INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung: Hermann Hesses „Steppenwolf“ - Außenseiter für Millionen?
2. Textanalyse
2.1. Inhalt: Harry Hallers Selbstfindungskrise
2.2. Struktur: Die Perspektivierung des Konflikts
2.3. Die Erzählweise im literarischen Kontext
2.5. Sprache und Syntax
2.5. Symbole und Motive
3. Ansätze der Kritik
4. Conclusio
5. Anhang
5.1. Literaturverzeichnis
5.2. Selbstständigkeitserklärung
5.3. Protokoll der Beratungsgespräche
1. Hermann Hesses Steppenwolf - „Außenseiter für Millionen“?
Wege der Rezeption
Wie kaum ein anderes Buch ist Hermann Hesses „Steppenwolf“ von Kritik und Leserschaft gleichermaßen so begeistert angenommen und so rigoros abgelehnt worden.
Schon im Erscheinungsjahr 1927 scheiden sich die Geister am „Steppenwolf“, dessen Erstauflage von 15ooo Exemplaren sich „recht gut“ verkauft:
Thomas Mann rühmt das Buch als „ein Romanwerk, das an experimenteller Gewagtheit dem Ulysses, dem Faux Monnayeurs nichts nachsteht“, und der Kritiker und Schriftsteller Kurt Pinthus schwärmt ebenso von dem „unbarmherzigsten und seelenzerwühlensten aller Bekenntnisbücher, die je ein Dichter zelebrierte“.
Dahingegen betrachtet Kurt Tucholsky die Romanhandlung als „das Prunken mit Neurosen“ und einige Jahre später - kurz nach Ende des 2. Weltkrieges - schreibt der Amerikaner Arthur Gould gar „von wichtigtuerischer und humorloser Pompösität, die nur dem Deutschen eigen ist“.
Umso verwunderlicher die Rezeption in den 60er und 70er Jahren:
Der „Steppenwolf“ wird zu DEM Lieblingsbuch der amerikanischen Hippie- und Studentenbewegung auserkoren und mit allein in den USA 1,6 Millionen verkauften Taschenbuchausgaben zwischen 1969 und 1975 erreicht der Hesse - Boom, der von Amerika aus nach Deutschland „re-importiert“ wird und auch in vielen anderen Ländern unglaublichen kommerziellen Erfolg erlangt, seinen absoluten Höhepunkt.
1970, 8 Jahre nach dem Tod des 84 Jahre alt gewordenen Autors, 1 Jahr, nachdem die amerikanische Rockband „Steppenwolf“ ihren Hit „Born To Be Wild“ landet, deutet der ehemalige Hochschullehrer Timothy Leary den „Steppenwolf“ als „Meisterführer zum psychedelischen Erlebnis“ und empfiehlt, „vor deiner LSD-Sitzung den Steppenwolf ... als ein unschätzbares Lehrbuch“ [zu] lesen“.
Zur selben Zeit bewertet der renommierte deutsche Literaturkritiker Hans Mayer den „Steppenwolf“ von eben jenem Hermann Hesse, der 1946 für sein gesamtes Werk den Nobelpreis verliehen bekam, als „bis ins hohe Alter weitergeführte Spätpubertät des Demian - Dichters“.
Zwar hat sich inzwischen im Zeitalter von Kabelfernsehen und Internet der aufgewirbelte Staub um die Steppenwolf - Rezeption wieder etwas gelegt, jedoch muss bei zur Zeit weltweit über 70 Millionen verkauften Ausgaben auch im World Wide Web nicht lange nach Zeugnissen des Hesse - Booms gesucht werden:
Da werden beispielsweise auf der Homepage des nach einem Ort im „Steppenwolf“ benannten avantgardistischen „Magic Theatre“ in Berkeley/USA zu überteuerten Preisen Hochglanz - Kalender und T-Shirts der Fan-Gemeinde feilgeboten; andererseits finden sich allein im deutschsprachigen Web Dutzende von esoterisch angehauchten Websides, die den Steppenwolf unter ihren Lesetipps empfehlen und das ein oder andere Hesse-Zitat auf die Frontpage setzen. Auch ein literarisches Diskussionsforum ist sofort auffindbar, in dem Hesse-Fans Gedankenaustausch über ihren Lieblingsautor pflegen können und sich dabei gern Pseudonyme aus seinen Büchern geben.
Jedoch scheint vor allem die große Zahl persönlicher Homepages, deren Verfasser sich als begeisterte Hesse-Leser bekennen und teils mit sehr eigenwilligen Interpretationen seines Werkes aufwarten, die Tendenz zu bestätigen, dass auch heute noch der durchschnittliche Hesse-Leser „fünfzehn bis dreißig Jahre“ alt und damit also relativ jung ist.
Wie kommt es aber eigentlich, dass Hermann Hesses „Steppenwolf“, ein Buch, das die Geschichte eines intellektuellen Außenseiters im Konflikt „mit dem restaurativen und euphorischen Bildungsbürgertum der 20er schildert“, selbst Jahre nach der Erstveröffentlichung noch solch starke Reaktionen erzeugt?
Und warum ist der „Steppenwolf“, der seine Einzelgänger - Thematik mit anspruchsvoll - weltanschaulichen Inhalten verknüpft, „mehr oder minder auf die Philosophie Nietzsches zurückgreifend“, gerade bei immer neuen Generationen junger Leser auch noch im 21. Jahrhundert so beliebt, dass sich die Verkaufszahlen im achtstelligen Bereich ansiedeln?
Ist Hermann Hesses „Steppenwolf“ ob seines kommerziellen Erfolges gar ein „Außenseiter für Millionen“?
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, werde ich zunächst im textanalytischen Teil meiner Facharbeit →Inhalt, →Struktur, →Erzählweise, →Sprache und →Symbolik des Buches eingehend untersuchen, um dann in den →Ansätzen der Kritik auf eine gedankliche Inkonsequenz im Aufbau des Romans hinzuweisen. Diese werde ich in der →Conclusio als Ursache für die konträre Rezeption des „Steppenwolfs“ ausdeuten.
2. Textanalyse
Die Seitenangaben der Zitate aus dem „Steppenwolf“ beziehen sich auf die Suhrkamp - Taschenbuchausgabe und sind der Übersichtlichkeit halber kursiv gedruckt.
2.1. Inhalt: „Der Steppenwolf“ - Harry Hallers Selbstfindungskrise
Hermann Hesses Roman erzählt die Geschichte des intellektuellen Außenseiters Harry Hallers, der sich selbst den „Steppenwolf“ nennt.
Harry Haller, der sich von der bürgerlichen Gesellschaft der 20er Jahre in totaler Einsamkeit entfremdet fühlt, empfindet seine Persönlichkeit als dichotomisch gespalten:
Er leidet zutiefst unter dem für ihn scheinbar unüberwindbaren Konflikt zwischen einer Hälfte seiner Seele, die von Trieben, von Wildheit, Grausamkeit und von nicht sublimierter roher Natur angefüllt ist, und der anderen Hälfte, die von der Ästhetik, den kulturellen Idealen und dem intellektuellen Weltbild der deutschen Bildungstradition geprägt ist. Diese Zweiteilung in Wolf und Mensch, Trieb und Geist sind die Grundlage für die schwere Identitätskrise Hallers: Sein Versuch, diese zu überwinden, wird im „Steppenwolf“ aus verschiedenen Perspektiven und unter der Verschmelzung realistischer und surrealer Wirklichkeitsebenen erzählt.
Harry Haller, der sich nur in den Extremen von „wölfischer“ Lust und intensiv empfundenen „vergeistigtem“ Schmerz lebendig fühlen kann, verachtet folglich zutiefst diese Zufriedenheit, diese Gesundheit, Behaglichkeit, diesen gepflegten Optimismus des B ü rgers, diese fette gedeihliche Zucht des Mittelm äß igen, Normalen, Durchschnittlichen “.
Insgeheim sehnt sich Harry jedoch auch nach Geborgenheit in seinem einsamen „Steppenwolf“ - Leben, wobei er dann die bürgerliche Ordnung mit kindlicher Bewunderung als für ihn unerreichbar und unerträglich betrachtet. Er fühlt sich also gleichzeitig angezogen und abgestoßen vom Bürgertum, wo er, der auch als Zwangsh ä ftling des B ü rgertums bezeichnet wird, sich als einsamer Außenseiter in einer fremde [ n ] und unverst ä ndlichen Welt empfindet.
Dieses ambivalente Verhältnis zwischen intellektuellem Einzelgänger und dem Integrationskreis der Gesellschaft, das deutliche autobiographische Züge des Autors trägt (was schon in Gleichlaut und Alliteration der Namen Hérmann Hésse und Hárry Háller deutlich wird) will aber darüber hinaus als die Krankheit der Zeit, Neurose einer Generation schlechthin begriffen werden: Harry Hallers Einzelschicksal steht im Kontext des Romans exemplarisch für die schwere existentielle Krise zwischen Individuum und dem Massenphänomen Gesellschaft.
Der innerlich stark zerrissene und von schweren Depressionen mit Todessehnsucht heimgesuchte Harry Haller mietet sich also für einige Zeit ein Zimmer in einer ungenannten deutschen Großstadt. Als er eines Nachts von Ekel auf sich selbst und die bürgerliche Gesellschaft gequält durch einsame Straßen streift, trifft er in einer schäbigen Kneipe auf die Edelprostituierte Hermine, die die Verkörperung der bisher vernachlässigten Seiten Hallers darstellt. Sie will ihm „Leben lehren“, sie will ihm zeigen, was er bis dahin aus seinen einsamen, grimmigen Außenseiterleben verbannt hat: Tanz, Lachen und Lebensfreude.
Zu Hermine wird als eine weitere „Komplementärfigur“ zu Harry Haller der Jazz-Musiker Pablo, ein Freund der Prostituierten, in die Handlung eingeführt. Doch Harry, der nur die Größen der Kulturgeschichte wie Goethe und Mozart verehrt, lehnt Pablo zunächst strikt ab, da für Harry der Jazz mit dem damit verbundenen Lebensgefühl ein Ausdruck der dekadenten modernen Zivilisation darstellt.
Schließlich bringen Hermine und Pablo Harry Haller während eines Maskenballs in das „Magische Theater“ - dieser Moment ist Harry schon von Beginn des Romans an als entscheidenden Höhepunkt seiner Selbstfindung angedeutet worden. Unter dem Einfluß von Opium erlebt Harry eine visionäre Szenenfolge, die aus den innersten Bezirken seines Ichs die verborgenen und verdrängten Seiten seiner Persönlichkeit hervorbringt. Geheime Wunschträume, wie z.B. brutaler Krieg gegen die ihm verhasste moderne Technik, in dem der überzeugte Pazifist Harry reiche Bürger niederschießt, scheinen vor seinem inneren Auge wahr zu werden, und schließlich gelangt Haller zu der psychoanalytischen Erkenntnis, dass seine Seele nicht nur zwiegespalten ist, sondern dass die menschliche Persönlichkeit in viele innere Wirklichkeitsstücke zersplittert ist. Um mit sich selbst und seinem Umfeld ins Reine zu kommen, muss Harry sein Leben als ein „Schachspiel“ begreifen und mit den zahlreichen Figuren seiner selbst „spielerisch“ und mit viel Humor umgehen. Aus diesem Grund erhält er eine Anleitung zum Aufbau der Pers ö nlichkeit, jedoch scheitert zunächst die Synthese all seiner Persönlichkeitssplitter:
Als Harry nämlich im Rausch meint, Hermine und Pablo nach dem Liebesakt schlafend vorzufinden, ersticht er in einer weiteren Vision seine „Lehrerin und Traumgeliebte“ und damit auch symbolisch den lebensbejahenden Teil seiner selbst. Währenddessen verschmelzen in der DrogenScheinwelt des „Magischen Theater“ Pablo und Mozart zu einer Person, wobei Pablo die lebensnahe, „wölfische“ Freude an Harrys Existenz verkörpert, und Mozart für den unsterblichen Geist und Verstand steht. Harry gelingt dieser Spagat zwischen den extremen Gegensätzen seiner Persönlichkeit zwar nicht, jedoch erkennt er jetzt sein Schicksal und seine Lebensaufgabe darin, zu lernen und zu akzeptieren, dass seine Persönlichkeit nicht nur aus zwei Wesen [ besteht ] , sondern (...) zwischen Tausenden, zwischen unz ä hlbaren Polpaaren hin und her schwingt.
Harrys Streben, endlich „mit sich selbst und seiner Haltung zum Leben ins Reine zu kommen“, die auch als das „allgemeine Ziel der Psychotherapie“ gilt, kann folglich nur verwirklicht werden, wenn er all seine Persönlichkeitsanteile anzunehmen bereit ist. Der Weg zum Frieden mit sich selbst gelingt erst dann, wenn Harry nicht mehr nur die rein triebhaften oder rein geistigen Züge seiner Persönlichkeit akzeptiert, sondern sich selbst in seiner Vielspältigkeit anerkennt.
In diesem Sinne lauten die abschließenden, kryptisch anmutenden Sätze Harry Hallers im Roman, der mehr Analyse als Lösungsvorschlag seiner Identitätskrise sein will:
Einmal w ü rde ich das Figurenspiel besser spielen. Einmal w ü rde ich das Lachen lernen. Pablo wartete auf mich.
Mozart wartete auf mich.
2.2. Struktur: Die Perspektivierung des Konflikts
Die Ich-Krise Harry Hallers wird im „Steppenwolf“ aus drei verschiedenen Erzählperspektiven mit drei verschiedenen Erzählhaltungen dargestellt: Dem Vorwort eines fiktiven Herausgebers, dem Hauptteil, der aus den tagebuchähnlichen Aufzeichnungen Harry Hallers besteht, und dem diesem eingelagerten wissenschaftlichen „Tractat vom Steppenwolf“
Das Vorwort (S.7-S.32), das in Anlehnung an das Vorwort eines fiktiven Herausgebers von Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) geschrieben scheint, präsentiert die uns gebliebenen Aufzeichnungen von Harry Hallers tagebuchähnlichen Manuskripten.
Dieses Vorwort, das vermeintlich aus der Feder eines „normalen“ Bürgers - dem Neffen von Harrys Zimmerwirtin - stammt, will zunächst einen Eindruck von Authentizität erzeugen und bereitet den Leser auf Harrys Leidensgeschichte vor. Es wird zahlreiche „Hintergrundinformation“ über Harrys Lebensweise, seine äußere Erscheinung und seine Konflikte geliefert, und mit dem Herausgeber kommt zuerst ein Vertreter des Bürgertums zu Wort, von jenem sich Harry so sehr angezogen und zugleich abgestoßen fühlt.
Dadurch findet aber gerade der „normale“ Leser einen leichten Zugang in die zerrissene, komplizierte Welt und Persönlichkeit des „Steppenwolfes“, weil der fiktive Herausgeber, der „sensibel und genau eine wichtige Interpretationsvorgabe liefert“, maßgeblich die Blickrichtung bestimmt, mit der Harrys Aufzeichnungen gelesen werden sollen.
Das Vorwort wirkt auch sprachlich durch die teils prosaische Wortwahl und den klaren Satzbau, eben dem, „was man von einem soliden Bürger mit guten geistigen Gaben und einer brauchbaren Bildung, aber begrenzter literarischer Empfindung und Erfahrung erwarten darf“, nicht so leidenschaftlich und überreich an Emphase wie der Hauptteil, der vermeintlich aus der Feder Harry Hallers stammt.
Dies soll einerseits die Authentizität des fiktiven Herausgebers bezeugen, andererseits wird über den Kontrast zu der poetisierten, absichtsvoll stilisierten und viel kunstvolleren →Sprache im Hauptteil auch auf diese Weise die Außergewöhnlichkeit Harry Hallers suggeriert.
Der Verfasser entwirft auch inhaltlich als erstes das Bild eines tragischen Außenseiters, dessen einsame Sonderstellung in der Gesellschaft die eines Mannes ist, [ der ] zwischen zwei Zeiten geraten, [ der ] aus aller Geborgenheit und Unschuld herausgefallen ist, dessen Schicksal es ist, alle Fragw ü rdigkeit des Menschenlebens gesteigert als pers ö nliche Qual und H ö ll e zu erleben, weil er als künstlerisch-genialer Individualist mitten in die erschütternde Bewusstseinskrise, die gro ß e Zeitkrankheit der modernen Gesellschaft des 20.Jahrhunderts hineingeboren wurde.
Der fiktive Herausgeber liefert quasi eine „Vor-Interpretation“ der Aufzeichnungen und suggeriert dem Leser also schon im Vorwort die Deutung des Einzelschicksals Harry Hallers als Exempel für „eine viel umfassendere Lebens-, Künstler- und Gesellschaftskrise“.
Der Hauptteil „Harry Hallers Aufzeichnungen“ (S.33-53 u. S.87-278) schildert den Identitätskonflikt des intellektuellen Einzelgängers aus der Ich-Perspektive. Die tagebuchähnliche Form des Erzählens vermittelt große Nähe und Intimität zum Erlebten, da das Blickfeld fast ausschließlich auf Harry Haller begrenzt ist, der das Geschehen durch seine Augen filtert.
Im Unterschied zum Tagebuch ist der Text zwar undatiert und fortlaufend, aber er hat trotzdem die Erlebnisnähe und die Unmittelbarkeit eines Tagebuchs inne, wobei die von Hermann Hesse im Hauptteil des Steppenwolfes gewählte Form des inneren Monologs als „selbsterzählter Monolog“ bezeichnet wird. Da Harry Hallers Eindrücke, Gefühle und Gedanken „in der Vergangenheit ausgedrückt werden, [jedoch] unbelastet durch die üblichen verbalen Einleitungen bei zu berichtenden Gedanken“, wird der Ausdruck „ungewöhnlich lebendig“. Das Imperfekt wirkt wie Präsens, da die „Zeitadverbien des inneren Monologs beibehalten werden“:
[ ... ] Auf dem alten Graugr ü n der Mauer [ ... ] liefen bewegliche bunte Buchstaben und verschwanden alsbald wieder, kamen wieder und verflogen. Nun haben sie, dachte ich, auch diese alte Mauer zu einer Lichtreklame missbraucht! Indessen entzifferte ich einige Buchstaben, [ ... ] aber halt, jetzt gelang es mir; hintereinander konnte ich mehrere Worte erhaschen!
Auffällig oft benutzt Hermann Hesse im „Steppenwolf“ beispielsweise „jetzt“ oder „heute“ anstatt „an jenen Tag“, „dann“ oder „darauf“. Auch durchgängig eingefügte elliptische Ausrufe und eingeschobene Passagen im Präsens bewirken, dass „dank dieser temporalen Kunstgriffe Haller nicht zu einem „war“, sondern zu einem „ist“ mit Zukunft [wird]; aus der fragilen Erzählung wird ein erregendes Drama“ .
Durch diese tiefe emotionale Greifbarkeit und Nähe zum Erlebten wird dem Leser aber auch ein breiter Spielraum für Identifikation mit dem einsamen „Steppenwolf“ angeboten; der Leser ist sehr stark geneigt, das im Vorwort entworfene Bild Harry Hallers als Sympathieträger anzunehmen und die eigenen Vorstellungen und Erfahrungen darauf zu projizieren.
Die große Nähe des Lesers zu Harry Haller wird durch das eingeschobene „Tractat vom Steppenwolf“ (S.54-86) aus einer dritten auktorialen Erzählperspektive ergänzt. Das Tractat, das Harry eines Abends auf mysteriöse Weise in die Hände fällt, fungiert als ein vorgezogener, „geordneter, artikulierter, dialektisch argumentierender und mit Erläuterungen in Parenthese versehener Kommentar“ zu seiner Selbstfindung, der in kritischer Distanz die Analyse seiner Persönlichkeit, die Harry Haller im Magischen Theater am Ende seiner Aufzeichnungen erfährt, vorwegnimmt. Es war Hesse offenbar wichtig, dass sich das Tractat nicht nur sprachlich, sondern auch optisch durch ein anderes Druckbild vom Hauptteil des Buches absetzt.
Die Gestalt und das Schicksal des „Steppenwolfs“ wird also aus drei verschiedenen Perspektiven mit unterschiedlicher Nähe zur Hauptperson und in drei verschiedenen Ausdrucksweisen beleuchtet. Dabei entwickeln sich die einzelnen Teilaspekte zu einem vielschichtigen, „in seinem Wechselspiel konsistenten“ Gesamtbild Harry Hallers als tragischer Außenseiter in einer bedrohlichen Welt zwischen zwei großen Kriegen, der die Ersch ü tterung [ seiner ] bisherigen Denkgrundlagen durch Einstein miterlebt hat.
Durch die so gewählte Perspektivierung des Konflikts wird aber auch die allgemeine Blickrichtung vorbestimmt, mit der das Schicksal des „Steppenwolfs“ interpretiert werden soll. Die Sympathie des Lesers wird durch den subtilen Aufbau des Romans von Anfang an auf Harry Haller gelenkt.
2.3. Die Erzählweise im literarischen Kontext: Der Umbruch von traditioneller Ausdrucksweise zur Moderne
Der „Steppenwolf“ erschien 1927 in der krisenerschütterten Weimarer Republik - in einer Gesellschaft geprägt von den Erfahrungen einer Generation, die „Krieg, Nachkrieg, Wirtschaftskrise und den Zusammenbruch für unzerstörbar geglaubter Sicherheiten“ in der Wahrnehmungs- und Bewusstseinskrise der Jahrhundertwende erlitten hat.
Hermann Hesses Roman, der zwar oft mit dem Begriff „Neuromantik“ in Verbindung gebracht worden ist, kann aber „nicht genau einer Gattungsbezeichnung [zugeordnet werden]“, sondern ist inhaltlich und stilistisch ein Zeugnis des literarischen und gesellschaftlichen Umbruchs seiner Entstehungszeit.
Es sind also im „Steppenwolf“ moderne wie traditionelle Ausdrucksformen kombiniert worden, wobei der Roman im Vergleich zu zeitgenössischen Strömungen wie der aufkommenden realistischnüchternen „Neuen Sachlichkeit“ allerdings weniger innovativ wirkt.
Auf der einen Seite lässt sich der „Steppenwolf“ sicherlich in die Formtradition des deutschen Bildungsromans einreihen, in dem die „innere Geschichte eines Individuums und seiner seelischen Auseinandersetzung mit der Welt“ dargestellt wird. So behandeln bereits Johann Wolfgang Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1796) oder Gottfried Kellers in der Ich-Perspektive geschriebener Roman „Der grüne Heinrich“ (1854/55) die „Spannung zwischen dem Einzelnen und seiner Umwelt“ und die Frage nach der Identität, wobei das Schwergewicht der Handlung auf die sinnsuchende Hauptperson gerichtet ist.
Vor allem an Goethe, der namentlich in den Aufzeichnungen als einer von Harry Hallers Lieblingsautoren genannt wird und auch in dessen Träumen erscheint, wird im „Steppenwolf“ angelehnt. Der zentrale Konflikt um die unüberwindbare Zweiteilung von Harrys Persönlichkeit als „Wolf“ und „Mensch“ ist sicherlich inspiriert von Fausts Ausspruch: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“ und dem sich dahinter verbergendem antithetischen Motivkomplex von widerstreitenden Polaritäten - im „Faust“ sind es „Gut“ und „Böse“, im Steppenwolf „Geist“ und „Trieb“, die es von der Hauptperson zu vereinigen gilt.
Auch die chronologische Erzählzeit und die dichterische →Sprache entstammen dem traditionellen Literaturerbe.
Als Belege für moderne literarische Einflüsse auf die Erzählweise des „Steppenwolfs“ finden sich die im Hauptteil gewählte Darbietungsform des „selbsterzählten Monologs“ und der Wechsel der Perspektiven (→ 3.), der trotzdem für eine konsequente Gedankenführung sorgt.
Natürlich ist vor allem die Thematik - die Vielfalt, Unterschiedlichkeit und Widersprüchlichkeit des Individuums im Widerstreit mit der sich technisierenden Gesellschaft - sehr modern, jedoch drückt Hermann Hesse diese Welterfahrung in einer „Ästhetisierung der subjektiven Erfindungen“aus. Er äußert diese Weltsicht in der Tradition des melancholischen Symbolismus der Jahrhundertwende, dessen Künstler sich in dem „Bewusstsein, einer dem Untergang geweihten Kultur anzugehören“ eine ästhetisierte, mystifizierte literarische Gegenwelt voll Traum, Mystik und archetypischen → Symbolen und Motiven schufen.
Kennzeichnend für den „Steppenwolf“ ist aber vor allem eine Handlung, die sich so stark auf Harrys Innenleben reduziert, dass kaum äußere Spannung entsteht. Durch die knappe Beschreibung des äußeren Geschehens, das lediglich als Auslöser für innere Umbrüche geschildert wird, werden Harrys innere Zwiespalte und Wandlungen dafür umso genauer und unmittelbarer dargestellt. So fungiert zum Beispiel das Abendessen bei einem konservativen Professor , in dessen Verlauf sich Harry seiner tiefen Entfremdung von der Gesellschaft bewusst wird, als Auslöser für einen seitenfüllenden Tumult in seiner Seele, wo ein gewaltiges Theater der beiden Harrys statt [ fand ], das erst durch die Gespräche mit der Nebenfigur Hermine gelindert werden kann.
Die knapp dargestellte äußere Handlung dient also nur dazu, der ausführlich geschilderten inneren Wandlung Harry Hallers die entscheidenden Impulse zu geben.
Die Dialoge mit den Neben- oder „Komplementärfiguren“ sind von zentraler Bedeutung, da die Handlung schon in diesen ausgedeutet und interpretiert wird. Die weltanschaulich-philosophischen Dialoge über Harry Hallers innerpsychische Wandlungen gewinnen eine belehrende Stimme, da der eine Dialogpartner nur Stichworte liefert, während der andere antwortet, was eigentlich die Aufgabe des Lesers sein soll. Deshalb wirkt der Aufbau der Dialoge recht didaktisch.
Als Beispiel ein Auszug aus einem der zahlreichen weltanschaulichen Gespräche zwischen Hermine und Harry:
„ ...Immer ist es so gewesen und immer wird es so sein, dass die Zeit und die Welt, das Geld und die Macht den Kleinen und Flachen geh ö rt, und den anderen, den eigentlichen Menschen, geh ö rt nichts. Nichts als der Tod. “
„ Sonst gar nichts? “
„ Doch die Ewigkeit. “
„ Du meinst den Namen, den Ruhm bei der Nachwelt? “
„ Nein, nicht den Ruhm - hat der denn einen Wert? “ - (...)
2.4. Sprache und Syntax:
Die „Aufzeichnungen“ Harry Hallers sind besonders geprägt durch eine absichtsvoll poetisierte Sprache, die auch andere Werke Hermann Hesses kennzeichnet.
Diese bildhafte und kraftvolle Sprache erzielt ihre Wirkung vor allem über eine stilvolle Anhäufung von Doppelungen, Entgegensetzungen und Parallelismen:
So wie ich mich jetzt anziehe und ausgehe, den Professor besuche und mehr oder weniger erlogene Artigkeiten mit ihm austausche,... so tun und leben und handeln die meisten Menschen Tag f ü r Tag, Stunde um Stunde zwanghaft und ohne es eigentlich zu wollen , machen Besuche, f ü hren Unterhaltungen, sitzen Amts- und Bureaustunden ab, alles zwanghaft, mechanisch und ungewollt , alles k ö nnte ebenso von Maschinen gemacht werden oder unterbleiben; und diese ewig fortlaufende Mechanik ist es, die sie hindert, ... die Dummheit und Seichtheit [ des Lebens ] , seine scheu ß lich grinsende Fragw ü rdigkeit , seine hoffnungslose Trauer und Ö de zu erkennen und zu f ü hlen.
Durchgängig werden in den „Aufzeichnungen“ mit solchen Ausdruckshäufungen die schwankenden Stimmungen und Gefühle Harry Hallers geschildert, wobei sich die einzelnen Ausdrücke gegenseitig „aufladen“ und so die Intensität der Aussage um ein Vielfaches steigern.
Ebenso wird die zunächst dichotomische Weltsicht Harry Hallers über eine Anhäufung von Gegensatzpaaren veranschaulicht und dadurch in ihrer Aussagekraft nachhaltig verstärkt:
In manchen Augenblicken war Altes und Neues , war Schmerz und Lust , Furcht und Freud e ganz wunderlich durcheinander gemischt. Bald war ich im Himmel , bald in der H ö lle .
In Verbindung mit zahlreichen Alliterationen und Epitheta Ornantes steigert sich so die Sprache in ihrer gesteigerten Künstlichkeit auf das Niveau eines aufwiegelnden rhetorischem Pathos, der den Leser in seine Bann schlagen mag:
Dort an [ dem dreckigen Lehmloch im Friedhof ] endete, so schien mir, bei den dummen verlegenen Worten des Priesters , bei den dummen verlegenen Mienen der Trauerversammlung , bei dem trostlosen Anblick all der Kreuze und Tafeln aus Blech und Marmor , bei all den falschen Draht- und Glasblumen, dort endete nicht nur der Unbekannte, dort w ü rde nicht nur morgen oder ü bermorgen auch ich enden, verscharrt, unter Verlegenheit und Verlogenheit der Teilnehmer in den Dreck gescharrt, nein, so endete alles, unser ganzes Streben, unsre ganze Kultur, unser ganzer Glaube, unsre ganze Lebensfreude und Lebenslust , die so sehr krank war und bald auch dort eingescharrt werden w ü rde. Ein Friedhof war unsere Kulturwelt , hier waren Jesus Christus und Sokrates, hier waren Mozart und Haydn, waren Dante und Goethe blo ß noch erblindete Namen auf rostenden Blechtafeln...
Kennzeichnend für den „Steppenwolf“ ist ebenfalls die Überhöhung einer Alltagsbeschreibung ins „Kosmische“: Eine scheinbar eindimensionale Beschreibung geht in ihrer Bedeutung weit über die geschilderte Situation hinaus: so wird hier z.B. eine Beerdigung zum Sinnbild für die dem Untergang geweihte abendländische Kultur, was Harry Haller aber auch zugleich erklärt. Dem Leser werden also die mehrdimensionalen Bedeutungsebenen der Worte parallel zu ihrem Auftauchen erläutert
Durch bestimmte suggestive Schlüsselworte wird der Leser geschickt in den Kontext miteinbezogen wie hier durch den Gebrauch eines integrativen „Uns“ in unser ganzes Streben, unsere Kultur, unsere ganze Lebensfreude und Lebenslust. Weil der Leser das Geschehen zusammen mit Harry Haller beobachtet, übernimmt er auch dessen Deutung in Verbindung mit der aufwiegelnden Rhetorik und der emotional greifbaren Monologform.
Auch die Satzstellung unterstützt die unmittelbare Wirkung der Sprache, da diese sich in Fluß und Rhythmik der jeweiligen Stimmung Harry Hallers anpasst. Ist Harry Haller seelisch erregt und besonders aufgewühlt, so findet sich dies auch sprachlich „in einem rasch fließenden und rasend pulsierenden Sturzbach von Haupt- und Nebensätzen, unregelmäßig in ihrer Kürze, in wütenden Ausrufen oder Stakkato-Wiederholungen und in einer reichlichen Verwendung von Anaphern und Parataxen“. So z.B. bei Harrys Beschreibung des Maskenballs:
Eben noch hatten mich die Lackschuhe gedr ü ckt, eben noch hatte mich die dicke parf ü mierte Luft angewidert, die Hitze mich erschlaft; jetzt lief ich hurtig auf federnden F üß en im Onesteptakt durch alle S ä le, der H ö lle entgegen, f ü hlte die Luft voll Zauber, wurde gewiegt und getragen von der W ä rme, von all der brausenden Musik, vom Taumel der Farben, vom Duft der Frauenschultern, vom Rausch der Hunderte, vom Tanztakt, vom Glanz all der entz ü ndeten Augen!
Um andererseits quälende Langeweile zu beschreiben, bedient sich Hermann Hesse einer schleppenden Sprache, die sich in einer endlosen Wiederholung monotoner Neben- und Hauptsätze dahinwälzt. So z.B. in den einleitenden Sätzen der „Aufzeichnungen“, die Harry Hallers öden Tagesablauf beschreiben:
Der Tag war vergangen, wie eben die Tage so vergehen; ich hatte ihn herumgebracht, hatte ihn sanft umgebracht, mit meiner primitiven und sch ü chternen Art von Lebenskunst, ich hatte einige Stunden gearbeitet, alte B ü cher gew ä lzt, ich hatte zwei Stunden Schmerzen gehabt, wie eben alte Leute sie haben, hatte ein Pulver genommen und mich gefreut, dass die Schmerzen sich ü berlisten lie ß en, hatte in einem hei ß en Bad gelegen und die W ä rme eingesogen, hatte dreimal die Post empfangen und all die entbehrlichen Briefe und Drucksachen durchgesehen, hatte meine Atem ü bungen gemacht...
So findet sich zu Beginn der „Aufzeichnungen“ die Schilderung von Harrys Leben „in zwei Absätzen, die nur drei Sätze enthalten und etwa 450 Wörter zählen“, was eindringlich die mutlose und graue Monotonie, wie sie Harry Haller empfindet, wiederspiegelt und so viel intensiver auf den Leser einwirkt.
Sehr kennzeichnend für den „Steppenwolf“ ist zusätzlich, dass Hermann Hesse bei aller stilisierter Rhetorik jedoch immer alltägliche Formulierungen und Redewendungen gebraucht und manchmal sogar umgangssprachliche Phrasen mit der poetischen Sprache verknüpft. Dadurch fühlt sich der Leser auch bei anspruchsvolleren Gedankenführungen nie überfordert, weil lediglich „dem vertrauten Vokabular im Aussagezusammenhang des Romans eine Bedeutsamkeit zugemessen wird, die weit über den Rahmen alltäglicher Kommunikation hinausgeht.“
2.5. Symbole und Motive
„Weit über den Rahmen alltäglicher Kommunikation hinausgehen“ ist bei Hermann Hesse gleichbedeutend mit dem Verwenden zahlreicher mythologischer, archetypischer oder psychoanalytischer Symbole. Diese Sinnbilder, die sich zu ganzen Motivsträngen verketten können, laden sich - ähnlich wie es der →Sprache über das Prinzip der Doppelung gelingt - durch ihre vielfältigen Konnotationen gegenseitig auf.
Allein der Buchtitel „Steppenwolf“ erweckt in der Vorstellung der Leser eine beträchtliche Zahl multiplexer Assoziationen:
In der Mythologie und dem Volksglauben verkörpert der „Wolf“ zwar das Böse, er ist aber ebenso Inbegriff von Ungezähmtheit und Wildheit und fernab der Zivilisation; in Verbindung mit dem Wort „Steppe“, das vage Bilder von Weite und Einsamkeit, aber auch Abenteuer erzeugt, wird so bereits im Titel der Eindruck eines rastlos umherschweifendenden, aber unabhängigen und starken und stolzen Außenseiters erwirkt.
Darüber hinaus steht die Wolfssymbolik im archetypisch-symbolistischen Verständnis als repräsentativ für „den Ausgleichspunkt zwischen Gut und Böse, ... für die Verbindung zwischen der Geisterwelt außerhalb der Kontrolle der menschlichen Gesellschaft und der Kultur, zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen Unterbewusstsein und Bewusstsein“ - eben jenen Extremen, zwischen denen Harry Haller verzweifelt einen Ausgleich sucht.
Und so beschwört der Autor in nur einem Wort vielfältige vorbewußte Sinnbilder herauf, die gemeinsam den gesamten „Steppenwolf“ - Konflikt reduziert andeuten:
Verachtung des bürgerlichen Lebens im Widerstreit mit existentieller Sehnsucht nach Geborgenheit, Harrys Einsamkeit und seine zugleich stolze, individualistische Ausnahmeexistenz.
Es finden sich eine Vielzahl solcher Symbole im „Steppenwolf“, die sich zu ganzen „Motivsträngen“ verketten und somit zu entscheidenden „Strukturelementen“ werden.
Eines dieser zentralen Motivgefüge ist die Spiegelsymbolik, die zunächst im „Steppenwolf“immer wieder als Wegweiser für Harrys Selbstsuche auftaucht:
So erscheint dieses Motiv zunächst als tr ä ge Spiegel lichter auf dem nassen Boden, die Harry zu einem Ort der Selbstfindung führen. Dann verweist das in den Hauptteil eingelagerte Tractat auf das Vorhandensein jenes Spiegels , in den er [ Harry Haller - Anm. d. Verf. ] zu blicken so bitter n ö tig h ä tte. Schließlich muss Harry im „Magischen Theater“ erst in Pablos Taschenspiegel, dann in einen riesengro ß en Wand spiegel blicken, wo er die zahllosen Persönlichkeitssplitter seiner selbst entdeckt.
So wie die innere Handlung generell in den begleitend erläuternden Dialogen ausgedeutet wird (→ 4.), so interpretiert Hermine die Spiegelsymbolik später im Gespräch mit Harry als „Widerschein des eigenen Selbst in anderen Menschen“:
Begreifst du das nicht, du gelehrter Herr: dass ich dir darum gefalle und f ü r dich wichtig bin, weil in mir innen etwas ist, was dir Antwort gibt und dich versteht? Eigentlich sollten alle Menschen f ü reinander solche Spiegel sein.
Mit diesem Verweis auf das Vermögen der Menschen, einander zu Spiegeln zu werden, ergänzt Hermann Hesse die „Wegweiser-Bedeutungsebene“ mit einer mythologischen und einer archetypisch - psychoanalytischen, da der Spiegel einerseits als traditionelles Märchenartefakt sogar „magische Kräfte“ innehat und darüber hinaus in „Steppenwolf“ die Fähigkeit besitzt, „dem Betrachter das eigene Bild zurückzuwerfen“ und somit „dem Individuum mit seinem wahren Selbst zu konfrontieren“.
Es finden sich weitere Verkettungen solch „kosmischer“ Sinnbilder im „Steppenwolf“, zum Beispiel die transzendentale Symbolik der Ewigkeit, die Erl ö sung von der Zeit bedeutet und die metaphysische Sehnsucht Harry Hallers nach einer Welt von Geist und Ideal verkörpert. Ewigkeit oder Unsterblichkeit ist der stark stilisierte Begriff vom Überwinden der zerstörerischen „Wolfsnatur“ in Harrys Seele, denn Erlösung von der irdischen Zeitlichkeit bedeutet für den unverbesserlichen Ästheten Harry Haller Erlösung von den triebhaften, animalischen Persönlichkeitsanteilen und Hingabe an eine h ö here, unverg ä ngliche Welt des Geistes und der Ideale.
Dieser philosophisch - ästhetische Gedankengang ist inhaltlich eng verknüpft mit dem Motiv des Todes, das vielgestaltig aufgegriffen wird. So deutet Hermine Harrys Todessehnsucht als das Verlangen aus, die geistige Ewigkeit zu erreichen, indem die irdische Welt zurückgelassen wird:
Dorthin [ ins Jenseits - Anm. d. Verf. ] geh ö ren wir, dort ist unsere Heimat, dorthin strebt unser Herz, Steppenwolf, und darum sehnen wir uns nach dem Tod. Dort findest du deinen Goethe wieder und deinen Novalis und den Mozart.
Hermine deutet den destruktiven Akt des Selbstmords ästhetisch umgewandelt als ein Symbol für Vollendung im Reich der Ewigkeit.
Das Tractat jedoch wertet den Selbstmords anders, denn Harry Haller [ sieht ] im Tod, nicht im Leben den Erl ö ser, [ er ist ] bereit, sich wegzuwerfen und auszul ö schen - für Harry würde also der Selbstmord bloß Flucht vor dem ihm unerträglichen Leben bedeuten.
Dabei liegt die Lösung für Harry Hallers Ich - Krise im Sterbenk ö nnen, H ü llenabstreifen, im Sinne von ewige [ r ] Hingabe an die Wandlung der Persönlichkeit:
Am Ende des Buches gibt das Magische Theater nämlich erst dann den Blick auf Harrys wahres Selbst frei, nachdem im Wandspiegel der alte bekannte Harry auseinander fiel, sich aufl ö ste.
In dieser zweiten Deutung der Todessymbolik als unendliche Neugeburt ist die Lösung von Harry Hallers Konflikten nur in der ewigen Wandlung des Selbst möglich. Der Weg der Selbstfindung wird in diesem ästhetisiertem Bildnis zum Ziel der Selbstfindung.
3. Ansätze der Kritik
Selbstfindung oder Selbstdarstellung?
Der vorwiegend diskutierte Kritikpunkt an Hermann Hesses „Steppenwolf“ sind die breit angelegten „Identifikationsstrukturen“ des Textes, die die intensive Überzeugungskraft hervorrufen, mit der Harry Hallers Selbstfindungsgeschichte auf manchen Leser wirken mag:
Durch die →Perspektivierung des Konflikts in Vorwort, Hauptteil und Tractat werden Sympathie und Blickrichtung vorgegeben, mit denen der Roman gelesen werden will. Die →innere Handlung überwiegt und macht Harrys Leidensgeschichte so emotional greifbar und nachvollziehbar für den Leser.
Zwar beleuchtet das Tractat die Figur Harry Hallers ironisch - kritisch, jedoch wird grundsätzlich nicht in Frage gestellt, dass dem von Stolz und Sehnsucht geprägten Außenseiter in seiner tragisch - ästhetischen Lebenshaltung in gleichem Maße die Bewunderung und das Mitgefühl des Lesers gelten muss.
In verzweifelter Einsamkeit vom flachen Dutzendmenschen der dekadenten, modernen Gesellschaft entfremdet, in der Harry Haller stellvertretend für Tausende die Frage nach der eigenen Identität stellt, gilt nämlich im Sinne mancher Ausspr ü che Nietzsches:
„Das tiefe Leiden macht vornehm, es trennt.“
Harry Hallers rigoros gewählter Weg der Individuation trägt freilich die Gefahr der schmerzvollen Isolation mit sich, wobei aber dieser Schmerz in Harry Haller ein elitäres „Auserwähltsein-Gefühl“ erzeugt.
Solch schwierige, weltanschauliche, durchaus auch kontroverse Gedankengänge, die den Hintergrund für Hesses gewählte Außenseiterthematik liefern, werden aber ebenso wie die zahlreichen, →mehrdimensionalen Sinnbilder parallel zur Handlung von Hermine und Harry in den →Dialogen erläutert:
Harry, du bist f ü r diese einfache, bequeme, mit so wenigem zufriedene Welt von heute viel zu anspruchsvoll und hungrig, sie speit dich aus, du hast f ü r sie eine Dimension zu viel. Wer heute leben und seines Lebens froh werden will, der darf kein Mensch sein wie du und ich.
Dabei kommt auch der →Sprache und der im Hauptteil des Buches gewählten Form des →selbsterzählten Monologes eine wichtige Rolle zu, da die große Nähe zur Hauptperson zusammen mit dem kunstvollen rhetorischen Pathos der Aufzeichnungen Harry Hallers zweifellos eine aufwiegelnde Wirkung auf den Leser haben muss.
Jedoch bergen all diese identifikationsfördernden Einzelkomponenten in ihrem didaktischen Zusammenspiel einen extremen Widerspruch zu der zumindest dem Anspruch nach „radikal kritischen Selbst- und Gesellschaftsanalyse“ des „Steppenwolfs“.
Ein Roman wie der „Steppenwolf“, in dem die Hauptfigur Harry Haller allenthalben seine Mitmenschen vor opportunistischen Fehlverhalten warnt und mit seinem eigenen Beispiel der Nicht - Anpassung an die konservative bürgerliche Gesellschaft vorangeht, wirkt dann gedanklich inkonsequent und als „kein geschlossenes System“, wenn die kritische Botschaft über eine auffällig belehrende Gestaltung suggeriert werden soll.
Zwar mag Harry Haller zweifelsfrei ausgeprägten Humanismus und stets wache kritische Reflexion in sich tragen, wenn er beispielsweise in dem 1927 geschriebenen Roman vor dem n ä chsten, kommenden Krieg, der n ä chsten Millionenschl ä chterei, die von vielen tausend Menschen Tag f ü r Tag mit Eifer vorbereitet [ wird ] warnt.
Jedoch geschieht es trotzdem durch Harrys vermeintlich elitäre Außenseitermentalität, dass sich „unbeabsichtigt ideologische Positionen [wiederspiegeln], die katastrophale Folgen gehabt haben.“
Da Hesses gesellschaftskritischer Ansatz im Steppenwolf in den Augen vieler Kritiker außerdem „zu wenig konkret [wird], zu wenig in die Details geh[t]“ und in seiner Pauschalität „zu wenig auf das Aufzeigen von ... Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten ausgerichtet ist“, wirkt die dargestellte Unzufriedenheit Harry Hallers recht unbestimmt und weit entfernt von sozialer Wirklichkeit.
Dieser Eindruck wird noch bestärkt durch die Tatsache, dass der „Steppenwolf“ zwar eine recht komplexe Analyse der Ich - Krise Harry Hallers liefert, die ja stellvertretend für die Neurose einer Generation stehen will, er jedoch andererseits „keinerlei Lösung“ anbietet.
Dies bedeutet aber in logischer Konsequenz, dass Hermann Hesses „Steppenwolf“ durchgehend Gefahr läuft, allzu sehr mit den Leiden seiner Hauptfigur zu kokettieren, und dass in der Tat ein gewisser Grad der Selbst darstellung in Harrys Geschichte der Selbst findung nicht abzustreiten ist.
5. Conclusio
Was in dem kurzen Überblick auf die →Ansätze der Kritik als ein logischer Fehler im Aufbau des „Steppenwolfs“ bemängelt wird, ist andererseits die Erklärung für die begeisterte Annahme und den enormen kommerziellen Erfolg des Buches.
Wer sich als Leser mit einem unkritischen Leseverhalten auf die →Identifikationsstrukturen des Romans „einlässt“, wird stets sein Mitgefühl und seine Sympathie für Harry Haller einbringen. Das tragische Schicksal der Hauptperson, dass in den Augen der Kritiker zu vage und zu pauschal dargestellt und mit dem gar bis zu einem gewissen Grad kokettiert wird, bietet andererseits für die Anhänger des Romans eine breite Projektionsfläche für die eigenen Erfahrungen, Sehnsüchte und Ängste.
Die Thematik, die allgemein das Problem behandelt, sich in seiner Umwelt isoliert und verunsichert zu fühlen, einem Problem, mit dem jeder Mensch mehr oder minder in seinem Leben konfrontiert wird, scheint in ihrer Allgemeinheit und ihrem Anspruch, exemplarisch für die Neurose einer Generation zu stehen, geradezu darauf ausgerichtet zu sein, von zumeist jungen Lesern für eigene Konfliktsituationen assimiliert zu werden.
Deshalb wirkt das „Nach-Leiden“ der Geschichte Harry Hallers in den Identifikationsstrukturen als fast im psychotherapeutischen Sinne ermutigend für den identifizierenden Leser, der durch die Lektüre die Erfahrung macht, in seiner Einsamkeit nicht allein zu sein.
Das ideologische Klima, das Harry Hallers Außenseiterrolle umweht, suggeriert dem Leser im Zusammenhang mit der pathetischen Sprache sogar das Gefühl, „eine ausgezeichnete Minderheit zu sein“. Denn wer über die Identifikationsstrukturen Harry Hallers ästhetisch - sehnsüchtige Weltsicht übernimmt, gehört ebenso wie die Hauptfigur zu dem Kreis einer einsamen, vermeintlich außergewöhnlichen Elite.
Genau in diesem Prozess liegen Chance wie auch Misskonzeption des Romans, denn aufgrund dieser beschriebenen Identifikationsstrukturen ist es kaum möglich, den „Steppenwolf“ zugleich mit „Verständnis und Distanz“ zu lesen.
Folglich spiegelt sich dieses Phänomen auch in der entweder begeistert annehmenden oder strikt ablehnenden Rezeption des Buches wieder.
Denn einem kritisch - distanzierten und bewussten Leseverhalten stehen die Identifikationsstrukturen, die die freilich vorhandene Faszination des „Steppenwolfes“ ausmachen, nicht offen. Der Leser, der sich nicht mit der Hauptfigur identifizieren und solidarisieren will, wird dem Buch und seiner Ästhetik folglich ablehnend gegenüberstehen.
Die schriftstellerische Leidenschaft jedoch, mit der der Roman in seiner Verarbeitung eines zeitlosen Lebenskonflikts und in seiner angenehmen Gestaltung trotz aller Kritik immer neue Leser in seinen Bann schlägt, ist nicht zu bestreiten und mag Hermann Hesses „Steppenwolf“ tatsächlich zu einem „Außenseiter für Millionen“ machen.
Fakt ist jedenfalls, dass der „Steppenwolf „in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs und der existentiellen Verunsicherung“ besondere Aktualität erreicht.
Der Autor selbst, der wenige Jahre vor dem Ausbruch eines regelrechten „Steppenwolf - Booms“ in der amerikanischen Hippie- und Studentenbewegung (die ja unzweifelhaft als eine Zeit „gesellschaftlichen Umbruchs“ gedeutet werden muss), verstarb, fühlte sich von der extremen Identifikation seiner Leser jedoch fehlinterpretiert:
„Immerhin scheint mir der „Steppenwolf“ dasjenige meiner Bücher zu sein, das öfter und heftiger als irgendein anderes missverstanden wurde, und häufig waren es gerade die zustimmenden, ja die begeisterten Leser, nicht etwa die ablehnenden, die sich über das Buch auf eine mich befremdende Art geäußert haben.“
Der „Steppenwolf“, den Hermann Hesse im Alter von 50 Jahren in einer schweren Lebenskrise nach dem Zusammenbruch seiner Ehe geschrieben hatte, trägt starke autobiographische Züge und wurde - so der Autor - ursprünglich zu rein selbstreflektiven Zwecken begonnen.
PS: Um euch das Klauen zu erschweren, habe ich die Zitatquellen entfernt!!!
PPS: Seid gnädig, denn das ist die erste Facharbeit, die ich je geschrieben hab!
- Quote paper
- Anne-Marie Horstmannskötter (Author), 2001, Hesse, Hermann - Steppenwolf - Außenseiter für Millionen?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/103010
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