Mit dem Bilderbuch „Die unglaubliche Geschichte von der Riesenbirne“ scheint der Autor Jakob Martin Strid gemäß dem Untertitel „Wie Hieronymus Bergström Severin Olsen wieder in sein Amt als rechtmäßiger Bürgermeister von Glückshafen eingesetzt wurde“ eine politische Geschichte erzählen zu wollen. Da aber die Altersempfehlung für dieses Buch vom in Deutschland herausgebenden Verlag auf ab 4 Jahren festgelegt ist, taucht schnell die Frage auf, inwieweit sich eine Zielgruppe im Vorschulalter für eine Thematik aus der Erwachsenenwelt interessieren kann. Deshalb liegt es nahe, dass Strid eine literarische Doppeladressierung im Sinn hat, deren dazu notwendige Doppelsinnigkeit durch ein Spiel der Intertextualität und Intermedialität erreicht wird, die nicht nur durch unterschiedliche Markierungen in Wort, Geschehen und Bild agieren, sondern auch unterschiedlich hoch bzw. niedrig gestecktes Vorwissen über die zitierten Prätexte aus der Abenteuerliteratur voraussetzt.
„Die unglaubliche Geschichte von der Riesenbirne“1
- Eine intertextuelle Entdeckungsreise voller Abenteuer
Mit dem Bilderbuch „Die unglaubliche Geschichte von der Riesenbirne“ scheint der Autor Jakob Martin Strid gemäß dem Untertitel „Wie Hieronymus Bergström Severin Olsen wieder in sein Amt als rechtmäßiger Bürgermeister von Glückshafen eingesetzt wurde [...]“ (S. 3) zu beabsichtigen, eine politische Geschichte zu erzählen. Damit knüpft er dann auch an seine bisherigen „politischen und satirischen Cartoons“ (Nachsatzblatt) an. Da aber die Altersempfehlung für dieses Buch vom in Deutschland herausgebenden Verlag auf ab 4 Jahren2 festgelegt ist, taucht schnell die Frage auf, inwieweit sich eine Zielgruppe im Vorschulalter für eine Thematik aus der Erwachsenenwelt interessieren kann. Deshalb liegt es nahe, dass Strid den mit Begriffen aus dem erwachsenen Verwaltungsalltag - wie z.B. „Amt“ (S. 3) und „rechtmäßig“ (S. 3) - formulierten Untertitel nutzt, um gezielt Erwachsene anzusprechen und ihnen die Zielsetzung seines Bilderbuches mitzuteilen sucht. Gemeint sind die erwachsenen Mitleser, die Ewers als „inoffizielle[n] Adressaten“3 bezeichnet und die bei Kinderliteratur „das entwicklungspsychologische Bezugsschema [präferieren]. Problembewältigungen sollen für sie im Kinderbuch stets auf Reifungsvorgänge bezogen sein.“4
Doch Strid möchte keinen Erwachsenen, der ,nur‘ inoffiziell mitliest. Er hat ganz konkret eine literarische Doppeladressierung im Sinn5, deren dazu notwendige Doppelsinnigkeit6 durch ein Spiel der Intertextualität und Intermedialität erreicht wird, die nicht nur durch unterschiedliche Markierungen in Wort, Geschehen und Bild agieren, sondern auch unterschiedlich hoch bzw. niedrig gestecktes Vorwissen über die zitierten Prätexte voraussetzt.
Bereits im Prolog, wenn das Personal der Geschichte vorgestellt wird (S. 4), agieren unterschiedlich schwer erkennbare Hinweise, die dem kindlichen wie auch erwachsenen Lesepublikum eine Einordnung der Geschichte in das literarische Genre der Abenteuer-, Seereisen- und Entdeckerliteratur ermöglichen. Während die Kinder mit typischen Motiven7 8 wie den „Schrecklichen Piraten“ (S. 4) und dem „Fürchterlichen Drachen“ (S. 4) auf die Abenteuer-Geschichte eingeschworen werden, ist die Figur „Odysseus Karlsen“ (S. 4) für literarisch versierte Erwachsene eindeutig als intertextuelle Anspielung auf Homers berühmten Seefahrer der griechischen Antike zu verstehen. Und ist es dann noch Zufall, dass der vermisste Bürgermeister Hieronymus Bergström, der - wie sich im Verlauf der Geschichte herausstellt - auf einer mysteriösen Insel gestrandet ist, denselben Vornamen trägt wie der bekannte „Lügenbaron“ Münchhausen8, über den es etliche Erzählungen von fiktiven Reiseabenteuern gibt?
Das Buch arbeitet neben den Namenszitaten noch mit weiteren „indizierenden Intertextualitätssignalen[n]“9. Dafür nutzt Strid die Möglichkeiten des Bilderbuches, denn die vielen „verrückt wimmeligen Illustrationen“10 fungieren nicht nur parallel und additiv zum Erzählen der Handlung, sondern auch um explizite Anspielungen bildlich darzustellen. So finden sich in den Bildern neben typischen, auch von Kindern zu erkennenden Requisiten der Seereise wie Landkarte (S. 43), Fernrohr (S. 40), Kompass (S. 13) und Anker (S. 45) auch Bücher, die durch explizite Titelnennung auf bekannte Literatur wie Herman Melvilles Abenteuer-Roman „Moby Dick“ (S. 7) von 185111 oder Carl von Linnés naturwissenschaftliche Abhandlung „System Naturae“12 (S. 78) verweisen. Doch die intertextuellen Anspielungen sind keine literarische Spielart, die bei Strid nur den Erwachsenen vorbehalten ist. Denn indem Strid mit einem reinen Bildzitat das Cover des „Tim und Struppi“-Comics „Reiseziel Mond“13 einbaut (S. 14), das auch oder gerade von Kindern erkannt werden kann, erweitert der Autor außerdem die lokalen Sphären der Abenteuerliteratur vom Meer bis zum Mond.
Doch sollte man auf der Hut sein, jedes Bild mit Worten als explizite oder ernstgemeinte intertextuelle Markierung zu verstehen. Zum einen ist da die wiederholte Abbildung eines Buches namens „The Great Age of Sail“ (Buchdeckel und S. 104). Obwohl es sowohl ein gleichnamiges Buch von Edita Lausanne14 als auch ein gleichnamiges Gemälde von Peter Ellenshaw15 gibt, ist hier wohl eher - vorallem aufgrund der relativen Unbekanntheit und Aktualität der o.g. Werke (im Vergleich zu den anderen Prätexten) - ein grundsätzlicher, umfassender Verweis auf das Zeitalter der Reisen per Segelschiff gemeint.
Zum anderen gibt es in dem Kapitel vom „Nachtschwarzen Meer“ (S. 59-72), während die „Geschöpfe der Dunkelheit“ (S. 67) an den Helden vorbeiziehen, ein abgebildetes Buch mit dem Titel „Tender is the Night“ (S. 67), das so gar nicht in die Reihe der anderen Anspielungen auf das Abenteuer-Genre passen will. Zur Verstärkung der vermeintlich intertextuellen Markierung ist sogar der Autor F. Scott Fitzgerald, der das gleichnamige Werk geschrieben hat, auf dem Buch vermerkt. Doch was hat seine „Romanze“9 in einer Abenteuergeschichte für Leser ab 4 Jahren zu suchen? Auch wenn Fitzgeralds Roman an verschiedenen Urlaubsorten spielt10 und damit indirekt ebenfalls das Reisen thematisiert, so ist dieses Zitat bei Strid trotzdem nur als Bruch zu verstehen. Es bleibt letztlich dem erwachsenen Leser überlassen, ob er den Titel des Buches rein intertextuell konträr versteht oder ihn eben doch wörtlich nimmt und als poetisch formulierte Beruhigung auffässt, dass die gruselige Szenerie im „Nachtschwarzen Meer“ weder für die Protagonisten noch für die kindlichen Leser eine ernsthafte Gefahr darstellt. In jedem Fall ist es ein komisches Element. Denn wie es bei O'Sullivan heißt: „Der bei weitem häufigste Verwendungskontext der Intertextualität in der Kinderliteratur ist das Komische. Bezüge zu schon Bekanntem erzeugen Komik durch Überraschung (Bekanntes in unbekanntem Kontext) oder Inkongruenz [,..]“11.
Aber inhaltlich gesehen lässt sich Strids Erzählung eindeutig ins Abenteuer-Genre einreihen. Mit dem Finden der Flaschenpost (S. 6fff.) und dem Stranden des Bürgermeisters auf der Insel (S. 77) wird das Motiv der Robinsonade, ein typisches Erzählthema des Genres, aufgegriffen. Für Literaturexperten sind sogar die „Riesenbirne“ als Schiff (S. 40) und die Piraten, welche die Melonen - große, runde Früchte mit harter Schale - mögen (S. 47), intertextuell verständlich. Die Früchte und die angriffslustigen Seeleute lassen sich auf die „Kürbispiraten“12 referieren, von denen der griechische Schriftsteller Lukian von Samosata in seinen „Wahren Geschichten“13 im 2. Jahrhundert n. Chr. erzählt hat. Und so wie sich für den kindlichen Leser durch die Entdeckung, dass die „Schrecklichen Piraten“ nicht wirklich schrecklich sind, sondern Obst mögen, eine Komik ergibt, so entwickelt sich aus der erkannten Relation der „Riesenbirne“ mit Lukians „phantastischen Reise- und Abenteuerroman“14 eine komische Wirkung, weil Lukian „sich über die Reiseberichte seiner Zeit lustig machte, [...] die erfundenen „Tatsachenberichte“ [...] spöttisch kritisierte“15, wogegen „Die unglaubliche Geschichte von der Riesenbirne“ als Kinderbuch per se komisch16 und phantasievoll17 18 sein darf und sein soll. Es ist der Unterschied zwischen Literatur für Erwachsene und Literatur für Kinder, der aufgehoben wird. Denn während die alte Abenteuerliteratur oft ihre Wahrhaftigkeit und Authentizität betont, besteht Strid darauf, dass die Geschichte „unglaublich“ (Titel) ist.
Bei jeglicher Intertextualität geht es also nicht nur um „Spurensicherung“25, sondern vor allem um „den Ausgangspunkt der Interpretation“26. Und so steht für Strid die Doppeladressierung im Vordergrund und damit auch der Anspruch, dass die „Riesenbirne“ für jeden Leser in irgendeiner Weise komisch wirksam wird. Doch reicht das bloße Finden von Zitaten auf Prätexte aus, um den literarischen Ansprüchen des erwachsenen Lesers zu genügen und ihn nebenbei auch noch zu erheitern?
Die verschiedenen intermedialen Hinweise führen den Erwachsenen aus seiner zumeist bildlosen Lektüre zurück in die Visualität, die Kinder an Bilderbüchern so schätzen. Aber auch die Suche nach bedeutungsgeladenen Details eröffnen dem erwachsenen Leser die konzentrierte, aber verspielte Perspektive des Kinderblicks, der keine große systematische Gesamtheit, keinen globalen Sinn finden will, sondern nur auf Entdeckungsreise ist. Und diese Form der Neugier ist die Brücke zum Genre der Abenteuer- und Reiseliteratur.
Es fällt auf, dass die zahlreichen Hinweise auf Prätexte des Abenteuer-und-Reise-Genres referieren, die aus der Zeit vor dem 20.Jahrhundert stammen bzw. vor der technischen Modernisierung angesiedelt sind. Demgegenüber zeigt Strid in seinen Bildern diverse Motive des elektronischen Zeitalters: angefangen bei ferngesteuerten Spielzeugen (S. 8), elektrischem Licht (S. 14) und E-Gitarre (S. 14) sowie einem Geschäft für „Radio-TV“ (S. 7) bis hin zu Autos (S. 32), Radargeräten (S. 18) und Computern (S. 18). Dadurch entsteht im Buch ein Wechselspiel zwischen Nostalgie und Fortschritt, wodurch sich nicht nur Anachronismus darbietet, sondern auch eine Vereinigung von Jung und Alt, was wiederum ebenfalls die Doppeladressierung an Kinder und Erwachsene aufgreift und thematisiert.
Strid gelingt also in mehrfacher Hinsicht, was Ewers sich von der Doppeladressierung erhofft: „Kindliche und erwachsene Leser vereinigen sich hier [in doppelsinnigen Kinderbüchern] in der Lektüre ein und desselben Textes. So verschieden ihre jeweilige Lektüre auch ausfallen mag, sie erleben doch ein Stück literarischer Gemeinsamkeit über die Altersgrenzen hinweg.“19 Denn mit der „unglaublichen Geschichte von der Riesenbirne“ bietet Jakob Martin Strid den einen Lesern Literatur, die von einer Abenteuer-Reise handelt, und lädt gleichzeitig die anderen zu einer Reise ein, die durch die Abenteuer-Literatur führt.
[...]
1 Strid, Martin Jakob. Die unglaubliche Reise von der Riesenbirne. (übersetzt von Engeler, Sigrid C.) Boje Verlag. Köln. 2012. Alle Zitate aus dem Werk sind direkt im Fließtext, in Klammern angegeben.
2 Vgl. http://www.luebbe.de/Buecher/Kinder/Details/Id/978-3-414-82078-5 (Stand: 14.02.2013).
3 Vgl. Ewers, Hans-Heino. Das doppelsinnige Kinderbuch. Erwachsene als Mitleser und als Leser von Kinderliteratur. In: Grenz, Dagmar (Hrsg.). Kinderliteratur - Literatur auch für Erwachsene? Zum Verhältnis von Kinderliteratur und Erwachsenenliteratur. Wilhelm Fink Verlag. München. 1990. S. 15.
4 Ebd. S. 18.
5 Vgl. Kroger, Cathrine. Denne boka er et must for store og smâ - Kultforfatter Jakob Martin Strid med fantastisk barnebok. 16. April 2012. Unter: http://www.dagbladet.no/2012/04/16/kultur/bok/litteratur/litteraturanmeldelser/anmeldelser/21081636/ (Stand: 21.02.13): „Strid har selv uttalt at han vil skrive barneboker som de voksne ogsâ utholder â lese.” (Strid hat selbst erklärt, dass er Kinderbücher schreibt, die auch von Erwachsenen gelesen werden können.“).
6 Vgl. Ewers, Hans-Heino. Das doppelsinnige Kinderbuch. 1990. S. 20.
7 Vgl. Pleticha, Heinrich u. Augustin, Siegfried (Hrsg.). Lexikon der Abenteuer- und Reiseliteratur von Afrika bis Winnetou.
8 Thienemanns Verlag (Edition Erdmann). Stuttgart, Wien, Bern 1999. S. 283-288.
9 Vgl. http://www.hugendubel.de/3/16874380-1/buch/zaertlich-ist-die-nacht.html (Stand: 14.02.2013).
10 Ebd.
11 Vgl. O’Sullivan, Emer. Kinderliterarische Komparatistik. 2000. S. 80.
12 Vgl. Pleticha, Heinrich u. Augustin, Siegfried. (Hrsg.) Lexikon der Abenteuer- und Reiseliteratur von Afrika bis Winnetou. 1999. S. 231. Bzw. auch: Fischer, Tilman. Von Knoblauchkämpfern, Schollenfüßlern und Kürbispiraten. Lukians phantastische Lügen in seinen "Wahren Geschichten". literaturkritik.de (Nr. 3), März 2001 (3. Jahrgang). Unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=3385 (Stand: 14.02.2013).
13 Vgl. Samosata, Lukian von. Wahre Geschichten. In: Pauly, August Friedrich (Übersetzer). Lucian’s Werke. 6. Bd., Seite 684-748. J. B. Metzler. Stuttgart. 1827. Unter: http://de.wikisource.org/wiki/Wahre_Geschichten (Stand: 15:02.2013): „bis wir am dritten unter die Kürbispiraten geriethen. [...]. Ihre Fahrzeuge sind ausgehöhlte und getrocknete Kürbisse [...]. Diese Seeräuber fielen uns mit zwei wohlbemannten Schiffen an, schleuderten, statt Steinen, gewaltige Kürbiskerne [...]“.
14 Vgl. Pleticha, Heinrich u. Augustin, Siegfried. (Hrsg.) Lexikon der Abenteuer- und Reiseliteratur von Afrika bis Winnetou. 1999. S. 231.
15 Ebd.
16 Vgl. Ewers, Hans-Heino (Hrsg.). Komik im Kinderbuch. Erscheinungsformen des Komischen in der Kinder- und Jugendliteratur. Juventa Verlag. Weinheim und München. 1992. S. 7: „Das Komische bzw. der Humor bilden einen wesentlichen Grundzug der Kinderliteratur dieser Epoche, wird doch die als autonom aufgefaßte Kindheit als heitere Daseinsform vom Ernst der Erwachsenenexistenz abgesetzt.“
17 Ewers, Hans-Heino. Das doppelsinnige Kinderbuch. 1990. S. 16: „Der Erwachsene [.] ist bereit, eine Einschränkung der
18 Wahrheitsfunktion hinzunehmen.“
19 Vgl. Ewers, Hans-Heino. Das doppelsinnige Kinderbuch. 1990. S. 23.
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- Anja Keller (Author), 2013, "Die unglaubliche Geschichte von der Riesenbirne". Eine intertextuelle Entdeckungsreise voller Abenteuer, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1023179