Die vorliegende Arbeit versucht, einen Überblick über den juristisch-psychiatrischen Diskurs der Schuldfähigkeitsbeurteilung vor Gericht zu bieten. Dafür wurden die Daten von über 200 Fällen berücksichtigt (N = 191). Dabei liegt der Fokus auf den beiden Eingangsmerkmalen der krankhaften seelischen Störung und der schweren anderen seelischen Abartigkeit. Erhoben wurden unter anderem die typischen Delikte der Eingangsmerkmale; deren häufigsten, diagnostizierten Krankheiten, Revisionsgründe und durchschnittliche Internierungsdauer.
Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegt allerdings darin, auf die Unschärferelation des Diskurses zwischen psychiatrischem Gutachter und der Rechtsprechung hinzuweisen, die zum Teil aus unterschiedlichen Vorstellungen von Krankheit, Schuld oder Delinquenz besteht. Der Grat zwischen krank-gesund oder schuldfähig-schuldunfähig ist dabei genauso schmal wie das psychiatrische Wissen der meisten Rechtswissenschaftler. Die moralische Verantwortung und gesellschaftliche Wichtigkeit, die in diesem Prozess steckt, darf nicht unter Zuständigkeitsverteilungen oder dogmatischen Krankheitsmodellen ausgetragen werden, sondern sollte einer regelmäßigen und interdisziplinären Diskussion unterliegen, um stets ihre eigenen Rahmenbedingungen und Angemessenheit zu reflektieren. Hier soll eine gemeinsame Diskussionsgrundlage geschaffen werden, die versucht die gängigsten Probleme dieses komplexen Themas ins Bewusstsein zu rufen und gegebenenfalls auch Laien dafür zu sensibilisieren.
Inhaltsverzeichnis
Kurzzusammenfassung
Abstract
Darstellungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Ein kurzer historischer Exkurs
1.2 Eine Brücke zwischen Empirie und Hermeneutik
2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Die Grundlagen des psychiatrischen Gutachtens
2.1.1 chuld
2.1.2 Die Schuldfähigkeit §§ 19, 20, 21
2.1.3 Die vier Eingangsmerkmale
2.1.4 Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit
2.1.5 Eine zweistufige Feststellungsmethode
2.2 Probleme und Grenzen
2.2.1 Die Diagnostiken und Modelle der Psychopathologie
2.2.2 Stochastik als wissenschaftliche Methode
2.2.3 Probleme des Gutachtens
2.2.4 Probleme der Eingangsmerkmale
2.3 Die Konsequenzen desSchuldfähigkeitsgutachtens
2.3.1 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
2.3.2 Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung
2.4 Besonders prekäre Fälle
2.4.1 Pädophile
2.4.2 Persönlichkeitsstörungen
3 Methode
3.1 Vorgehen
3.2 tichprobe
3.3 Beschreibung der Messinstrumente
3.4 uswertung der Daten
3.5 blauf
4 Ergebnisse
5 Diskussion
5.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
5.2 Einordnung in den bisherigen Forschungsstand
5.3 Alternative Erklärungen und kritische Bewertung
5.4 Objektivität und Begriffsebene
5.4.1 Die Eingangsmerkmale
5.4.2 Die Beurteilung der Schwere
5.4.3 Die Beurteilung der Gefährlichkeit
5.5 Ein anderes Verständnis von Krankheit und Exklusion
5.5.1 Psychiatrie und Gefängnis
5.5.2 Krankheit als psychologisches Noumenon
5.6 Fazit
Literaturverzeichnis
Anhangsverzeichnis
Anhang A: Basisfragebogen der Ethikkommission
Anhang B: Tabellen und Abbildungen
Kurzzusammenfassung
Die vorliegende Arbeit versucht, einen Überblick über den juristisch-psychiatrischen Diskurs der Schuldfähigkeitsbeurteilung vor Gericht zu bieten. Dafür wurden die Daten von über 200 Fällen berücksichtigt (N = 191). Dabei liegt der Fokus auf den beiden Eingangsmerkmalen der krankhaften seelischen Störung und der schweren anderen seelischen Abartigkeit. Erhoben wurden unter anderem die typischen Delikte der Eingangsmerkmale; deren häufigsten, diagnostizierten Krankheiten, Revisionsgründe und durchschnittliche Internierungsdauer. Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegt allerdings darin, auf die Unschärferelation des Diskurses zwischen psychiatrischem Gutachter und der Rechtsprechung hinzuweisen, die zum Teil aus unterschiedlichen Vorstellungen von Krankheit, Schuld oder Delinquenz besteht. Der Grat zwischen krank-gesund oder schuldfähig-schuldunfähig ist dabei genauso schmal wie das psychiatrische Wissen der meisten Rechtswissenschaftler. Die moralische Verantwortung und gesellschaftliche Wichtigkeit, die in diesem Prozess steckt, darf nicht unter Zuständigkeitsverteilungen oder dogmatischen Krankheitsmodellen ausgetragen werden, sondern sollte einer regelmäßigen und interdisziplinären Diskussion unterliegen, um stets ihre eigenen Rahmenbedingungen und Angemessenheit zu reflektieren. Hier soll eine gemeinsame Diskussionsgrundlage geschaffen werden, die versucht die gängigsten Probleme dieses komplexen Themas ins Bewusstsein zu rufen und gegebenenfalls auch Laien dafür zu sensibilisieren.
Abstract
The present work tries to provide an overview of the legal-psychiatric discourse on the assessment of criminal liability in court. The data from over 200 cases were taken into account for this (N = 191). The focus is on the two initial characteristics of the pathological mental disorder and the other serious mental abnormality. Among other things, the typical types of offenses of the input characteristics were recorded; their most frequent diagnosed diseases, reasons for revision and average length of internment. The main focus of this work, however, is to point out the uncertainty relation of the discourse between the psychiatric expert and the jurisprudence, which partly consists of different ideas of illness, guilt or delinquency. The line between sick-healthy and guilty-indulgent is just as thin as the psychiatric knowledge of most legal scholars. The moral responsibility and social importance inherent in this process must not be carried out under the allocation of responsibilities or dogmatic disease models, but should be subject to regular and interdisciplinary discussion in order to always reflect on their own framework conditions and appropriateness. This work wants to create a common basis for discussion by trying to bring back the most common problems of this complex topic and, if necessary, to sensitize laypeople to the topic.
Darstellungsverzeichnis
Abbildung 1. Grafische Darstellung zwischen Norm und Krankheit am Beispiel der Schizotypie-Modelle von Claridge, Eysenck und Meehl. Quelle: Grant, Green & Mason, 2018, S.560
Abbildung 2. Steigende Anzahl an Unterbringungen und und unterbringungsähnlichen Maßnahmen. Quelle: Cording & Nedopil, 2014, S.157
Abbildung 3. ICD-10 Kriterien der dissozialen Persönlichkeitsstörung. Quelle: Dilling, Mombour & Schmidt, 2015,S. 279
Abbildung 4. Anzahl der Personen mit Diagnosen aus den verschiedenen Kategorien des ICD-10, sortiert nach den beiden Eingangsmerkmalen krankhafte seelische Störung und schwere andere seelische Abartigkeit
Abbildung 5. Anzahl der in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachten Personen nach Diagnose.
Abbildung 6. Die häufigsten Revisionsgründe bei Schuldfähigkeitsurteilen, sortiert nach den beiden Eingangsmerkmalen der krankhaften seelischen Störung und der schweren seelischen Abartigkeit
Abbildung 7. Schuldfähigkeitsurteile der beiden Eingangsmerkmale krankhafte seelische Störung und schwere andere seelische Abartigkeit
Abbildung 8. Prozentuale Verteilung der juristischen Konsequenzen nach den Urteilen zur Schuldfähigkeit, sortiert nach den beiden Eingangsmerkmalen der krankhaften seelischen Störung und der schweren anderen seelischen Abartigkeit. Die Anzahl der Unterbringungen und die der Freisprüche kann sich zum Teil überschneiden
Abbildung 9. Urteile der fünfStrafsenate, prozentual dargestellt nach Schuldsprüchen
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1. Anzahl der Diagnosen zu Persönlichkeitsstörungen aus verschiedenen Studien. Quelle: Nedopil, 2000,5.305
Tabelle 2. Erhobene Variablen der Aktenanalyse
Tabelle 3. Delikte pro Eingangsmerkmal
"Üaspxychiatnsche Gutachten sowie ganz allgemein die Kriminalanthropologie und der hartnäckige Diskurs der Kriminologie haben hier ihre Funktionen: indem sie die Gesetzesübertretungenfeierlich in den Bereich der wissenschaftlich erkennbaren Gegenstände einweisen, berechtigen sie dieMechanismen der gesetzlichen Bestrafung zum Zugriff nicht nur auf die Gesetzesübertretungen, sondern auf die Individuen - nicht nur auf das, was Individuen getan haben, sondern auf das, was sie sind, sein werden, sein können.« (Michel Foucault, Überwachen und Strafen, S.28)
1 Einleitung
Die Frage nach der Schuldfähigkeit eines Täters vor Gericht wird schon seit vielen Jahrzehnten gestellt. Viele gesellschaftliche Veränderungen der Moderne brachten auch Veränderungen des Rechtssystems mit sich. Durch die so etablierten Novellierungen und Reformen, gewannen Medizin und Psychologie für die Justiz immer mehr an Bedeutung. Was anfangs möglicherweise als humanistische Maßnahme unter dem Begriff der mildernden Umstände eingeführt wurde, modifizierte den Diskurs vollständig. Der Ursprung dieses Phänomens liegt in der immer größer werdenden Bedeutung, die man der Norm beimisst. Sie wird zum Ausgangspunkt aller Überlegungen von Krankheit und damit auch zur Schuldfähigkeit. Die Gefährlichkeit eines Täters, seine Besserungsfähigkeit oder die Wirksamkeit einer Strafe bilden somit ein neues Referenzsystem; zusammengehalten von einer Brücke zwischen Psychiatrie und Rechtswissenschaft. Streng genommen sind all die Begriffe dieses Referenzsystems wederjuristischer, noch psychologisch-medizinischer Herkunft - sind weder ein Delikt, noch eine Krankheit oder ein Symptom. Dennoch erreichen sie auf die Schuldfähigkeitsbeurteilung und das Strafmaß einen Einfluss, den man kaum hoch genug einschätzen kann.
1.1 Ein kurzerhistorischerExkurs
Historisch betrachtet ist diese Art des Norm-Denkens noch relativ jung. Wirft man einen Blick ins Mittelalter oder die Renaissance, bezog sich die Strafe stets auf die Tilgung eines Verbrechens, beziehungsweise auf die Wiederherstellung, der durch das Vergehen gebrochenen Ehre des Souveräns. In den meisten westlichen Gesellschaften von heute reicht die Feststellung eines begangenen Verbrechens nicht mehr aus. Findet sich ein geständiger Angeklagter vor Gericht wieder, kommt es zusätzlich noch zur Frage nach Motiven und Persönlichkeit. Der zuständige Experte bei dem man die Antwort sucht, ist in der Regel der psychiatrische Gutachter. Statt weiterhin das Verbrechen zu strafen, geht man dazu über, die Person des Täters selbst zu strafen. Über den Umweg von Motiven, Charakter und Biografie entsteht ein völlig neues Wissen und damit einhergehend auch eine neue wissenschaftliche Methode. Dem Gutachter kommt nun die Aufgabe zu, die Kausalzusammenhänge zwischen der begangenen Tat und der Person des Täters herzustellen. Mit diesem Akt ändert sich schlagartig auch die Vorstellung von Schuldfähigkeit: sie wird zu etwas Subtilerem, etwas was nicht mehr nur an einen Bewusstseinszustand gekoppelt ist, sondern zu etwas was objektiv erfassbar wird.
Es bilden sich ganze Kataloge von neuen Kriterien und Kategorien heraus, die sämtlich der medizinischen Pathologie entliehen sind. Eines der wichtigsten wird zum Beispiel die Nachvollziehbarkeit eines Verhaltens oder der Persönlichkeit des Täters. Das neue Credo lautet, umso rationaler erklärbar eine begangene Tat ist, umso eher ist ihr Täter auch schuldfähig. Ist die Tat hingegen nicht nachvollziehbar, wird die Vermutung laut, dass der Täter krank sei.
In dieser Entwicklung setzt sich auch die Abstellung auf die Gefährlichkeit, als Voraussetzung der Internierung in eine psychiatrische Klinik durch. Doch an die Stelle, wo vorher noch die Verantwortlichkeit des Einzelnen stand, trittjetzt eine fiktive Zukunftsprognose, gestützt durch etwaige Normabweichungen und der Persönlichkeit des Täters. Die Strafe selbst wird zu einer Präventionsmaßnahme zum Wohle der Gesellschaft; die Vorstellung von Sühne und Wiedergutmachung tritt hingegen mehr und mehr in den Hintergrund. An dieser Stelle zeichnet sich allmählich folgendes Problem ab: Wenn das Rechtssystem sich eigentlich darauf richtet unerlaubte Handlungen zu sanktionieren, wie rechtfertigt man dann eine Unterbringung aufgrund einer potenziellen Gefahr, bei der noch keine Tat verwirklicht wurde? Plötzlich reichen die Mittel der Justiz, in Bezug auf die Schuldfähigkeitsbeurteilung, nicht mehr aus und man muss Psychologen und Ärzte in den Prozess miteinbeziehen. Man legt die Hoffnung in die Hände des Sachverständigen, dessen Gutachten dazu in der Lage sein soll, die Persönlichkeit des Verbrechers zu (re-) konstruieren, - doch der Bezug zum begangenen Verbrechen selbst, bleibt in aller Regel weiterhin im Dunkeln.
Durch die Akzeptanz dieser neuen Praktiken wird es unweigerlich auch möglich eine Schuldfähigkeit oder eine notwendige Unterbringung in eine psychiatrische Anstalt, anhand verschiedenster Normabweichungen und Charakterzüge abzuleiten. Im Umkehrschluss werden Verbrecher und Verbrechen also zu etwas, was man aus der Psychologie und ihren Diagnostikmanualen ableiten, vorhersehen und korrigieren kann. Damit verzweigen sich ein juristischer und ein psychologisch-medizinischer Diskurs zu einem kaum mehr zu durchschauendem Geflecht an Methoden und Begrifflichkeiten, denen diese Arbeit gewidmet ist. Das Ziel ist eine Diskussion darüber zuführen, wie wissenschaftlich und sicher das für den Schuldfähigkeitsbeurteilungsprozess herangezogenen Wissen tatsächlich ist.
1.2 Eine Brücke zwischen Empirie und Hermeneutik
Ein zentraler Denkanstoß ist die Überlegung, ob eine rein empirische Betrachtung dieses Themenkomplexes, nicht unweigerlich zu einer verkürzten Sicht führt. Bis heute besteht jedoch das Problem, dass die Psychologie weder so richtig als Natur- noch als Geisteswissenschaft Fuß gefasst hat. Bevor sich die empirische Psychologie - unter anderem durch die frühen Experimente von Wilhelm Wundt -, zu einer Naturwissenschaft mauserte, war sie noch tief in der Philosophie verwurzelt (eine Entwicklung, die man an dem geisteswissenschaftlichen Strang von Psychoanalyse und Tiefenpsychologie noch gut herauslesen kann). An den meisten Institutionen wird sie, aufgrund ihrer statistischen Verfahren und empirisch ausgerichteten Forschung, als Naturwissenschaft behandelt. Einen Beleg bleibt sie aber weiterhin schuldig, denn außerhalb dieser Verfahren wird bis heute mit Introspektion, Interpretation, Deutung und Kommunikation gearbeitet.
Die vorliegende Arbeit möchte den Versuch unternehmen, zwischen diesen beiden Lagern eine Brücke zu bauen und am Beispiel des psychiatrischen Gutachtens verdeutlichen, wie erkenntnisfördernd und konstruktiv diese Annäherung sein kann. Gerade in dem Diskurs über die Schuldfähigkeit vor Gericht, verschwimmen zwei komplexe Spezialwissenschaften zu einem Verwaltungsapparat, der täglich über das Schicksal vieler Menschen entscheidet. Er bildet eine Praxisschnittstelle zwischen einer Vielzahl an Disziplinen (Psychologie, Rechtswissenschaft, Soziologie, Pädagogik, Medizin), bei deren Zusammenfallen, die Gefahren und Grenzen von rein empirischen Methoden, besonders eklatant zu Tragen kommen. Häufig fällt es den Personen in diesen Einzelbereichen schwer, die Arbeit des anderen nachzuvollziehen. Die enorm angewachsenen Wissensbestände, sind für einen Fachfremden kaum noch antizipierbar. Als rein naturwissenschaftliche Disziplin, folgt die Psychologie einem Objektivitätsideal, welches sie nicht erfüllen kann; außerdem gerät ihr durch eine (ausschließlich) empirische Ausrichtung die Potenz abhanden, gesellschaftliche Verbesserungen und Normen abzuleiten. Als (reine) Geisteswissenschaft hingegen, fehlt ihr das Fundament um allgemeingültige Erkenntnisse zu gewinnen, womit sie wieder hinter vagen Ödi- puskomlexen und Traumdeuteleien zurückfällt.
Die Beantwortung der Frage, ob die Psychologie noch im strengen Sinn eine Naturwissenschaft objektiver Art ist, will sich die vorliegende Arbeit nicht anmaßen. Sie ist primär wissenschaftstheoretischer und philosophischer Natur. Auch die bislang alternativlose Tatsache, dass Personen die eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen, aus pragmatischen Gründen weggesperrt werden, soll hier nicht zur Diskussion stehen. Es soll lediglich der Versuch unternommen werden, anhand des Schuldfähigkeitsgutachtens, die Notwendigkeit von Interdisziplinarität zu verdeutlichen, um sich nicht auf einzelne Diagnostikkriterien und Wahrscheinlichkeitsprognosen zu versteifen. Dies gilt umso mehr, da der breite Konsens sich immer mehr in Richtung künstliche Intelligenz entwickelt. Ob Lügendetektoren, Überwachungskameras oder Magnetresonanztomografie, all diese Hilfsmittel sollten eigentlich immer nur als das dienen was sie sind - Hilfsmittel für eine ganzheitliche und individuelle Betrachtung, die stets aufs Neue angestellt werden muss (Komorowski etal., 2019).
Die zentrale Frage lautet also, ob es zu fehlerhaften Gutachten, Unterbringungen und Schuldsprüchen kommt, worauf sie zurückzuführen sind und ob sie sich verhindern lassen. Gibt es erkennbare Muster, wie manche zu diesem Thema denken oder eine historisch erkennbare Entwicklung, die zu einem umfassenderen Krankheitsbegriff tendiert? Die Fragestellungen und Hypothesen die im nächsten Kapitel abgeleitet werden, sind stets in diesem ganzheitlichen Rahmen zu verstehen, eingebettet in einem interdisziplinären Diskurs. Dabei gilt die wohlfeile Floskel, „drei Juristen vier Meinungen“ mindestens ebenso für den psychiatrischen Sachverständiger. Nicht selten wird bei einer gutachterlich attestierten Schuldfähigkeit nach einer Revision, von einem neuen Sachverständigen, eine Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit prädiziert. Solche Urteile entscheiden bei den Angeklagten letztendlich über ihr ganzes Leben - Freispruch, Psychiatrie oder doch lieber lebenslange Haft?
2 Theoretischer Hintergrund
Um fürjeden Leser, unabhängig seiner Disziplin, eine gemeinsame Grundlage zu schaffen, beginnt dieses Kapitel mit der Klärung der wichtigsten Begriffe rund um das Schuldfähigkeitsgutachten. Anschließend folgt eine Diskussion über die zugrunde liegende Vorstellung von Krankheit, deren Ursprung und deren Konsequenzen.
2.1 Die Grundlagen des psychiatrischen Gutachtens
Die Gedanken und Inhalte der vorliegenden Arbeit setzen ein tieferes Verständnis des psychiatrischen Gutachtens zur Schuldfähigkeit vor Gericht voraus. Da es sich dabei um ein interdisziplinäres, aber gleichzeitig auch um ein sehr spezielles Wissensfeld handelt, sollen in diesem Kapitel die wichtigsten Voraussetzungen und Begriffe verständlich gemacht werden. Die Begriffe bauen dabei aufeinander auf, weshalb zunächst die Schuld selbst, die Schuldfähigkeit und die vier Eingangsmerkmale beschrieben werden; anschließend folgt der zweistufige Prozess der Begutachtung.
2.1.1 Schuld
Schuld stellt im Strafrecht einen der zentralen Grundpfeiler des modernen Rechtssystems dar. Sie bildet die Voraussetzung für Strafe und resultiert aus dem Rechtsprinzip, sowie den Artikeln 11 und 211 des Grundgesetzes, - der Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Thil- mann, 2007). Auch in den Rechtswissenschaften herrschen nicht immer einheitliche Begriffe, doch gegenüber einigen alternativen Schuldkonzeptionen hat sich die normative Schulddefinition weitestgehend durchgesetzt. Diese besagt: Schuld ist die normative Vorwerfbarkeit einer pflichtwidrigen Willensbildung oder Betätigung (Krümpelmann, 1988). Im Umkehrschluss wird somit die Möglichkeit des anders Handeln-Könnens immer vorausgesetzt.
Um den juristischen Schuldbegriff definieren zu können, muss vorerst auf das Unrecht einer Tat verwiesen werden. Jedes Verbrechen besteht zunächst aus einem strafbestandsmäßig-rechtswidrigen Verhalten (Ziegert, 1987). Dies kann in Form von einem Handeln oder einem Unterlassen geschehen (Kröber, 2011). Der Nachweis dieser Rechtswidrigkeit erlaubt jedoch nur eine Beurteilung der Tat, im Sinne eines fraglichen Verhaltens, das den sozialen Erwartungen widerspricht. Deshalb ist in diesem Zusammenhang ein weiterer Aspekt essentiell - die Verantwortlichkeit (Neumann, 1985; Ziegert, 1987). Erst wenn die Tat dem Urheber persönlich auch zugerechnet werden kann, kann man von Schuld im juristischen Sinne sprechen (Kröber, 2011). So taucht dieser normative Schuldbegriff - in einer mehr oder weniger ausgeschliffenen Form -, im Laufe des 19. Jahrhunderts auf (Stü- binger, 2000).
Mit dieser axiomatischen Annahme sind auch heute bei weitem nicht alle einverstanden (Schmidt-Recla, 2000). Aber auch harte Determinismus-Anhänger, die mit der Neurowissenschaft das Strafsystem revolutionieren wollten (Roth, 1997; Singer, 2003), relativieren inzwischen ihre steilen Thesen. An dieser Stelle soll nicht näher auf die sozial-philosophischen Probleme eingegangen werden, die mit dieser Debatte einhergehen. Im Sinne Ro- xins (2015) wird Schuld hier, als eine pragmatische und notwendige Annahme angesehen, deren Voraussetzungen als rechtliches Regulationsprinzip unser unversehrtes Zusammenleben erst ermöglicht. Und dafür spielt es letztlich keine Rolle ob es sich bei der Willensfreiheit um eine Fiktion oder eine Tatsache handelt, da wir im Alltag ohnehin danach leben, als ob wir einen freien Willen (oder freien Unwillen; Libet, 2014) hätten. Auch in der juristischen Praxis ist es sekundär, ob ein Täter auch hätte anders handeln können. Nach Thilmann (2007) reicht es bereits aus, dass es in einer Situation der durchschnittlichen Person hätte zugemutet werden können, sich normgemäß zu verhalten, da der Gesetzgeber Willensfreiheit schlichtweg unterstellt und damit sämtlichen deterministischen Kritikpunkten eine Absage erteilt. In bestimmten Ausnahmefällen kann es jedoch notwendig sein, sich mit dieser Thematik etwas näher auseinanderzusetzen. Und an dieser Stelle steht die Frage nach der Schuldfähigkeitsbeurteilung (Kröber, 2020; Krümpelmann, 1988).
All diese Merkmale die zur Schuldfähigkeitsbeurteilung psychologisch in Betracht kommen, sind paradoxerweise Argumente, die von einer Determinierung des Täters ausgehen. So spielen zum Beispiel die persönliche Situation des Täters, seine Entscheidungen, genetische Dispositionen, Sozialisierung, Lernvorgänge und deren Auswirkungen auf die Tat eine entscheidende Rolle (Kröber 2020; Thilmann, 2007). An dieser Stelle braucht es also eine gute Begründung, warum all diese determinierenden Aspekte zur Klärung der Schuldfrage überhaupt in Betracht kommen, wenn so etwas wie ein freier Wille als gegeben vorausgesetzt wird.
Bevor man die mildernden Umstände in das Gesetz integrierte, konnte es sein, dass man mit dem Aussprechen von harten Strafen haderte, da die Beweislast nicht eindeutig war (Foucault, 2007). Zwar wird durch deren Einführung die Strenge des Gesetzes ein wenig abgefedert, auf der anderen Seite gibt es somit aber auch weniger Freisprüche, da man einen größeren Interpretationsspielraum hat. Nach Foucault (2007) hält durch genau diesen Umstand auch ein Grad an Mutmaßung Zugang zum Urteil, da man die Härte der Strafe auch abhängig von der eigenen Unsicherheit (oder der Unsicherheit der Beweise) variieren kann. Heute rückt man vor allem die Motivation, als selbstständiges Schuldelement, neben Vorsatz und Fahrlässigkeit. Dies bedeutet, dass nicht mehr der bloße Vorsatz die Schuld begründet, sondern die Zurechnungsfähigkeit, Fahrlässigkeit, Zumutbarkeit von normgemäßem Verhalten und das Fehlen besonderer Schuldausschließungsgründe, treten als weitere Voraussetzungen hinzu. Diese sind in §19 des StGB beschrieben. Wie Kröber (2009) dezidiert betont, ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit keine biologische, sondern eine soziale Variable, die psychodiagnostisch anhand der zum Tatzeitpunkt vorliegenden Schwächen und Stärken des Täters individuell beurteilt wird (Kröber, 1995), - sie liegt also im Subjekt Täter begründet und nicht in der Tat. Bis auf ein paar Ausnahmen, nimmt das Gesetz an, der Mensch könne zwischen seinen Handlungen frei wählen.
2.1.2 Die Schuldfähigkeit §§ 19, 20, 21
Bereits im 18. Jahrhundert werden die Rufe nach einer verminderten Zurechnungsfähigkeit lauter (Enz, 2016; Schnarr, 2001). Doch in den frühen Erörterungen zur Schuldfähigkeit, wurde von den Psychiatern weniger die Gesetzgebung, als die rechtsphilosophischen Begriffe der deutschen Idealisten (Hegel, 2004; Kant, 2009) herangezogen. Es galt den Bewusstseinszustand zu benennen und dessen Auswirkungen auf die freie Willensbestimmung zu erörtern (Kröber 2020); daran hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert. 1933 findet die verminderte Schuldfähigkeit als fakultativer Strafmilderungsgrund (mit einigen Korrekturen durch den Sturz des Nationalsozialismus; Kröber, 2020), Eingang in das deutsche Strafgesetzbuch (Stübinger, 2000; Thilmann, 2007). Umgekehrt mischen sich durch die implementierte Strafmilderungjetzt auch Erkenntnisse über den Täter neben tatbezogenen Fakten, mit in das Urteil ein. Neben der Tat selbst, erhalten somit unterschiedliche Einschätzungen, wie zum Beispiel die Besserungsfähigkeit, bestimmte Grade von Krankheit oder psychischer Störung Einzug in das Urteil und das Rechtssystem (Foucault, 1993). An dieser Schnittstelle beginnen sich der juristische und der psychiatrische Diskurs nun, wie in der Einleitung beschrieben, miteinander zu vermischen. Durch die hohe Stellung des psychiatrischen Gutachtens, wird in erster Linie auf den Täter abgezielt und nicht auf die begangene Tat. Die Erhebungen des Sachverständigen und der diagnostischen Manuale kreisen aber um die verschiedenen Denk- und Lebensweisen der Betreffenden. Eine Analyse des Willens reicht nicht mehr aus, die gesamte Tat muss in die psychosozialen Daten des Täters eingebettet werden und vice versa.
Schuldausschließungs- oder Schuldmilderungsgründe treten lediglich bei Personen in Kraft, die entweder unfähig sind das Unrecht ihrer Tat einzusehen oder entsprechend dieser Einsicht zu handeln (Dessecker, 2001). Nach §19 StGB ist zum Beispiel grundsätzlich jeder nicht schuldfähig, der den gesetzlich postulierten Reifegrad noch nicht erreicht hat. Dieser wird aber mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres, automatisch von jedem Bürger vorausgesetzt (Thilmann, 2007). Das StGB geht wie bereits besprochen von einer negativen Definition der Schuldfähigkeit aus, da ihre Existenz von vornherein angenommen wird und lediglich bei genau festgelegten Ausnahmefällen eine Schuldunfähigkeit statuiert wird (Thilmann, 2007). Diese finden sich in den von §§20 und 21 festgelegten Regelungen zur ausgeschlossenen/ beeinträchtigten Schuldfähigkeit. Beide erfordern das Vorliegen einer seelischen Störung und sind abhängig von deren Intensität, wie deren Beeinträchtigung auf die Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit (Cording & Nedopil, 2014).
All diese Begriffe finden immer nur auf der individuellen Ebene Anwendung, bezogen auf eine konkrete Tatsituation (Nedopil, 2000). Dieses zeitliche Zusammenfallen von Vorsatz und Tatzeitpunkt ist unter dem sogenannten Koinzidenzprinzip zusammengefasst (Thilmann, 2007). Auch wenn die Kriterien für §§ 20 und 21 die gleichen sind, zieht ein Urteil nach §21 eine Schuldfähigkeit mit Strafe nach sich; die verminderte Schuldfähigkeit fällt dementsprechend lediglich Schuld mildernd aus. Ebenfalls kann eine Einweisung in den Maßregelvollzug die Folge sein (Dessecker 1997; Nedopil, 2000). Aus diesem Grund sollen diejenigen, welche aufgrund einer Persönlichkeitsstörung in ihrer Verantwortlichkeit eingeschränkt sind, auch anders bestraft werden. Anstelle einer befristeten Haft steht dann unbefristete Internierung in einer psychiatrischen Klinik.
Die Aburteilungen zur Schuldunfähigkeit sind im Vergleich zur verminderten Schuldfähigkeit sehr gering. 1995 erhielten lediglich um die 0,14% aller Urteile (Nedopil, 2000) - und um die 0,25% (Lymburner & Roesch, 1999) -, ein Urteil zur Schuldunfähigkeit. Trotz Unterschiede in Gesetzen und Jurisdiktion, scheinen die geringen Zahlen zur Schuldunfähigkeit in westlichen Kulturkreisen, bis heute eine anthropologische Konstante zu bilden.
Als Voraussetzung dieser Urteile, hat man um 1975 schließlich, die bis heute gültigen Kriterien der Schuldfähigkeit im Gesetz etabliert (Thilmann, 2007) - die „krankhafte seelische Störung§, der (begrifflich unzeitgemäße - Schiemann, 2019; Steinböck, 2001) „Schwachsinn“, die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ und die bislang nur als Strafmilderungsgrund geltende, „schwere andere seelische Abartigkeit“ (Schmidt & Scholz, 2016).
2.1.3 Die vier Eingangsmerkmale
Diese vier Eingangsmerkmale sind weder rein psychologische, noch medizinische oder juristische Begriffe. In der krankhaften seelischen Störung und dem Schwachsinn lassen sich klassisch medizinische Wurzeln finden, während die tiefgreifende Bewusstseinsstörung und die schwere andere seelische Abartigkeit primär juristischen Ursprungs sind (Nedopil, 2000). Sie sind das perfekte Beispiel dafür, wie sich das Wissen der Psychologie mit dem der Rechtswissenschaften vermischt. Diese begriffliche Unschärferelation ist nicht selten der Auslöser für Verständnisprobleme zwischen Psychologen und Rechtswissenschaftlern. Da es sich bei den Methoden zur Feststellung dieser Eingangsmerkmalen ebenfalls nicht um klassische medizinisch-psychiatrische Diagnosen handelt, sind die Kriterien von ICD und DSM auch nicht ausreichend um diese vorherzusagen (Gretenkort, 2000; Kröber, 1995; Schiemann, 2019;). In erster Linie ist eine quantitative Abschätzung notwendig, sowie deren Auswirkung auf die konkrete Tat (Nedopil, 2000).
Die tiefgreifende Bewusstseinsstörung bezieht sich hauptsächlich auf psychisch gesunde Affekttäter. Das Attribut tiefgreifend soll verdeutlichen, dass eine Störung über den Bereich des Normalen überschritten hat (Schiemann, 2019). Zwar gibt es auch zu diesem Thema bis heute Debatten über die Validität der Erfassung (Glatzel, 1993; Krümpelmann, 1988), doch handelt es sich dabei primär um ein rechtsphilosophisches und kein psychopathologisches Thema, weshalb hier nicht näher darauf eingegangen werden soll.
Mit dem diskriminierenden Begriff (Schiemann, 2009; Steinböck, 2001) Schwachsinn bezeichnet man leichte bis schwere Stufen einer angeborenen Intelligenzminderung, die keine nachweisbare Ursache haben (Perron, 2019). Moderneren Klassifikationssysteme (und ausländische Gesetzgebungen) kodieren ihn bereits begrifflich als Intelligenzminderung.
Die krankhafte seelische Störung bezieht sich in erster Linie aufKrankheiten die einen organischen Ursprung haben. Dazu zählen unter anderem Störungsbilder aus dem schizophrenen oder manisch-depressiven Kreis, sowie hirnorganische Zustände durch Intoxikationen (Schmidt & Scholz, 2003). Auch degenerative Erkrankungen (Demenz) und körperlich bedingte psychische Anomalien sind hier zu verorten, wenn sie nicht mehr in einem „sinnvollen Erlebniszusammenhang“ (Thilmann, 2007) stehen.
An dieser Stelle ist vielleicht noch zu betonen, dass eine Krankheit keine erwiesene organische Ursache haben muss, sondern diese auch einfach unterstellt werden kann. Dies trifft vor allem bei affektiven Psychosen oder der Schizophrenie zu, für die bislang immer noch keine evidente oder allgemein anerkannte Ursache gefunden wurde. Der Begriff wurde von dem Psychiater Kurt Schneider kodifiziert und neben exogenen und endogenen Psychosen, werden auch intellektuelle Minderbegabungen mit bekannter Genese gezählt (Dessecker, 1997).
Die tiefgreifende Bewusstseinsstörung bezieht sich primär auf Affekte, während der Schwachsinn sich auf intellektuelle Minderbegabungen (wie zum Beispiel Oligophrenie) ohne organische Genese bezieht (Schiemann, 2019). Intelligenzdefekte infolge hirnorganischer Prozesse fallen also unter die krankhafte seelische Störung; solche ohne nachweisbaren Organbefund unter den Schwachsinn.
Die schwere andere seelische Abartigkeit ist das letzte der vier Eingangsmerkmale und erfährt gewissermaßen eine Sonderstellung. Sie ist ein Sammelbegriff, für Auffälligkeiten, die von den anderen Merkmalen nicht erfasst werden. Aufgrund des restriktiven Krankheitsbegriffs, wollte man mit einem zusätzlichen Merkmal Störungen erfassen, die rein seelisch bedingt sind (z.B. Neurosen und Psychopathien) oder sich nicht in Form eines Organprozesses entwickelt haben (Kröber, 1995; Schiemann, 2019). Sie reicht von somatoformen Störungen, Paraphilie, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, bis hin zum pathologischen Spielen. Obwohl sie eine Art Restkategorie ist, wird sie bei der De- und Exkulpierung am häufigsten verwendet (Nedopil, 2000). Nach Rasch (1986) muss die Funktionsbeeinträchtigung der Störung in ihrer Ausprägung oder in den aus ihr resultierenden, sozialen Einbußen einer psychotischen Störung gleichkommen. Laut § 20 StGB, reichen bereits nicht krankheitsbedingte Abweichungen von der Durchschnittsnorm, insofern diese „erheblich“ sind (Thilmann, 2007). Der Begriff der schweren anderen seelischen Abartigkeit wurde erst ab 1975 durch eine Strafrechtsreform ergänzt. Von diesem Zeitpunkt stiegen die Fälle von verminderter Schuldfähigkeit an, vor allem bei Delikten wie Raub, Vergewaltigung und Tötung. Die Rate bei Totschlag zum Beispiel betrug um 1950 noch etwa 33%, während sie in den Neunzigern bereits bei 50% angekommen ist. Auch bei Mord stiegen die Raten in derselben Zeit von 19% auf 31% (Kröber, 2009). Dieses Phänomen ist laut Kröber (2009) mehr dem alkoholischen Rausch, als den Persönlichkeitsstörungen zuzuschreiben.
Die Grenzen der Eingangsmerkmale untereinander sind bei weitem nicht so statisch, wie man annehmen mag. Nedopil (2000) nennt zum Beispiel die dissoziale Persönlichkeitsstörung, die durch neuere Forschung auf biologische Ursachen zurückgeführt werden konnte, aber in der Regel weiterhin unter der schweren anderen seelischen Abartigkeit zusammengefasst wird. Vor allem die schwere andere seelische Abartigkeit ist aus psychologisch-psychiatrischer Sicht schwierig zu beurteilen. Der Begriff der „Schwere“ ist ein
Rechtsbegriff, der mit den diagnostischen Krankheitskriterien nicht eingeschätzt werden kann (Schiemann, 2019). So indiziert häufig bereits der Krankheitswert einer Störung, eine schuldrelevante Schwere nach § 20, während die schwere andere seelische Abartigkeit nur in seltenen Fällen für eine Schuldunfähigkeit ausreicht (Thilmann, 2007). Nur diejenigen Abartigkeiten gelten als schuldrelevant, die eine nachhaltige Persönlichkeitsbeeinträchtigung des Täters mit sich bringen und seine Handlungsfähigkeit außer Kraft setzen. Wir werden an anderer Stelle auf dieses Problem zurückkommen.
2.1.4 Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit
Nachdem der Angeklagte einem Eingangsmerkmal zugeordnet wurde, folgt seine Einschätzung auf die Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit (Dobbrunz & Briken 2020; Nedopil 2000; Thilmann 2007). Es wird davon ausgegangen, dass eine psychische Krankheit, die zum Verlust einer „Realitätsprüfung“ (Kröber 2020) führt, die Selbstbestimmung oder den freien Willen derjenigen Person aufhebt. Unabhängig von einer Beeinträchtigung, leitet sich aus den klinisch begründeten Beobachtungen der Verhaltensmöglichkeiten, die Steuerungsfähigkeit ab - die Fähigkeit zu einsichtsgemäßem Handeln (Kröber, 2020). Das Strafrecht erfordert eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob in einem Problembereich „ein reales Zukunftswissen mit der erforderlichen Appellfunktion für die Verhaltenssteuerung gegeben ist, oder ob lediglich Bewusstseinsvorgänge nach der Art von Tagträumen oder Phantasien vorliegen, die keinen bewussten Realitätsgehalt aufweisen und deshalb die Steuerungsinstanz desMenschen nichtansprechen(Behrendt, 1983 S.28).“
Auch wenn man seit Anbeginn der modernen Psychiatrie meint, diese Fähigkeiten zur Realitätsprüfung ablesen zu können, erweist sich die Frage nach einer verminderten Schuldfähigkeit als ungleich schwieriger. Wie bereits ausgeführt wurde, gibt es zur Prüfung ein zweischrittiges Verfahren, welchesjetzt näher erläutert werden soll. Zunächst wird erörtert, ob die Einsicht das Unrecht einer Tat einzugestehen vorhanden ist (Einsichtsfähigkeit). Und anschließend im zweiten Schritt, ob der Betreffende entsprechend dieser Einsicht hat handeln können (Steuerungsfähigkeit). Eine knappe und praktisch anwendbare Definition der Steuerungsfähigkeit gibt es dabei nicht (Janzarik, 1993). Deshalb muss die Grenze zwischen der verminderten und aufgehobenen Steuerungsfähigkeit, stets von der Rechtsprechung neu austariert werden (Nedopil, 2000). Das Problem dabei ist: Die Bestimmung der Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt ist retrospektiv genauso schwer zu erfassen, wie die tatsächliche Motivation des Täters. Laut Nedopil (2000) lässt sich dieses Wissen bestenfalls mittelbar rekonstruieren, da diese Erkenntnis aus einer Fremdperspektive nicht objektiv erfassbar ist - sprich, mit empirischen Mitteln nicht sicher feststellbar ist.
2.1.5 Eine zweistufige Feststellungsmethode
Da es sich bei der Beurteilung der Schuldfahigkeit also nicht um empirisch beweisbare Fakten handelt (Kröber, 2020; Nedopil, 2000; Thilmann, 2007), geht man von dem im ersten Kapitel beschriebenen normativen Schuldbegriff aus, so kann man diesem Dilemma mit einem Kunstgriff entgehen, - dem psychiatrischen Gutachten. Dabei dienen die Art der Diagnosen und deren Beeinträchtigungen als Hauptbeurteilungskriterium. Zwar lassen sich auch diese Störungen nicht immer körperlich messen (da sie sich nicht körperlich manifestieren), aber man geht von einer sukzessiven Annäherung über das qualitative psychiatrische Gutachten aus (Kröber, 2020; Nedopil, 2000). Man vergleicht das erhobene Wissen und Verhalten des Straffälligen, sowie die inneren und äußeren Umstande, mit der vorherrschenden Norm (Jahnke, Laufhütte & Odersky, 2005). Die Schuld wird dabei als subjektive Zurechnung normabweichenden Verhaltens betrachtet, wenn von anderen in derselben Situation normgerechtes Handeln erwartet werden kann (Schreiber & Rosenau, 2004) oder der Tater dabei hatte anders handeln können (Witter, 1990).
Der Gutachter wird primar dann eingeschaltet, wenn es gemaß §§ 63, 64 und 66 StGB um eine Einweisung oder Entlassung (§ 67 d II StGB) des Maßregelvollzugs, eine Entlassung aus lebenslanger Haft (§ 57 a StGB) oder eine Aussetzung zur Bewahrung von Reststrafen bei Verurteilungen von über zwei Jahren geht (bei Straftatern die wegen Sexualdelikten oder gefahrlicher Straftaten verurteilt wurden). Außerdem bei Prüfungen der Eingangsmerkmale für aufgehobene und verminderte Schuldfahigkeit, bei Sozial- oder Kriminalprognose, bei Sicherungen von psychisch kranken Rechtsbrechern (§§ 63, 64, 67d StGB) und ebenso bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63) oder der Sicherungsverwahrung (§ 66).
In all diesen Fallen spielt das psychiatrische Gutachten eine entscheidende Rolle. Es folgt der erste Schritt der psychisch-normativen Methode zur Schuldfahigkeitsprüfung (Je- scheck & Weigend, 1996). Er besteht zunachst in der Zuordnung des Eingangsmerkmals; dafür soll die Schwere der Abartigkeit beschreiben werden, um im zweiten Schritt die daraus resultierende Beeinträchtigung auf die Steuerungsfahigkeit ableiten zu können (Dobbrunz, Briken 2020; Nedopil, 2000).
Der Blick richtet sich dabei auf den Einzelfall, wie sich eine bestimmte Störung auf die psychische Verfassung eines Täters auswirkt und gegebenenfalls dessen Steuerungsfähigkeit aufhebt. Der Verlauf dieser Exploration und der wertende Vergleich, den der Gutachter dafür anstellen muss, werden maßgeblich von der Person des Befragenden mitbestimmt, was zu einer subjektiven Beeinträchtigung führt (Kröber, 2011; Thilmann, 2007). Sollte eine solche Beeinträchtigung vor Gericht augenfällig werden, ist das entsprechende Urteil revisionsgerichtlich anfechtbar. Nicht selten kommt es zu solchen fehlerhaften Beurteilungen, zum Beispiel in Bezug auf eine fehlerhafte Unterbringung in der Psychiatrie oder eine mangelhafte Gefährlichkeitsprognose (Kröber, 2020). Wie hoch die Dunkelziffer ist und wie viele Mängel übersehen werden, lässt sich nur schätzen. Die durch die revisionsgerichtliche Aufdeckung dieser fehlerhaften Gutachten und Unterbringungsgründe sollen eines der zentralen Elemente der vorliegenden Arbeit bilden.
Fragestellung 1: Wie häufig kommt es bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit zufehlerhaften Gutachten undfehlerhaften Urteilen aufEbene derLandgerichte?
Da der reine Krankheitswert einer psychischen Störung aber noch nicht ausreicht, folgt noch eine weitere Überlegung im zweiten Beurteilungsschritt. Es gilt herauszufinden ob die Krankheit im konkreten Fall eine Funktionsstörung zur Folge hatte, welche die freie Willensäußerung zum Tatzeitpunkt ausschließt (Kröber, 2009). Voraussetzungen dieser freien Willensäußerung sind nach Kröber (2009) eine intakte Kritik- und Urteilsfähigkeit. Die Frage lautet, ob der Täter wegen einer psychischen Störung zum Tatzeitpunkt fähig war, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Dabei sollten Unrechtseinsicht und Steuerungsfähigkeit theoretisch streng auseinandergehalten werden sollen (Boetticher et al., 2007; Dessecker 1997; Thilmann, 2007).
In der Praxis ist die Frage nach dem Vorhandensein einer schweren anderen Abartigkeit, woran man sie genau erkennt und ob eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt vorliegt, nicht so einfach zu beantworten (Kröber, 2020). Häufig bedient man sich dabei der Planmäßigkeit des Handelns als Krücke, was methodischjedoch problematisch sein kann (Boetticher et al., 2007; Kröber 2020). Auch das Zuordnen einer Störung - wie zum Beispiel der Schizophrenie, bei der man bis heute unsicher ist, wie genau sie somatisch oder psychisch entsteht -, macht die Festlegung auf eines der Eingangsmerkmale schwierig. Diese Zuordnung kann aber bereits dafür ausschlaggebend sein, ob eine Person für eine unbefristete Zeit interniert wird (Schiemann, 2019). Als roter Faden sollen hier noch zwei weitere zentrale Fragestellungen an die Hand gegeben werden:
Fragestellung 2: Wie verteilen sich Straftaten und Diagnosen auf die Eingangsmerkmale?
Fragestellung 3: Werden die krankhafte seelische Störung und die schwere andere seelische Abartigkeit vor Gericht in Bezug auf stattgegebenen Revisionen, Haftdauer und Schuldfähigkeit ungleich behandelt?
Bevor wir diese Fragenjedoch ausführlicher diskutieren können, ist es sinnvoll, sich vorher noch einmal über die allgemeinen Erkenntnisgrenzen und deren historischen Entwicklungen der Krankheitsmanuale zu beschäftigen, da viele Hürden bereits hier beginnen. Währenddessen werden auf Basis dieser Fragestellungen noch einige Arbeitshypothesen abgeleitet.
2.2 Probleme und Grenzen
Die bisherigen Ausführungen haben sich in erster Linie auf die theoretischen Grundlagen des Schuldfähigkeitsgutachtens bezogen. Doch wie man vielleicht schon vermuten mag, verläuft dieser Prozess in der Praxis keineswegs immer so lehrbuchhaft. Im nächsten Kapitel soll näher auf die Fallstricke des Begutachtungsprozesses und deren mögliche Konsequenzen eingegangen werden. Wie bereits ausgeführt, stellt dessen Beurteilung keine rein juristische und keine rein psychiatrische Frage dar. Ihre Beantwortung ist äußerst voraussetzungsvoll und sollte nicht leichtfertig getroffen werden (Boetticher et al. 2007).
Ähnlich wie bei den organischen Krankheiten, versucht man Symptome oder Kriterien in Gruppen zusammenzufassen und diese aus Wahrscheinlichkeitsaussagen abzuleiten. Deshalb ist es sinnvoll, zunächst über die verschiedenen Arten von diagnostischen Modellen und Methoden zu diskutieren. Anschließend folgen die Vorteile, Limitationen und Probleme, die diese mit sich bringen. Mögliche Ursachen für letztere, sieht die vorliegende Arbeit in dem Relikt eines überholten somatischen Krankheitsbegriff, der bis heute von vielen als vom Psychischen getrennt betrachtet wird (Schiemann, 2019).
2.2.1 Die Diagnostiken und Modelle der Psychopathologie
Aus psychiatrischer Sicht kann man Kraepelms triadisches Modell (sowie die Weiterentwicklungen von Kretschmer und Jaspers), als Vorläufer der modernen Diagnostik und die Einteilung der psychischen Krankheiten sehen. Nach Nedopil (2000) hat dieses auch die gesetzlichen Vorgaben der Schuldfähigkeit maßgeblich beeinflusst. Kraepelin (2017) postuliert darin drei Unterkategorien psychischer Krankheit: organische Erkrankungen, endogene Psychosen und abnorme Spielarten des seelischen Wesens. Damit ist auch der Grundstein der Eingangsmerkmale gelegt; lediglich die zusätzliche Prüfung der Auswirkungen auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit musste in einer Strafrechtsreform von 1975 ergänzt werden (Nedopil, 2000).
Nach Witter (1990) hat Krankheit für die Psychiatrie eine psychologische (abnorme seelische Erscheinung) und eine medizinische Komponente (deren Rückführung auf eine somatische Krankheit). Nach Nedopil (2000) stellt diese Trennung die Ursache für die spekulative Annahme dar, dass krankhafte Abnormität zu einer Aufhebung der Verantwortungsfähigkeit führt - außerdem spiegele die Psychiatrie Wissen über die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten wider, das bis heute nicht erwiesen ist. Auch wenn man davon ausgeht, dass in den diagnostischen Manualen stets das aktuellste Wissen für Diagnosen zusammengetragen wird, hilft dies bei der Feststellung der Eingangsmerkmale wie bereits ausgeführt nicht weiter. Unabhängig davon müssen auch ICD und DSM viel Kritik einstecken und sind methodisch der Schuldfähigkeitsbeurteilung äußerst ähnlich (Bruner, Müller, Vogel & Briken; 2016). Allein durch die Veränderung und stetige Neuerkenntnis der Wissensbestände in den Humanwissenschaften, erfahren die Kriterien permanent eine Neuerung und somit auch das, was als normal und als pathologisch gilt. Die Frage, ob dieses Wissen immer wieder an die jeweiligen kulturellen, historischen und ökonomischen Verhältnisse angepasst wird oder umgekehrt, dass sich durch dieses Wissen der Blick auf die Gesellschaft und die Norm wieder ändert, soll hierbei ausgeklammert werden.
Die Psychologie macht Anleihen bei der Medizin, die Rechtswissenschaft bei der Psychologie. Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit fließen die Erkenntnisse vieler Disziplinen ineinander, was gelegentlich für Verwirrung sorgen kann. Die Begriffe Krankheit und Bewusstseinsstörung sind für den Juristen (z.B. Fehlen von Besonnenheit) und den Psychiater (z.B. Fehlen von Orientierung) völlig unterschiedliche Dinge (Rauch, 1993). Diese Unschärferelation besteht sogar schon bei den Fachkollegen untereinander: Beck und Kollegen (1962), sowie Kreitmann und Kollegen (1961) kamen in ihren inzwischen etwas älteren Studien zu der Erkenntnis, dass lediglich um die 54 % der Diagnosen erfahrener Psychiater am selben Patienten, zum gleichen Ergebnis kamen.
Dieser bezeichnende Umstand führte den Psychiater und Gerichtsgutachter Norbert Nedopil (2000) vermutlich auch zu der Aussage, dass „die von Fachleuten abgegebenen Diagnosen weder zuverlässig sind noch eine sichere Abgrenzung einer bestimmten Erkrankung zu einer anderen erlauben (S.81)“. Auch Rösier, Hoffmann, Klasen und Hengesch (1993) warnen ausdrücklich vor einer dogmatischen Überbewertung einer kriteriengeleiteten Diagnostik, da das unsystematische Aufgreifen isolierter Einzelelemente, am Ende zu diffusen und folgenschweren Fehlbeurteilungen führt - außerdem verleitet sie zu einem kataloghaften Abarbeiten von bereits vorher bestehenden Annahmen (Dobbrunz & Briken, 2020).
So werden mithilfe von Cluster- und Faktorenanalysen, Merkmale und Symptome extrahiert, um das Pathologische quantitativ erfassen zu können. Nicht wenige vermuten bis heute eine gemeinsame Struktur hinter der organischen Medizin und der Psychopathologie; doch diese Betrachtung kann manchmal einige Schwierigkeiten mit sich bringen (zum Beispiel in Bezug auf die Schizophrenie oder manche Persönlichkeitsstörungen, deren Ursache bis heute ungeklärt sind). Sie sind nicht nur durch gemeinsame Begriffe, sondern durch dieselben Methoden charakterisiert, wie zum Beispiel Symptome in Gruppen einzuteilen und Krankheitsentitäten zu definieren. Die Krankheit wird somit zu einer Art Essenz, die man über die Symptome ablesen kann, in denen sie sich äußert (Foucault, 1968). In dieser Betrachtung der Pathologie spielt die Persönlichkeit des Individuums eine zentrale Rolle: sie wird zu dem Element, in dem sich die Krankheit entwickelt, - also zum Kriterium der Beurteilung und zum Maß der Krankheit zugleich (Foucault, 1968).
2.2.2 Stochastik als wissenschaftliche Methode
Durch die Einführung des Wahrscheinlichkeitsdenkens in die Pathologie, gilt es für die Feststellung einer Krankheit, isolierte, serielle Ereignisse in ihrer Ganzheit wahrzunehmen (Nedopil, 2000; Rasch 1986; Saß 1985). Statt die Individualität einer Krankheit zu eruieren, konzentriert man sich darauf, einzelne Zeichen und Symptome aus Wahrscheinlichkeitsaussagen zu deduzieren. Dabei darf man aber folgendes Problem nicht aus den Augen verlieren: Die Wahrscheinlichkeitsgrade der einzelnen Störung, sind nicht mit der Analyse der Störung selbst, oder deren Schwere gleichzusetzen. So erheben in der Regel hohe Fragebogen-Werte der klinischen Diagnostiken mit ihrer Punktezahl, lediglich eine Wahrscheinlichkeit für die Diagnostizierbarkeit einer Störung - und nicht deren Intensität, Qualität oder Schwere (Grant, Green & Mason, 2018; Schorsch, 1988).
Jedes einzelne Item dient also als Zeichen und damit als ein Indiz stochastischer Gewissheit. Somit wird die Erscheinungsform einer Störung auf eine Relation zwischen Merkmalen verlegt, die diese Störung bezeichnet. Erzielt man beispielsweise zwei positive Wahrscheinlichkeiten und drei negative, ist eine Diagnose mit einer hohen Wahrscheinlichkeit abzulehnen. Sind diese Symptome, Zeichen oder Items aus einer hinreichend großen Masse an Fällen beobachtet, gelten sie als valides Wissen. Dabei sollte man immer daran denken, dass es sich bei diesem Prozess um eine künstliche Zergliederung handelt, die nicht unbedingt eine objektive Entsprechung in der Welt haben muss (Foucault, 1968; Nedopil, 2000). Die Einheit zwischen den verschiedenen Formen der psychischen Krankheit ist immer nur künstlich und die Psychiatrie kommt ohne diesen positivistischen Kunstgriff nicht aus, weshalb sie sich stets um neue Modelle und Kriterien bemühen muss, den tatsächlichen Störungen in ihrer Komplexität gerecht zu werden. Und mit den sich wandelnden sozio-ökonomischen Verhältnissen, werden sich auch diese stochastische Manifestationsarten wandeln.
Einen rein quantitativen Aspekt ist man heute dahingehend ausgewichen, indem man sich auf das Ausmaß und den Verlauf der Krankheiten konzentriert und weniger auf die Unterschiede zwischen tatsächlichen Krankheiten und deren Spielarten (Nedopil, 2000). Das zu einer höheren Gewichtung bzw. Ergänzung des qualitativen Aspekts. Cording und Nedopil (2014) meinen dadurch, zumindest einen Gewinn an Objektivität durch kriteriengeleitete Verfahren verzeichnen zu können. Doch die gewöhnliche Diagnose fußt weiterhin lediglich auf einer Wahrscheinlichkeitsaussage, der man trotz verschiedener Schulenzugehörigkeiten, Erfahrungen und Fremdwahrnemungsfilter gerecht werden muss. Bei der Feststellung der Eingangsmerkmale zur Schuldunfähigkeit findet dieser Prozess zusätzlich noch zeitversetzt statt, da die erhobenen Merkmale, retrospektiv zum genauen Tatzeitpunkt erfasst werden müssen. Das sollte unabhängig davon geschehen, ob sie zum Explorationszeitpunkt vorhanden waren oder nicht. Diesen Anforderungen können Gutachten praktisch nur sehr eingeschränkt gerecht werden (Nedopil, 2000); dennoch stellen sie einen wichtigen Bestandteil der rechtspsychologischen Praxis dar (diagnostische Manuale und Eingangsmerkmale). Dass bei der Begutachtung, sämtliche anerkannten Modelle und Verfahren herangezogen werden können, macht es ungleich komplizierter. Die Auswahl obliegt nämlich dem einzelnen Sachverständigen, der im pflichtgemäßen Ermessen, die Methode seiner Informationsgewinnung (und -gewichtung) für das Gericht frei wählen darf (Boetticher et al., 2007). Er muss dabei den Richter lediglich von der Plausibilität seiner Untersuchungsmethoden und
Denkmodellen überzeugen (Boetticher et al., 2007). In der Regel hat der Richter aber auch kein fundiertes psychologisches und diagnostisches Wissen, aus diesem Grund wurde der Gutachterja ursprünglich bestellt.
Auch die diagnostische Unterscheidung zwischen normalen und anormalen Persönlichkeitsmerkmalen bringt in der Praxis einige Probleme mit sich. Grant, Green und Mason (2018) verdeutlichen diese Problematik am Beispiel verschiedener Psychose-Modelle (Abbildung 1). Es erfordert schon eine Menge an Fachexpertise, um sich den Krankheitsvorstellung welche um die einzelnen Modelle kreisen, bewusst zu werden und was noch wichtiger ist, deren Bedeutung auf die diagnostische Aussagekraft. In Meehls Modell gelten zum Beispiel alle Formen der Schizotypie als abnorme Persönlichkeitsmerkmale; bei Claridge hingegen kann auch die Psychoseanfälligkeit in der Allgemeinbevölkerung pathologisch werden. Wie Abbildung 1 eindrucksvoll verdeutlicht, ist die Spanne zwischen Krankheit und Gesundheit äußerst volatil und wechselt mit dem Modell, welches man als Erklärung heranzieht.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Grafische Darstellung zwischen Norm und Krankheit am Beispiel der Schizotypie-Modelle von Claridge, Eysenck und Meehl. Quelle: Grant, Green and Mason, 2018, S.560.
Bezeichnend sind auch die umstrittenen Experimente von Rosenhan (1973), bei denen sich geistig gesunde Menschen unter Vortäuschung einer psychischen Störung, in die Psychiatrie haben einweisen lassen, um die Reaktionen der Anstalten zu erforschen. Es wurden 11 von 11 Schein-Patienten aufgenommen. Außerdem wurde bei einigen eine Schizophrenie oder Psychose diagnostiziert. Nach durchschnittlich 19 Tagen wurden die ScheinPatienten, nach Beendigung der Simulation, als symptomfrei entlassen. In einer Folgeuntersuchung informierte Rosenhan (1973) eine weitere Klinik darüber, er würde in den nächsten Monaten versuchen einige weitere Schein-Patienten einweisen zu lassen. Von 193 aufgenommenen Patienten wurden 41 für Testpersonen gehalten und 42 als verdächtig eingestuft. In Wirklichkeiten wurden gar keine Patienten an die Klinik vermittelt (Rosenhan, 1973).
Zwar werden die Diagnostikmanuale der Psychologie regelmäßig neu aufgelegt, doch selbst wenn man damit in positivistischer Manier ein Erkenntnisfortschritt annehmen möchte, bleiben sie forensisch gesehen irrelevant (Schiemann, 2019). Damit bleibt aber die Frage offen, worauf forensisch-psychiastrische Krankheitskonzepte und Entscheidungen nun genau gründen sollen (Nedopil, 2000). Aus juristischer Sicht besteht dieses Problem ebenfalls, so schildert zum Beispiel Mosbacher (2020) seine Erfahrungen mit ungenügenden und missverständlichen psychiatrischen Gutachten.
Bis heute versuchen deshalb verschiedene Arbeiten die Qualität und Transparenz von Begutachtungsprozessen zu verbessern (Boetticher et al., 2007; Dobbrunz & Briken, 2020; Kröber, 2020). Dobbrunz und Kollegen (2020) baten drei Berufsgruppen (Juristen, Psychologen und Psychiater), um eine Einschätzung von verschiedenen prototypischen Fallvignetten. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass mehr als die Hälfte der Items in ihrer Interrater-Reliabilität ungenügend seien, einer mangelnden Operationalisierung und Heterogenität unterliegen (Dobbrunz & Briken, 2020).
2.2.3 Probleme des Gutachtens
Bereits der Schuldbegriff selbst, ist mit einigen Unsicherheiten belastet, die einen Vorsicht walten lassen sollten. Denn es kommt wie Thilmann (2007) berichtet, immer wieder vor, dass Voraussetzungen hineininterpretiert werden, die kein solides Fundament haben. Zwar ist der Schuldbegriff, wie er im ersten Kapitel definiert wurde, für unsere Rechtsstaatlichkeit unerlässlich, doch darf er einen nicht vergessen lassen, wie vage, umstritten und inhaltlich schwer zu erfassen er ist (Thilmann, 2007).
Dennoch muss die Strafrechtslehre mit einer Begriffsklarheit abreiten, welche die Psychologie vermutlich nie erreichen kann. Der Krankheitsbegriff der Rechtsprechung und der Medizin/Psychologie haben eine ganz andere Bedeutung. Der medizinisch-psychologische ist an das diagnostische Wissen gekoppelt, welches sich alle paar Jahre ändert; der juristische ist von diesem Wissen unabhängig und seit über hundert Jahren recht statisch (Cording & Nedopil, 2014; Kröber, 2009). Da sich der rechtliche Begriff nicht an den biologischen Ursachen oder Merkmalen der Krankheit orientiert, liegt dem juristisch aufgeladenen Begutachtungsprozess ein völlig anderes Bezugssystem zugrunde. Deshalb können die diagnostischen Manuale in diesem Zusammenhang auch nicht bei der Schuldfrage weiterhelfen (Cording & Nedopil, 2014). Thilmann (2007) kommt deshalb zu folgender Feststellung: Je weniger eine seelische Störung auf organischen, eindeutig diagnostizierbaren Ursachen beruht, umso größer wird die subjektive Einschätzung der Gutachter, die in diesen Situationen immer mit einspielt.
[...]
- Quote paper
- Anonymous,, 2021, Die Rolle der Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Revisionsverfahren, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1027468
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.