Aufgabe II.
Text: Heinz Piontek, Die Verstreuten (1955)
Heinz Piontek, geboren am 15. 11. 1925 in Kreuzburg (Oberschlesien), gilt als zentraler Vertreter der Naturlyrik in der deutschen Nachkriegsliteratur. Im II. Weltkrieg war er Soldat. Er studierte zur Zeit der Verfassung des Gedichts "Die Verstreuten" Germanistik in Dillingen. Seit 1961 lebt und arbeitet er in München. Für seine Werke wurde er unter anderen 1976 mit dem Georg- Büchner- Preis ausgezeichnet. Es dürfte deshalb interessant sein, eines der Gedichte dieses bedeutenden Schriftstellers zu interpretieren.
Betrachtet man das Gedicht rein äußerlich, so erkennt man eine regelmäßige Strophenform. Es wechseln sich je ein Zweizeiler und zwei Vierzeiler miteinander ab, wobei auf die beiden letzten Vierzeiler wieder ein abschließender Zweizeiler folgt. Insgesamt sind 13 Strophen vorhanden. Reim, beziehungsweise Metrum sind nicht erkennbar, jedoch mehrere Enjambements ( 3. Strophe, Vers 2/3 und Vers 3/4; 6. Strophe, Vers 1/2; 9. Strophe, Vers 1/2). Diese beiden Beobachtungen lassen auf den Gebrauch einer Alltagssprache schließen.
Ein deutlicher Einschnitt bezüglich des Inhalts und der Stimmung ist nach Strophe sieben zu sehen, wo ein wörtlicher Dialog zwischen dem Ich- Erzähler und den restlichen Personen entsteht und zugleich der Höhepunkt des Gedichts ist; ebenso nach Strophe neun. Dort springt der Autor wieder zum vorherigen Muster zurück. Eine drastische Stimmungsänderung vollzieht sich in Strophe zwölf, in der ein "rüstiger Mann" den vermeintlichen oberschlesischen Flüchtlingen zu neuer Zuversicht und Hoffnung verhilft. Dieser Einschnitt kann auch mit einem Tempuswechsel belegt werden. Während vorher die Zweizeiler immer im Präsens und die Vierzeiler im Imperfekt stehen, ist der letzte Zweizeiler als einziger im Futur geschrieben, was bedeutet, daß es für die Flüchtenden eine neue Zukunft gibt.
Als Schwerpunktaussage ist der in der 2. Gedichthälfte zu findende Dialog zu betrachten, in dem das mögliche Schicksal der Vorfahren der Oberschlesier diskutiert wird. Zum einen die potentielle Niederlassung in einem "süßen und barbarischen" Land, zum anderen das Verderben und Zugrundegehe n jener. Der Satzbau ist meist parataktisch, außer am Höhepunkt, wo vermehrt hypotaktische Sätze vorkommen. Ausrufe, Ausrufesätze, sowie Fragen sind nur in den wörtlichen Reden vorzufinden (Strophe 3 und Strophen 8/9). Paralleler Wortbau ist in den Zweizeilern und in Strophe 5 (Vers 1, 2) vorhanden, ebenso Anaphern. Diese Feststellungen sind einer Kreuzweg- Liturgie in der katholischen Kirche ähnlich. So läßt sich vermerken, daß das Gedicht wohl religiöse Züge aufweist, was sich auch an den Begriffen "gelobtes Land" und "Wind", der ein Symbol für den Tod und somit das Reich Gottes sein könnte, zeigen läßt. Darauf deutet auch die positive Wendung gegen Ende des Gedichts hin, wo mehrere aufeinanderfolgende W- und F - Laute eine ewige Ruhe und Frieden ausstrahlen, ebenso positiv besetzte Wörter (z.B. "gelobtes Land", "rosenblättrig" und "Frieden"). Eine düstere Stimmung im restlichen Text rufen negativ besetzte Begriffe, wie "Ratten", "Blech", "Kälte", "Friedhof", "barbarisch", "Schatten", "Armeen", "Jammer", "Aschenflug", "Oede" und "düster", hervor.
Als inhaltliche Stilfiguren sind Euphemismen aufzuweisen, nämlich "grün und wie schwebend" und "verendet" anstatt gestorben. Dies dürfte wohl der Erhaltung der Hoffnung dienen, dadurch, daß unbeliebte Wörter (Tod, etc. ) nicht ausgesprochen werden. Ferner gibt es Alliterationen in der letzten Strophe, die, wie bereits oben angesprochen, wegen ihrer weichen Aussprache Ruhe und Frieden suggerieren. Die Personifikation der Nacht in Strophe zwei läßt das Gefühl der Bedrängung durch jene hervorkommen.
Das zentrale Motiv des Textes ist offensichtlich die selbsterlebte Flucht Pionteks aus Oberschlesien.
Die Einordnung in eine bestimmte Erzählsituation ist nicht ganz einfach, da der Ich- Erzähler auch für seine Mitflüchtlinge spricht, abgesehen von dem Dialog zwischen den beiden. Unter Berücksichtigung dessen kann man aber wohl von einem lyrischen Ich mit autobiographischen Zügen des Autors sprechen. Um eine Feststellung der Aussage zu wagen, muß man folgende Bedingungen mit einbeziehen: Der Autor wird in Schlesien nach dem I. Weltkrieg geboren. Er erlebt die Flucht von dort aktiv mit. Das vorliegende Gedicht ist also möglicherweise ein Erlebnisbericht dieser Ereignisse.
Bereits die Überschrift läßt nichts Gutes vermuten. Sie bezeichnet die Vertriebenen, die in alle Gegenden verstreut werden. Darauf deutet auch der Ausdruck "das Mehl der Gebeine" in der achten Strophe hin, da sich Mehl ja bekanntlich sehr leicht vom Winde verwehen läßt. Somit sind die Flüchtlinge zwar, wie schon ihre Vorfahren, überall verstreut, als Lebende oder Tote, sind aber damit auch unvergeßlich und immer und überall vorhanden. Das Stück läßt sich zeitlich in die Nachkriegszeit einordnen, die Handlung spielt in der Kriegszeit. Da Piontek selbst im II. Weltkrieg Soldat war, liegt es nahe, zu vermuten, daß er im Gedicht seine Gefühle, Ärgernisse und Erlebnisse aufarbeitet, auch im Bezug auf seine Flucht aus Oberschlesien. Deshalb ist die Grundstimmung des Gedichts auch überwiegend sehr düster und ernst, nur zum Ende hin ist eine Aufheiterung in Erwartung auf den Tod und somit die Nähe Gottes zu bemerken.
Die Thematik ist nicht genau benannt, sondern vielfältig umschrieben. Dies vermittelt das Gefühl der direkten Wahrnehmung.
Insgesamt läßt sich dadurch sagen, daß es sich um eine Ballade handelt, da eine düstere Grundstimmung herrscht, eine ganze Geschichte erzählt wird und am Höhepunkt wechselnde Sprecher vorhanden sind.
Die inhaltlichen Figuren unterstützen insofern die Aussage, als daß in Strophe zwei viele Doppelkonsonanten Schnelligkeit vorgeben. Ebenso die zahlreichen, bereits oben aufgeführten Enjambements. Der Vergleich mit dem gelobten Land und dem Mann, der seinen Vater auf den Schultern trägt läßt den Schluß zu, daß religiöse Motive enthalten sind, was sich auch auf das Ende auswirkt, das als Ankommen im Reich Gottes gedeutet werden kann. Dort sorgen weiche Labiallaute für eine milde Stimmung, und sie lassen Frieden und Ruhe vermuten. Die Anaphern, gekoppelt mit Parallelismen in den Zweizeilern heben die Bedeutung dieser als Informationsquellen hervor und wecken das Interesse des Lesers.
Daneben wird die Aussage auch durch die Form gestützt. Keine regelmäßigen Rhythmen, Reime und Metren verbildlichen die Unregelmäßigkeit der Flucht. Als Gegensatz dazu symbolisiert das regelmäßige Strophenschema die immer wieder gleichen Tagesabläufe.
Die Ursache der Gedichtentstehung dürfte wohl die Dringlichkeit Pionteks sein, seine Gefühle und Erlebnisse zu Papier zu bringen und so einerseits den Lesern die Dunkelheit und beängstigende Stille ("Wir dürfen kein Feuer machen." , es "blieb eine Fährte aus untilgbarer Stille") vor Gesicht zu führen, andererseits seine Ängste und Betroffenheit zu verarbeiten. Was Piontek mit seinem Werk aussagen will, ist nicht einfach herauszufinden. Eine Möglichkeit wäre, daß er dem Leser klar machen will, daß am Ende jeder Plage, jeden Jammers und jeder Angst eine Erlösung steht, solange man nicht aufhört zu hoffen.
Meiner Meinung nach ist es dem Autor gut gelungen, die Stimmung der Oberschlesier während der Flucht aus ihrer Heimat dem Leser nahezubringen. Jedoch braucht man, um das Gedicht wirklich zu verstehen, sehr viele Hintergrundinformationen, an die man nicht leicht kommt. Alles in allem aber ist das Werk gut dazu geeignet, vor allem jungen Leuten die Probleme und Beschwerlichkeit der Kriegsgeneration vor Augen zu führen.
- Citar trabajo
- Anna jun. Höß (Autor), 2001, Piontek, Heinz - Die Verstreuten, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/102108
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