"Am Ende hat die Geschichte Sartre unrecht gegeben. Und Camus in allem bestätigt." (I. Radisch). Aber diese holzschnittartige Vereinfachung enthält allenfalls die halbe Wahrheit. Camus bietet mit seiner 'Pensée de Midi' Grundlagen für eine - auch und gerade heutzutage noch zeitgemäße - Öko-Ethik, versäumt es aber, diese durch die notwendige Kapitalismus-Kritik zu stützen. Sartre hingegen kommt das Verdienst zu, in seiner 'Kritik der dialektischen Vernunft' (1960) den Marxismus und damit die erforderliche Kapitalismus-Kritik teilweise neu begründet zu haben, ohne dies jedoch mit dem zu verbinden, was Camus in seiner 'Pensée de Midi' geleistet hat.
Sartres Existenzialismus und Marxismus: Wert-Theorien der besonderen Art
Jean-Paul Sartre (1905-80) will – ähnlich wie Heidegger – das Sein erklären, und zwar immanent, d.h. rein innerweltlich, ohne Gottesbezug. Im Unterschied zu Heidegger bekennt Sartre sich dabei ausdrücklich zum Atheismus, indem er z.B. feststellt: „Der atheistische Existentialismus, für den ich stehe. … erklärt, daß, wenn Gott nicht existiert, es mindestens ein Wesen gibt, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und daß dieses Wesen der Mensch oder wie Heidegger sagt, die menschliche Wirklichkeit ist. Was bedeutet hier, daß die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, daß der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert.“1
Was aber dieses In-der-Welt-sein bedeutet, analysiert Sartre u.a. an Hand zweier Grundbegriffe, deren Herkunft u.a. von Kant und Hegel er nicht leugnet, der Begriffe An-sich und Für-sich.
Das An-sich (‚En-soi‘)
Die Frage nach dem Sein stellt und beantwortet Sartre anders als Heidegger. Für Sartre ist das Sein „überall“ (EN S. 29)2 Bezieht das menschliche Bewusstsein sich auf dieses allgegenwärtige Sein, wird es Bewusstsein von Etwas, das auch in der Außenwelt, d.h. außerhalb des Bewusstseins, liegen kann. Erst durch dieses Andere seiner selbst wird es als Bewusstsein erkennbar. (Dies in deutlicher Parallele zu Sartres Ich-Begriff: Ich werde ich erst in der Mitwelt, im – keineswegs immer unproblematischen – Mit-sein mit den anderen Menschen.)
Dieses Andere ist nur dann bestimmbar und erklärbar, wenn es zur Welt der Erscheinungen gehört, was für das von Kant so genannte „Ding an sich“ nicht zutrifft. Sartre nennt es „transphénoménal“, außerhalb der Erscheinungen liegend, oder auch: „l‘être en soi“, das Sein an sich. Das Sein an sich „ ist das, was es ist“, d.h. es ist identisch mit sich selbst und insofern „undurchsichtig“, absolut dunkel (‚opaque‘), Synthese nur mit sich selbst, reines Sein, nicht Möglichkeit (EN 33 f.).
Das Für-sich (‚Pour-soi‘)
Wenn das An-sich nur auf sich selbst bezogen werden kann, ist es unmöglich, vom An-sich zum Bewusstsein, dem „Für-sich“, zu gelangen. Zwischen An-sich und Für-sich vollzieht Sartre somit eine klare Trennung, einen Dualismus. Zumal er das Für-sich für die eigentliche Seinsweise des Bewusstseins hält, und zwar als Grundlage jeglichen Verstehens. (Wobei er durchaus auch auf Descartes‘ Cogito, das „ich denke“, zurückgreift, um dann jedoch – in deutlicher Abgrenzung von Descartes – jegliches Ich nicht als bloßen Bewusstseinsinhalt, sondern als existenzielles Mit-sein mit den anderen Menschen aufzufassen, s.o.)
Das Sein des Bewusstseins, das Für-sich, ist, im Unterschied zum An-sich, nicht identisch mit sich selbst. Vielmehr ist es ein Sein, „das nicht ist, was es ist und das ist, was es nicht ist“ (EN 121). Denn es existiert als Negation – und insofern wesentlich in der Dialektik von Sein und Nichts: Das Bewusstsein negiert jeden Augenblicks-Inhalt (Moment) durch den nächsten – und ist dabei wesentlich Subjekt, folglich zeitgebunden und kontingent, d.h. es „ereignet“ sich, aber nicht als Notwendigkeit, sondern „zufällig“. Im Für-sich der Negation verliert sich das mit sich selbst identische An-sich (EN 124). Das Für-sich ist das „reflektierte Reflektierende“ (‚reflété-reflétant‘), das immer schon in einer Beziehung, auch zur Welt der Objekte, steht. Es begründet sich selbst, und zwar u.a. dadurch, dass es sich – in Freiheit – vom An-sich abgrenzt. Bleibt aber nicht abstrakt, sondern konkretisiert sich – individuell und singulär – „in Situation“, also in bestimmtem In-der-Welt-sein (EN 134).
Das Für-Andere-Sein (‚l’Etre-Pour-Autrui‘)
Dem Sein der Anderen – und dem Für-andere-sein – widmet Sartre in EN auf den Seiten 275 bis 503 ausführliche Analysen, so zur Existenz und zum Körper des Anderen sowie zu konkreten Beziehungen zwischen dem Für-sich-Sein und dem Sein-für-Andere.
Wie begegnet mir der andere Mensch? Zunächst als Leib, jedoch nicht in purer Leiblichkeit. Denn der Andere ist nicht nur Körper, sondern auch Gestalt, Figur, Person mit typischen Merkmalen wie Mimik, Gestik, Haltung und Verhalten. Der Andere tritt mir als etwas Reales entgegen. Ihn zu „begreifen“ (‚concevoir‘) sei aber, so Sartre, nicht ohne weiteres möglich; man sei gezwungen, den Anderen „als Objekt“ zu konstruieren. Der Andere ist Subjekt, aber man macht ihn zum Objekt (EN 283). Der Andere ist ein Ich und zugleich – für mich – ein Nicht-Ich, eine Form der Negation, des Getrennt-Seins.
Sartre verdeutlicht diese komplizierte (Nicht-)Beziehung – er nennt sie auch ein „Néant“, ein Nichts – am Phänomen des Blickes. Ich nehme den Anderen optisch wahr; und wenn er mich ebenfalls anschaut, weiß ich, dass er mich sieht, aber anders, als ich ihn sehe. Damit beschäftigt sich Sartre auf mehr als 50 (!) Seiten (EN 310-367). Dabei geht er zunächst rein phänomenologisch vor, das heißt, er beschreibt, was er sieht, z.B. Passanten auf der Straße, eine Frau, einen Mann, einen Bettler. Und diese sind für ihn zunächst zweifellos Objekte. Doch er geht einen Schritt weiter: Es handelt sich um Personen, um Menschen in ihrer „persönlichen Anwesenheit“ (‚présence en personne‘ EN 310). Der Mensch, der zugleich „Objekt“ ist, kann nicht einfach wie ein Sachobjekt räumlich-zeitlich bestimmt werden. Er ist Objekt „für mich“ – und umgekehrt: Ich kann von dem Anderen gesehen werden.
Daher ist der Blick des Anderen näher zu erklären. Welchen Sinn hat dieser Blick? Er gehört zweifellos zum Leib, erschöpft sich aber nicht in dieser Eigenschaft: Der Blick ist nicht identisch mit den Augen, scheint diese eher zu „maskieren“, von ihnen aus „vor ihnen her“ zu gehen (EN 316). Aber ich bin es, der gesehen wird … Also handelt es sich um etwas typisch Situatives, eine Situation. So auch, wenn ich – zunächst unbemerkt – irgendwo mein Ohr oder mein Auge an ein Schlüsselloch hefte. Erspäht und ertappt mich dann jemand dabei, empfinde ich Scham. Und der Andere? Er bricht in meine Welt ein, sorgt dafür, dass ich die Situation nicht mehr allein beherrsche, denn ich bin nunmehr Objekt unbekannter Einschätzungen, Wert -Bestimmungen, die mich förmlich „versklaven“, für mich zur Gefahr (!) werden können.
Dabei ist der Andere zugleich „unfassbare Subjektivität“; ich kenne ihn vielleicht nicht, weiß aber um sein Subjekt-Sein und damit um seine „unendliche Freiheit“, die aber meine eigene Freiheit negiert, festsetzt (sozusagen „zunagelt“), objektiviert. So dass ich sogar Scham und Angst empfinde.
Dennoch weiß Sartre auch um die Gefühle der Anderen. Wie er selbst können sie Wut, Freude, Sympathie, Abneigung und vieles andere empfinden. Dennoch thematisiert er das Mitgefühl, die Empathie, nicht. Der Andere bleibt – nicht nur in EN – im Wesentlichen ein Faktor der Unsicherheit, der Gefahr, der Objektivierung, der Distanz. Wohl nicht zufällig heißt es in dem Theaterstück Huis Clos (‚Bei geschlossenen Türen‘, 1944): „L’autre, c’est l’enfer“, der Andere, das ist die Hölle. So dass es mit ihm ein harmonisches Mit-Sein „eigentlich“ nicht geben kann. – Hierauf wird zurückzukommen sein.
Liebe und Sexualität
Phänomene der Abgrenzung, Distanzierung und wechselseitigen Negation erkennt Sartre auch in nahezu allen Formen von Liebe und Sexualität (vgl. EN S. 431 ff.). Auch in der Liebe überwiegt das Scheitern, gibt es Harmonie eher selten. „Die Liebe bleibt Konflikt, Täuschung, Scheitern und tödliche Beziehung der Menschen untereinander.“3
In der Sexualität werde der Leib des Anderen objektiviert, sei nur noch „Gegenstand“, während die Freiheit des Anderen vergeblich erstrebt werde. „ … die sexuelle Begierde ist, genauso wie die Liebe, zum Scheitern verurteilt, und zwar deshalb, weil im Erreichen der Lust im sexuellen Akt das Verfangensein der Freiheit im Leib seine Vollkommenheit findet.“ (Michelini a.a.O. S. 166.) – Letztlich bleibt jede Person Individuum, d.h. einsam und allein mit der Freiheit des Für-sich-Seins.
„En-soi-pour-soi“: Synthese im „An-und-für-sich“?
Hegel will das Problem der Differenz zwischen An-sich und Für-sich auf erkenntnistheoretischem Wege lösen: im „An-und-für-sich“, einem Konstrukt, das es dem Denken ermöglichen soll, das – anscheinend unergründliche – An-sich-Sein der Dinge durch die Arbeit des für-sich-seienden Bewusstseins im An-und-für-sich „aufzuheben“, d.h. die Dinge so erkennen zu können, wie sie tatsächlich sind, zumal er fragt: „Wie sollen die Dinge anders erscheinen als ihrem Wesen gemäß?“ – Damit will Hegel die von Kant etablierte Differenz zwischen Ding an sich und Erscheinung beseitigen.
Sartre akzeptiert diesen Lösungsvorschlag nicht, sondern hält strikt an der Kantischen Unterscheidung fest. Daher kann er An-sich und Für-sich zunächst nur in einem „en-soi-pour-soi“ nebeneinander stellen. Denn das Pour-soi ermöglicht dies durch sein Wissen (die ‚connaissance‘). Es bleibt jedoch eine rein gedankliche Brücke, keine Überwindung des realen Gegensatzes zwischen zeitlichem Für-sich und zwangsläufig nicht-zeitlichem, unbestimmbarem An-sich.
Eine solche Vermittlung hält Sartre nur dann für möglich, wenn es ein Drittes, ein tertium comparationis, gäbe, das beide Seinsbereiche übergreifen und miteinander vergleichbar machen würde. Diese „höhere Instanz“ müsste eine „causa sui“ sein, ein Wesen, das seinen Grund in sich selbst trüge – wie der Gott der Religionen und der Religionsphilosophie. Diesen Gott leugnet Sartre jedoch, so dass er den Dualismus, die Aufspaltung des Seins in An-sich und Für-sich, nicht überwinden kann. – Nichtsdestoweniger gibt er die Suche nach einem „être total“, einem ganzheitlichen Sein, nicht auf – und findet dieses schließlich – man sehe und staune! – in einem umfassenden „en-soi-pour-soi“, einem „An-und-für-sich“, das er auch als Wert (‚la valeur‘) bezeichnet (EN 664, 700 f.); wobei zu beachten ist, dass ‚valeur‘ auch so viel wie ‚sens‘, d.h. ‚Wortsinn‘ und ‚Bedeutung’, bedeuten kann, womit dann die Bedeutung(en) eines bestimmten Wortes im Unterschied zu denen allen anderen Wörter gemeint sind.
Wert (‚la valeur‘): ein Schlüssel zum Ganzen!?
Das Sein und das Nichts. Das Nichts ängstigt uns (normalerweise), zumal unser Sein nicht nur durch die Negation im Für-sich bestimmt ist, sondern ständig vom Nichts im Tod bedroht zu sein scheint. In ständiger Angst vor dem Nichts können wir aber ebenso wenig leben wie in dauerndem Scheitern – oder dauernder Angst vor dem Scheitern. „Das Nichts nichtet“, sagt Heidegger. Und Sartre: Jede Frage kann mit einem Nein beantwortet werden. Das Nichts begründet die Möglichkeit der Negation. Das Nichts „wird genichtet“ und: „Das Nichts ist nicht “ (EN 58).
Dagegen erkennt Roquentin in Sartres Der Ekel (1938): „Nichts. Existiert.“ – Hieraus schließt Ludger Lütkehaus, der dem Nichts ein dickes Buch mit bemerkenswerten Kapiteln über Nietzsche, Heidegger und Sartre gewidmet hat, auf einen „fatalen Doppelsinn: Noch das Nichts existiert. Just in dem Augenblick, wo das Daseinsgefühl zum Ekel eskaliert, wird noch die befreiende Leere des Nichts vom unseligen Überfluß an Existenz okkupiert. Wahrhaftig, wenn es nicht einmal mehr die Gegenmöglichkeit des Nichts gäbe; wenn alles von Existenz >verdreckt< wäre, weil die Gegenidee zu ihr zweifellos >eine existierende Idee< ist, dann gäbe es kein Entkommen mehr; dann wäre die Welt die Ewigkeit der Hölle, in der die Existenz zur Existenz verdammt ist: Nietzsche und Bahnsen hatten das Dasein in der Tat mit dieser größten Last beschwert. Ist der Existenzialismus ein Nihilismus? Ja, wenn man letzteren im Sinn von Nietzsches >extremster Form<: der Ewigkeit des Sinnlosen, versteht; nein: wenn man eine Möglichkeit der Befreiung in ihm sucht. >Die Hölle, das sind die Andern<: damit kann man zur Not leben. >Die Hölle – es gibt nichts anderes<: damit lebt und stirbt es sich ziemlich schlecht.“ (L. Lütkehaus: Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst; Zürich 1999, S. 443.) – Und: Besser lässt sich die Dialektik von Sinn, Sein und Nichts kaum veranschaulichen!
Jedenfalls ist die Dauer-Hölle kein Ausweg, auch nicht für Sartre, obwohl in seiner Philosophie das Negative – in Form von Hölle, Angst, Ekel, Nichts, Negation, Knappheit, Scheitern usw. – eine wichtige Rolle spielt. Denn von entscheidender Bedeutung scheint nicht die Negativität, sondern die Art und Weise zu sein, in der er das Wert -Problem behandelt, und zwar, scheinbar unvermittelt, im Zusammenhang mit den Problemen des Für-sich-Seins, das er in doppelter Hinsicht mit dem Nichts konfrontiert: als stets drohende (Ver-)Nichtung des Seins und als Negation in der Arbeit des zeitgebundenen Für-sich. Nur negativ, nur orientierungslos kann das Für-sich aber nicht standhalten, auch nicht gegen-über dem Problem des An-sich.
Kein Nihilist würde behaupten:
1. Mit der Realität des Menschen kommen die Werte in die Welt (EN 137) und: „ … zu sagen, daß wir die Werte erfinden, bedeutet nichts anderes als dies: das Leben hat a priori keinen Sinn. Ehe Sie leben, ist das Leben nichts; es liegt bei Ihnen, ihm einen Sinn zu verleihen, und der Wert ist nichts anderes als der Sinn, den Sie wählen“ (Ist der Existentialismus ein Humanismus? a.a.O. S. 34). Womit Sartre den Begriff Wert – anscheinend – der Kategorie Sinn unterwirft. Es zeigt sich jedoch, dass er ‚Wert‘ vor allem als Selbstentwurf des Menschen auf die eigenen Möglichkeiten versteht.4
2. Die Angst ist die Quelle aller Werte (EN 722).
3. Dennoch übersteigen (transzendieren) die Werte das Sein: „La valeur est par delà l‘être“, der Wert ist jenseits des Seins (EN 136). Die Werte verleihen dem Für-sich-sein eine ins Unendliche reichende Struktur. (Eben den Sinn ?)
4. Die Werte selbst haben gegenüber dem Bewusstsein (dem Für-sich) nicht die Qualität eines Seins, sondern eines Sollens (EN 137).
5. Es gibt ein absolutes Selbst, in dem jegliche „Aufhebung“ (‚dépassement‘) des Für-sich-Seins sich aufhebt. Als Absolutes ist dies eine umfassende Einheit, aus dem tatsächlich jeglicher Sinn von Sein hervorgehen müsste (EN 137, 148).
6. Das absolute Selbst besteht in Identität, Reinheit, Beharrung (‚permanence‘) und Begründung des Selbst. Was dazu führt, dass auch die Werte dem Doppel-sinn (der Janus-Köpfigkeit) von Sein und Nichts unterliegen: Das Absolute ist nicht realisierbar.
7. Als höchster „Sinn“ begründet der Wert auch jegliche Freiheit: „ … elle hante la liberté“, er, der Wert, lässt der Freiheit keine Ruhe (EN 137). Und dennoch sind Wert und Sinn zugleich Hervorbringungen, Ausgeburten der Freiheit (EN 138) – und daher erst dann weiter begründbar, wenn das „Sein der anderen“ Menschen zum Vorschein kommt.
Gerhard Seel schließt aus all diesem, „das ganzheitliche Sein, nach dem Sartre fragt“, sei „nichts anderes als der verwirklichte Wert “5, wenn auch der Wert selbst für Sartre vornehmlich ein „regulatives Prinzip“ bedeute. Was durchaus einleuchtet, sobald man Seels weitergehende Folgerung erfährt: „Es kann kein Zweifel mehr bestehen, daß Sartre den Wertbegriff nicht nur für seine Theorie des konkreten menschlichen Handelns, sondern darüber hinaus auch für den Abschluss seines philosophischen Systems fruchtbar macht.“ (A.a.O. S. 250.)
Es überrascht daher nicht, dass Sartre die „Totalität“ – und damit den Wert – in seinem zweiten Hauptwerk, der Kritik der dialektischen Vernunft, als „regulatives Prinzip“ der Totalisierung 6 bezeichnet; wobei zu beachten ist dass es sich bei der Totalisierung (‚totalisation‘) um einen weiteren Schlüsselbegriff handelt, durch den Sartre – dialektisch – das Einzelne in Beziehung zu einer Ganzheit (z.B. der Freiheit, der Geschichte) setzt, so dass Allgemeines im Besonderen – und umgekehrt – sichtbar wird.
Die (tatsächlichen und möglichen) Folgerungen aus Sartres Wertbegriff im Einzelnen darzustellen, käme einer Herkules-Arbeit gleich. Daher beschränke ich mich im Wesentlichen auf zwei Leit-Werte:
Freiheit und Verantwortung
Der Wert begründet, wie gesagt, die Freiheit. Aber umgekehrt bezeichnet Sartre auch die Freiheit als „Grundlage aller Werte“ (in: Ist der Existentialismus ein Humanismus? a.a.O. S. 31 bzw. in EN 138, s.o.), so dass die Freiheit nunmehr der höchste Wert überhaupt zu sein scheint. In der Tat setzt Sartre die Freiheit absolut: Sie hat keine anderen Grenzen als die eigenen (EN 515). Und „fundiert“ damit auch das Für-sich-Sein des Menschen, ohne deshalb lediglich ein Bewusstseinsinhalt unter vielen anderen (möglichen) zu sein. Freiheit ist Frei-heit des Ichs im Mit-sein mit den anderen Menschen und somit – zumindest als „Ziel“ – Freiheit aller, Freiheit jeglichen Ichs. Mit den Worten Sartres: „ … ich kann meine Freiheit nicht zum Ziel nehmen, wenn ich nicht zugleich die Freiheit der andern zum Ziel nehme.“ (In: Ist der Existentialismus …? a.a.O. S. 32.)
Zu dieser Freiheit ist der Mensch „verurteilt“, weil für Sartre Gott ebenso wenig existiert wie irgendeine andere metaphysische Instanz, die das Wesen des Menschen im voraus, a prori, bestimmen könnte. Immer wieder zitiert Sartre hierzu Hegel, wonach das Wesen das „Gewesene“ ist: „Wesen ist was gewesen ist“ (u.a. EN 515, deutsch im Zitat!). Das bedeutet: Der Mensch macht sich selbst zu dem, was er ist, durch das, was er tut. So dass er nicht nicht handeln kann und daher nicht nur zur Freiheit, sondern auch zur Wahl, zum Entwurf (seiner selbst) verurteilt ist: „Der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf, er existiert nur in dem Maße, in welchem er sich verwirklicht, er ist also nichts anderes als die Gesamtheit seiner Handlungen, nichts anderes als sein Leben.“ (In: Ist der Exis-tentialismus ein Humanismus? a.a.O. S. 22).
Mit der schwerwiegenden Folge, dass die Menschen selbst für alles, was sie tun, verantwortlich sind. Freiheit als Ziel für alle kann nur in gemeinsamer Verantwortung angestrebt werden. Denn der in, durch und für die Freiheit handelnde Mensch, bindet sich – durch sein Engagement – an die Gestaltung des Ganzen: „Somit ist unsere Verantwortlichkeit viel größer, als wir es etwa voraussetzen könnten, denn sie bindet die ganze Menschheit.“ (a.a.O. S. 12). Durch meine Wahl „bin ich für mich selbst und für alle verantwortlich, und ich schaffe ein bestimmtes Bild des Menschen, den ich wähle; indem ich mich wähle, wähle ich den Menschen.“ (ebd. S. 13.) Schon deshalb kann Freiheit sich nicht in Abstraktionen verlieren: „ ... Freiheit will sich im Konkreten“ (ebd. S. 32), d.h. auch: in konkreter, gemeinsamer Verantwortung. Der Mensch ist frei, d.h. er darf tun, was er vor sich und den anderen Menschen verantworten kann.
Freiheit, Materialismus und Revolution
Schon früh beschäftigt sich Sartre mit der Sozialen Frage, erkennt er die Unterdrückung der Lohnarbeiter durch die Kapitalisten. Dennoch übernimmt er nicht einfach die kommunistische Ideologie, sondern konfrontiert schon früh, d.h. spätestens seit den 1940er Jahren, seinen Freiheitsbegriff mit dem Marxismus bzw. mit dem dialektischen und historischen Materialismus. Im Jahre 1946 veröffentlicht er dazu seine Abhandlung Materialismus und Revolution (in: Drei Essays a.a.O. S. 52-107, Abkürzung im Folgenden: MuR). Darin kritisiert er den dialektischen Materialismus vor allem in der von Engels vorgelegten Form. Für widersinnig hält er es, dass Engels von einer angeblich dialektisch erklärbaren „Naturgeschichte“ ausgeht. Geschichte ist, so Sartre, „bestimmt durch die ab-sichtliche Wiederaufnahme der Vergangenheit durch die Gegenwart“ (MuR a.a.O. S. 60), so dass es nur eine „Geschichte des Menschen “ geben könne (ebd.).
Das von Engels behauptete „Umschlagen von Quantität in Qualität“ könne nicht stattfinden, weil die Wissenschaft, wie Sartre erklärt, grundsätzlich Qualitäten auf Quantitäten zurückführe (a.a.O. S. 61). Quantität könne aber nur wieder Quantität hervorbringen. Überhaupt lassen sich Dialektik und Wissenschaft nicht in Einklang bringen, wenn Dialektik wesentlich auf einem „Spiel der Begriffe “, Wissenschaft aber auf der Analyse von Vorstellungen beruht (S. 63) und daher vornehmlich tatsächliche „funktionelle Beziehungen zwischen den Erscheinungen“ untersucht (65). – In der Dialektik sieht Sartre dagegen ein Mittel, neue Synthesen zu finden, die mehr enthalten als These und Antithese zuvor. Auch deshalb hält Sartre – im Gegensatz zu Engels – Dialektik und Naturwissenschaft für nicht vereinbar.
Nicht weniger problematisch erscheint Sartre der Anspruch des Historischen Materialismus, dialektisch ein „Sinngesetz“ der Geschichte zu begründen. Wie auch Lenin und Stalin bekräftigen, geht der Kapitalismus gemäß diesem „Gesetz“ zwangsläufig an seinen inneren Widersprüchen zugrunde. Wenn das zutrifft, bedarf es gar keines revolutionären Subjekts mehr, um die Revolution voran-zubringen. Sartre geht noch weiter: Die materialistische Teleologie der Geschichte würdigt den Menschen zu einem „Ding“ herab. „Widersinnig“ sei es, „die Freiheit alles in allem in die Dinge und nicht in den Menschen zu legen“ (MuR S. 89). Mit solcher Verdinglichung spiele der Marxismus den Kapitalisten in die Hände, die nur darauf bedacht seien, den Arbeiter „gleich dem Sklaven in ein Ding zu verwandeln“ (96), so im Taylorsystem der Arbeitsteilung und anderen kapitalistischen Produktionsverfahren.
Dagegen sieht Sartre in der Freiheit das Gegenteil jeglicher Verdinglichung. Freiheit erfährt der Arbeiter u.a. im Umgang mit den Dingen. Er gewinnt – durch planvolle Arbeit – Macht über die Dinge, d.h. die Fähigkeit, die Dinge in seinem Sinne zu verändern. Kausaldenken und Teleologie, ursächliches und zweckgerichtetes Handeln kommen darin überein. Genau dies bedeutet aber Freiheit als höchsten, stets auf die Zukunft bezogenen Wert: „Somit erfährt der Arbeiter in der Tat seine Freiheit durch die Dinge; aber gerade weil die Dinge ihn die Freiheit lehren, ist er alles in der Welt, nur kein Ding“ (95).
Erkenntnisse dieser Art beflügeln Sartre erst recht, über die Beziehunggen zwischen Freiheit und Revolution neu nachzudenken, wobei er an den in EN entwickelten Bestimmungen der Freiheit als eines absoluten Werts durchweg festhält, so dass er mit Marxisten in Konflikt gerät, die ihm zu bedenken geben, dass der Mensch, wenn er von Geburt an grundsätzlich schon frei ist, nicht mehr befreit zu werden braucht, so dass das marxistische Ziel einer freien Assoziation freier Individuen seinen Sinn verliert. Darauf Sartre: „Ist der Mensch nicht ursprünglich frei, sondern ein für allemal determiniert, so vermag man nicht einmal zu begreifen, worin denn seine Befreiung bestehen könne“ (MuR 96). Falsch sei es, zwischen der Freiheit des Menschen und der Bedingtheit (Determiniertheit) der Welt Gegensätze aufzubauen. Gehört kapitalistische Unterdrückung zu diesen Bedingungen, könne der Proletarier ohne ein Freiheitsbewusstsein sich nicht einmal seiner Lage bewusst werden. Selbst wenn die Unterdrückung ihm „keine andere Wahl als Resignation oder Revolution“ lasse, trete Freiheit zum Vor-schein, nämlich als Wahlfreiheit (97).
In dieser Situation befinde sich der sozialistische Revolutionär, werde aber durch einen zur Verdinglichung verfälschten Materialismus daran gehindert, sich wirklich zu emanzipieren, wirklich frei zu handeln und nicht – wie bei Hegel – mit dem bloßen Bewusstsein von Freiheit als Idee zu leben (98 f.). Es bedürfe einer auf Solidarität gegründeten „Philosophie der Freiheit“ als Voraussetzung und Stützung revolutionären Handelns.
Konflikte entstehen allerdings durch die Pluralität von Freiheiten. Nicht jede Freiheit wird anerkannt; aber was unterdrückt wird, sei stets eine Form von Freiheit. Gegen die Unterdrückung bedarf es einer freiheitlichen Theorie der Gewalt, wozu weder der (platte) Materialismus noch der Idealismus in der Lage sei. Der Revolutionär will aber – durch Gegengewalt – jeder Form von Gewalterzeugung langfristig entgegenwirken und die Gewalt schließlich durch eine gewaltfreie, harmonische, klassenlose Gesellschaft ersetzen. Erst durch solche Veränderung könne die Welt erkannt werden, wie sie wirklich ist: „Der Mensch schreitet also über die Welt hinaus gegen einen zukünftigen Zustand hin, von dem aus er sie betrachten kann. Denn indem man die Welt verändert, vermag man sie zu erkennen“ (104).
Dem Revolutionär soll dazu ein neues Bewusstsein der „Situation“ und des „In-der-Welt-Seins“ (im Sinne von EN) verhelfen. Siegt der Sozialismus, siegt die Freiheit. Aber dieser Sieg ist durch nichts garantiert, „gerade weil der Mensch frei ist“ (105). Eine Philosophie von Revolution und Freiheit soll es daher nur als umfassende „Philosophie des Menschen“ geben (ebd.). Was jedoch auf dem Weg über den herkömmlichen Materialismus nicht erreichbar sei. Vielmehr bestehe die Gefahr, dass dieser „Materialismus den revolutionären Entwurf erstickt“ (107).
Es scheint, als ob Sartre mit dieser Befürchtung den tatsächlichen, tragischen Gang der Geschichte des herkömmlichen Marxismus vorausgeahnt hätte.
Zur Kritik der dialektischen Vernunft
Mit der 1960 in Paris erschienenen Critique de la raison dialectique (CRD) vollzieht Sartre einen weiteren Schritt in der Entwicklung seines Denkens und seiner Weltanschauung. Denn er bekennt sich nunmehr nahezu uneingeschränkt, wenn auch nicht unkritisch, zum Marxismus, den er als „la philosophie de notre temps“, die „Philosophie unserer Zeit“, bezeichnet (CRD S. 29). Diese Philosophie sei „indépassable“, unüberschreitbar, unüberholbar (unaufhebbar?), weil die Umstände, die sie hervorgebracht haben, keineswegs aufgehoben („dépassées“) seien. Auf die Gefahr hin, sich im Leeren zu verlieren oder rückständig zu werden, könne unser Denken nur auf dem Boden des Marxismus wirklich gedeihen (ebd.).
[...]
1 J.-P. Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus?, in: Drei Essays, Berlin 1964, S. 11. Seinen Atheismus hat Sartre gelegentlich relativiert, so in seiner Autobiographie Les mots (‚Die Wörter‘), in der er erklärt, er habe den Atheismus manchmal vielleicht als Spiel aufgefasst, als das Spiel: „wer verliert, gewinnt“.
2 Ich übersetze hier Sartre aus dessen erstem Hauptwerk: L’Etre et le Néant (‚Das Sein und das Nichts‘), Paris 1943, abgekürzt: EN.
3 Dorando Juan Michelini: Der Andere in der Dialektik der Freiheit. Eine Untersuchung zur Philosophie Jean-Paul Sartres. Frankfurt a.M. 1981, S. 163
4 Vgl. Gerhard Seel: Sartres Dialektik, Bonn 1971, S. 41
5 G. Seel a.a.O. S. 248
6 J.-P. Sartre: Critique de la raison dialectique, Paris 1960, S. 138. Vgl. G. Seel a.a.O. S. 247
- Citation du texte
- Dr. Klaus Robra (Auteur), Sartre oder Camus?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1014596
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