Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Voraussetzung der Kanonizität des Alten Testaments als Legitimationsgrundlage
3. Psalmen im Neuen Testament
4. Psalmen aus der markinischen Passionsgeschichte: Kreuzigung und Tod Jesu 8 (Mk 15,24; 15,29; 15,34; 15,36)
5. Zusammenfassende Stellungnahme: Bedeutung der Psalmen im Neuen Testament
6. Literaturverzeichnis
7. Anhang
- Diese Seminararbeit ist nach den Regeln der neuen Rechtschreibreform verfasst.
1. Einleitung
Im Neuen Testament wird der Bezug auf das sogenannte Alte Testament zunächst in Zitaten deutlich. Kein Buch aus dem Alten Testament wird im Neuen Testament so häufig zitiert wie das Buch der Psalmen.1
Der Anhang dieser Arbeit enthält eine Liste aller Textstellen des Neuen Testaments, die auf Psalmen zurückgreifen.
Die einzelnen Textstellen, in denen Psalmen auftauchen, müssten einzeln untersucht werden, um ihre konkrete Bedeutung herauszuarbeiten. Da es eine Fülle von Textstellen ist, wie die Liste im Anhang zeigt, ist es nur möglich die Psalmen im Neuen Testament beispielhaft zu behandeln. Die Arbeitsergebnisse haben dadurch einen exemplarischen Charakter und müssen nicht unbedingt auf alle Psalmen im Neuen Testament anwendbar sein, da die Psalmen innerhalb der Exegese ein sehr weites Feld einnehmen. In dieser Seminararbeit werden die Psalmen aus der markinischen Passionsgeschichte, speziell aus der Beschreibung der Kreuzigung und des Todes Jesu problematisiert, nachdem allgemeine Voraussetzungen und unterschiedliche Positionen seitens der Exegeten Berger und Löning dargestellt worden sind.
2. Voraussetzung der Kanonizität des Alten Testaments als Legitimationsgrundlage
Anmerkung: Bei den folgenden Ausführungen über die Voraussetzung der Kanonizität habe ich mich an Klaus Berger (vgl. Literaturverzeichnis) orientiert.
Berger schreibt, dass frühchristliche Autoren die Gewohnheit hatten nur ein „geschlossenes Gegenüber” zu zitieren. Es kann vorausgesetzt werden, dass der alttestamentliche Kanon zur Zeit der Entstehung der frühchristlichen Schriften bereits in seiner heutigen Form bestand. Der Bezug des Neuen Testaments zur Schrift wird in erster Linie anhand von Zitaten deutlich, die sich an sehr vielen Textstellen des Neuen Testaments finden. Frühchristliche Autoren hatten die Gewohnheit nur ein “geschlossenes Gegenüber” zu zitieren oder zumindest darauf hinzuweisen. Aus diesem Grunde kann vorausgesetzt werden, dass der alttestamentliche Kanon zur Zeit der Entstehung der frühchristlichen Schriften abgeschlossen war. Erst diese kanonische Schrift diente in der Zeit des Frühjudentums als Legitmationsgrundlage. Berger ist der Meinung, dass die frühchristlichen Schriften in der Zeit ihrer Entstehung zunächst außerkanonische Stücke aus der jüdischen Religionsgeschichte darstellen.
Die Grundlagen der alttestamentlichen Kanonbildung sind nicht etwa durch den christlichen Kanon veranlasst, sondern verdanken sich religionspolitischen Notwendigkeiten innerhalb des Judentums. Berger schreibt, dass ab dem 1. Jh. v. Chr. zunehmend Textstellen aus den fünf Büchern Mose, der Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel und der Psalmen zitiert werden. Er bezeichnet diese Textstellen als den „eisernen Bestand”, dessen Zitate in den neuen Texten einen Kommentar erfahren. Eine langfristige Folge war die Abwertung der nicht mehr zum Kanon gehörigen Literatur, die weder zitierte, weil sie vor Abschluss des Kanons entstanden war, noch zitiert wurde, weil sie nicht zum Kanon gehörte.2 Frühchristliche Autoren zitierten, so Berger, oder machten Anspielungen aus der Schrift um eine neue Erfahrung als religiös und als Handeln desselben Gottes zu klassifizieren. Gottes Wort in der Schrift und seine neue Tat werden „zusammengebracht”. Eine Folge daraus war, dass schon bei jüdischen Zitaten ab dem 1. Jh. v. Chr. das Wort Gottes von der konkreten Geschichte abgelöst wurde. Berger ist der Meinung, dass sich das Alte Testament auf diese Art und Weise verselbständigt und sich dabei zu einem übergeschichtlichen Arsenal von Offenbarungen entwickelt hat. Wo die Schrift zu etwas von der Geschichte Abgelöstem wird, kann sie als eine verschlüsselte Urkunde gesehen werden, deren Sinn es zu dechiffrieren gilt.
Werden Stellen aus der Schrift zitiert, so geht es um Kontinuität, in der der Traditionsbruch zur Schrift ausdrücklich gemacht wird. Um diesen Traditionsbruch deutlich werden zu lassen, müssen zwei Phänomene bedacht werden.
- Ein Phänomen ist das Problem der religiösen Sprache und der religiösen Identifikation von Wirklichkeit. Durch Zitate oder Anspielungen aus der Schrift, die Berger als „geheiligte (Fach-)Sprache” bezeichnet, werden neue Erfahrungen, die die Menschen machen, als religiöse charakterisiert.
- Die Schriften des Neuen Testaments sind nach eigenem Selbstverständnis alles andere als die “Fortsetzung” des Kanons, vielmehr verstehen sie sich als Teil der nachkanonischen Literatur des Judentums, z.T. mit einer neuen Ausrichtung auf Heidenchristen.
Bei den neuen Schriften geht es um nachkanonische schriftliche Niederschläge der von Gott neu aufgegriffenen und fortgesetzten Heilsgeschichte im grundsätzlichen Horizont der Erwählung Israels. Die Schriften des Neuen Testaments gehören in diesen Teil der jüdischen Religionsgeschichte. Man kann feststellen, dass der Gebrauch von Schriftzitaten gerade in den Schriften weitaus am häufigsten ist, in denen es um eine akute Auseinandersetzung mit dem Judentum geht (vgl. insbesondere Textstellen aus Mt; Gal; Röm; Hebr).3
Im Folgenden soll der Gebrauch von Psalmen im Neuen Testament diskutiert werden, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten innerhalb der Exegese deutlich werden zu lassen. Schwerpunkt dieser Diskussion bilden die Texte von Löning: „Die Funktion des Psalters im Neuen Testament” und von Berger: „Theologiegeschichte des Urchristentums” (vgl. §10/11 Der christologische Schriftbeweis und seine Schwerpunkte) (vgl. Literaturverzeichnis).
3. Psalmen im Neuen Testament
Löning beschränkt sich bei seinen Ausführungen über die Psalmen im Neuen Testament unter anderem auf die Passionsgeschichte im Markusevangelium und untersucht an wenigen ausgewählten Beispielen die Hermeneutik der Rezeption von Psalmen in der Passionsgeschichte. Er orientiert sich an der Leitfrage, in welchem Sinn Psalmzitate im Neuen Testament als christologische Schriftbeweise zu verstehen sind. Er führt an, dass an acht verschiedenen Stellen der Passionsgeschichte aus den Psalmen zitiert oder auf Psalmen angespielt wird.4 Mit einer Ausnahme sind diese Textstellen nicht ohne weiteres messianisch interpretierbar. Es liegt keineswegs auf der Hand, dass die Psalmen im Zusammenhang der Passionserzählung als christologische Schriftbeweise zu verstehen sind.5 Charakteristisch und wichtiger für die Verwendung von Psalmen im Kontext der Passionserzählung ist vielmehr das Phänomen, dass sie zumeist gar nicht als Textteile abgesetzt erscheinen, sondern in die Erzählung einfließen, und zwar auf verschiedenen Textebenen, die Löning genauer untersucht:
- Der Erzähler des Evangeliums verwendet eine Formulierung aus dem Buch der Psalmen zur Darstellung der laufenden Handlung (Textebene 1).
- Die Hauptfigur der Erzählung verwendet Psalmen in der wörtlichen Rede (Textebene 2).
Als Beispiel für eine wörtliche Anspielung (Textebene 1) auf Ps 22,19 führt Löning Mk 15,24 an.
„Und sie kreuzigten ihn.
Und aufteilten sie seine Gewänder, werfend ein Los über sie, wer was bekäme.” Dieser Psalm wird hier nicht einer Figur der Erzählung als wörtliche Rede in den Mund gelegt, sondern der Erzähler des Evangeliums verwendet die Formulierung zur Darstellung der laufenden Handlung bei der Kreuzigung Jesu. Er gebraucht die Psalmensprache als seine eigene. Weitere Beispiele finden sich in Mk 15,23.29.36.6
Berger meint, dass im Neuen Testament an manchen Stellen ausdrücklich zitiert wird, weil sich die aktuelle Sprache von der Schrift historisch zu weit entfernt hatte. Zitate aus der Schrift stellen an dieser Stelle sicher, dass in den neuen Schriften immernoch von dem Gott aus dem Alten Testament die Rede ist.7 Dieser Gedankengang mag der These Lönings nicht widersprechen, sondern sie ergänzen.
Als Beispiel für die Benutzung von Psalmen als wörtliche Rede (Textebene 2) führt Löning die Textstelle Mk 14,34 an. Es findet eine Anspielung auf Ps 42,6 statt.
„Ganz betrübt ist meine Seele bis zum Tod. Bleibt hier und wacht.”
Löning ist der Meinung, dass dies ein Wort an die Jünger ist, und kein Gebet. Die Hauptfigur der Erzählung verwendet diesen Vers in der wörtlichen Rede.8 In beiden Zitationstechniken werden die Psalmzitate nicht als Teiltexte gekennzeichnet und daher nie wie ein Text anderer Herkunft behandelt, sondern fungieren stets als Elemente des vom Autor Markus gebotenen Textes. Dies setzt beim Leser der Markuspassion voraus, dass er in der Sprache des Psalters bewandert ist. Anders würde der Leser die intertextuellen Bezüge auf diese Textgruppe nicht erkennen.9
Berger beurteilt die Benutzung der Psalmen im Neuen Testament im Zusammenhang des christologischen Schriftbeweises. Damit wird Löning nicht widersprochen, aber die Psalmen in der Passionsgeschichte und im übrigen Neuen Testament bekommen eine andere Qualität: Sie stehen im Widerspruch zu Lönings These durchaus in einem Zusammenhang des christologischen Schriftbeweises. Dieser ist darauf ausgerichtet zu zeigen, dass Jesus “der Christus” sei. Bei dem christologischen Schriftbeweis gilt die Voraussetzung, dass sich die „Schrift” geradezu kontinuierlich auf den Messias oder seine Feinde bezieht. Berger schreibt, dass die ganze Schrift eigentlich für die qualifizierte und allein wichtige messianische Zeit und ihr Gegenbild gedacht ist, unter anderem auch die Passionsgeschichte im Markusevangelium, auch wenn Berger sich nicht explizit auf diese bezieht. Er erwähnt den Psalm 22 und meint, dass es sich bei diesem Psalm um einen christologisch ausgerichteten Psalm handelt. Auf dieser Basis deutet Berger dessen Einbettung in das Neue Testament. Im Unterschied zum Gebrauch anderer Psalmen wird bei Psalm 22 nicht an einzelne Stichwörter angeknüpft, vielmehr rezipiert man breitflächig die Verse 1 - 19 , und zwar mit zunehmender Vollständigkeit. Der Psalm beschreibt nämlich im Ganzen das Leiden des Gerechten. So wird er ausschließlich zur Illustration des Leidens Jesu herangezogen.10 Die nachweisbare Einbeziehung von bestimmten Schriftstellen aus dem Alten Testament ist überall erkennbar sekundär. Berger meint damit, dass diese Einbeziehung oft per Stichwortanbindung an eine nicht direkt zitierende oder nicht als Anspielung erkennbare Redeweise geschieht. Oft wird die wörtliche Rede in den Psalmen dazu verwendet, direkt Worte Jesu oder Gottes zu gewinnen.11 Löning nimmt an, dass der Autor Markus den Psalter primär als Kompendium benutzt, in welchem sich die religiöse Erfahrung gesammelt hat und sich artikuliert. Markus schöpft aus diesem Kompendium, wenn er die Geschichte des Leidens Jesu darstellt. Im Psalm 22 geht es vor allem um die Erfahrung des Bedrängtseins durch die Macht des Todes als Schicksal der Gerechten und Frommen. Die in den Psalmen verdichtete Erfahrung leidender Gerechter wird in der Passionsgeschichte exemplarisch verkörpert durch die Gestalt Jesu, insbesondere in den drei Verspottungsszenen (Mk 14,65; 15,16-19.29-32). In diesen Motivzusammenhang sind die meisten Psalmworte der Markuspassion einzuordnen, insbesondere der Psalm 22. Die Tatsache, dass in der Todesszene Mk 15,33-37 der Anfang des Textes von Ps 22 zitiert wird, besagt, dass der gesamte Psalm Hintergrund der markinischen Darstellung des Todes Jesu ist.12
4. Psalmen aus der markinischen Passionsgeschichte: Kreuzigung und Tod Jesu
(Mk 15,24; 15,29; 15,34; 15,36)
Nachdem aufgefallen ist, dass Löning sich bei seinen Ausführungen über die Psalmen auf die markinische Passionserzählung bezieht, ist es interessant, sich einige Psalmen genauer anzuschauen. Ich werde mich dabei auf Textstellen zur Kreuzigung und dem Tod Jesu beziehen:
Mk 15,24 ð Ps 22,19 Mk 15,29 ð Ps 22,8 Mk 15,32 ð Ps 22,2 Mk 15,36 ð Ps 69,22 Es ist an dieser Stelle wichtig zu überprüfen, ob sich die exegetischen Bemerkungen, die in verschiedenen Kommentaren zum Markusevangelium formuliert werden, mit der Exegese Bergers und Lönings decken, es Überschneidungen gibt oder neue Deutungsansätze erwähnt werden. Dazu werden die einzelnen Psalmen aus Mk 15,20-40 aufgeführt und anhand einiger Kommentare erläutert und diskutiert. In einem ersten Schritt werden in diesem Kapitel exegetische Bemerkungen angestellt, um einen Überblick über den forschungsgeschichtlichen Stand zu bekommen, und um aufzuzeigen, wie die Psalmen von den einzelnen Exegeten eingeordnet werden. Anschließend wird eine Stellungnahme gegeben, in der versucht wird, die einzelnen Positionen anzureißen und auf die Aussagen Bergers und Lönings zu beziehen.
Mk 15,24: Dann kreuzigten sie ihn. Sie warfen das Los und verteilten seine Kleider unter sich und gaben jedem, was ihm zufiel.
Gnilka schreibt, dass die Kreuzigung Jesu mit einer erstaunlichen Knappheit geschildert wird. Mit den Worten aus Psalm 22,19 wird von der Verteilung der Kleider erzählt. Allerdings, so Gnilka, ist es in der Literatur umstritten, ob die Verteilung der Kleider eines gekreuzigten Menschen allgemein zu dieser Zeit praktiziert wurde. Wichtiger als die Historizität sei dem Erzähler die Deutung des Leidens Jesu vom Ps 22 her.13 Pesch schreibt, dass die Verteilung der Kleider Jesu durch die Soldaten, die ihn bewachen, eine Inszenierung unter Anspielung auf Ps 22,19 ist, und damit eine deutliche Vorstellung Jesu als des leidenden Gerechten gegeben wird. Pesch findet es glaubwürdig, dass das Exekutationskommando Jesu um seine Kleider loste. Im Gegensatz zu Gnilka schreibt er, dass der Nachlass des Exekutierten nach alter Sitte seinen Henkern zufiel. Mit der zitatartigen Anspielung auf Ps 22,19 beginnt in der Passionsgeschichte eine neue Sequenz von Schriftanspielungen und Zitaten, die der Ausgestaltung des Martyriums Jesu und seiner Verkündigung als den leidenden Menschensohn dienen.14 Angelpunkt der Psalmreflexion ist der Eingangsvers, der vom Gekreuzigten zitiert werden wird. Gnilka behauptet, dass Jesus als dem von Gottes Urteil Gezeichneten mit den Kleidern das letzte genommen wird. Jesus hat das im Ps 22 dargestellte menschliche Leid auf sich genommen.15
Mk 15,29: Die Leute, die vorbei kamen, verhöhnten ihn, schüttelten den Kopf und riefen: Ach, du willst den Tempel niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen?
Eine unbestimmt gelassene Gruppe von Passanten wird in dieser Textstelle als Lästerer und damit als Sünder bezeichnet, die den am Kreuz hängenden leidenden Gerechten verspotten. Die Lästerung ist die stärkste Form der persönlichen Verspottung oder Verleumdung. Es wird in dieser Textstelle ein verleumderischer Angriff auf den Messias-Anspruch Jesu beschrieben. Die Wendung „schüttelten den Kopf”, mit welcher der Lästerrede begleitende Hohngestus beschrieben ist, bringt nach Vers 24 die zweite zitatartige Anspielung an Psalm 22, hier Vers 8.16 Lührmann schreibt, dass die Kreuzigung bisher in knappen Sätzen berichtet ist. Die hohen emotionalen Werte, die schon in dem Stichwort „kreuzigen” liegen, vor allem aber darin, dass es Jesus ist, der gekreuzigt wird, sind nicht in erzählerische Mittel umgesetzt. Sehr verhalten wird im Gegenteil nur geschildert, dass Jesu Weg, den er selber vorausgesagt hat, weitergeht. Dieser Stil ändert sich in dieser Szene, wo Personen beschrieben und ihre spöttischen Ausrufe zitiert werden. Lührmann ist der Meinung, läse man jedoch nach 29a gleich 32b, bleibe der bisherige Stil erhalten: Vorbeigehende lästern, die Köpfe schüttelnd, wie man es nach Psalm 22,8 beim leidenden Gerechten tut. Selbst die Mitgekreuzigten schmähen ihn. Jesus ist am Kreuz der völlig Verlassene, wie von seinen Jüngern nun auch von den Zuschauern und von seinen zufälligen Leidensgenossen, bei denen es keinen Anflug von Mitleid gibt.17
Die Spötter greifen die Anklage der Falschzeugen aus Mk 14,58 auf und bezeichnen Jesus als Tempelzerstörer und Tempelbauer „in drei Tagen”, d.h. als jemanden, der sich (fälschlich) anmaßt, der Messias zu sein, und als „König der Juden” am Kreuz hängt.18
Mk 15,34: Und in der neunten Stunde rief Jesus mit lauter Stimme: Eloi, Eloi, lema sabachtani?, das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Die neunte Stunde könnte als die Stunde des Nachmittagsgebets ausdrücklich erwähnt sein. Jesu Ruf ist ein Gebet, ein Notschrei des Bedrängten zu Gott. Die „laute Stimme” charakterisiert hier den lauten, inständigen Gebetsschrei. Als Jesu Gebet wird der Anfang von Psalm 22,2 zitiert. Im Blick auf die spöttische Reaktion der Menge ist wohl auch nur der Anfang von Psalm 22 zitiert. Pesch ist der Meinung, dass Jesus den ganzen Psalm zu beten beginnt. Die Charakterisierung des Gebets Jesu als „Rufen mit lauter Stimme” empfängt auch von Ps 22,2b („mein Schreien”), aus Vers 3 („ich rufe”) und aus Vers 6 („sie riefen”) seine Auslegung. Jesu Gebet ist kein Verzweiflungsschrei, sondern eine Vertrauensäußerung, seiner äußersten Not angemessener Ausdruck seines unerschütterlichen Glaubens. Im Dunkel der „Gottverlassenheit” wendet er sich im Gebet an Gott.19 Dieser Aussage von Pesch stimmt Gnilka zu, wenn er schreibt, dass die theologische Verwertung des gesamten Psalms gegen eine solche Möglichkeit spricht. Die im Danklied des Psalms bekundete Rettung bezeugt, dass die von der Gemeinde geglaubte Auferstehung die Voraussetzung dafür ist, mit Hilfe dieses Psalms die Passion Jesu beschreiben zu können. Mit dieser Aussage ist der Ruf der Gottverlassenheit des Gekreuzigten nicht abgeschwächt. Jesus, von allen Menschen verlassen, musste auch in dieses letzte Verlassensein von Gott hinein, um an Gott festhalten zu können. Obwohl er von Gott verlassen ist, richtet er die Gebetsklage an ihn und möchte damit ausdrücken, dass er nicht aufgibt. Gnilka sieht in diesem Sachverhalt die Einmaligkeit des Ps 22,1, die sich in der wiederholten Bitte in den Psalmen, Gott möge den Beter nicht verlassen, nicht vergleichen lässt. Der laute Schrei kann in der Einführung eines Gebets nur als ein verstärkter Gebetsausdruck verstanden werden.20
Mk 15,36: Einer lief hin, tauchte einen Schwamm in Essig, steckte ihn auf den Stock und gab Jesus zu trinken.
Pesch schreibt, dass es unwahrscheinlich ist, dass der Evangelist Markus mit dem Spötter einen der Soldaten meint. Dieser Spötter läuft, füllt einen Schwamm mit saurem Wein und versucht Jesus zu trinken zu geben.21 Gnilka meint dagegen, dass es sich wegen der Verse 15f wohl um einen Soldaten handelt. Merkt aber dabei an, dass die Worte, die die Person spricht, allerdings nur zu einem Juden passen.22
Da Jesus bereits gestorben ist, gelingt dieses nicht mehr. Dass der Schwamm auf ein Rohr gesteckt wird, setzt wohl voraus, dass Jesus an einem Hochkreuz hängt, an dem man ihn nicht mit ausgestreckter Hand erreicht. Pesch schreibt, dass saurer Wein ein minderwertiges Volksgetränk ist, das durststillend und erfrischend wirkt. Mit dem Trank, der als Zukost von Arbeitern und Soldaten gilt, nichts mit dem Betäubungsgetränk vor der Kreuzigung zu tun hat und auch nicht als nervenzerreißende Essigessenz vorgestellt ist, sollen Wundfieber und Durst des Gekreuzigten gelindert werden, um sein Leben zu verlängern.23 Im Hintergrund steht Ps 69,22b: „Sie reichten mir Essig für meinen Durst.” Wenn der Mann, der Jesus den Schwamm reicht, ausspricht, man müsse darauf warten, bis Elija komme, um Jesus herunterzuholen, macht er sich die jüdische Elija- Erwartung zu eigen. Die Erwartung eines Wunders setzt Vers 32b fort und erfolgt aus Verblendung und Unglaube. Die Tränkung verfolgt jetzt den Zweck, das Leben Jesu kurzfristig zu verlängern, wie bei Pesch bereits erwähnt, um das Wunder (die Elijaerscheinung) zu ermöglichen. Statt des erwarteten Wunders stirbt Jesus.24
Mit einer leichten, erst von den späteren Evangelisten ausgebauten Anspielung an Ps 69,22 wird Jesus wieder, wie in den vorangegangenen Spottszenen, als leidender Gerechter dargestellt.25
Zusammenfassende Beurteilung:
Es fällt auf, dass die Exegeten Gnilka, Pesch und Lührmann die Psalmen in der markinischen Passionsgeschichte als eine Schriftanspielung charakterisieren, in der es um die Ausgestaltung des Martyriums Jesu in seiner Verkündigung als leidenden Menschensohn geht. In erster Linie finden Anspielungen auf Psalmen statt, um Jesus der Gemeinde, bzw. dem Leser des Markusevangeliums, als den leidenden Gerechten vorzustellen. Eine besondere Rolle nimmt der Psalm 22,2 ein: Handelt es sich bei dieser Textstelle um einen Gebetsschrei, der ein inniges Vertrauen Jesu zu Gott ausdrückt, oder handelt es sich um einen Verzweiflungsschrei, der Jesu Gottverlassenheit ausdrücken möchte? Wie bereits erwähnt, sehen Gnilka und Pesch darin einen vertrauensvollen Gebetsschrei. Interessant wäre dann die Frage, ob Jesus den ganzen Psalm gebetet hat oder nur den Anfang.
Vergleicht man diese Aussagen mit den Aussagen von Berger und Löning, so fällt auf, dass die Exegeten Gnilka, Pesch und Lührmann Berger zustimmen, wenn sie meinen, dass die Psalmen in der Passionsgeschichte dazu dienen, Jesus als den leidenden Gerechten darzustellen. Lönings Argumentation ist bei den exegetischen Bemerkungen nicht wiederzufinden. Die Aussage Lönings, dass die Psalmen in der markinischen Passionserzählung keineswegs als christologische Schriftbeweise zu verstehen sind, wird von den drei Exegeten nicht gestützt, da sie ständig im Zusammenhang mit den Psalmen im Neuen Testament auf Jesu Messianität eingehen.
Löning mag in seiner Behauptung recht behalten, wenn er schreibt, dass die Psalmen in der Passionserzählung nicht als abgesetzte Textteile erscheinen, sondern so in den markinischen Text einfließen, als ob es die eigenen Worte des Evangelisten seien (vgl. Lönings Aussage über die verschiedenen Textebenen der Psalmen im Neuen Testament). Doch diese Aussage mag der Aussage Bergers nicht widersprechen, sondern sie nur ergänzen, da über den Inhalt des Psalms nichts ausgesagt wird. Mir ist aufgefallen, dass Löning sich eher formal den Psalmen im Neuen Testament nähert, indem er z.B. verschiedene Textebenen untersucht. Berger und die übrigen Exegeten nähern sich eher inhaltlich. Auf die Frage, wie die Psalmen im Neuen Testament eingebettet sind, gehen sie nicht ein.
Die dritte Aussage Lönings, Markus benutze die Psalmen primär als ein Lehrbuch, in welchem sich die religiöse Erfahrung gesammelt hat und sich artikuliert, wird nicht explizit gestützt, aber auch diese Aussage mag den anderen Exegeten nicht widersprechen, sondern sie ergänzen.
5. Zusammenfassende Stellungnahme: Bedeutung der Psalmen im Neuen Testament
Zenger schreibt, dass das Buch der Psalmen ein Lobpreis der universalen in Schöpfung und Tora grundgelegten Gottesherrschaft ist. Es handelt sich bei dem Buch der Psalmen ursprünglich um ein messianisches Gotteslob. Es wurde auf diesem Hintergrund von den Menschen rezipiert und gelesen.26 Der Zusammenhang, in dem die Psalmen im Neuen Testament auftauchen, hat aber, wie die Ausführungen dieser Seminararbeit gezeigt haben, einen anderen Schwerpunkt, auch wenn manchen Psalmen eine messianische Ausrichtung zugeschrieben wird. Die Psalmen fungieren im Neuen Testament primär nicht als Lobpreis. Es soll nicht ausgeschlossen werden, dass dies in frühjüdischer Zeit auch möglich gewesen wäre, aber im Neuen Testament ist es durchaus ein anderer Zusammenhang, in dem die Psalmen auftauchen: Der Psalm 22 wird beispielsweise im Sinne des christologischen Schriftbeweises verwendet, um der Gemeinde Jesus als den leidenden Gerechten vorzustellen. Eine messianische Ausrichtung ist wie bereits beschrieben vorhanden, aber es wird nicht deutlich, dass diese Texte als Lobpreis fungieren. Dass mit dem Psalm 22 Jesu Messianität thematisiert wird, setzt voraus, dass dieser in seiner Aussage der Gemeinde bekannt gewesen ist.
Auf welche Art und Weise die Psalmen im Neuen Testamen auftauchen hat Löning dargestellt (vgl. Textebenen). So werden in der Passionsgeschichte am Psalm 22 verschiedene Zitationsweisen deutlich: Zum einen taucht der Psalm 22,2 als wörtliche Rede auf; der Psalm 22,19 fließt in die Sprache des Erzählers mit ein. Etwas später erscheint in Mk 15,36 eine Anspielung auf Psalm 69,22. Auch diese Anspielung fließt in den Text des Erzählers ein, als wenn es die eigenen Worte des Evangelisten wären. Löning merkt an, dass die Fälle, in denen die Psalmen als Gebetstexte, also auch als Lobpreisungen erscheinen, selten sind. Derlei findet sich welche in Apg 4,24ff mit Anspielungen und Zitaten aus Ps 146 und Ps 2 sowie im Gebet in Offb 15,3ff. Das prominenteste Zitat, der Schrei der Gottverlassenheit Jesu am Kreuz (vgl. Mk 15,34 = Ps 22,2) scheint auf den ersten Blick dieser These zu widersprechen, da der Psalmvers vom sterbenden Jesus als Gebet gesprochen wird.27 Wie bereits erwänt müsste in diesem Falle überprüft werden, ob Jesus den ganzen Psalm gebetet hat oder nicht. Die Exegeten Gnilka und Pesch sind der Meinung, dass es sich bei dieser Anspielung schon um ein Gebet handelt.
6. Literaturverzeichnis
hTextausgaben
Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. Hgg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, des Bischofs von Luxemburg, Lüttich und von Bozen-Brixen. Freiburg 1980.
Münchener Neues Testament, Studienübersetzung. Erarbeitet vom Collegium Biblicum München e.v.. Düsseldorf 1998.
Nestle-Aland: Novum Testamentum Graece, 1988. hKommentare zum Markusevangelium
Gnilka, Joachim: Das Evangelium nach Markus (Mk 8.27 - 16.20). In:
Evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament. Zürich 1979.
Lührmann, Dieter: Das Markusevangelium. In: Handbuch zum Neuen Testament. Hgg. von Andreas Lindemann. Tübingen 1987.
Pesch, Rudolf: Das Markusevangelium, II Teil. Kommentar zu Kap. 8,27 - 16,20. Freiburg 1977.
hSonstigere Literatur
Berger, Klaus: Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments. Tübingen 1995.
Löning, Karl: Die Funktion des Psalters im Neuen Testament. In: Der Psalter in Judentum und Christentum. Hgg. von Erich Zenger. Freiburg 1998.
Zenger, Erich: Das Buch der Psalmen. In: Studienbücher Theologie. Einleitung in das Alte Testament. Hgg. von Erich Zenger u.a.. Stuttgart 1998.
7. Anhang
a) Liste der erwähnten Psalmen im Neuen Testament, 2 Seiten, entnommen aus: Nestle-Aland: Novum Testamentum Graece, 1988. S. 784f.
b) Thesenpapier zur Seminarsitzung am 22.06.2000, 3 Seiten.
[...]
1 Vgl. Löning, S. 269.
2 Vgl. Berger, S. 17.
3 Vgl. Berger, S. 18.
4 Vgl. Textstellen aus der markinischen Passionsgeschichte: Mk 14,18; 14,34; 14,62; 15,24; 15,29; 15,34; 15,36; 16,19.
5 Vgl. Löning, S. 269
6 Vgl. Löning, S. 270
7 Vgl. Berger, S. 18.
8 Vgl. Löning, S. 270
9 Vgl. Löning, S.271
10 Vgl. Berger, S. 23
11 Vgl. Berger, S. 24.
12 Vgl. Löning, S. 271-272
13 Vgl. Gnilka, S. 316.
14 Vgl. Pesch, S. 479-480.
15 Vgl. Gnilka, S. 317.
16 Vgl. Pesch, S. 486.
17 Vgl. Lührmann, S. 261-262.
18 Vgl. Pesch, S. 487.
19 Vgl. Pesch, S. 494-495.
20 Vgl. Gnilka, S. 322.
21 Vgl. Pesch, S. 496.
22 Vgl. Gnilka, S. 323.
23 Vgl. Pesch, S. 496.
24 Vgl. Gnilka, S. 323.
25 Vgl.Pesch, S. 496.
26 Vgl. Zenger, S. 317.
27 Vgl. Löning, S. 271-272.
- Arbeit zitieren
- Carlos Merinero (Autor:in), 2001, Die Psalmen im Neuen Testament, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/101681
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