In der 1948 entstandenen Kurzgeschichte „Schlittenfahren“ beschreibt Helga M. Novak auf anschauliche Art und Weise die Hilflosigkeit der Erwachsenen im Umgang mit Kindern. Sie macht die fehlende Kommunikation zwischen Eltern und Schutzbefohlenen deutlich und übt so eine herbe Kritik an der Gesellschaft der späten sechziger Jahre aus. Die Kurzgeschichte eignet sich deshalb sehr gut für eine detaillierte Analyse und tiefgehende Auseinandersetzung.
„Schlittenfahren“ zeichnet sich durch seine Kürze aus. Der äußere Umfang beträgt nur vierzig Zeilen und kann so mühelos auf nur einer Druckseite veröffentlicht werden. Auffallend ist jedoch die Unterteilung des Textes in viele Absätze. Der erste - und gleichzeitig längste - Absatz liefert den für die Kurzgeschichte typischen unvermittelten Einstieg. Der Leser wird mit einer zunächst idyllischen Situation konfrontiert, zwei Kinder spielen in einem großen Garten. Der Konflikt entsteht in dem Moment, als erwähnt wird, dass die beiden Kinder streiten. Doch die eigentliche Handlung setzt erst dann ein, als „ein Mann“ aus dem Eigenheim tritt, den Kindern etwas zuruft und dann wieder im Haus verschwindet. Dieser Vorgang wiederholt sich mehrmals und macht die Handlung der Kurzgeschichte aus. Der Mann, der Vater der beiden Kinder, verlässt das Haus, um den beiden Kindern mitzuteilen, dass er Ruhe brauche und nicht gestört werden wolle. Er schließt die Tür mit der Drohung, eines der Kinder ins Haus zu holen, wenn das „Gebrülle“ nicht aufhörte. Dieser Vorgang vollzieht sich mehrfach, ohne dass der Vater tätig wird.
Den Höhepunkt erreicht der Text an der Stelle, an der ein Junge in den Bach fällt. Dies ist auch der Wendepunkt der Geschichte, denn die Streitereien haben ein vorläufiges Ende genommen und auch im Verhalten des Vaters lässt sich eine Veränderung ausmachen: Der Vater selbst tritt nicht mehr auf, nur seine Stimme ist durch die Haustür zu hören, „die sich einen Spalt breit“ geöffnet hat. Im vorletzten Satz ist nicht mehr der Mann das Subjekt, sondern die Tür.
Die Geschichte schließt mit den Worten, die zum Leitmotiv der Geschichte wurden: „Wer brüllt, kommt rein.“
Der Handlungsverlauf wird uns neutral, nüchtern und monoton übermittelt. Der Text besteht überwiegend aus sehr kurzen Hauptsätzen und ist im Präsens verfasst. Wörtliche Rede, die einen sehr großen Teil des Textes bestreitet, ist nicht gesondert gekennzeichnet und unterscheidet sich formal nicht vom übrigen Text. Helga Novak verwendet ausschließlich den neutralen Erzählstil. Selbst die Worte der handelnden Personen hören sich banal und gefühllos an, man hat den Eindruck, die Kinder und - insbesondere - der Mann seien Roboter, die ihre Worte wahllos wiederholen ohne jegliches persönliches Empfinden einzubringen.
Bei einem solchen Erzählstil fällt es dann auch schwer, sich die Idylle eines großen Eigenheimes mit großem Garten, durch den ein Bach fließt, vorzustellen. Das ständig wiederkehrende Verhalten des Mannes lässt an einen Videofilm erinnern, aus dem eine bestimmte Stelle wieder und wieder gezeigt wird. Die Darstellung der Handlung erfolgt ohne jegliche Anteilnahme. Die Figuren bleiben diffus und vor allem anonym, es ist lediglich vom „Mann“, vom „kleineren Kind“ und „vom größeren Kind“ die Rede; dass ein Kind den Namen Andreas trägt, ist irrelevant. Für den Verlauf des Geschehens oder die Aussage des Textes spielt es keine Rolle, „ob er nun Andreas heißt oder sonstwie“. Wichtig ist lediglich die Konstellation der Figuren Vater und Kinder. Von einer Mutter oder Nachbarn ist im Text keine Rede. Das Merkmal der Kurzgeschichte, welches das Auftreten von wenigen, nicht direkt charakterisierten Personen besagt, trifft also auch auf „Schlittenfahren“ zu.
Helga M. Novak verwendet einige Stilmittel, um den Leser in eine bestimmte Atmosphäre zu versetzen. Durch die Anwendung von Anaphern („...das größere Kind..., „...das kleinere Kind...“) und die ständige Wiederholung der Begriffe wird der Wortschatz stark reduziert und der Eindruck vermittelt, ein Kind würde hier berichten. Somit is t der Leser auf den Text vorbereitet und weiß um den thematischen Schwerpunkt Kinder.
Eine weitere Besonderheit ist die Verwendung von Adjektiven in der Kurzgeschichte. Sie dienen lediglich der Unterscheidung der Kinder und der Beschreibung des Schauplatzes. Die Beschreibung dessen erfolgt allerdings nicht ausführlich oder ausschmückend, sondern schlicht, einfach, beinahe banal. Das neutrale Erzählverhalten findet, wie bereits oben erwähnt, keinen Abbruch. Dem Leser drängt sich das Bild einer Bühne mit abstrakten Requisiten und Kulissen auf. Von einer Idylle jedoch ist nichts zu spüren.
Hinter dieser kindhaften Situationsschilderung verbirgt sich allerdings ein durchdachtes und hintergründiges Erzählschema. Sie ist die sich scheinbar ständig wiederholende Handlung eben nur s c h e i n b a r eine genaue Wiederholung des vorher Geschehenen. Kleine, kaum merkliche Veränderungen beweisen dies. Tritt der Mann zunächst ganz vor die Tür, so steckt er nachher nur noch den Kopf heraus, bis er schließlich nur noch die Tür öffnet und drinnen bleibt. In weiteren Szenen wäre der Mann als Figur wahrscheinlich nicht mehr vonnöten, er würde ganz im Haus bleiben und nicht einmal mehr drohen. Die Handlung zielt also ganz bewusst auf den Schlusspunkt ab, versucht aber durch sprachliche Besonderheiten, den Leser davon abzulenken.
Wie aber ist das Verhalten solcher Personen zu bewerten?
Helga M. Novak bewahrt und einen gewissen Abstand zu den Personen, wir kommen ihnen nicht zu nahe und können somit auch keine Beziehung zu ihnen aufbauen. Und genau das will Helga Novak. Sie fordert uns auf, den Bericht nicht als Einzelgeschehen zu betrachten, sondern in einen viel größeren, komplexeren Zusammenhang zu stellen. Dieser Einzelfall kann unzählige Male auf die Gesellschaft projiziert werden.
Der erste Auftritt des Vaters gibt das Bild eines Mannes wieder, der, durch den Krach seiner Kinder in der wohlverdienten Ruhe gestört, das Haus verlässt, um mit den beiden „Schlitten zu fahren“. Seine Worte scheinen von einem Mann zu stammen, der für die Kinder eine Autoritätsperson darstellt, vor der sie Respekt haben. Doch der Mann, „Vati“, wird seiner Vaterrolle nicht gerecht, seiner Drohung folgt bereits das Knallen der Tür.
Der Mann versagt meiner Meinung nach, weil er nicht das Gespräch mit den Kindern sucht, sondern ganz einfach seine „Ruhe“ haben will. Den Kindern bleibt nur das Wort des Vaters, er selbst ist ihnen aus den Augen gegangen und somit aus dem Sinn entschwunden. Was bleibt, ist der Streit, der nicht ausgestanden und geschlichtet ist, sondern weitergeht und letztlich eskaliert.
Auch beim zweiten Heraustreten bleiben seine Worte bedeutungslos, er erfüllt sein Vorhaben nicht. Beide Kinder dürfen draußen bleiben und mit dem Streiten fortfahren. Der Vater hört nicht auf die Worte seiner Kinder („Nix“), sondern verschwindet wieder im Haus. Auch der dritte Versuch, die Kinder zur Räson zu bringen, schlägt fehl. Er ignoriert die Worte seines großen Kindes und betritt wieder das Haus. Wer brüllt, bleibt draußen.
Mir drängt sich an der Stelle die Frage auf, ob der Mann die Rolle des Vaters überhaupt ernst nimmt. Oder ob die Kinder nicht mehr sind als eine bloße Belastung, ein notwendiges Übel, ein Klotz am Bein. Ich denke, ihm geht es nicht darum, dass sich die
Kinder vertragen, sondern darum, dass er seine Ruhe haben will. Wer brüllt, bleibt draußen. Sonst wäre der Lärm ja drinnen, bei ihm..
Beim vierten „Austritt“ haben sich die Kinder anscheinend vertragen. Der Mann ist glücklich und genießt den Himmel und die Sonne, seine Kinder sind ihm egal. Hier zeigt sich, dass die Distanz zwischen Vater und Kindern immer größer wird. Zuletzt ist es nur noch die Stimme, die übrig bleibt, und die niemand mehr ernst nimmt. Die Vaterfigur ist nicht mehr als eine Autoritätsperson ohne Autorität, ein Vater ohne Fürsorgewillen, schlichtweg eine lächerliche Person, die niemand akzeptiert, am wenigsten die Kinder.
Die Darstellung der Kinder erfolgt recht oberflächlich. Doch hierin liegt auch nicht die eigentliche Bedeutung. Zwei Kinder, die sich streiten, wie sich Kinder nun einmal streiten. Zwei Kinder, die auf die Hilfe des „Großen“, des Vaters nämlich, warten, um den Streit geschlichtet zu wissen.
Die Aussageabsicht Helga Novaks ist klar zu umreißen: der Verlust der Kommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen. Meiner Meinung nach reden die Figuren mehr aneinander vorbei, als dass sie miteinander kommunizieren. Diese Diskrepanz führt schließlich zur Kluft zwischen Eltern und Nachkommen. Bemerkenswert ist dabei, dass der Vater diese Kluft nicht sieht. Er ist also in zweifacher Hinsicht nicht fähig, mit den Kindern „Schlitten zu fahren“. Einerseits vermag er es nicht, auf die Kinder einzuwirken und sie zu beruhigen, andererseits ist es für ihn nicht möglich, mit den Kindern zu spielen, d.h., im wörtlichsten Sinne des Wortes rodeln zu gehen. Der Mann versagt auf ganzer Linie. Sein Verhalten ist ohne Zweck. Der Egoist gefällt sich selbst.
In der Kurzgeschichte ist vom „Mann“ und von „Kindern“ die Rede, an keiner Stelle aber von einer Mutter oder Nachbarn. Hierin liegt meines Erachtens nach die eigentliche Kritik Helga Novaks. Das Fehlen der Nachbarn darf als eine Anspielung verstanden werden, die sich auf das im ersten Satz erwähnte „Eigenheim“ bezieht. In einem solchen Haus ist man für sich allein, es gibt keine nerve nden Umwohner, über die man sich ärgert. Allerdings ist nun auch niemand da, der in der Not eine helfende Hand sein könnte.
Die Vorstellung, dass ein Mann mit seinen Kindern Ende der sechziger Jahre ein Eigenheim bewohnt, ist ziemlich gewagt. Vermutlich gibt es doch eine Frau, eine „Mutter“. Durch ihre Abwesenheit gerät der Vater erst in die Verlegenheit, seine Hilflosigkeit zu zeigen. Es handelt sich also um einen Kunstgriff der Autorin, die Mutter auszusparen und so auf die gesellschaftlichen (Miss-)Verhä ltnisse hinzuweisen. Ihre Botschaft lautet klar und deutlich, dass die Aufgabe der Erziehung der Mutter zugeschrieben ist.
Bei einer tiefer gehenden Interpretation drängt sich die Frage auf, wo sich die Mutter befindet. Ist es nicht möglich, dass sie arbeitet, um das Eigenheim mitfinanzieren zu können? Daran ist nichts auszusetzen, aber die Arbeit geschieht auf Kosten der Kinder, mehr noch, auf Kosten der Sicherheit der Kinder.
Die Heranwachsenden erfahren keine Fürsorge der Eltern, sondern werden dazu verdammt, sich mit Spielsachen zu beschäftigen. Hier setzte sich 1968 eine Entwicklung in Gang, ausgelöst durch die Nachkriegsgeneration, die heute noch zu spüren ist. In der Zeit von Computerspielen und technischen Raffinessen fällt es jungen Eltern immer leichter, die Kinder abzuschieben und eigenen Interessen nachzugehen, wie schon der Vater in der Geschichte. Novak hat also schon damals die lauernde Gefahr der Sprachlosigkeit in Familien und des Zerfalls der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern erkannt und auf dem Wege der Kurzgeschichte versucht, davor zu warnen.
So verbirgt sich hinter der kurzen, sprachlich einfachen Kurzgeschichte eine überdurchschnittlich subtile Warnung vor einer Gefahr, die schon vor dreißig Jahren sichtbar war. Achtet auf eure Kinder, damit sie nicht den B a c h runtergehen.
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- Matt Pierce (Autor), 2001, Novak, Helga M. - Schlittenfahren, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/102006