Nicht zuletzt die Bundestagswahl hat uns vor Augen geführt, dass das Thema Umweltschutz in der Gesellschaft immer mehr an Relevanz gewinnt. Prognosen zeigen, dass das humane Handeln Extremwetterlagen, Klimawandel und weiteres verstärkt. Welche Gefahren ergeben sich hieraus für den Menschen und was kann dieser eigentlich dagegen tun?
Karen Stock hinterfragt die gesellschaftlichen Prozesse hinter den Umweltschutzdebatten. Dabei geht die Autorin besonders auf die Diskrepanz in der Gesellschaft ein. Denn es stellt sich die Frage, weshalb der Mensch bei Umweltthemen oftmals wider besseres Wissen handelt. Im Fokus stehen dabei die Motive für das bewusste Entscheiden gegen umweltfreundliche Tätigkeiten.
In ihrem Buch untersucht sie damit, wie die Gesellschaft in Prozessen einer Transformation reagiert und welche Chancen und Risiken sich aus diesen ergeben. Ziel ist es, Methoden vorzustellen, mit denen Untätigkeit und kognitiven Verzerrungen innerhalb der Gesellschaft entgegengewirkt werden kann. Damit reiht sich das Buch in die aktuelle Debatte rund um den Klimawandel und die politische Zukunft Deutschlands ein.
Aus dem Inhalt:
- Klimakrise;
- Klimadynamik;
- Nachhaltigkeit;
- Anthropozän;
- Model of Change;
- Zukunftsforschung
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Zukunft als gegenwärtige Katastrophe
1.2 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit
2 Das Anthropozän: Der Mensch als disruptive zerstörerische Kraft
2.1 Die Mensch-Umwelt-Beziehung: Von Malthus über den Club of Rome bis heute
2.2 Zukünftige Klimaänderungen
2.3 Klimanotstand – Die Krise trifft uns alle JETZT
2.4 1,5 °C- versus 2 °C-Temperaturanstieg
2.5 Minderungsstrategie
3 Die Soziodynamik des Klimawandels
3.1 Schlüsselrisiken bei Überschreitung der Kipp-Punkte
3.2 Soziale Ungleichheit
3.3 Öffentliche Wahrnehmung des Klimawandels
4 Die Psychodynamik des Klimawandels
4.1 Kognitionspsychologische Reaktionen auf den Klimawandel
4.2 Verzerrte Welt und die Irrationalität des Denkens
5 (Wie) kann eine Transformation zur Nachhaltigkeit gelingen?
5.1 Die neue Ära der Transformation
5.2 Wandlungsprozesse in komplexen Systemen
5.3 Herausforderungen gesellschaftlicher Veränderungen
5.4 Die drei Ebenen der Transformation
5.5 Das „Model of Change“
5.6 Die Rolle der Zukunftsforschung im Transformationsprozess
6 Überwindung psychologischer Barrieren durch Zukunfts-denken
6.1 Veränderungen der imaginierten und tatsächlichen Zukunft
6.2 Fantasie-Realisierungs-Theorie
6.3 Fantasieverwirklichung: Die mentale Kontrastierung
6.4 Die MCII-Methode: Interventionen
6.5 Fallbeispiel: Nachhaltiger Konsum
7 Zusammenfassung & Diskussion der Ergebnisse
7.1 Hauptziele umweltgerechten Handelns: World-Life-Balance
7.2 Wie kann eine gesellschaftliche Transformation zur Nachhaltigkeit gelingen?
7.3 Handlungsorientierte Schlussfolgerungen und Anregungen
Literaturverzeichnis
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
IPCC Intergovernmental Panel on Climate Change
MCC Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change
UN Vereinte Nationen
UNEP Umweltprogramm der Vereinten Nationen
UNFCCC Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen
UNCCS Klimasekretariat der Vereinten Nationen
CRED Center for Research on the Epidemiology of Disasters
MCII Mental Contrasting with Implementation Intentions
BIP Bruttoinlandsprodukt
CCPI Climate Change Performance Index
WBGU Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Ansätze der Stratigraphie und des Erdsystems zur Definition des Anthropozäns
Abbildung 2: Weitverbreitete Folgen, die dem Klimawandel zugeordnet werden, basierend auf der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur seit dem AR4
Abbildung 3: Kumulative CO2-Emissionen und zukünftiger Strahlungsantrieb durch andere Gase bestimmen die Wahrscheinlichkeit, die Erwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen
Abbildung 4: Klimaschutz-Index 2021
Abbildung 5: Evolution des Erdsystems: Vom Holozän über das Anthropozän bis hin in die Zukunft –Divergierende Zukunftspfade
Abbildung 6: Regionale Schlüsselrisiken und Risikominderungspotenzial
Abbildung 7: Country Overshoot Days 2020 – When would Earth Overshoot Day land if the world’s population lived like
Abbildung 8: Earth Overshoot Day 1970-2020
Abbildung 9: Drei Ebenen der Transformation
Abbildung 10: Zentrale Erfolgsfaktoren gesellschaftlicher Veränderungsprozesse
Abbildung 11: Denkmodell der Selbstregulierung
Abbildung 12: WOOP
Abbildung 13: Simple slopes for intention to reduce meat consumption differentiated for intervention condition (control vs. MCII) in the 1st week (A) and 4th week (B) after the intervention
Abbildung 14: Gestaltung dynamischer und komplexer Transformationsprozesse
1 Einleitung
„Es gibt keinen Impfstoff für den Planeten.“ – Guterres 2020
Droht uns ein CO₂-Kollaps? Die Uhr tickt, und das sehr schnell. Die CO₂-Uhr des MCC demonstriert den globalen CO₂-Verbrauch und stellt in zwei Szenarien dar, wie lange es noch bei anhaltendem Verbrauch dauern wird, bis die klimatische Erwärmung die 1,5 °C- oder 2 °C-Grenze erreicht hat. Das Ergebnis ist ernüchternd: Wir sind nur 6 Jahre, 11 Monate, 18 Tage und eine Stunde (Stand 14. Januar 2021) davon entfernt, genanntes 1,5 °C-Szenario zu erreichen, und etwa 24 Jahre wird es dauern, bis die Menschheit vom 2 °C-Szenario eingeholt wird. Was den Planeten Erde beim Erzielen genannter Szenarien erwartet, beginnen wir gerade erst zu begreifen. Szenarien zeichnen ein düsteres Bild von dem, was möglich ist. Nun befinden wir uns an der Grenze vieler kritischer Schwellen des Ökosystems, die drohen, überschritten zu werden (Crutzen 2019; Göpel 2016; Meadows et al. 2007; IPCC 2016; WWF 2016). Die Zunahme der Weltbevölkerung und das Weltwirtschaftswachstum waren in den letzten 2.000.000 Jahren hyperbolisch. Exponentielles Wachstum führt zur Ausbeutung endlicher Ressourcen und hängt mit unstillbarem Konsum zusammen, der unsere Gesellschaft zum Stillstand bringen könnte (Meadows et al. 2007). Nicht zuletzt ist exponentielles Wachstum mit seinen verheerenden sozialen, politischen und ökonomischen Folgen durch die Coronavirus-Pandemie bekannt geworden. Der Klimawandel und die Coronavirus-Pandemie verdeutlichen, was passiert, wenn menschliche Aktivitäten zu signifikanten Veränderungen der globalen Umwelt beitragen und zu spät Maßnahmen ergriffen werden (Rosa 2020). Wir befinden uns mitten im Anthropozän, dem menschengemachten Erdzeitalter (Crutzen 2019). Wenn wir durch unser Handeln dafür verantwortlich sind, dass die Erde auf einen Kollaps zusteuert, müssten wir auch diejenigen sein, die diese Krise auflösen können? Sind die steigenden CO₂-Emissionen noch zu stoppen oder gar umzukehren?
1.1 Zukunft als gegenwärtige Katastrophe
Schon heute sind die Auswirkungen des anthropogenen Wandels spürbar und messbar. Naturkatastrophen und soziale Ungleichheit stehen im Fokus unserer Zeit und zeigen, dass die Katastrophe kein zukünftiges Problem mehr ist, sondern uns schon längst erreicht hat. In den letzten zwei Jahrzehnten sind durch den Klimawandel bedingte Naturkatastrophen wie Wirbelstürme, Überschwemmungen, Waldbrände und Dürren immer häufiger und schwerer geworden (IPCC 2019). Die Tendenz von Naturkatastrophenereignissen nimmt laut einem UN-Bericht zu. Demnach gab es zwischen 2019 und 2020 4,2 Milliarden Betroffene und 1,2 Millionen Tote – die Zahl der Ereignisse hat sich im Vergleich zu den zwanzig vorangegangen Jahren fast verdoppelt (UN 2020). Wir haben gesehen, wie COVID-19 Leben genommen, die Schwächsten im besonderen Maß betroffen und Familien zerstört hat. Die Gesundheitssysteme wurden auf der ganzen Welt unter immensen Druck gesetzt. Das Virus hat beispiellose gesundheitliche und finanzielle Konsequenzen (Rosa 2020). Auch Hitzewellen, Waldbrände und Überschwemmungen fordern Menschenleben, treffen die Schwächsten, zerstören Familien, vernichten Häuser, erzwingen Evakuierungen und können ebenso katastrophale physische, psychische und finanzielle Folgen haben (UNCCS 2019). Einerseits fordert die Vorstellung des Anthropozäns als Aussicht auf das noch nie Dagewesene sofortiges Handeln, um zukünftige Katastrophen zu verhindern. Andererseits verlangt das Aufzeigen der Ungleichheiten im historischen Prozess der Entstehung des Anthropozäns nach sozialer Gerechtigkeit. Obwohl beides legitime und bedeutsame Forderungen sind, scheinen sie unvereinbar. Die Bewältigung der genannten Krisen erfordert eine radikale Veränderung der menschlichen Verhaltensmuster, um Ressourcen zu schonen, Artenvielfalt zu erhalten und das menschliche Leben im Einklang mit der Natur langfristig zu sichern (Meadows et al. 2007; Kristof 2017; Gifford 2007). In den letzten Jahren wurde die Alarmglocke von einer Vielzahl wissenschaftlicher Gremien geschlagen und der Notstand ausgerufen. Vor den Gefahren einer Pandemie, verursacht durch SARS-Viren, wurde ebenfalls in verschiedenen Szenarien bereits Jahre vor dem Ausbruch gewarnt. Gleiche Gremien warnen seit Jahrzehnten vor dem Klimawandel. Warum ist es so schwierig, wirksame Änderungen des Umwelthandelns zu erreichen? Die beträchtliche Diskrepanz zwischen dem Grad der Besorgnis des Einzelnen über den Klimawandel und dem Ausmaß, in dem er auf diese Bedenken reagiert, ist ein großes Hindernis für nachhaltige Handlungsmuster. Gibt es eine Möglichkeit, diese Muster zu durchbrechen? Aus den Ergebnissen vorangegangener Forschung und der zuvor dargelegten Relevanz der Thematik setzt sich die vorliegende Arbeit mit folgender übergeordneten Frage auseinander: (Wie) kann eine gesellschaftliche Transformation zu umweltschützendem Handel gelingen?
1.2 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit
Nur wenn gesellschaftliche Veränderungen verstanden werden, können sie auch erfolgreich gestaltet werden. Dazu können wir sowohl aus wissenschaftlichen Untersuchungen als auch aus empirischen Erfahrungen lernen. Zukunftsforschung ist nach ihrem Selbstverständnis notwendigerweise inter- und transdisziplinär. Als transformative Wissenschaft setzt die Zukunftsforschung auf die Entwicklung von Handlungswissen, um Akteure unterschiedlicher Einsatzfelder und die Gesellschaft als Ganzes zu befähigen, verantwortliche Entscheidungen in der Gegenwart zu treffen. Dabei versteht sich die Zukunftsforschung als Wissenschaft des Wandels (Popp & Schüll, 2008). Anthropogener Wandel vollzieht sich auf unterschiedlichen Ebenen und muss dementsprechend aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven beleuchtet werden. Nur so ist es möglich, verschiedene Lösungsansätze abschließend vorzuschlagen. Bisher verfehlte es die Forschung größtenteils, einen gemeinsamen Konsens zu finden. Umso relevanter erscheint die Betrachtung, Transformation zur Nachhaltigkeit im Kontext anthropogenen Wandels zu erforschen. Die Literaturauswahl der vorliegenden Arbeit erfolgt mit dem Fokus auf eine möglichst diverse Bandbreite unterschiedlicher Disziplinen. Dabei verknüpfe ich in der wissenschaftlichen Argumentation psycho- (psychoanalytisch-individualpsychologische) und soziodynamische (kulturhistorisch und empirisch hermeneutische) Konzepte. Es wird ein theoretischer Vermittlungsversuch unternommen, geowissenschaftliche, psychologische, zukunfts- und sozialwissenschaftliche Positionen miteinander zu verbinden.
Zu konstatieren bleibt, dass bisher wenig Augenmerk auf die Überwindung der Untätigkeit, Kohlenstoffneutralitätsziele in Zusammenhang mit Ressourcenleichtigkeit und sozialer Gerechtigkeit zu erreichen, gelegt wurde. Die vorliegende Arbeit entwickelt einen vielversprechenden Ansatz, ebenjene Forschungslücke zu schließen. Transformationsprozesse und anthropogener Wandel sind zwei große Bestandteile der Arbeit. Hinsichtlich des Rahmens der Arbeit, wurde der Schwerpunkt auf den Klimawandel als Teilausschnitt anthropogenen Wandels gelegt. Die Coronavirus-Pandemie wird ebenfalls in die Analyse mit einbezogen, aber eher am Rande behandelt.
Um sich der Forschungsfrage anzunähern, gilt es zunächst zu verstehen, wie es zur gegenwärtigen misslichen Lage kam und welche Dynamiken sich von der Vergangenheit bis in die Zukunft erstrecken. Was bedeutet Mensch gemachtes Erdzeitalter? In Kapitel 2 werden dementsprechend einleitend Mensch-Umwelt-Interaktionen systematisch beschrieben. Warum befinden wir uns im Anthropozän und welche Entwicklungsmöglichkeiten resultieren hieraus? Welche Konsequenzen entstehen durch bestehende Dynamiken? Kapitel 3 beschäftigt sich mit der Soziodynamik des genannten Wandels, denn sie ist untrennbar mit den Klimadynamiken verbunden. Folglich werden die Fragen beantwortet: Welche Gefahren drohen dem Menschen durch den selbst verursachten anthropogenen Wandel und welche Auswirkungen sind bereits heute schon erlebbar? Weiterführend wird beschrieben, welche Unterschiede es im öffentlichen Verständnis des Klimawandels gibt. Warum sehen es manche Menschen als Notwendigkeit an, sich mit dem Klimawandel auseinanderzusetzen, und andere nicht? Im Mittelpunkt des folgenden Kapitels wird die Psychologie der Untätigkeit behandelt. Was geschieht mit Personen, die eine Verhaltensänderung als einen Schritt zur Verringerung ihrer Treibhausgasemissionen oder zur Verbesserung ihrer umweltbezogenen Aktionen in Betracht ziehen? Hierbei wird die Frage umrissen, weshalb der Mensch bei Umweltthemen oftmals wider besseres Wissens oder seiner umweltfreundlichen Einstellung handelt. Infolgedessen werden in Kapitel 4 diesbezüglich kognitionspsychologische Reaktionsmustern und kognitive Verzerrungen beschrieben und folgende Frage behandelt: Welchen kognitiven Herausforderungen begegnet der Mensch mit dem Klimawandel? Anschließend wird in Kapitel 5 überprüft, ob Krisen Chancen und Risiken zugleich sind und ob und wie Transformationsprozesse gestaltet werden können. Es ist zwingend erforderlich, Krisen und Transformationsprozesse zu verstehen, um sie bewusst entwickeln zu können und einen adäquaten Umgang mit Unsicherheit und Nichtwissen zu gewährleisten. Welche Herausforderungen stehen der Menschheit bevor? Anschließend wird in Kapitel 6 eine Methode aus der Psychologie vorgestellt, die dabei helfen kann, bisheriger Untätigkeit und möglichen kognitiven Verzerrungen entgegenzuwirken. Abschließend werden im letzten Kapitel die Erkenntnisse der Arbeit zusammengetragen und diskutiert. Es erfolgt eine systematische Analyse der Zusammenhänge, aus denen Lösungsansätze für Politik, Wirtschaft und Individuum abgeleitet werden.
2 Das Anthropozän: Der Mensch als disruptive zerstörerische Kraft
„Der rationale Umgang mit technisch-ökonomischer Macht bestimmt die Frage menschlicher Vernunft. Es fehlt aber ein ausreichendes Wissen über die schnell zunehmende Wirkungsweise dieser technisch-ökonomischen Macht, die nicht sachlich neutral ist, sondern bestimmt wird von Macht, Gier und Gewinninteressen.“ – Crutzen 2019, S.46
Die globale Erwärmung und viele andere vom Menschen verursachte Veränderungen der Umwelt geben Anlass zur Besorgnis über die Zukunft des Lebens auf der Erde. Ihre Fähigkeit, die für den Erhalt lebensfähiger menschlicher Zivilisationen erforderlichen „Dienstleistungen“ zu erbringen, ist gefährdet. In der Wissenschaft werden die Folgen dieses unbeabsichtigten „Experiments“ der Menschheit an ihrem eigenen Lebenserhaltungssystem intensiv diskutiert (u. a. Meadows 2007; Crutzen 2006; Steffen et al. 2016). Die Funktionsweise der Biosphäre und der Erde als Ganzes wird durch menschliche Aktivitäten radikal gestört. Folgen sind Klimawandel, toxische Verschmutzung und massenhaftes Artensterben (Crutzen 2006). Durch die Ökonomisierung und das stetige Wachstum von Produktion, Konsum und Bevölkerung sind zunehmend die lebenserhaltenden Systeme unseres Planeten bedroht (Meadows 2007). Wissenschaftler*innen argumentieren, dass sich die Menschheit entweder am Anfang oder inmitten des sechsten großen Massenaussterbens befindet (Crutzen 2006; WWF 2016; Göpel 2016). Menschliche Lebewesen haben das System unseres Planeten so stark verändert, dass Wissenschaftler*innen nun vorschlagen, dies in einem neuen geologischen Zeitintervall festzuschreiben: dem Anthropozän (griechisch: anthropos = Mensch). Im Gegensatz zu früher ist der Ansatz, ein Intervall zu markieren, in dem der Mensch zu einer großen Naturgewalt geworden ist, in der wissenschaftlichen Welt und darüber hinaus explodiert (Ellis 2018). Dem globalen Wandel liegen vom Menschen verursachte Veränderungen zugrunde: Veränderungen der biologischen Struktur der Erde, Veränderungen der Vorräte und Ströme der zentralen Elemente wie Stickstoff, Kohlenstoff, Phosphor und Silizium und Veränderungen der Energiebilanz an der Erdoberfläche (Hansen et al. 2005). Die menschliche Zivilisation hat die grundlegenden Systeme der Erde inzwischen unwiderruflich verändert. Zwei Jahrhunderte der Industrialisierung und wirtschaftlichen Globalisierung beruhten auf der räuberischen Ausbeutung fossiler Brennstoffe und der Zerstörung von Wäldern, Land, Ozeanen und Kulturen. Dadurch wurden die Erdatmosphäre und die Eiskappen zerstört und die Biosphäre verwüstet. Dies geschah im 20. und 21. Jahrhundert in einem solchen Ausmaß und Tempo, dass Geowissenschaftler*innen der Meinung sind, dass wir die geologische Epoche des Holozäns verlassen und in das unbeständigere Anthropozän eingetreten sind (Meadows 2007; Crutzen, 2006; Ellis 2018; Wilkinson 2005).
In Abbildung 1 veranschaulicht Steffen et al. (2016) die Dynamik komplexer Systeme. Wissenschaftler*innen nutzen die Grafik zur Konzeptualisierung des Erdsystem-Ansatzes und zur Definition des Anthropozäns. Menschliche Aktivitäten sind so durchdringend und tiefgreifend geworden, dass sie mit den großen Naturgewalten rivalisieren und die Erde in die planetarische „Terra incognita“ (lat. unerkanntes, unerforschtes Gebiet) drängen. Weniger als Krise, die irgendwo in der Zukunft liegt, bezeichnet das Anthropozän eine ökologische Schwelle, die bereits erreicht wurde (Wilkinson 2005). Die Erde bewegt sich rasch in Richtung eines biologisch weniger vielfältigen, weniger bewaldeten, viel wärmeren und wahrscheinlich feuchteren und stürmischeren Zustand (IPCC 2014).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Ansätze der Stratigraphie und des Erdsystems zur Definition des Anthropozäns (Steffen et al. 2016)
Das Phänomen des globalen Wandels stellt eine grundlegende Veränderung in der Beziehung zwischen dem Menschen und der übrigen Natur dar. Seit der industriellen Revolution hat der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre um 44 % zugenommen, was nicht nur den Klimawandel, sondern gleichermaßen die Versauerung der Ozeane verursacht und die Lebensbedingungen aller Meeresorganismen konstitutiv verändert hat (Hönisch et al. 2012). Die Population von Wildfischen, Vögeln, Reptilien und Säugetieren ist gegenüber 1970 um durchschnittlich 89 % geschrumpft (WWF 2016). Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass auch die Zahl der Insekten stark zurückgegangen ist (Hoff 2018). Das IPCC (2014) veranschaulicht in Abbildung 2 die Empfindlichkeit natürlicher Systeme und verdeutlicht die Folgen des klimatischen Wandels. Als starke und umfassende Bestätigungen des Klimawandels zeigen sich in einigen Regionen Veränderungen in Form von Ozeanversauerung, Ernteeinbußen, der Qualität und Quantität von Wasser und der Migration von Menschen. Zudem ist seit den 1950er Jahren eine Veränderung von extremen Wetter- und Klimaereignissen zu verzeichnen. „Einige dieser Veränderungen wurden mit Einflüssen des Menschen in Verbindung gebracht.“ (IPCC 2014, S. 7)). Dazu zählen die Temperaturextreme, der Rückgang der kalten und die Zunahme der warmen Temperaturen, der Meeresspiegelanstieg und die erhöhte Frequenz von Starkniederschlagsereignissen. Es ist immer offensichtlicher geworden, dass die Erde in einen „nicht-analogen Zustand“ (Moore et al. 2001) eintritt - einen Zustand, für den es keine geologische Geschichte und Chronologie gibt. Viele der Anzeichen dafür, dass wir eine geologische Schwelle überschreiten, sind jedoch weit davon entfernt, Neuentdeckungen zu sein. Seit den 1960er Jahren wurde immer wieder davor gewarnt, dass die modernen Industriegesellschaften auf eine ökologische Katastrophe zusteuern. Die breite Öffentlichkeit weiß seit mehr als fünfzig Jahren um die Klimaveränderung. Die Umweltpolitik hat in der Vergangenheit einige der Krisensymptome mehr oder weniger erfolgreich bekämpft. Allerdings haben die letzten Jahrzehnte allzu deutlich gezeigt, dass es auch ohne Veränderungen weitergehen kann. Unsere Gegenwart ist die Zukunft, vor der uns die Umweltbewegung der 1970er Jahre gewarnt hat (z. B. Meadows 1972).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Weitverbreitete Folgen, die dem Klimawandel zugeordnet werden, basierend auf der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur seit dem AR4 (IPCC 2014, S.7)
Deshalb ist das Anthropozän mehr als nur eine Krise – es ist ein radikaler Ausbruch, ein Bruch mit den ungewöhnlich stabilen ökologischen Verhältnissen, die das Holozän geprägt haben. Das Holozän lieferte die Umweltbedingungen für alles, was wir heute als menschliche Zivilisation bezeichnen: Sesshaftigkeit, Landwirtschaft, Städte, Handel, komplexe soziale Institutionen, Werkzeuge und Maschinen sowie für alle Medien, die zur Speicherung und Verbreitung menschlichen Wissens genutzt werden (Göpel 2016). Mit anderen Worten: Das Holozän war die wohltemperierte Wiege der Zivilisation. Dies führt unweigerlich zu der Frage, was eine Abkehr von diesen Bedingungen für die menschliche Zivilisation bedeuten wird – für die menschliche Kultur, die soziale Organisation, die Technologie und in einem grundlegenden Sinne für das Verhältnis des Menschen zur Welt. Das Anthropozän kündigt eine Zukunft der Menschheit an, deren Umrisse wir gerade erst zu begreifen beginnen, und erfordert eine neue Form des transdisziplinären Austauschs.
2.1 Die Mensch-Umwelt-Beziehung: Von Malthus über den Club of Rome bis heute
Mit Thomas Malthus Essay über das Bevölkerungsgesetz gibt es die ersten Vorhersagen über die Erschöpfung der Ressourcen und den Zusammenbruch der menschlichen Population (1798). In den frühen Jahren der Umweltbewegung wurde im Bericht des Club of Rome, „Die Grenzen des Wachstums“ (Meadows et al. 1972), anhand von Computermodellen das Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum und der Ressourcenverbrauch vorhergesagt und davor gewarnt, was mit der Gesellschaft im 21. Jahrhundert passieren würde, wenn sie die planetaren Grenzen der Ressourcen erreicht. Die Wissenschaftler*innen sagten einen Kollaps der Wirtschaft und der menschlichen Bevölkerung bis Mitte des 21. Jahrhunderts voraus, wenn das bereits damals bestehende exponentielle Wachstum der Wirtschaft und der Bevölkerung unvermindert anhielte. „Die absolute Geschwindigkeit globaler Veränderungen ist heute höher als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Treibende Kraft für diese Veränderungen ist hauptsächlich das exponentielle Wachstum der Bevölkerung und des Ressourcenverbrauchs“ (Meadows 2007, S. 5). Meadows et al. aktualisierten das Modell zur Zeit des Erdgipfels von Rio 1992 und publizierte das Buch „Jenseits der Grenzen“ (2007). Die Wissenschaftler*innen formulierten darin ihre Erwartung, dass die Gesellschaft die nachhaltigen planetaren Grenzen überschreiten würde wobei die zeitliche Verzögerung in der Reaktion der natürlichen Systeme dazu führe, dass die Auswirkungen für einige Jahrzehnte zunächst noch nicht sichtbar sein würden. Ein weiteres 30-Jahre-Update (Meadows et al. 2007) kam zu der gleichen Schlussfolgerung, dass die Zivilisation in 21. Jahrhundert vor größeren Problemen stehen würde. Obwohl diese Studien oft kritisiert und abgewertet wurden, folgt die jüngste Besorgnis über Ressourcenknappheit und episodisch steil ansteigende Rohstoffpreise, wenn man von einer spekulativen Komponente absieht, genau ihren Vorhersagen. Die pessimistischen und optimistischen Ansichten über die Erschöpfung der Ressourcen wurden von Tietenberg (1996) und von Vatn (2005) untersucht. Die relativen Beiträge der Länder zu diesem Problem werden in den ökologischen Fußabdrücken der Nationen dargestellt (WWF 2016). Andere Wissenschaftler*innen haben sich allgemeiner mit der Stabilität und dem Fortbestand der westlichen Zivilisation auseinandergesetzt (Diamond 2005, Homer-Dixon 2006). Oftmals wurden Vergleiche mit dem Niedergang und Fall von Zivilisationen in der Vergangenheit angestellt und beunruhigende Parallelen zu unserer gegenwärtigen Situation gezogen. Dabei wurde die gängige Annahme in Frage gestellt, dass unsere Wissenschaft und Technologie für jedes Problem eine Lösung finden. So erklärte James Lovelock (1996), der Begründer der Gaia-Hypothese zur Entwicklung des planetaren Lebenserhaltungssystems, dass er im 21. Jahrhundert mit einem Rückgang der Weltbevölkerung um 80 % rechnet. Am anderen Ende des politischen Spektrums stehen diejenigen, die leugnen, dass es irgendeine Bedrohung durch Overshoot und Kollaps gibt (Michaels 2005). Eine gut finanzierte Anti-Wissenschafts-Bewegung, die von der Öl- und Tabakindustrie und von fundamentalistischen religiösen Gruppen unterstützt wird, hat die Medien mit Gegenargumenten überfüllt und macht es den Entscheidungsträgern schwer, Positionen zu finden, die sowohl wissenschaftlich gültig als auch politisch akzeptabel sind. Forschungsgruppen, die globale Szenarien für die Vereinten Nationen und andere Organisationen entwickeln, haben mögliche alternative Zukünfte quer durch das politische Spektrum erforscht, von business as usual über einen Rückzug in eine Art Festungsgesellschaft bis hin zu einem Übergang zu einer nachhaltigen Zukunft (z. B. Hammond 1998). Diese Möglichkeitsräume neigen dazu, die Nicht-Nachhaltigkeit und Verwundbarkeit unserer gegenwärtigen Entwicklungsformen aufzuzeigen, aber sie zeigen auch, dass eine Veränderung, welche die schlimmsten Probleme vermeidet, möglich ist. Einige sehen den notwendigen Wandel als Chance, eine nachhaltigere Zivilisation zu gestalten. Eine Reihe von Forschergruppen, wie beispielsweise die Great Transition Initiative, beschäftigen sich damit, wie das konkret geschehen könnte (Great Transition Initiative 2020).
2.2 Zukünftige Klimaänderungen
„Die kumulativen CO₂-Emissionen bestimmen weitgehend die mittlere globale Erwärmung der Erdoberfläche bis zum späten 21. Jahrhundert und darüber hinaus. Projektionen von Treibhausgasemissionen unterscheiden sich erheblich, abhängig sowohl von sozioökonomischer Entwicklung als auch von Klimapolitik.“ – IPCC 2014, S. 26
Zukünftige Treibhausgasemissionen sind das Produkt sehr komplexer dynamischer Systeme, die von treibenden Kräften wie der demografischen und der sozioökonomischen Entwicklung und dem technologischen Wandel bestimmt werden. Szenarien beschreiben alternative Zukunftsbilder und sind ein geeignetes Instrument, um zu analysieren, wie treibende Kräfte die zukünftigen Emissionsergebnisse beeinflussen können, und um die damit verbundenen Unsicherheiten zu bewerten. Sie helfen bei der Analyse des Klimawandels, einschließlich der Klimamodellierung und der Bewertung von möglichen Auswirkungen, Anpassungen und Abschwächungen. Die Möglichkeit, dass ein einzelner Emissionspfad genauso eintritt wie in den Szenarien beschrieben, ist sehr unwahrscheinlich (IPCC 2019). Das IPCC wurde 1988 von der UNEP gegründet. Das Bestreben des IPCC ist es, die verfügbaren Informationen über die Wissenschaft des Klimawandels zu bewerten und politikrelevante, aber nicht präskriptive Bewertungen zu liefern, die für politische Entscheidungsträger*innen, Wissenschaftler*innen und die Öffentlichkeit von Interesse sind. Es wurden Szenarien entwickelt, die die Bandbreite der treibenden Kräfte und Emissionen in der Szenario-Literatur repräsentieren. Sie spiegeln das aktuelle Verständnis und Wissen über die zugrunde liegenden Unsicherheiten wider. Sie schließen nur die in der Literatur vorkommenden Überraschungs- oder Katastrophen-Szenarien aus. Jedes Szenario enthält notwendigerweise subjektive und normative Elemente und ist offen für verschiedene Interpretationen. Das IPCC (2019) teilt den Szenarien keine Wünschbarkeit und keine Eintrittswahrscheinlichkeiten zu und weist darauf hin, dass diese nicht als politische Empfehlungen interpretiert werden sollen.
Die entwickelten Szenarien (Abbildung 3) zeigen im Bereich a) beobachtete Änderungen der monatlichen globalen mittleren Oberflächentemperatur. Die orangemarkierte Schattierung skizziert die wahrscheinliche anthropogene globale Erwärmung (Stand 2017) und schätzt ein, wie sie sich zukünftig entwickeln könnte. Die 1,5 °C-Grenze wird 2040 erreicht, wenn die aktuelle Erwärmungsrate anhält. Die orangene Schattierung zeigt aber auch alternative Zukünfte, je nachdem ob CO₂-Emissionen gemindert werden oder nicht. Der graue Bereich im rechten Abschnitt der Grafik a zeigt den mit einem einfachen Klimamodell berechneten wahrscheinlichen Umfang der Erwärmungsreaktionen. Die graue Linie in Schaubild b und c demonstriert einen symbolischen Pfad, bei dem die Netto-CO₂-Emissionen ab dem Jahr 2020 gradlinig abnehmen, um 2055 hypothetisch den Netto-Nullpunkt zu erreichen. In Schaubild d, wird der Netto-Antrieb durch Nicht-CO₂-Emissionen beschrieben. Dieser nimmt ab dem Jahr 2030 ab und nähert sich im Jahr 2055 dem Nettonullpunkt an. Der blaue Bereich in Schaubild a symbolisiert die Reaktion auf eine schnellere Reduktion der CO₂-Emissionen (blaue Linie in Grafik b), die 2040 den Netto-Nullpunkt erreicht und die kumulativen CO₂-Emissionen reduziert (Schaubild c). Das bedeutet, dass Netto-Null-CO₂-Emissionen nur dann erreicht werden können, wenn der anthropogen verursachte CO₂-Ausstoß über eine bestimmte Periode ausgeglichen wird (IPCC 2019). Wie kann das erreicht werden?
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Kumulative CO2-Emissionen und zukünftiger Strahlungsantrieb durch andere Gase bestimmen die Wahrscheinlichkeit, die Erwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen (IPCC 2019)
Die bisher verursachten globalen Emissionen werden noch Jahrhunderte bis Jahrtausende fortbestehen und weitere langfristige Veränderungen im Klimasystem verursachen, wie z. B. den Anstieg des Meeresspiegels, mit den damit verbundenen Auswirkungen (IPCC 2019). Daher ist es notwendig sobald wie möglich den Netto-Null Punkt anzustreben. Während sich 195 Länder im Rahmen des Pariser Abkommens verpflichtet haben, den globalen Temperaturanstieg auf 1,5 °C bis 2 °C zu begrenzen, bleiben wichtige Fragen offen: Wie kann die Welt dieses Temperaturziel erreichen? Und was passiert, wenn es nicht erreicht wird? Die weltweit führenden Klimawissenschaftler des IPCC haben diese und weitere Fragen im Bericht SR 15 (2018) beantwortet. Fast 100 Wissenschaftler*innen analysierten, wie die Welt das 1,5°C-Ziel erreichen kann und welche Konsequenzen durch einen Temperaturanstieg drohen.
Die Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 °C erfordert einen umfassenden und sofortigen Wandel
Die globalen Emissionen betrugen im Jahr 2018 über 36 Milliarden Tonnen CO₂. Das jährliche Treibhausgasniveau müsste bis 2030 etwa halb so hoch sein, um die Erwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen. Während es technisch immer noch möglich ist, einen Temperaturanstieg von 1,5 °C zu vermeiden, müssen sich Verhalten und Technologien grundlegend ändern, um diese Emissionsreduktionen zu erreichen. Bis 2050 wird beispielsweise erwartet, dass erneuerbare Energien 70-85 % des Stroms im 1,5 °C-Zielpfad liefern. Energieeffizienz und Maßnahmen zur Umstellung auf alternative Kraftstoffe werden für den Transportsektor entscheidend sein. Die Senkung des Energiebedarfs und die Verbesserung der Effizienz der Lebensmittelproduktion, die Änderung der Ernährungsgewohnheiten und die Reduzierung von Lebensmittelverlusten und -abfällen haben ebenfalls ein erhebliches Potenzial zur Emissionsreduzierung (IPCC 2018).
Der erforderliche kohlenstoffarme Übergang ist von noch nie dagewesenem Ausmaß
Zwar gab es in der Vergangenheit Beispiele für schnelle Veränderungen in bestimmten Technologien oder Sektoren, aber es gibt in unserer dokumentierten Geschichte keinen Präzedenzfall für die Veränderungsrate in dem Umfang, der für die Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 °C erforderlich ist. Mit anderen Worten: Wir haben noch nie zuvor so weitreichende, schnelle Umstellungen erlebt, und sie werden in allen Energie-, Land-, Industrie-, Stadt- und weiteren Systemen stattfinden müssen. Diese monumentale Umstellung wird erhebliche neue Investitionen in kohlenstoffarme Technologien und Effizienz erfordern. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass die Investitionen in kohlenstoffarme Energietechnologien und Energieeffizienz bis 2050 um etwa das Fünffache im Vergleich zu 2015 steigen müssten, wenn das 1,5 °C-Ziel erreicht werden soll (IPCC 2018).
Mit der Erwärmung verbundene Risiken sind bei 1,5 ˚C geringer als bei 2 ˚C
Der Abschlussbericht betont außerdem, dass eine Verringerung der Erwärmung um ein halbes Grad, von 2 °C auf 1,5 °C, verglichen mit dem vorindustriellen Niveau, einige der schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels deutlich abmildern würde. Insbesondere die Anzahl der Menschen, die wahrscheinlich von Wasserknappheit betroffen sein werden, würde um 50 % reduziert werden.
Für die Natur wird z. B. erwartet, dass praktisch alle (> 99 %) Korallenriffe durch einen Anstieg um 2 °C verloren gehen, während dies bei 1,5 °C auf einen Rückgang von 70 % bis 90 % abgemildert werden würde (IPCC 2018).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Klimaschutz-Index 2021 (CCPI 2021)
Klimaschutz-Index 2021
Die zusammengefassten Ergebnisse des CCPI (siehe Abbildung 4) zeigen den aktuellen Stand (2021), wie einzelne Länder in den Kategorien Klimapolitik, Treibhausgasemissionen, Energieverbrauch und Erneuerbare Energie abschneiden. Bisher gibt es kein Land, welches „Sehr gut“ abschneidet. Von den G20-Ländern zählen in diesem Jahr nur die EU als Ganzes sowie Großbritannien und Indien zu den High Performern, während sechs G20-Länder zu den „Very Low Performern“ eingeordnet werden. Die Ergebnisse sind im Vergleich zum Vorjahr mit Bedacht zu interpretieren. Der durch die Coronavirus-Pandemie verursachte Rückgang der Emissionen dürfte nur vorübergehend sein, wenn keine strukturellen Änderungen in Richtung eines emissionsarmen Übergangs vorgenommen werden. Die Lenkung der staatlichen Rettungs- und Erholungsausgaben in Richtung kohlenstoffarmer und nachhaltiger Konjunktur-Stimulierungs-Maßnahmen könne laut CCPI einen Systemwandel unterstützen und zu unzähligen langfristigen Vorteilen führen. Die wirtschaftliche Erholung von der aktuellen Coronavirus-Krise könne Emissionsreduzierungen und den Aufbau von Resilienz katalysieren, wenn sie richtig konzipiert ist. Der ideale Impuls müsse sowohl die langfristige Entwicklung als auch den kurzfristigen Nutzen berücksichtigen (CCPI 2021).
2.3 Klimanotstand – Die Krise trifft uns alle JETZT
„Fortgesetzte Emissionen von Treibhausgasen werden eine weitere Erwärmung und langanhaltende Änderungen aller Komponenten des Klimasystems verursachen und damit die Wahrscheinlichkeit von schwerwiegenden, weitverbreiteten und irreversiblen Folgen für Menschen und Ökosysteme erhöhen. Eine Begrenzung des Klimawandels würde erhebliche und anhaltende Minderungen der Treibhausgasemissionen erfordern, wodurch – verbunden mit Anpassung – die Risiken des Klimawandels begrenzt werden können.“ – IPCC 2014, S.8
Wissenschaftler*innen haben die moralische Verantwortung, die Menschheit eindeutig vor einer katastrophalen Bedrohung zu warnen. Auf der Grundlage dieser Verpflichtung und der unten dargestellten Indikatoren erklären mehr als 11.000 Wissenschaftler*innen mit ihren Unterschriften aus aller Welt klar und deutlich, dass der Planet Erde vor einem Klimanotstand steht. Im Jahr 1979 trafen sich Forscher*innen aus 50 Nationen auf der ersten Weltklimakonferenz in Genf und waren sich einig, dass die alarmierenden Trends des Klimawandels ein Handeln dringend erforderlich machen. Seitdem gab es ähnliche Gefahrenhinweise auf dem Rio-Gipfel 1992, innerhalb des Kyoto-Protokolls 1997 und des Pariser Klimaabkommens 2015 sowie bei zahlreichen anderen globalen wissenschaftlichen Versammlungen (Ripple et al. 2017). Dennoch steigen die Treibhausgasemissionen weiterhin rasant an, mit zunehmend schädlichen Auswirkungen auf das Klima der Erde. Die meisten öffentlichen Diskussionen über den Klimawandel basieren nur auf der globalen Oberflächentemperatur – einem unzureichenden Maßstab, um die Bandbreite menschlicher Aktivitäten und die realen Gefahren zu erfassen, die von einem sich erwärmenden Planeten ausgehen (Briggs et al. 2015). Ein Verständnis der schwerwiegenden Auswirkungen des Klimawandels auf natürliche und menschliche Systeme sowie der Risiken und der damit verbundenen Verwundbarkeit ist ein relevanter Ausgangspunkt, um den aktuellen Stand des Klimanotstands zu verstehen. Veränderungen der Klimaindikatoren, nämlich Temperatur, Niederschlag, Anstieg des Meeresspiegels, Versauerung der Ozeane und extreme Wetterbedingungen, wurden in einem kürzlich erschienenen Bericht des Klimasekretariats der Vereinten Nationen (UNCCS 2019) hervorgehoben. Zu den berichteten Klimagefahren gehören Dürren, Überschwemmungen, Hurrikane, schwere Stürme, Hitzewellen, Waldbrände, Kälteeinbrüche und Erdrutsche. Nach Angaben des CRED gab es im Jahr 2018 weltweit insgesamt 315 Naturkatastrophenereignisse, die hauptsächlich klimabedingt waren. Dazu zählen 16 Dürreereignisse, 26 Ereignisse aufgrund extremer Temperaturen, 127 Überschwemmungen, 13 Erdrutschereignisse, 95 Stürme und 10 Waldbrände. Die Zahl der von Naturkatastrophen betroffenen Menschen lag 2018 weltweit bei 68,5 Millionen, wobei Überschwemmungen, Stürme und Dürren 94 % der Menschen betrafen. In Bezug auf die wirtschaftlichen Verluste wurden 2018 insgesamt Schäden von 131,7 Mrd. USD durch Naturkatastrophen verursacht, wobei Stürme mit 70,8 Mrd. USD, Überschwemmungen mit 19,7 Mrd. USD, Waldbrände mit 22,8 Mrd. USD und Dürren mit 9,7 Mrd. USD etwa 93 % der Gesamtkosten ausmachten. Die wirtschaftlichen Verluste, die allein auf Waldbrände im Jahr 2018 zurückzuführen sind, entsprechen in etwa den kollektiven Verlusten durch Waldbrände in den letzten zehn Jahren, was ziemlich alarmierend ist (CRED 2019). Zudem stellen Waldbrände eine direkte Quelle für CO₂-Emissionen dar. Obwohl Waldbrände Teil des natürlichen Systems sind, ist es klar, dass die vom Menschen verursachten Emissionen direkt in das natürliche System eingreifen und dessen Auswirkungen verstärken. Es ist offensichtlich, dass der vom Menschen verursachte Klimawandel eine elementare treibende Kraft neben vielen weltweit auftretenden Naturkatastrophen ist. Darüber hinaus tragen Klimarisiken wie Temperaturverschiebungen, Niederschlagsvariabilität, veränderte saisonale Muster, Veränderungen in der Krankheitsverteilung, Wüstenbildung, Veränderungen des Ozeans sowie Boden- und Küstendegradation in vielen Ländern zu einer Sektor übergreifenden Vulnerabilität bei (UNCCS 2019). Sarkodie et al. (2019) untersuchten empirisch die Anfälligkeit für den Klimawandel und die Anpassungsbereitschaft von 192 Ländern der Vereinten Nationen und kamen zu dem Schluss, dass Nahrungsmittel, Wasser, Gesundheit, Ökosysteme, menschlicher Lebensraum und Infrastruktur die disponiertesten Sektoren unter dem Einfluss des Klimas sind.
Sie wiesen darauf hin, dass Afrika die anfälligste Region für Klimaschwankungen ist. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich die Welt derzeit in einem Klimanotstand befindet.
2.4 1.5 °C- versus 2 °C-Temperaturanstieg
Der globale Risikobericht des Weltwirtschaftsforums (2020) beschreibt eine Reihe von Klimarealitäten, auf die wir zusteuern, wenn der Temperaturanstieg nicht auf mindestens 1,5 °C gegenüber der vorindustriellen Zeit begrenzt wird. Welche Bereiche sind besonders betroffen? Die aufgelisteten Risiken umfassen den Verlust von Menschenleben durch Gesundheitsgefahren und Naturkatastrophen sowie eine übermäßige Belastung der Ökosysteme, insbesondere der Wasser- und marinen Systeme. Darüber hinaus sind die Nahrungs- und Wassersicherheit weitere Bereiche, die stark betroffen sind. Aufgrund von extremen Wetterbedingungen und Katastrophen sowie des steigenden Meeresspiegels wird mit einer verstärkten Migration gerechnet. Geopolitische Spannungen und Konflikte werden entstehen, da Länder versuchen, Ressourcen entlang der Wasser- und Landgrenzen zu gewinnen. Der Bericht erörtert auch die negativen finanziellen Auswirkungen auf die Kapitalmärkte, da die systematischen Risiken ansteigen. Schließlich werden die Auswirkungen auf Handel und Lieferketten dargestellt (WEF 2020). Eine Bewertung, die kürzlich in einem IPCC-Sonderbericht (2018) vorgestellt wurde, befasste sich mit den Auswirkungen und prognostizierten Risiken, die mit zwei Stufen der globalen Erwärmung, 1,5 °C und 2 °C, verbunden sind. Der Bericht untersuchte die negativen Effekte der globalen Erwärmung auf Süßwasserquellen, Lebensmittelsicherheit und Lebensmittelproduktions-systeme, Ökosysteme, menschliche Gesundheit, Urbanisierung, Armut sowie auf wesentliche Wirtschaftssektoren wie Tourismus, Energie und Transport. Es ist offensichtlich, dass die meisten der bewerteten Folgen im 1,5 °C-Szenario geringere Risiken aufweisen als bei einer Erwärmung um 2 °C. Es wird angenommen, dass wir derzeit bereits die Folgen eines Temperaturanstiegs von 1 °C seit dem vorindustriellen Niveau in Form von extremen Wetterereignissen und steigenden Meeresspiegeln erleben (der IPCC verwendet den Zeitraum 1850-1900 als Maßstab für die vorindustriellen Bedingungen, da dies der früheste Zeitraum ist, für den nahezu globale Temperaturbeobachtungen verfügbar sind). Bei der derzeitigen Erwärmungsrate würde die 1,5 °C-Grenze irgendwann zwischen 2030 und 2052 erreicht werden, weshalb sofortige, weitreichende und noch nie da gewesene Maßnahmen für die gesamte globale Zivilisation erforderlich sind (Allen et al. 2007). Ein Anstieg des Erwärmungsniveaus über die 1,5 °C-Grenze hinaus würde die Risikoauswirkungen allerdings verstärken. Zum Beispiel würde die Wasserknappheit bei einem Niveau von 2 °C im Vergleich zu 1,5 °C ein doppelt so hohes Risiko bedeuten. Eine Zunahme der von Flussüberschwemmungen betroffenen Bevölkerung um 70 % wird unter dem 2 °C-Szenario erwartet. Insbesondere seien die USA, Europa und Asien von diesen Effekten betroffen. Das Ausmaß des Artensterbens in terrestrischen Ökosystemen wird über 2 °C im Vergleich zu 1,5 °C doppelt oder dreifach vermutet (IPCC 2019). Die Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf 1,5 °C könnte mit der Schaffung einer nachhaltigeren und gerechteren Gesellschaft einhergehen (IPCC 2018). So wäre der globale Meeresspiegelanstieg im Jahr 2100 bei einer globalen Erwärmung von 1,5 °C um 10 cm niedriger als bei 2 °C, was klare Konsequenzen auf Küstenregionen und niedrig gelegene tropische Inseln hätte (Ellen et al. 2018). Viele der betroffenen Regionen sind nicht wohlhabend und müssten einen großen Anteil ihres BIPs aufwenden, um die erwarteten Auswirkungen und Gefahren des Klimawandels zu bewältigen (Rhodes 2018). Außerdem wäre die Nahrungsmittelknappheit bei niedrigeren Temperaturen weniger gravierend, und die Zahl der Menschen, die von klimabedingter Armut bedroht sind, würde sich deutlich verringern. Es wird geschätzt, dass die Eisfreiheit des arktischen Ozeans im Sommer, bei einer globalen Erwärmung von 1,5 °C nur einmal pro Jahrhundert eintreten würde, während dies bei 2°C mindestens einmal pro Jahrzehnt zu erwarten ist (IPCC 2018). Zur Begrenzung des Temperaturanstiegs und zur Minimierung der daraus resultierenden Konsequenzen sind Bemühungen um jedes °C entscheidend.
2.5 Minderungsstrategie
„Jeder Tag weiter bestehenden exponentiellen Wachstumes treibt das Weltsystem näher an die Grenzen des Wachstums. Wenn man sich entscheidet, nichts zu tun, entscheidet man sich in Wirklichkeit, die Gefahren des Zusammenbruchs zu vergrößern.“ – Meadows, 1972, S.164
Die zentrale Frage des globalen Klimawandels ist nicht mehr, ob sich das Klima ändern wird, sondern wie wir jetzt darauf reagieren sollen. Werden die meisten Regionen der Welt in der Lage sein, sich an die Auswirkungen anzupassen? Oder werden die Effekte so signifikant sein, dass wir alle handeln müssen, und zwar schnell, um ihr Ausmaß später in diesem Jahrhundert zu begrenzen? Vielleicht ist die pragmatischste Antwort auf ein breites Spektrum möglicher Bedrohungen eine Kombination von Maßnahmen, die Schadensvermeidung oder -minderung und Adaption beinhalten. Wir können Gefahren abmildern, also das Ausmaß der Veränderungen reduzieren, indem wir beispielsweise den Ausstoß von Treibhausgasen einschränken. Wir können auch die Konsequenzen eines jeden Ausmaßes des Klimawandels durch Anpassung reduzieren, die unsere Empfindlichkeit gegenüber dem Klimawandel verringert und unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber nachteiligen Auswirkungen erhöht.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Evolution des Erdsystems: Vom Holozän über das Anthropozän bis hin in die Zukunft –Divergierende Zukunftspfade (Steffen et al. 2018)
Divergierende Zukunftspfade
Abbildung 5 veranschaulicht den Weg des Erdsystems aus dem Holozän und damit aus dem glazial-interglazialen Grenzzyklus heraus zu seiner heutigen Position im heißeren Anthropozän. Es gibt eine Weggabelung, die hier als die beiden divergierenden Pfade des Erdsystems in der Zukunft dargestellt sind (gestrichelte Pfeile). Gegenwärtig befindet sich das Erdsystem auf einem Treibhauspfad, der durch menschliche Emissionen von Treibhausgasen und die Zerstörung der Biosphäre in Richtung einer planetarischen Schwelle bei ∼2 °C getrieben wird. Jenseits dieser Schwelle folgt das System einem im Wesentlichen irreversiblen Pfad, der durch intrinsische biogeophysikalische Rückkopplungen angetrieben wird. Der andere Weg führt zur stabilisierten Erde und zeigt einen Pfad der Verantwortlichkeit für das Erdsystem, der durch vom Menschen geschaffene Rückkopplungen zu einem von Menschen aufrechterhaltenen quasistabilen Zustand führt. Stabilität (vertikale Achse) ist hier definiert als der Umkehrfaktor der potentiellen Energie des Systems. Systeme in einem hochstabilen Zustand (tiefes Tal) haben eine niedrige potentielle Energie. Es ist ein erhebliches Maß an Energie erforderlich, um das System aus diesem stabilen Zustand heraus zu führen. Systeme in einem instabilen Zustand (Spitze eines Berges) haben eine hohe potentielle Energie und benötigen nur ein wenig zusätzliche Energie, um sie vom Berg in ein Tal mit niedrigerer potentieller Energie zu schieben (Steffen et al. 2018).
Die Emissionen müssen gegen Mitte des Jahrhunderts Netto-Null erreichen
Der IPCC (2018) hat vier Pfade identifiziert, um die notwendige Temperaturkontrolle zu erzielen, die die Integration verschiedener Landnutzungsänderungen und technologischer Strategien beinhalten, einschließlich einer verstärkten Einführung von Methoden zur Kohlenstoffabscheidung und einer weitreichenden Elektrifizierung von Energie- und Transportsystemen. Während eine 20-prozentige Drosselung der Kohlenstoffemissionen bis 2030 erforderlich ist, um die 2 °C-Grenze einzuhalten, muss dieser Wert auf fast die Hälfte (45 %) des derzeitigen Niveaus minimiert werden, wenn die globale Erwärmung auf 1,5 °C begrenzt werden soll. Währenddessen müssten die Netto-Emissionen bis 2050 auf null gebracht werden, um das 2 °C-Ziel zu erreichen. Am sogenannten „Netto-Null“-Punkt müssten alle weiteren Emissionen durch die Entfernung von CO₂ aus der Luft ausgeglichen werden. Wenn man bedenkt, dass weit über 80 % der vom Menschen auf der Erde genutzten Energie aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe stammt (Internation Energy Agency 2017) ist dies eine wahrhaft schwierige Herausforderung, obwohl die Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 °C im Rahmen der Gesetze der Chemie und der Physik möglich ist. Dies würde allerdings beispiellose Veränderungen erfordern (IPCC 2018).
Je früher in Klimamaßnahmen investiert wird, desto geringer sind die Kosten
Schätzungen zufolge sind zwischen 2016 und 2035 jährliche Investitionen von durchschnittlich 2,4 Billionen US-Dollar in das Energiesystem erforderlich. Dadurch kann die 1,5 °C-Grenze eingehalten werden – das entspricht etwa 2,5 % des globalen BIP. Im Vergleich zu den Kosten eines business as usual, d. h. nichts zu ändern, ist dies jedoch immer noch die geringste Investition. Insbesondere wenn ein „Treibhaus-Erde“-Szenario eintreten sollte, können wir von einer unkontrollierten und irreversiblen Eskalation der globalen Erwärmung ausgehen. Diese könnte sich schließlich bei einer Temperatur stabilisieren, die vielleicht 4 °C bis 5 °C höher ist als im vorindustriellen Zeitalter (Steffen et al. 2018). Das Modell deutet darauf hin, dass ein Anstieg von 2 °C einen Kipp-Punkt setzen könnte, an dem sich das Erdsystem aufgrund der Aktivierung mehrerer Rückkopplungsmechanismen von selbst bewegt. Professor Johan Rockström vom Stockholm Resilience Centre, der ein Mitautor der genannten Studie (Steffen et al. 2018) ist, wird mit folgenden Worten zitiert:
“What we are saying is that when we reach 2 degrees of warming, we may be at a point where we hand over the control mechanism to Planet Earth herself. We are the ones in control right now, but once we go past 2 degrees, we see that the Earth system tips over from being a friend to a foe. We totally hand over our fate to an Earth system that starts rolling out of equilibrium.”
– McGrath, BBC News, 2018
Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass unterschiedliche Minderungsstrategien die erforderlichen Netto-Emissionsminderungen erzielen können. Als einheitliches Ziel gilt es, den Temperaturanstieg auf maximal 1,5 °C zu begrenzen. Bei allen Pfaden steht die „Entnahme von Kohlendioxid“ (IPCC 2018, S. 18) im Vordergrund, die Strategie kann aber unterschiedlich sein.
3 Die Soziodynamik des Klimawandels
Klimadynamiken sind untrennbar mit Prozessen in sozialen Systemen verbunden. Um globale Wandlungsprozesse zu verstehen und zu gestalten, ist die Untersuchung und Beschreibung der Wechselwirkungen obligatorisch. Im Folgenden sollen die Fragen behandelt werden: Welche Risiken drohen dem Menschen durch den selbst verursachten anthropogenen Wandel? Und wie reagiert er auf diese Veränderungen?
3.1 Schlüsselrisiken bei Überschreitung der Kipp-Punkte
Was bedeuten die Zahlen der oben aufgeführten Zukunfts-Szenarien des IPCC nun also für das Leben auf dem Planeten Erde? Sogar wenn die im Pariser-Klimaabkommen vereinbarten Ziele und die Grenze von 2 °C eingehalten werden, werden verschiedenste Elemente des Klimasystems bereits aus dem Gleichgewicht gebracht und sogenannte Tipping Points oder auch kritische Schwellen erreicht, bei denen eine winzige Störung den Zustand oder die Entwicklung des Systems qualitativ verändern kann (Lenton et al. 2008). Die Konsequenzen eines 4 °C-Anstiegsszenarios wären demnach beispielsweise „das Aussterben von 40 % der Tiere und Pflanzenarten sowie die Vernichtung des Amazonasregenwaldes durch unbeherrschbare Brände zur Konsequenz“ (Nikendei 2020, S. 4). Zudem muss bei einem Anstieg von 5 °C davon ausgegangen werden, dass der Meeresspiegel bis zum Jahr 2200 um 7,5 m ansteigt. 50 % aller Metropolen auf dem Planeten Erde würden diesem Desaster erliegen (Marshall 2015). Wenn genannte Szenarien eintreten, müssten ca. 140 Mio. Menschen auf der Flucht vor den negativen Klimaveränderungen bis 2050 ihre Heimat verlassen. Dürren, der Mangel an Nahrungsmitteln und Überschwemmungen verwandeln viele Regionen der Welt in unbewohnbare Orte. Eine logische Konsequenz ist die Destabilisierung der Wirtschaft und eine Zunahme von Kriminalität. Eine gut funktionierende Gesellschaftsordnung scheint im genannten Fall eine Illusion (Spratt und Dunlop 2019).
Die folgende Abbildung 6 stellt regionale Schlüsselrisiken dar, wobei auffällig ist, dass bei hoher Anpassung bereits ein hohes Risikoniveau für den Menschen besteht. Die globale und regionale Risikobewertung basiert auf quantitativen und qualitativen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Expertenurteilen der Arbeitsgruppe WGII AR5 des IPCC (2014). Die Risikobewertung schafft eine wissenschaftliche Grundlage für viele Entscheidungskontexte, die von internationalen Klimaverhandlungen bis hin zu privaten und öffentlichen Bemühungen auf regionaler, nationaler und lokaler Ebene reichen.
Als Teil dieser Sektor- und Regionen- übergreifenden Bewertung identifiziert der Bericht Schlüsselrisiken, die für die gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems relevant sind. Die gesammelten Schlüsselrisiken auf globaler Ebene umfassen die Gefahren schwerer Krankheiten und gestörter Lebensgrundlagen durch extreme Hitze und Überschwemmungen, die Unsicherheit von Nahrung und Wasser und den Verlust von Ökosystemen und biologischer Vielfalt sowie systemische Gefahren durch Extremereignisse. Während unzählige Risiken spezifische Entscheidungen in einem sich verändernden Klima entscheidend beeinflussen werden, einschließlich relevanter lokaler Entscheidungen, bietet der Schlüsselrisiko-Ansatz eine Orientierung über mögliche Konsequenzen (IPCC 2014).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: Regionale Schlüsselrisiken und Risikominderungspotenzial (IPCC 2014, S.14)
3.2 Soziale Ungleichheit
„Der Klimawandel wird bestehende Risiken verstärken und neue Risiken für natürliche Systeme und solche des Menschen hervorrufen. Die Risiken sind ungleichmäßig verteilt und im Allgemeinen größer für benachteiligte Menschen und Gemeinschaften in Ländern aller Entwicklungsstufen.“ – IPCC 2014, S.13
Im vorangegangenen Abschnitt wurde bereits beschrieben, welche Risiken für die Menschheit durch den anhaltenden Klimawandel entstehen und welche Regionen wie stark betroffen sein werden. Die Klimaforschung hat herausgefunden, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen innerhalb von Ländern unterschiedlich vom Klimawandel und von Klimaschutzmaßnahmen betroffen sind, wobei die in Armut lebenden oft die drastischsten Folgen zu tragen haben. Wie aber wirken sich die Risiken auf das soziale Klima des Planeten Erde aus? Das Verständnis der Ursachen wirtschaftlicher Ungleichheit ist entscheidend für eine gerechte wirtschaftliche Entwicklung. Um zu untersuchen, ob die globale Erwärmung die jüngste Entwicklung der Ungleichheit beeinflusst hat, haben Diffenbaugh und Burke (2018) historische kontrafaktische Temperaturverläufe aus einer Reihe von globalen Klimamodellen mit empirischen Belegen für die Beziehung zwischen historischen Temperaturschwankungen und Wirtschaftswachstum kombiniert. Zusammengenommen erlauben diese Daten, probabilistische Schätzungen auf Länderebene für den Einfluss des anthropogenen Klimawandels auf die historische Wirtschaftsleistung zu erstellen. Wissenschaftler*innen haben festgestellt, dass die globale Erwärmung die globale wirtschaftliche Ungleichheit verschärft hat, insbesondere den Anstieg der Ungleichheit zwischen Ländern gewichtet anhand der Bevölkerungszahl, im letzten Jahrhundert um 25 %. Dieser Anstieg resultiert aus den Auswirkungen der Erwärmung auf das jährliche Wirtschaftswachstum, das im Laufe der Jahrzehnte zu beständigen und erheblichen Rückgängen der Wirtschaftsleistung in wärmeren armen Ländern geführt hat - und zu einem Anstieg in vielen kühleren, reichen Ländern - im Vergleich zu einer Welt ohne anthropogene Erwärmung. Die Ergebnisse zeigen also, dass viele arme Länder nicht oder kaum an den direkten Vorteilen der Nutzung fossiler Brennstoffe teilhaben. Im Gegenteil: durch die Erwärmung, die durch den Energieverbrauch der kühleren, reichen Nationen entsteht, wurden und werden sie signifikant geschädigt. Es wurde sogar häufig beobachtet, dass reiche Länder überproportional von den Aktivitäten profitiert haben, die die globale Erwärmung verursacht haben, während arme Länder überproportional unter den Auswirkungen leiden (Mahlstein et al. 2011; Hansen et al. 2016).
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- Quote paper
- Karen Stock (Author), 2021, Warum handeln wir nicht umweltfreundlich? Diskrepanzen zwischen Wissen und Handeln sowie die Rolle des Zukunftsdenkens im Umweltschutz, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1027576