sprache.
Die „Richtung“ gehört zu der dritten Unterscheidung des Bewusstseins der Sprache. Die Universalität der Sprache setzt voraus, dass es in der Sprache nichts gibt, was unaussprechlich oder unsagbar wäre. Gadamer sagt, „es ist die Universalität der Vernunft, mit der das Sagenkönnen unermüdlich Schritt hält.“8 Das heißt meinem Verständnis nach, dass da, wo der Verstand „wohnt“, auch Sprache vorzufinden ist. Das schließt das Denken mit ein, denn Vernunft ist im Denken verwurzelt. Im Rückschluss stellt sich nun aber die Frage, ob dort, wo die Sprache das gemeinte nicht auszudrücken vermag, auch die Vernunft endet. Denn wenn ich nicht ausdrücken kann, was ich denke, Gedanken aber sprachlich verfasst sind, was meine ich dann? Ist es noch Vernunft? Lässt sich diese Vernunft noch universell anwenden? Gibt es dann nicht auch einen Punkt, an dem Sprache einfach nicht mehr ausreicht? Nach Aspekten der Unendlichkeit und der Fähigkeit „Nichtgesagte[s] mit dem Gesagten“ mit zu verstehen, gelangt Gadamer hier an die Frage der Motivation der Sprache. Diese beinhaltet die Aufforderung nach einer Aussage, welche Sprache gleichzeitig beschränkt in dem, was sie sagen könnte.9 Denn eine Frage oder Aufforderung beschränkt sich auf eine von vornherein definierte Sache.
Übersetzungen fallen demnach in die gleiche Kategorie wie Fragen, denn der „Spielraum“ bleibt ungenutzt. Der Spielraum ist ein Aspekt der zweiten Unterscheidung des Bewusstseins der Sprache, die der Ichlosigkeit. Demnach ist die Sprache zwischen zwei Individuen in dem Raum des „Wir“, nämlich in dem Gespräch.10 Dieses Gespräch hat wie ein Spiel einen eigenen Bewegungsvorgang, eine eigene Dynamik. „Die Grundverfassung des Spiels, mit seinem Geist […] erfüllt zu sein und den Spielenden zu erfüllen, ist strukturverwandt mit der Verfassung des Gesprächs, in dem Sprache wirklich ist.“11 Hier fließt auch die erste Unterscheidung des Bewusstseins der Sprache hinein, welche als „wesenhafte Selbstvergessenheit“ benannt ist.12
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1 Gadamer, Hans – Georg: „Mensch und Sprache“. In: Ders., Wahrheit und Methode II. Tübingen 1986, S. 146
2 Ebd.
3 Ebd. S. 147
4 Ebd. S.149
5 Vorpahl, Elias. Der Wortschatz. München 2018. S.16.
6 Gadamer S.153
7 Ebd. S. 149
8 Ebd. S.152
9 Ebd.
10 Ebd.
11 Ebd.
12 Ebd. S.150
- Quote paper
- Josefine Stahl (Author), 2019, Zu Hans-Georg Gadamers "Hermeneutik II: Mensch und Sprache", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1030914