Die Heilige Schrift nimmt in Calvins Theologie eine zentrale Stellung ein und er versteht im Grunde seine gesamte theologische und kirchliche Arbeit als Schriftauslegung. In einem Vorwort zur Genfer Bibel preist er die Heilige Schrift als „Schlüssel, der uns das Reich Gottes öffnet“, als „Spiegel, in welchem wir Gottes Angesicht betrachten“ und als „Zeugnis seines guten Willens“. Allerdings hat Calvin keine eigene Schriftlehre entworfen und auch die Schriftauslegung ist nie explizit Thema eines Traktats gewesen.
In diesem Essay soll nun zunächst ein Blick auf Calvins Verständnis der Heiligen Schrift und die Herkunft ihrer Autorität geworfen werden. Im Anschluss wird ein kurzer Überblick über die Leitlinien von Calvins Schriftauslegung geboten und schließlich folgt noch ein Abschnitt zum Verhältnis der beiden Testamente bei Calvin.
Calvins Auslegung der Heiligen Schrift
von Janina Serfas
Die Heilige Schrift nimmt in Calvins Theologie eine zentrale Stellung ein und er versteht im Grunde seine gesamte theologische und kirchliche Arbeit als Schriftauslegung. In einem Vorwort zur Genfer Bibel preist er die Heilige Schrift als „Schlüssel, der uns das Reich Gottes öffnet“, als „Spiegel, in welchem wir Gottes Angesicht betrachten“ und als „Zeugnis seines guten Willens“. Allerdings hat Calvin keine eigene Schriftlehre entworfen und auch die Schriftauslegung ist nie explizit Thema eines Traktats gewesen.
In diesem Essay soll nun zunächst ein Blick auf Calvins Verständnis der Heiligen Schrift und die Herkunft ihrer Autorität geworfen werden. Im Anschluss wird ein kurzer Überblick über die Leitlinien von Calvins Schriftauslegung geboten und schließlich folgt noch ein Abschnitt zum Verhältnis der beiden Testamente bei Calvin.
Calvins Theologie ist eine Theologie des Wortes Gottes. Calvin betont immer wieder, dass das Wort Gottes Quelle und Kriterium aller theologischen Aussagen zu sein hat, denn Gott ist nirgendwo anders zu suchen als in seinem heiligen Wort. Und das Wort Gottes wird von Calvin mit der Heiligen Schrift identifiziert: In der Schrift als „Schule der Weisheit“ lehrt uns Gott seine „himmlische Lehre“ (caelestis doctrina). Die Heilige Schrift wird so für Calvin zum Maßstab, an dem sich alle kirchlichen Lehren messen lassen müssen. Durch die Beschränkung des Wortes Gottes auf die Grenzen der Schrift begegnet Calvin ihrer Relativierung auf die kirchliche Tradition und den allgemeinen Konsens hin. Die römische Kirche sah sich selbst als Beglaubigungsinstanz von Gottes wahrer Urheberschaft der Schrift, ihrer zuverlässigen Überlieferung und ihrem rechtmäßigen Kanonumfang und leitete daraus ihre Autorität über die Schrift ab. Calvin überführt die Frage der Autorität der Schrift, die er in seiner Institutio thematisiert (I 7-9), dagegen in den Bereich der Frage nach der Gewissheit des Wortes Gottes und antwortet darauf, dass Gottes Wort als Gottes Selbstzeugnis in der Heiligen Schrift den Charakter einer intrinsischen Wahrheit besitze und somit nicht der Beglaubigung durch die Kirche bedürfe. Die eigentliche Beglaubigungsinstanz ist für Calvin der Heilige Geist. Der Geist geht der Kirche voran, um sie im Verstehen des Wortes zu erleuchten; er muss in die Herzen der Gläubigen eindringen, durch sein inneres Zeugnis Gewissheit über die Zuverlässigkeit hinsichtlich der göttlichen Urheberschaft der Schrift schenken und ihr so ihre eigene Autorität verleihen, die eine argumentative Beweisführung überflüssig macht.
Aussagen über Calvins Schriftauslegung lassen sich vor allem aus seinem Umgang mit biblischen Texten herleiten. In der Schrift geht es um Gottes Selbstzeugnis durch die menschlichen Zeugen hindurch und dieses Selbstzeugnis ist für Calvin aktuell und ereignet sich je gegenwärtig durch das innere Wirken des Heiligen Geistes. Calvin erkennt, dass die Bibel von menschlichen Schriftstellern mit jeweils eigenem Stil geschrieben wurde und folglich auch mit menschlichen Methoden ausgelegt werden darf. So führt er seine Exegese von Bibeltexten auf dieselbe Weise wie in seinem wissenschaftlichen Kommentar zu Senecas De Clementia (1532) nach allen Regeln der Philologie und Rhetorik durch. Klares Ziel seiner Schriftauslegung ist für Calvin die Aufdeckung der ursprünglichen Absicht des biblischen Verfassers (mens scriptoris). Er will sich auf die wörtliche, einfache (sensus simplex) Bedeutung des Textes beschränken, die diesen sein eigenes Wort reden lässt, und lehnt jede Form der Allegorese mit ihrer Suche nach einer tieferen geistlichen Bedeutung des Textes hinter den Worten als Überinterpretation ab. Der Sinn eines Bibeltextes besteht für Calvin ausschließlich in dessen Literalsinn (sensus litteralis). Eine Kenntnis der biblischen Originalsprachen, Hebräisch und Griechisch, ist daher Voraussetzung jeder Exegese. Calvin zufolge findet sich der Schlüssel zur Erfassung der Autorintention in der konsequenten grammatischen Analyse der Originalsprache des Textes innerhalb seines Schriftkontextes, wobei sowohl die Gattung des Textes als auch dessen historisch-kulturelle Situation berücksichtigt werden sollen. Der wörtliche Schriftsinn ist für Calvin dabei eng mit dem historischen (sensus historicus) verbunden. Calvin interessiert sich für den „Sitz im Leben“, die Umstände des Textes, Zeit und Ort, Verfasser und Hörer.
In seiner eigenen Schriftauslegung bezieht Calvin auch die Auslegungen anderer Exegeten mit ein. Da niemand von Gott die Gabe erhalten habe, in alle Dinge vollkommene Einsicht zu nehmen, bleibt Calvin bei seiner biblischen Kommentararbeit im dauernden exegetischen Dialog insbesondere mit den Kirchenvätern und erschließt daraus argumentativ den Sinn eines Textes. Dabei ist es ihm durchaus wichtig, in Verbindung mit der exegetischen Tradition der Kirche zu stehen, aber Calvin scheut sich auch nicht davor, Irrtümer der Kirchenväter zu kritisieren.
Calvin hat die Vision eines bibelzentrierten Lebens – sowohl für den einzelnen Gläubigen als auch für die Kirche als Glaubensgemeinschaft. Für seine Schriftauslegung bedeutet das, dass Calvin sich nicht damit begnügt den Sinn (sensus) eines Textes freizulegen. Er vollzieht einen zweiten Auslegungsschritt, in dem er nach dem Nutzen (usus) des Textes für die christliche Gemeinde fragt, nach seiner nützlichen Lehre. Dieser Nutzen besteht grundsätzlich darin, die Menschen in den Gnadenbund zu führen, sie in ihm zu erhalten und zu leiten. Calvin bezeichnet die Schrift auch als Instrument des Bundes.
Calvins Theologie geht von einem einzigen göttlichen Bund aus, den Gott mit den Nachkommen Abrahams geschlossen hat und der in Christus sein Fundament besitzt. Der Alte Bund ist in Wesen und Sache nicht vom Neuen Bund zu unterscheiden, sondern lediglich von der äußeren Darbietung her. Konsequenterweise geht Calvins Hermeneutik vom Prinzip der tota scriptura aus: Das Alte Testament ist dem Neuen Testament gleichwertig; Jesus Christus als Quelle aller Offenbarungen (AT & NT) ist auch das Ziel des Gesetzes (AT) und gleichzeitig der wesentliche Inhalt des Evangeliums (NT). Indem Calvin die ganze Bibel auf dem Hintergrund des einen Bundes als in Christus begründete und auf Christus zielende Befreiungsgeschichte liest, kann seine Schriftauslegung insgesamt der Sache nach als uneingeschränkt christologisch gelten.
Fazit: Obwohl Calvin also keine eigentliche Schriftlehre verfasst hat, lassen sich doch Leitlinien für sein Verständnis der Heiligen Schrift und seinen Umgang mit ihr aufzeigen. Er sieht die Schrift als von Gott gegeben an, als Wort Gottes und in seinen Augen wird ihre Autorität nicht durch die Autorität der Kirche beglaubigt, sondern durch das Zeugnis des Heiligen Geistes. Daraus lässt sich jedoch nicht automatisch folgern, dass Calvin eine Verbalinspirationslehre vertreten würde. Dem widerspricht seine Auslegungspraxis, die in vielen Punkten an die moderne historisch-kritische Exegese erinnert. Calvin stützt sich in seiner Schriftauslegung wo immer möglich auf die Traditionen der Alten Kirche, jedoch niemals unreflektiert und ohne die nötige Kritik zu üben. Die Ermittlung des Text sinnes genügt Calvin nicht; er fragt weiter nach dem Nutzen des biblischen Textes für die gegenwärtige Christengemeinde. Vor dem Hintergrund seiner Bundestheologie erscheint der Gedanke der Einheit von Altem und Neuem Testament als konstituierender Faktor für Calvins Schriftverständnis.
[...]
- Arbeit zitieren
- Janina Serfas (Autor:in), 2016, Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1021852