Diese Arbeit ist eine exemplarische Literaturanalyse für den Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur im Religionsunterricht. Es wird reflektiert, inwiefern sich ein solches Buch für den Einsatz im Religionsunterricht eignet und des Weiteren werden praktische Vorschläge für einen solchen Einsatz präsentiert. Die Erzählung von Eric-Emmanuel Schmitt erschien erstmals 2001 in der französischen Originalausgabe unter dem Titel "Monsieur Ibrahim et les fleurs du Coran". Die deutschsprachige Übersetzung von Annette und Paul Becker, "Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran", wurde 2002 im Ammann Verlag, Zürich veröffentlicht. Die vorliegende Version von 2014 erschien als bereits 13. Auflage im Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.
I. Narrative Identität:
Im Folgendem wird sich auf den Text von M. Kuhmlehn Leben (anders) erzählen: Narrative Identität als religionspädagogische Bildungsaufgabe bezogen.
Die narrative Grundverfasstheit des Lebens wird mit Zeitlichkeit verbunden, indem der Leser die Zeitlichkeit des eigenen Lebens erkennt. Die Lebensphasen werden in zeitliche Episoden eingeteilt (bereits Erlebtes, in diesem Augenblick Geschehendes und zu Erwartendes) und geordnet, wodurch diese erst erzählbar gemacht und narrativ in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden können. In diesem Zusammenhang bildet sich auch erst die Erzählkompetenz aus, von Erlebtem zu berichten (Selbstnarration). Die narrative Identität wird beim Lesen von literarischen Werken entwickelt, indem Konstruktionen des Gelesenen auf die eigene Lebenssituation übertragen werden. Dabei stehen die narrative und die eigene Identität in einem ständigen Wechselspiel zueinander. Um diese Ebene der Narration zu erreichen, müssen die Motive, die in der Geschichte auftreten, der Lebenswelt der Leser entsprechen. Elementare Erfahrungen und Fragehorizonte menschlichen Seins sollten deshalb altersgerecht sein und an den Lebensweltbezug der Kinder und Jugendlichen anknüpfen. Die Ausbildung narrativer Identität zeigt sich als eine unablässige Positionierungsarbeit. Der Leser positioniert bzw. identifiziert sich mit einem Protagonisten und indem dieser etwas erlebt, wird dessen Erfahrung automatisch in die Lebenswelt des Lesers übertragen und nach ihrer Bedeutung im eigenen Leben gefragt. In der vorliegenden Erzählung könnte dies z.B. so aussehen, dass der Leser sich selbst fragt: „Wie würde ich mich fühlen, wenn meine Eltern mich ständig mit meinen Geschwistern vergleichen würden?“
Man schlüpft in die Rolle des Protagonisten und stellt sich dessen Situation vor, was durchaus mit einem Fremdheitsgefühl verbunden sein kann (Differenzerfahrung). Die Konfrontation mit etwas Neuem, was Spannungen und Widersprüche herausfordert, erweitert den eigenen Horizont, weil man über seinen Tellerrand hinausschauen muss. Der Leser durchlebt andere Identitätszuschreibungen und versucht aus der Spannung mit der eigenen Identität und den eigenen Erfahrungen, Deutungen herauszubilden (Kontingenzbewältigungsstrategie). Das kann dazu führen, dass sich die eigene Identität, die dynamisch ist, verändert.
II. Kriteriengeleitete Analyse:
1. Bibliographische Angaben
Der Erzählung von Eric-Emmanuel Schmitt erschien erstmals 2001 in der franz. Originalausgabe unter dem Titel Monsieur Ibrahim et les fleurs du Coran. Die deutschsprachige Übersetzung von Annette und Paul Becker, Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran, wurde 2002 im Ammann Verlag, Zürich veröffentlicht. Die vorliegende Version von 2014 erschien als bereits 13. Auflage im Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main. Dort ist das 112 Seiten lange Taschenbuch als gedruckte Version für 10€ und als E-Book für 7€ käuflich zu erwerben.1 Der Autor Eric-Emmanuel Schmitt wurde 1960 in Sainte-Foy-lès-Lyons geboren und lebt heute in Brüssel. Er zählt zu den erfolgreichsten Gegenwartsautoren in Frankreich. Seine Werke wurden in 40 Sprachen übersetz und haben sich mehr als zehn Millionen Mal verkauft. Besonders mit seinen kleinen Erzählungen über die großen Religionen der Welt leistet er einen wichtigen Beitrag zum interreligiösen Lernen. 2004 wurde er für das vorliegende Buch mit dem Deutschen Bücherpreis ausgezeichnet.2
2. Aussehen und Gestaltung
Klappt man das Buch auf, so ist das Vorsatzblatt freigelassen und erst auf den folgenden Seiten findet sich eine werbende Inhaltsangabe und eine kurze Information dazu, dass das Buch im Jahr 2004 verfilmt wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite findet sich eine knappe bibliographische Angaben des Autors sowie weitere Bücher von ihm, die im Verlag erschienen sind. Blättert man weiter, findet sich auf der rechten Seite oben der Autorenname und Buchtitel in kursiver Schrift, darunter die Angabe zur verwendeten Textform sowie die Namen der Übersetzer und ganz unten des Verlags. Auf der nächsten Seite finden sich Angaben zu Verlag, Auflagen und die ISBN Nummer und auf der gegenüberliegenden Seite eine Widmung. Es gibt kein Inhaltsverzeichnis, Kapitelüberschriften oder Register, weshalb sich keine klare Strukturierung der Erzählung erkennen lässt. Schrifttyp- und Größe sind relativ schlicht und ruhig gehalten, was für ein lesefreundliches Schriftbild sorgt. Das Buch ist nicht bebildert. Eine typografische Besonderheit ist die auffällige Verwendung eines Trenn- und Bindestrichs, der statt waagerecht, nach rechts oben hin verläuft und sich vom Gedankenstrich (z.B. auf S. 41) optisch unterscheidet. Diese Begebenheit ist auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich, stört meines Erachtens nach den Lesefluss jedoch nicht. Optisch hervorgehoben mithilfe von kursiven Schriftzügen wird z.B. ein Wörterbuchartikel (S. 42f) oder die handschriftliche Notiz des Vaters (S. 49-51). Das Buch wird der Gattung Erzählung zugeordnet, weist aber durch ihre lehrhafte Form auch Elemente einer Parabel auf. Die Erzählung ist aus der Perspektive eines Ich-Erzählers geschrieben, wird jedoch an vielen Stellen durch wörtliche Rede ergänzt.
3. Einband
Auf dem Buchcover findet sich zuoberst in schwarz der Autorenname und gleich darunter der Buchtitel in blau, beide kursiv gesetzt und auf weißem Untergrund. Unten ist das Symbol des Fischer Verlags zu sehen. In der Mitte ist eine optisch sehr ansprechende Illustration von Marcelino Troung abgebildet, die vom Stil und Farbgebung her leicht an expressionistische Illustrationen erinnert. Darauf ist ein lächelnder, orientalisch aussehender, mit einer Schürze bekleideter Mann vor einem Obstund Gemüsestand zu sehen. Der Titel lässt bereits vermuten, dass es sich bei dem Mann um Monsieur Ibrahim handelt. Die Signatur des Illustrators ist mit in das Bild eingearbeitet und befindet sich am rechten unteren Bildrand. Auf der Rückseite des Covers findet sich ein Autorenfoto, eine knappe Inhaltsbeschreibung und eine Leseempfehlung von Elke Heidenreich (dt. Schriftstellerin), die zitiert wird mit: „Das ist ein unendlich zartes, schönes, liebevolles Buch.“ Betrachtet man ausschließlich das Coverbild, lassen sich eigentlich keine Schlüsse auf den Inhalt oder das Thema des Buchs schließen. Zieht man jedoch die Überschrift, die Inhaltsangabe und die Leseempfehlung hinzu, bekommt man sogleich den Eindruck, dass einem eine berührende Geschichte einer aussergewöhnlichen Freundschaft erwartet.
4. Inhalt und Sprache
Bevor hier näher auf den Inhalt des Textausschnitts eingegangen wird, soll im Folgendem eine knappe Zusammenfassung des Buchs gegeben werden, um so den Textauszug besser in den Gesamtkontext der Erzählung einordnen zu können. Moses ist ein elfjähriger jüdischer Junge, der mit seinem mürrischen Vater in Paris lebt. Er ist viel allein zuhause, weshalb er anfängt immer häufiger Monsieur Ibrahim in dessen Lebensmittelgeschäft aufzusuchen und dort seine Zeit verbringt. Monsieur Ibrahim ist ein weiser Mann, der für jede Lebenslage etwas passendes in seinem Koran zu finden scheint. Es entsteht eine enge Freundschaft zwischen den beiden.
Der vorliegende Textauszug (S.40-53) setzt bei einem Tagesausflug durch Paris ein, den Monsieur Ibrahim und Moses zusammen verbringen und bei dem Moses erfährt, dass sein Freund Sufi ist. Zuhause schlägt er das Wort Sufismus erstmal im Wörterbuch nach, was ihn dazu verleitet am Abend beim Essen mit seinem Vater das Thema Gott anzusprechen. Er fragt seinen Vater, ob er an Gott glaube, was dieser verneint, woraufhin sie schließlich über das Judesein sprechen. Einige Tage später verliert der Vater seine Arbeit. Daraufhin hinterlässt er Moses einen Abschiedsbrief und verschwindet. Moses tut so, als sei nichts geschehen, kauft und kocht weiterhin für zwei Personen ein und fälscht Briefe und Unterschriften. Er ignoriert zunächst das Problem und beschäftigt sich lieber mit anderen Themen, z.B. dem Koran, den er von seinem Freund Monsieur Ibrahim geschenkt bekommen hat. Hier endet der Textauszug, aber es folgt ein kurzer Ausblick auf die weitere Geschichte.
Monsieur Ibrahim und Moses machen zusammen einen Ausflug in die Normandie und reden dort über die wichtigen Dinge im Leben, wie Liebe und die großen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam. Nach ihrer Rückkehr erfährt Moses, dass sein Vater Suizid begangen hat, woraufhin er einen hysterischen Anfall bekommt. Aber auch in dieser schweren Situation ist Monsieur Ibrahim für ihn da, tröstet und adoptiert ihn schließlich. Sie unternehmen zusammen eine Reise in die Heimat Monsieur Ibrahims, die Türkei, um dort dessen Freund Abdullah zu treffen. Monsieur Ibrahim verstirbt jedoch vorher bei einem Autounfall und Moses kehrt allein nach Paris zurück, um dort das Lebensmittelgeschäft seines Adoptivvaters zu übernehmen. Der Leser erlebt die Handlung des Buchs durch die Augen von Moses, was er denkt, sieht und fühlt. Durch die Erzählperspektive des Ich-Erzählers wird es dem Leser ermöglicht schnell in die Geschichte einzutauchen und es entsteht eine direkte Nähe zwischen Erzähler und Leser. Moses erzählt in der Retrospektive im Präteritum. Durch den häufigen Gebrauch der wörtlichen Rede in Form von Dialogen, die im Präsens gehalten sind, büßt die Erzählung trotzdem nicht an Lebendigkeit ein und erweckt den Eindruck von Unmittelbarkeit. Der Autor bedient sich einer leicht verständlichen Sprache für Kinder und Jugendliche, ohne dabei auf einen Jugendjargon zurückzugreifen. Schwierige Begriffe, wie „Legalismus“ werden erklärt und umschrieben (S. 43f). Die Erzählung ist zeitsprachlich so neutral verfasst, dass es dem Leser im Grunde unkenntlich bleibt in welcher Zeit die Erzählung spielt, was die Erzählung im wahrsten Sinne zeitlos macht.
5. Leserperspektive
Ein offiziell empfohlenes Lesealter gibt es nicht. Die von M. Zimmermann empfohlene Altersklasse liegt, zumindest für den schulischen Gebrauch, ab Klasse 9. Dieser Einschätzung würde ich zustimmen, da die behandelten Themen „Rechtfertigung der Religionen“ aber auch das „Erwachsenwerden“ ungefähr der Lebens- und Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler3 in dieser Altersstufe entsprechen. Die Lebensweisheiten des Monsieur Ibrahim können jedoch in jeder erdenklichen Lebenslage passend sein, weshalb dem Lesealter, zumindest nach oben hin, keine Grenze gesetzt sind (narrative Identität). Für Leser, die jünger als 12 Jahre alt sind, scheint das Buch allerdings doch noch etwas zu anspruchsvoll zu sein. Die Thematik, die teilweise auch sehr bedrückend ist (z.B. Suizid des Vaters) aber auch die sprachliche Gestaltung stellen von Schriftgröße und Umfang her für nicht so geübte Leser eine Herausforderung dar.
Im Wesentlichen werden dem Leser zwei mögliche Identifikationspersonen geboten: Moses und Monsieur Ibrahim. Es werden elementare Themen in der Geschichte behandelt, die alle Menschen betreffen: Liebe, Freundschaft, Verlust, Einsamkeit, Toleranz, Respekt, religiöse Vielfalt und Lebensfreude. Im Grunde wird dadurch jeder angesprochen, der sich schonmal verloren gefühlt und nach dem Sinn des Lebens gefragt hat. Monsieur Ibrahim ist trotz des großen Altersunterschieds, der unterschiedlichen Religionen und obwohl Moses ihn anfangs bestahl, ein guter Freund und gleichzeitig eine Vaterfigur. Die tiefe Verbundenheit der beiden, trotz all der Unterschiedlichkeiten, zeigt, dass Freundschaft und Liebe auch zwischen sehr unterschiedlichen Menschen und Konfessionen möglich ist. Da Jugendliche in dem Alter häufig nur innerhalb ihrer Peers interagieren, kann die Erzählung auch dazu anregen für mehr Vielfalt zu sensibilisieren.
[...]
1 Vgl. https://www.fischerverlage.de/buch/eric-emmanuel-schmitt-monsieur-ibrahim-und-die-blumen- des-koran-9783104013633.
2 Vgl. https://www.spiegel.de/kultur/literatur/deutscher-buecherpreis-eric-emmanuel-schmitt-ist-pu- blikumsliebling-a-29i235.html.
3 Im Folgendem mit SuS abgekürzt.
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.