Die Arbeit spürt der Frage nach, ob Abenteuer bzw. Abenteuerpädagogik und Schule wirklich sich ausschließende Konzepte sind. Über den Umweg der Literaturrezeption, die einen angestammten Platz in der Schule hat, wird eine Lösung des Dilemmas angestrebt. Dazu wird zunächst eine Begriffsklärung bzw. -abgrenzung vorgenommen, wobei sowohl das Erlebnis, das Abenteuer, das Wagnis, das Risiko und die Gefahr voneinander abgegrenzt werden.
Anschließend wird der Helden-Begriff fokussiert und auf seine Modernisierungstendenzen hin befragt. Hiervon ausgehend werden entwicklungspsychologische Übergangsobjekte nach Winnicott beleuchtet und in diesem Horizont wird auch das Konzept eines literarischen Übergangsobjektes entworfen: Nach diesem wird der Held einer Erzählung vom Leser angeeignet und kann fortwährend als Helfer (Mentor) in Übergangsphasen im Leben fungieren. Am Beispiel von Tolkiens Hobbit wird aufgezeigt, dass Abenteuer und Schule durchaus kompatible Parameter sind, die zusammengeführt zu einem innovativen Ansatz beitragen können, um die Abenteuer- und Erlebnispädagogik passfähiger für die Schule zu machen. Die Diskussion wird auf intermedialer Grundlage geführt, da sowohl die Bücher als auch die Filme Tolkiens verhandelt werden.
Ziel der Arbeit ist die Diskussion, ob das Abenteuer als Bildungskategorie, wenn es sich in der praktischen Performation gegen alle pädagogische Inszenierung sperrt, vielleicht über den Umweg der Literatur einen Weg in die Schule finden kann.
Michael Nerlich bezeichnet das Abenteuer als das Schlüsselwort der Moderne, welches wie kein anderes für die Entwicklung und Perpetuierung der Habitusformationen moderner Menschen steht, was als starke Legitimation zur Thematisierung des Abenteuerlichen in der Schule ausgelegt werden kann. Die Arbeit unterliegt daher der folgenden Aufbaulogik: Die von Becker konturierte und eingeforderte Abenteuerpädagogik ist nicht ohne den Begriff des Erlebnisses zu denken respektive zu diskutieren, daher wird einleitend der Erlebnisbegriff fokussiert. Aus seiner Phänomenologie heraus kann anschließend auch der Rezeptionsprozess des Lesens als Erlebnis deriviert werden. Die Betrachtung vorgebrachter Kritik am Erlebnisbegriff rundet diesen ersten Teil der Arbeit ab (1).
Inhaltsverzeichnis
I Abbildungsverzeichnis
II Vorwort
1 Einleitung
1.1 Fragestellung der Arbeit
1.2 Aufbau der Arbeit
2 Das Erlebnis
2.1 Der Erlebnisbegriff – was ist eigentlich ein Erlebnis?
2.1.1 Erlebnisdimensionen
2.1.2 Erlebnismodus/Erlebnismodi
2.1.3 Erlebnisbereiche
2.1.4 Zeitstruktur von Erlebnissen
2.2 Literaturrezeption als Erlebnis?
2.3 Kritik am Erlebnisbegriff
3 Das Abenteuer
3.1 Begriffsabgrenzung: Abenteuer – Risiko – Wagnis
3.2 Charakteristika des (realen) Abenteuers
3.2.1 Das Abenteuer als Handlungsmodell
3.2.2 Das Abenteuer und seine pädagogische Inszenierung – ein Dilemma
3.2.3 Ergebnisoffene, abenteuerliche Aktivitäten im Kontext von Schule (und Schulsport)
3.3 Fiktive Abenteuer – Literatur als Schauplatz abenteuerlichen Unterwegsseins und Transportvehikel für die Bildungskategorie des Abenteuers
4 Von Übergängen und Helden in der Literatur
4.1 Betrachtungen zum Helden-Begriff
4.2 Übergangsobjekte (Winnicott)
4.2.1 Literatur als Übergangsobjekt
4.2.2 Helden als literarische Übergangsobjekte
5 J. R. R. Tolkien – Mittelerde und Der kleine Hobbit
5.1 Über Hobbits – kindliche Antihelden im Blickpunkt
5.2 Bilbos Reise zum Erebor – das Bildungsabenteuer eines Hobbits
5.2.1 Der Aufbruch
5.2.2 Das Unterwegssein
5.2.3 Die Wiederkehr
6 Diskussion
7 Fazit
8 Literaturverzeichnis
9 Filmeverzeichnis
10 Anhang
I Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Ikonische Darstellung – Bilbo blickt auf den eigenen, beschränkten Horizont im Auenland und übertritt die Schwelle seiner Tür (in Anlehnung an Servos, 2012, S. 9).
Abbildung 2: Bilbos Wiederkehr ins Auenland: Schwer beladen und transformiert (vgl. H-Film III, DVD-Hülle).
Abbildung 3: Übersicht zu Campbells Helden-Reise und Bilbos Abenteuer (in Anlehnung an Loynes, 2003, S. 140).
Abbildung 4: Karte von Mittelerde (in Anlehnung an Eckrich, 2015).
Abbildung 5: Auszug aus Tolkiens Hobbit (eigene Aufnahme).
Abbildung 6: Die Bronzebücher am Marburger Kornmarkt (eigene Aufnahme).
Abbildung 7: Der Grabstein der Eheleute Tolkien (vgl. Servos, 2012, S. 17).
Abbildung 8: Frodo und Sam zu Beginn ihrer Reise am Rande des Auenlandes (vgl. HdR-Film I, Min. 42:59).
II Vorwort
An erster Stelle möchte ich mich herzlich bei Prof. Dr. Stern bedanken: Im Allgemeinen für die stets engagierte fachliche Unterstützung im Schreibprozess und die vielen konstruktiven Sprechstunden sowie im Besonderen für den, dem vorgelagerten, Entschluss zur Annahme und Betreuung meines Themas, welches aufgrund der interdisziplinären Ausrichtung die strengen Grenzen der unterschiedlichen Fachbereiche verlassen musste. In dieser Betreuung drückt sich aus, dass Denken nicht an den Türschwellen der unterschiedlichen Institute enden darf und dass sich das Wissen der verschiedenen Disziplinen miteinander konfrontieren muss, um – hoffentlich – innovative und fruchtbare Denkansätze zu implementieren.
Weiteren Dank für engagiertes Korrekturlesen und wertvolle Hinweise habe ich Freya und Tim auszusprechen.
Unendlicher Dank gebührt schließlich meiner geliebten Hanni: Für die beneidenswerte Eigenschaft einem sicherlich nicht immer einfachen Examinanden mit unnachahmlicher Güte und Herzlichkeit stets den Rücken für lange Tage in der Bibliothek freigehalten zu haben. Außerdem für endloses Korrekturlesen und die vielen großen und kleinen Dinge, die im Zeitenstrom eines arbeitsreichen Alltags verschwimmen. Ohne Dich wäre mein Leben ausgesprochen trist und die vorliegende Ausarbeitung noch immer in der Planungsphase.
Diese Arbeit soll unserem (noch) kleinen Ewald zugeeignet sein. Dein Kampf ins Leben verlief parallel zum Entstehungszeitraum dieser Arbeit und ich wünsche Dir, dass auch Du eine positive Grundhaltung gegenüber den Offenheiten und Unsicherheiten der Zukunft entwickeln kannst. Deine Eltern wollen sich dies als ein Erziehungsziel für Dich setzen und werden sich hoffentlich auch in den risikobehafteten Situationen Deiner Weltbegegnung an diesen hehren Vorsatz zurückerinnern. Vielleicht hilft auch Dir einmal ein literarisches Übergangsobjekt bei den Gängen, die Du nur selbst gehen kannst.
Marburg, im Oktober 2019 Martin Reese
1 Einleitung
Die mittlerweile zum Klassiker der Soziologie avancierte Gesellschaftsstudie Die Erlebnisgesellschaft von Gerhard Schulze aus dem Jahr 1992 hat die Formel Erlebe dein Leben als kategorischen Imperativ unserer Zeit ausgewiesen (vgl. 2005, S. 58f.). Da pädagogische Konzepte nicht einfach so vom Himmel fallen, sondern in einem dialektischen Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit stehen und sich in Reaktionen zum gesellschaftlichen Agens konstituieren, ist es nicht verwunderlich, dass auch die Erlebnispädagogik seit der Diagnose von Schulze wieder Aufwind erfahren hat. Sie selbst ist allerdings wesentlich älter – ihre Wurzeln reichen bis zur Reformpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts.1 Etwa 100 Jahre später ist es vor allem der Marburger Sportsoziologe Peter Becker gewesen, welcher die Praxis der Erlebnispädagogik auf ihr theoretisches Fundament hin zu befragen und im Anschluss zu kritisieren begann. Das von Becker bemängelte Fehlen eines reflexiven theoretisch-fundierten Diskurses innerhalb der Erlebnispädagogik (vgl. Becker, 2016, S. 20) und die von ihm ausgemachte Überbetonung der Kategorie des Erlebnisses, welche als Hauptaugenmerk einer pädagogischen Inszenierung zu kritisieren ist (vgl. bspw. Becker, 2001), führten zur Entwicklung seiner Abenteuerpädagogik. Diese rückt die Aktivitäten auf der Handlungsebene in den Fokus. Pejorativ könnte gesagt werden, dass das Erlebnis somit zur kontingenten Kategorie degradiert wurde. Becker fundiert seine Theorie, indem er für sie bedeutende Traditionsstränge benennt und auch die Strukturäquivalenz von abenteuerlichem Unterwegssein und der Lebensphase der Adoleszenz herausarbeitet (vgl. Becker, 2003, 2007, 2008).
Da es sich im Feld der Pädagogik immer auch um einen Dschungel aus normativen und präskriptiven Determinanten handelt – dies trifft in umso gewichtigerem Maße auf die Schulpädagogik zu – fällt Becker im Horizont von Schule für seine Abenteuerpädagogik ein pessimistisch erscheinendes Urteil:
„Where ‚Erlebnispädagogik‘ was once educational ‚dynamite‘ and a new approach to reforming the Wilhelmine school system, today it has largely left the sphere of the school. Besides youth work it is located in in-company training, and further and early education.“ (Becker, 2016, S. 20)
Und an anderer Stelle führt er aus:
„Sich bilden wird ein riskantes Unternehmen, wenn es die Zäune der didaktischen pädagogischen Arrangements verlässt. Unterwegssein macht nicht die Schule, sondern die Welt zum Bildungsraum und die einem dort begegnenden Bedingungen und Ereignisse zu Anlässen der Erfahrungsbildung.“ (Becker, 2005, S. 238)
Diese Aussagen lassen vermuten, dass die engmaschig durch Vorgaben und Erlasse konstituierte Schule keinen Platz für eine ergebnisoffene und mit Ungewissheiten und Unsicherheiten arbeitenden Bildungskategorie, wie die des Abenteuers, lässt. Dies führt allerdings zu einem Dilemma, denn als fertile Bildungskategorie mit struktureller Ähnlichkeit zur Adoleszenz wäre das Abenteuer gerade in der Schule richtig aufgehoben – eine kategorische Ächtung von Seiten der Schule wirkt angesichts der Chancen, die das Abenteuer für die juvenile Ontogenese eröffnet, grotesk. Innerhalb dieser Arbeit ist daher zu fragen, ob es nicht doch einen Weg für das Abenteuer in die Schule geben kann.
1.1 Fragestellung der Arbeit
Das Abenteuer, will es authentisch und nicht inszeniert sein, passt nicht in die pädagogischen Arrangements der Schule. Zumindest nicht in die Schule respektive Schulkultur, wie die deutsche Gesellschaft sie zurzeit kennt und lebt (dieser Gedankengang wird insb. in Kapitel 3.2.3 geschärft). Dies mag für primär erlebte, reale Abenteuer aktuell eine durchaus legitime Diagnose sein, allerdings manifestiert sich die Bildungskategorie des Abenteuers nicht unikal in der eigenen handlungsorientierten und leibgebundenen Performanz. Auf anderer Ebene sicht- und reflektierbar wird sie nämlich auch im Rezeptionsprozess fiktiver Abenteuer – beispielsweise in der Literatur.2 Der Rezeption von abenteuerlicher Literatur wird indes auch von Seiten der Forschungsliteratur eine bedeutende Gewichtung in juvenilen Selbstbildungsprozessen zugesprochen (vgl. Becker, 2005, S. 227ff.; Becker, 2016, S. 28). Für Literatur lässt sich obendrein eine lange Tradierung in der Kulturinstitution Schule nachweisen und es ist daher zu fragen: Ist die fiktive Literaturwelt ein möglicher Weg für die Bildungskategorie des Abenteuers in die Schule?
Dies soll am Beispiel der ontogenetischen Bildungstransformation Bilbo Beutlins in J. R. R. Tolkiens Der kleine Hobbit exemplarisch überprüft und theoretisch konturiert werden. Als Protagonist der Erzählung ist Bilbo zunächst genau das, was eigentlich nicht Held genannt werden kann: Er ist die Blaupause eines physisch schwachen, bornierten Philisters, der in einer von Überfluss und (vermeintlicher) Sicherheit gekennzeichneten Inselgesellschaft seinen hedonistischen Angewohnheiten – vor allem dem Essen – frönt. Der Hobbitgesellschaft kann ein oknophiler Habitus unterstellt werden, denn Wertschätzung und Anerkennung bringt sie vor allem jenen entgegen, welche sich von Abenteuern fernhalten (vgl. DkH, S. 8) und der vorabenteuerliche Bilbo manifestiert sich als die lebende Verkörperung dieser gesellschaftlichen Binsenweisheit. Der Erzählstrang treibt ihn dann allerdings doch in die Fremde und nach einer einjährigen Odyssee, welche sich wie der Produktkatalog eines kommerziellen erlebnispädagogischen Anbieters liest – in tiefen Wäldern, auf stürmischen Gebirgspfaden und auf reißenden, mäandernden Flüssen hat sich Bilbo ohne nennenswerte technische Hilfsmittel mit einer Gruppe von 13 Zwergen zu bewähren – tritt der Hobbit geläutert und voller abenteuerlicher Erfahrungen als selbstbewusste und gereifte Persönlichkeit die Heimreise an.
Zu diskutieren ist daher, ob diese Persönlichkeitsentwicklung Bilbos, die offensichtlich auf seine Auseinandersetzung mit der Fremde und dem abenteuerlichen Unterwegssein zurückzuführen ist, theoretisch auch für Schüler3 wirksam werden kann. Wird an die Erzählung die Strukturähnlichkeit von Abenteuer und Adoleszenz angelegt, dann könnte Bilbo als ein literarisches Übergangsobjekt (vgl. Kapitel 4.2.2) aufgefasst werden, welches eine Art Mentoren-Beziehung zu den rezipierenden Schülern eingeht. Auf einer derart in der Schule geschaffenen Grundlage könnte schließlich im Anschluss an die Schulzeit oder auch in der schulfreien Ferienzeit – im psychosozialen Moratorium der Adoleszenzkrise – das Aufsuchen eines realen, authentischen Abenteuers folgen.
1.2 Aufbau der Arbeit
Ziel der Arbeit ist die Diskussion, ob das Abenteuer als Bildungskategorie, wenn es sich in der praktischen Performation gegen alle pädagogische Inszenierung sperrt, vielleicht über den Umweg der Literatur einen Weg in die Schule4 finden kann.
Michael Nerlich bezeichnet das Abenteuer als das Schlüsselwort der Moderne, welches wie kein anderes für die Entwicklung und Perpetuierung der Habitusformationen moderner Menschen steht (vgl. Nerlich, insb. S. 335f.), was als starke Legitimation zur Thematisierung des Abenteuerlichen in der Schule ausgelegt werden kann. Die Arbeit unterliegt daher der folgenden Aufbaulogik:
Die von Becker konturierte und eingeforderte Abenteuerpädagogik ist nicht ohne den Begriff des Erlebnisses zu denken respektive zu diskutieren, daher wird einleitend der Erlebnisbegriff fokussiert. Aus seiner Phänomenologie heraus kann anschließend auch der Rezeptionsprozess des Lesens als Erlebnis deriviert werden. Die Betrachtung vorgebrachter Kritik am Erlebnisbegriff rundet diesen ersten Teil der Arbeit ab (1).
Konsekutiv ist der Begriff des Abenteuers dezidiert in den Fokus der Betrachtung zu rücken. Da er auch in der Alltagssprache verhaftet ist, wird eine erste Annäherung auf begrifflicher Ebene erfolgen, um definieren zu können, wie der Abenteuerbegriff innerhalb dieser Arbeit verstanden werden soll. Dies inkludiert auch eine begriffliche Abgrenzung der im Wortfeld nahestehenden Begriffe Risiko und Wagnis. Daran anschließend ist das Abenteuer als Handlungsmodell in den Blick zu nehmen, wobei darzulegen ist, durch welche Besonderheiten es strukturiert und konstituiert wird. Da letztlich ein möglicher Weg zur Implementierung der Bildungskategorie des Abenteuers diskutiert werden soll, ist das Abenteuer im Folgenden auf das Dilemma seines Verhältnisses zur Pädagogik zu befragen, um im Anschluss daran aufzeigen zu können, in welcher Form die Bildungskategorie im weitesten Sinne ihren Weg bisher schon in die Schule beziehungsweise den Schulsport gefunden hat.
Um aus dieser Betrachtung von realen Abenteuern wieder an die Fragestellung der Arbeit anknüpfen zu können, ist das fiktive Abenteuer mit der ihm inhärenten Vehikelfunktion für die Bildungskategorie des Abenteuers in den Fokus zu rücken. Wird das Abenteuer – wie bei Nerlich – als Schlüsselbegriff der Moderne gefasst, dann ergibt sich daraus eine unbestreitbare Legitimation für die Schule (2).
Da narrative, fiktive Literatur damit eine Grunddeterminante der vorliegenden Diskussion darstellt, ist sie im Folgenden auf ihre Anschlussfähigkeit an das Abenteuer zu befragen. Am literarischen Helden-Schema können sowohl typisch moderne Entwicklungen aufgezeigt werden, als auch, dass dieses in engem Schulterschluss mit der Struktur abenteuerlichen Unterwegsseins zu denken ist. Weiterhin ermöglicht eine Fokussierung der literarischen Helden-Kategorie eine Erweiterung des Konzepts von Übergangsobjekten, welche in der Art einer Mentoren-Beziehung durch fiktive Abenteuerlektüre Wirkmächtigkeit für die juvenile Ontogenese erlangen können (3).
Im darauffolgenden Schritt ist exemplarisch aufzuzeigen, wie die Bildungskategorie des Abenteuers innerhalb eines literarischen Werkes auszumachen ist. Dafür wird eines der populärsten Werke der Weltliteratur herangezogen: Der kleine Hobbit, von J. R. R. Tolkien. Nach einer Einordnung der Brisanz, die das Phänomen Tolkien globusumspannend verzeichnen lässt, sind die namensgebenden Wesens seines Erstlingswerks näher zu betrachten: Hobbits. Ihre strukturelle Nähe zu Kindern und Jugendlichen mündet in hochgradigem Identifikationspotenzial, was sie für die vorliegende Diskussion äußerst passfähig macht. Daran anschließend ist die exemplarische Ontogenese des kleinen Hobbits Bilbo Beutlin in den Blickpunkt der Betrachtung zu rücken. Auf Basis des von Becker erarbeiteten Strukturmodell des Abenteuers sind eklatante Wegmarken seiner entwicklungspsychologischen Reifung offenzulegen (4).
Schließlich sollen die verhandelten Sachverhalte innerhalb einer Diskussion im Horizont von Schule zusammengeführt werden. Dies mündet in einer exemplarischen Darstellung, inwiefern das vorliegende Konzept durch fächerübergreifenden Unterricht (Literatur-/Sportunterricht) in der aktuellen Schullandschaft wirkmächtig werden und das Dilemma von Schule und Abenteuer aufzulösen helfen könnte. Es wird weiterhin diskutiert, welches Potenzial eine solche schulische Thematisierung der Bildungskategorie des Abenteuers auch für den außerschulischen respektive postschulischen Bereich von Schülern entfalten könnte (5).
Im Fazit wird abschließend konkludiert, welchen Erkenntnisgewinn diese theoretische Auseinandersetzung im Spannungsfeld von Schule und realen/fiktiven Abenteuern leisten konnte und welche Folgefragen sich aus dem Dargelegten ergeben. Daher ist auch ein Ausblick zu wagen (6).
2 Das Erlebnis
Spätestens seit Gerhard Schulzes Gegenwartsdiagnose der Erlebnisgesellschaft (2005) exponiert sich die Kategorie des Erlebnisses wieder omnipräsent im gesellschaftlichen Habitus. Dies zeigt sich eindrucksvoll an vielerlei Komposita, welche beispielsweise in Form von „Erlebnisparks, Erlebnisreisen, Erlebnishotels“ (Witte, 2002, S. 10) vorliegen. Jener Markt, welcher derlei Erlebnisse für Konsumenten anbietet, verfügt über eine hohe Anziehungskraft und pekuniäre Prosperität (vgl. Becker, 2016, S. 21; vgl. auch Becker, 2007, S. 30). Disparat zu dieser Begriffspopularität erscheint, dass eine solche „inflationäre Verwendung von 'Erlebnis' und 'Erlebnisgesellschaft' ... in einem auffälligen Missverhältnis zur Klarheit eben dieser Begriffe [steht; M.R.]“ (Vester, 2004, S. 9). Deshalb ist zunächst der Begriff des Erlebnisses in den Fokus der Betrachtung zu rücken, um eine klare Konturierung zu schaffen (1). Im Horizont dieser Begriffsdefinition soll anschließend der Rezeptionsprozess des Lesens betrachtet werden. Zu Fragen ist, ob Lesen als Erlebnis definiert werden kann (2). Eine derart populäre Kategorie wie das Erlebnis muss sich auch der Kritik stellen – daher ist in einer abschließenden Betrachtung auf Schwierigkeiten und Grenzen des Begriffes, insbesondere im Horizont pädagogischer Arbeit, einzugehen (3).
2.1 Der Erlebnisbegriff – was ist eigentlich ein Erlebnis?
Die vielen Angebote mit dem Etikett Erlebnis führen zu einer hohen Bekanntheit und weiten Verbreitung des Terminus und „als alltagssprachlicher Begriff kann ‚Erlebnis‘ den Charme für sich verbuchen, dass sich jeder unter ihm etwas vorstellen kann“ (Vester, 2004, S. 9). Wenngleich Argumentationen, welche das absolutistische Jeder nutzen, mit Vorsicht genossen werden sollten, so ist das Grundproblem doch adäquat umrissen: Erlebnisse können auf einer solch breiten definitorischen Basis alles und nichts sein. Eine seriöse szientifische Betrachtung postuliert dahingegen Begriffsgenauigkeit und Trennschärfe, weshalb zu fragen ist, was genau ein Erlebnis ist.
Als einer der Ersten setzte sich in den Arbeiten zu seiner Lebensphilosophie Wilhelm Dilthey mit dem Erlebnis auseinander und durch ihn wurde der Begriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer Art zeitdiagnostischem Zentralbegriff (vgl. Becker, 2016, S. 21). Allerdings legt er selbst keine kohärente Analyse des Erlebnisbegriffs vor (vgl. Neubert, 1932/1990, S. 20). Selbiges wurde erst durch Waltraut Neubert geleistet, indem sie auf Grundlage der Dilthey’schen Schriften einen Erlebnisbegriff derivierte, welcher sich aus sieben Kriterien zusammensetzt (vgl. ebd. S. 20ff.; Witte, 2002, S. 10ff.). Demnach wird ein Erlebnis beispielsweise durch seine Unmittelbarkeit – also Direktheit – konstituiert, mit welcher es auf das Leben eines Individuums einwirkt. Ferner hebt es sich klar als etwas Spezifisches aus dem Erleben ab. Erleben kann demzufolge als eine Art kontinuierlicher Bewusstseins-Strom verstanden werden, aus welchem sich das einzelne Ereignis exponiert, welches dann als Erlebnis memoriert wird (vgl. Vester, 2004, S. 14). Zu betonen ist, dass dieser Vorgang nicht auf Rationalität rekurriert. Während Menschen ihr gesamtes Leben also erleben, sind Erlebnisse Momente oder Situationen, denen aufgrund ihrer individuell gefühlten Besonderheit unwillkürlich ein Gros an Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Auch der historische Charakter des Erlebnisses ist hervorzuheben, wonach
„alles bisher Erlebte in den folgenden Erlebnissen mit[wirkt; M.R.], d.h. jedes Erlebnis wird von dem individuellen seelischen Zusammenhang beeinflußt. Anders ausgedrückt ist jedes Erlebnis von der Individualität des Subjekts abhängig.“ (Witte, 2002, S. 12)
Wenn das Anbinden an subjektive (Vor-)Erlebnisse postuliert wird, dann ergibt sich daraus auch, dass „Menschen … objektiv gleichen Ereignissen subjektiv unterschiedliche Bedeutungen zu[messen; M.R.]“ (ebd.), was dazu führt, dass Erlebnisse nur von der jeweiligen Person selbst erlebt werden können und dass unterschiedliche Personen bei gleicher situativer Ausgangslage dennoch unterschiedliche – oder mitunter gar keine – Erlebnisse memorieren. Ein differenziertes begriffliches Instrumentarium zum Erlebnisbegriff hat Heinz-Günter Vester (2004) vorgelegt. Er unterscheidet vier Kategorien für Erlebnisse: Dimensionen, Bereiche, Modi und die Zeitstruktur. Selbige sind im Folgenden näher zu betrachten.
2.1.1 Erlebnisdimensionen
Was bis hier deutlich geworden sein sollte, ist, dass Erlebnisse „Ereignisse im Bewusstsein“ (Vester, 2004, S. 10) sind und es sich demnach zu Teilen um kognitive Vorgänge handelt, welche von der menschlichen Wahrnehmung bestimmt werden (vgl. ebd., S. 11).5 Es gilt: Je differenzierter und kontrastreicher die wahrzunehmende Welt sich gestaltet, umso wahrscheinlicher ist es, ein Erlebnis zu haben. Wobei ein Übermaß an Spannendem und Unbekanntem auch reizüberflutend und damit erlebnisverhindernd wirken kann. Eintönig-, Gleichförmig- und Erwartbarkeit hemmen ein Erlebnis hingegen (vgl. ebd.), was auch darauf verweist, dass Erlebnisintensität einer Steigerungslogik unterliegen und Erlebnisse mitunter schwer wieder zu erleben sind (vgl. Becker, 2001, S. 9).
Erlebnisse spielen sich allerdings nicht unikal auf der kognitiven Ebene ab (vgl. hierzu Germonprez, 2018, S. 11): Sie haben vor allem auch affizierenden Charakter und sind eng an Emotionen gebunden. Diese Emotionalität von Erlebnissen kann auf zwei Arten gedacht werden: Einerseits hinsichtlich ihrer Intensität, als auch hinsichtlich des Variantenreichtums der Emotionen (vgl. Vester, 2004, S. 11). Metaphorisch kann hierauf auch mit dem Terminus Gefühlsachterbahn referiert werden.
Als dritte und nicht zu unterschlagende Dimension müssen der lokomotorische oder auch behaviorale Folgereiz angeführt werden: Demnach können Erlebnisse Bewegung oder Verhalten initiieren. Hierbei kann es sich sowohl um eine innere Bewegtheit als auch um äußerlich-sichtbares Verhalten in der Folge von Erlebnissen handeln (vgl. ebd.).
Diese drei Kategorien stehen nicht unabhängig voneinander. Sie können sich reziprok potenzieren und die Erlebnisintensität steigert sich deutlich, wenn alle drei Dimensionen synergistisch wirken beziehungsweise durchlebt werden. Zur Veranschaulichung wählt Vester die Metapher der Erlebnisrakete, durch welche ein Erlebnis vervollkommnet wird (vgl. ebd., S. 12).
2.1.2 Erlebnismodus/Erlebnismodi
Als weitere Kategorie ist der Modus des Erlebens zu bestimmen, wobei in Aktivität und Passivität zu untergliedern ist: Im aktiven Modus wird ein Erlebnis gezielt aufgesucht oder herbeigeführt, indem teleologisch Kognitionen oder Emotionen respektive Anlässe für selbige aufgesucht werden. Aktives Erleben ist in den meisten Fällen eng an die lokomotorische Dimension gebunden. Gegenteilig konstituiert sich der passive Modus: Hier kommen Erlebnisse beziehungsweise Ereignisse auf das Individuum zu, was als Widerfahren oder auch Erleiden beschrieben wird. Beide Modi können durchaus dynamisch oszillieren und sind nicht immer trennscharf. Als Beispiel dient eine Achterbahnfahrt, welche aktiv aufgesucht und im Anschluss passiv durchlebt wird (vgl. Vester, 2004, S. 12).
2.1.3 Erlebnisbereiche
Als dritte Kategorisierungsmöglichkeit werden die sogenannten Erlebnisbereiche angeführt, welche sich an die Kant’sche Dreiteilung von Vernunft anlehnen. Demnach gibt es theoretische, praktische und ästhetische Erlebnisse. Theoretische Erlebnisse führen zu Erkenntnissen über die Welt, beispielsweise in der Forschung6 (vgl. ebd., S. 13). Praktische Erlebnisse hingegen liegen im Bereich des Sittlichen, weshalb sie ausgelöst werden, wenn etwas im Bedeutungskomplex des ethisch-moralischen durchlebt wird (vgl. ebd., S. 13). Exemplarisch könnte das aufmerksam-Werden auf ein moralisches Problem im Alltag genannt werden, wenn beispielsweise wahrgenommen wird, dass im Nachbarhaushalt ein Kind geschlagen wird: Dies wäre ein negativ konnotiertes moralisches Erlebnis. Letztlich bleibt noch das ästhetische Erlebnis. Dieses kann auftreten, wenn an etwas eine Qualität wie Schönheit oder auch Harmonie (oder deren dichotomen Oppositionen) wahrgenommen wird (vgl. ebd.), womit dieser Erlebnisbereich in enger Verbindung mit der Krise durch Muße (vgl. Kap. 3.2.1) steht.
2.1.4 Zeitstruktur von Erlebnissen
Erlebnisse können auch auf ihre Zeitstruktur hin untersucht beziehungsweise beschrieben werden. Diese ist in zweifacher Hinsicht wirkmächtig: Einerseits gilt es zu erfassen, wie lange ein Erlebnis dauert und andererseits, wie nachhaltig es wirkt. Erlebnisse werden in der Regel mit Ereignissen von kurzer Dauer verbunden, da sie sich punktuell aus dem Erleben abheben und durch ihre Besonderheit hervortreten (vgl. Vester, 2004, S. 14). Zu unterstreichen ist, dass das Erlebnis beispielsweise einer Achterbahnfahrt nicht mit dem zum Stehen kommen des Wagens enden muss: Es ist „vielmehr der Zeitrahmen, den das subjektive Erleben in der inneren Dauer (durée) einnimmt [interessant; M.R.]“ (ebd.) und dieser kann deutlich über die eigentliche Aktivität hinausgehen.
2.2 Literaturrezeption als Erlebnis?
Auf der Grundlage dieser definitorischen Betrachtung des Erlebnisbegriffes lässt sich fragen, ob nicht auch das Lesen als Rezipieren literarischer Werke ein Erlebnis sein kann respektive Erlebnisse genieren kann.7 Becker (2001) stellt fest, dass Erlebnisse unspezifisch sind, was bedeutet, dass eine trennscharfe Abgrenzung, welche Objekte oder Ereignisse Erlebnisse auslösen können, nicht vorgenommen werden kann.8 Es ist nur sicher, dass „Erlebnisse … ausgelöst [werden; M.R.], wenn etwas so tief beeindruckend ist, dass es gar Spuren im Gedächtnis hinterlässt“ (ebd.). Dies allerdings vermag auch das Rezipieren eines literarischen Textes zu leisten und das wiederum ist insofern innovativ, als dass die Erlebnispädagogik in ihrer Grundkonzeption vor allem das handlungsorientierte, leibgebundene Tun – in Form von körperlichen Aktivitäten wie zum Beispiel Wandern, Klettern und Paddeln – in den Fokus ihrer Methodik stellt (vgl. Becker, 2016, S. 23). Lesen hat im Methodikkonglomerat der Erlebnispädagogik hingegen keinen genuinen Platz. Dies mag daran liegen – und dies ist unverblümt zu konzedieren –, dass die postulierte Unmittelbarkeit des Erlebnisses nicht erfüllt wird, weil Rezeptionsprozesse immer an ein Medium als Mittler gebunden sind.9
Im Gegensatz dazu kann der historische Charakter des Erlebnisses aber auf die literarische Lektüre angewendet werden: Lesen ist ein wissensgesteuerter, konstruktiver Prozess, der in eminenter Weise durch das subjektive Vorwissen und die biographische Singularität des Rezipienten Sinn generiert. Ein literarischer Text mit seiner unveränderbaren, gedruckten Zeichenfolge suggeriert zwar eine objektive Narration, die Rezeption unterliegt dennoch immer einer subjektiven Färbung:
„Sich in einer literarischen Fantasiewelt zu bewegen, ist im Prinzip nicht so viel anders, als sich in der Alltagswelt zu orientieren. Auch hier wird man auf den eigenen Erfahrungsschatz zurückgreifen und man wird den eigenen Interessen und Fragen folgen, wenn man diese Welt erkundet und im wahrsten Sinne des Wortes ‚erfindet‘ und ‚konstruiert‘.“ (Renk, 2010b, S. 13; Hervorhebungen durch M.R.)
Es ist außerdem zu konstatieren, dass an alle vier von Vester (2004) aufgestellte Erlebnis-Kategorien (vgl. Kapitel 2.1.1 – 2.1.4) für das Lesen als Rezeptionsprozess Anschlussfähigkeit hergestellt werden kann:
Unbestreitbar ist, dass es sich beim Lesen um einen kognitiven Vorgang handelt, der auf Wahrnehmung basiert und dass es durchaus eine Frage der Textauswahl ist, ob das Rezipieren eher spannend oder langweilig ist. Gleichzeitig kann auch durch das Lesen spezifischer Passagen die Emotionalität des Rezipienten angesprochen werden, wobei wieder zwischen Intensität und Variantenreichtum von Emotionen differenziert werden kann. Mit der dritten (Erlebnis-) Dimension wird es schließlich spannend – die Frage, ob durch das Lesen von Texten auch ein lokomotorischer beziehungsweise behavioraler Folgereiz ausgelöst werden kann, exponiert sich bisweilen als Desiderat.10
Auch die von Vester (2004) beschriebenen Modus -Kategorie (vgl. Kapitel 2.1.2) ist auf den Rezeptionsprozess des Lesens anwendbar, wenngleich hier auf den ersten Blick eine deutlichere Trennung der beiden Modi auszuweisen ist: So wird sich aktiv für das Aufschlagen eines Buches entschieden und infolgedessen tritt durch den aktiven Leseprozess die Narration im passiven Modus auf den Rezipierenden zu. Wird passiv hier derart verstanden, dass der Text unveränderbar ist – dann kommt er also auf den Rezipienten zu, ohne dass ein aktives Eingreifen und Verändern – ähnlich der Achterbahnfahrt – möglich wäre.11 An dieser Stelle drängt sich allerdings die folgende Frage auf: Wie viel Konstruktion steckt in der Rezeption einer Narration? Mit einer konstruktivistische Perspektive auf den Rezeptionsprozess des Lesens literarischer Texte, ist selbiges als hochgradig subjektiver und vor allem aktiver Prozess zu beschreiben (vgl. Renk, 2010a). Der Sinn des Gelesenen ergibt sich auf der Grundlage hochgradig subjektiver Determinanten:
„Erkennen [ist; M.R.] kein passives Empfangen von Eindrücken, sondern gesteuert von selektiver Wahrnehmung und von unserem Wunsch, uns in der Welt zurechtzufinden, Schlüssel zu finden, mit denen sie [die Welt – auch die literarische; M.R.] handhabbar wird. (Renk, 2010b, S. 11)
Aus dieser Perspektive kann also festgehalten werden: Der Text, so wie jeder Rezipient ihn wahrnimmt, ist immer auch eine eigene Erfindung (vgl. ebd.) und wird damit auch subjektiv und aktiv gestaltet.
Auch die von Vester beschriebenen Erlebnisbereiche bieten eine hohe Passfähigkeit für den Leseprozess. So lässt sich in Abgrenzung zur bereits exemplarisch aufgeführten Forschung (vgl. Kapitel 2.1.3) feststellen, dass ebenso „in einem bescheideneren Sinne … Erlebnisse … denkbar [sind, beispielsweise; M.R.]; … wenn man eine ‚Entdeckung‘ macht bei der Lektüre eines Buches“ (Vester, 2004, S. 13),
womit erstmalig ganz explizit die Möglichkeit eines literarischen Erlebnisses ausgesprochen ist. Als spielerische Reflexionsfolie zum Aushandeln eigener Positionen, Sichtweisen und Handlungsmuster im Horizont des protagonistischen Agierens innerhalb einer Narration dient die Auseinandersetzung mit literarischen Erzählungen für den Rezipienten. Damit wird Literatur auch dezidiert für den zweiten von Vester beschriebenen Erlebnisbereich passfähig:
„Die Konfrontation mit dem Guten oder dem Bösen – bzw. mit dem, was man dafür hält – oder Ereignisse, die die Frage nach ethisch-moralischen Maßstäben beunruhigend aufwerfen oder in erhellender Weise beantworten.“ (Vester, 2004, S. 13; Hervorhebungen durch M.R.)
Der Rezipient ist gefragt, sich selbst ins Verhältnis zum Gelesenen zu setzen und eigene Wertmuster aus dem literarischen Probehandeln heraus zu erzeugen, welche infolgedessen in der realen Welt potenziell als wirkmächtig in den Handlungspraxen der Rezipienten in Erscheinung treten. Das Rezipieren literarischer Weltentwürfe ermöglicht mitunter „radikal andere Perspektiven auf die [eigene; M.R.] vertraute Alltagswelt“ (Abraham, 2000, S. 25).
Unbestreitbar ist Literatur ebenso als „Raum ästhetischer Erfahrung“ (Vester, 2004, S. 13) zu fassen. Vester konstatiert, dass der Erlebniswert hierbei vor allem in der Andersartigkeit und dem Nuancenreichtum begründet liegt, welche auf die Kognitionen und Emotionen des Erlebenden einwirken (vgl. ebd.). Doch auch die lokomotorische/behaviorale Dimension kann angesprochen werden: „Im Zuge von Prozessen der Betroffenheit und Identifikation wird auch das eigene Verhalten überprüft und eventuell modifiziert“ (ebd.).12 Dieser letzte Punkt ist für die Fragestellung der Arbeit von besonderer Bedeutung und wird erneut aufzugreifen sein (vgl. Kapitel 6).
Letztlich kann auch die Kategorie der Zeitlichkeit auf die Literaturrezeption angewendet werden, wobei äquivalent anzumerken ist: Die Dauer des Leseprozesses kann sehr genau bestimmt werden und auch, dass das Gelesene sehr viel länger nachwirken kann, wenn die Buchdeckel schon lange wieder geschlossen sind (vgl. ebd., S. 14). Ein imaginäres Beispiel soll dies verdeutlichen: Im Anschluss an die Lektüre eines Harry-Potter-Buches findet eine Schülerin in ein mimetisches Spiel, weil die Figur der Hermine – ihre Charakterisierung und ihre Art Probleme in der literarischen Welt zu bewältigen – tiefen Eindruck auf sie gemacht hat. Durch einfachste Requisiten – ein Bleistift vermag in diesem Spiel mit dem Imaginären zum Zauberstab werden – wird aus der Schülerin Hermine. Es generiert sich eine eigene Welt, welche aus den Zeichenfolgen der Buchstaben und Interpunktionszeichen des Buches herausgetreten ist und welche für die Schülerin nun realiter ist. Die Schülerin tut im Spiel nicht wie Hermine – sie ist Hermine (vgl. dazu Warwitz, 2016, S. 11).
Resümierend kann daher festgehalten werden: Ein Gros der konstitutiven Merkmale für ein Erlebnis können auch durch den Rezeptionsprozess des Lesens generiert werden oder anders ausgedrückt: Auch die Kulturtechnik des Lesens vermag es, Erlebnisse bei Rezipienten zu generieren. Im Kontext der vorliegenden Fragestellung erwächst aus dieser Erkenntnis eine interessante Überlegung: Wenn ein zeitliches Nachwirken von Gelesenem möglich ist, dann kann auf Grundlage der Rezeption von Der kleine Hobbit die lokomotorische Dimension in folgender Weise diskutiert werden: Wird angenommen, dass es literarische Figuren sind, welche mit ihrem Identifikationscharakter für kindliche und juvenile Leser von besonderer Bedeutung sind, ergibt sich hieraus die Anschlussmöglichkeit, dass Bilbo Beutlin als Protagonist und Held der Narration als eine Art literarisches Übergangsobjekt (vgl. Kapitel 4.2.2) verstanden werden kann, welches der Rezipient schließlich dabei begleiten oder auch dazu bewegen kann, aus der Rezeption des fiktiven Abenteuers heraus ein authentisches, bildungswirksames Realabenteuer zu erleben. Dieser Gedanke wird in Kapitel 6 wieder aufgegriffen und entfaltet. Zunächst ist die Betrachtung des Erlebnisbegriffes zu einem Ende zu führen, indem er als für die Pädagogik mitunter problematisch zu diskutieren ist.
2.3 Kritik am Erlebnisbegriff
Nachdem der Erlebnisbegriff nun konturiert ist und auch der Rezeptionsprozess des Lesens eines literarischen Textes als potenziell erlebnisträchtig diskutiert wurde, rückt nun die Begrenztheit des Erlebnisses, insbesondere im Horizont von Pädagogik in den Blick. Durch seine vielfältigen Erscheinungsformen hat der Begriff des Erlebnisses in der Gesellschaft einen Platz eingenommen, durch welchen er auch eine kritische „pädagogische Auseinandersetzung herausfordert“ (Witte, 2002, S. 10).
Die Erlebnispädagogik – sofern von ihr überhaupt im Singular gesprochen werden kann – konstituiert sich als vielschichtiges Methodenkonglomerat, welches die Erlebnisträchtigkeit von Aktivitäten aller Art in den Mittelpunkt der eigenen Arbeit stellt. Becker bemängelt allerdings das Fehlen einer kritischen Theoriebildung der Erlebnispädagogik, was in exorbitanter Disparität zur aktiven – und demzufolge unkritischen – Anwendung ihrer Praxis in den gesellschaftlichen Feldern steht:
„Despite its confirmed position and the widespread acceptance of its practices, neither a proper systematic reappraisal of the full one-hundred-year history of this pedagogical subcategory can be found nor can one perceive a noteworthy academic discourse within the field dedicated to its theoretical analysis or its normative orientation.“ (Becker, 2016, S. 20; vgl. dazu auch Becker, 2001, S. 4)
Ihre Legitimation erhält die Erlebnispädagogik nach wie vor häufig aus der Perspektive des Kulturpessimismus, wonach fehlende Ganzheitlichkeit, unkritisch-hedonistischer Konsumismus und Bewegungsmangel – um nur einige Argumente zu nennen – mit erlebnispädagogischen Heilsversprechen wie beispielsweise Ganzheitlichkeit und Unmittelbarkeit kompensiert werden sollen (vgl. Becker, 2001, S. 4f.). Diese Art des Kulturpessimismus muss dann einen Therapieansatz wie den Kurt Hahns (vgl. Stübig, 2007; Witte, 2002, S. 29f.) befürworten, welcher mit dem Terminus der Therapie unweigerlich Heilung konnotiert, was wiederum impliziert, dass pathologische Erscheinungen innerhalb einer Gesellschaft diagnostiziert und durch erlebnisträchtige Aktivitäten ausgeräumt werden können (vgl. Becker, 2016, S. 22). Eine affirmative Haltung demgegenüber kann sich dann mit den psychohygienischen Versprechen der – vor allem kommerziellen – Erlebnispädagogik zufriedengeben, wonach ein knisterndes Lagerfeuer die Teilnehmern vom stressigen Alltag befreit und diese gestärkt – im Sinne von Katharsis – in selbigen zurückentlässt. Derart absurd anmutende Versprechungen, welche Annahmen über die Art der Wirksamkeit ausklammern und die Suggestion, dass Wirkmächtigkeit für die Bildungsprozesse der Teilnehmer unisono nach Durchführung und Bezahlung der erlebnispädagogischen Arrangements eintritt, sind zu kritisieren (vgl. Becker, 2001, S. 5f.).
Eine Erlebnispädagogik, welche auch als adäquat im schulischen Kontext angesehen werden möchte, muss sich auf ihre methodologische Wirksamkeit und vor allem auf ihren Bildungscharakter13 hin befragen lassen. Im Kontext einer pädagogischen Instrumentalisierung des Erlebnisses ist vor allem nach der ausgegebenen pädagogischen Zielsetzung zu fragen. Dieser lässt sich das Erlebnis als subjektive Kategorie allerdings nicht unterordnen, weil es sich der pädagogischen Planbarkeit entzieht (vgl. Witte, 2002, S. 19): Zwar können Möglichkeitsräume für ein Erlebnis von Pädagogen bereitgestellt werden, allerdings kann nicht davon ausgegangen werden, dass auch wirklich ein Erlebnis bei den Teilnehmern der pädagogischen Intervention eintritt. Becker (2001) sieht den Erlebnisbegriff im Kontext von Pädagogik vor allem aus drei Gründen kritisch:
Wird die Kategorie des Erlebnisses im pädagogischen Kontext derart stark gemacht, muss damit eine Abwertung oder zumindest eine Subordination von Anderem einhergehen. Ist das Erlebnis das Primäre, werden beispielsweise begriffliche Weltzugänge gleichzeitig ins Sekundäre verdrängt (vgl. Becker, 2001, S. 9; vgl. hierzu auch Thiersch14, 1993, S. 50).
Als weiterer Kritikpunkt wird von Becker der bereits in Kapitel 2.2 angeklungene unspezifische Charakter von Erlebnissen angeführt: Wenn Erlebnisse von den unterschiedlichsten Objekten oder Situationen ausgelöst werden können, sie aber immer wieder dieselbe Parallele aufweisen, als Resultat der Auseinandersetzung mit jenen Objekten oder Situationen aufzutreten, dann verweist dieser Umstand auf ihre zeitliche Nachordnung (vgl. ebd.). Erlebnisse sind demnach
„Nebenprodukte vorgeordneter Handlungen [und; M.R.] unter dem Anspruch von Bildung müsste es [demnach; M.R.] um intensive Auseinandersetzungen mit einer Sache gehen.“ (ebd.; vgl. dazu auch Becker, 2016, S. 23)
Als dritten und letzten Kritikpunkt führt Becker an, dass mit der dezidierten Vermittlung von Erlebnissen vor allem ihre Intensität in den Fokus gerät. Dies ist aus einer pädagogischen Perspektive verhängnisvoll: Wird angenommen, dass Erlebnisse sich abnutzen und immer größerer Aufwand zum Erlangen gleicher oder gar gesteigerter Intensitätsgrade nötig wird, exponiert sich ein unüberbrückbarer Graben zwischen pädagogischer Vertretbarkeit und der Herstellung von Erlebnissen (vgl. Becker, 2001, S. 9). Es kann dann dazu kommen, dass Erlebnisse nur noch nach dem „Grad ihrer Intensität“ (ebd.) bewertet werden und sinnstiftende – gemeint sind pädagogisch wertvolle – Legitimationen darüber in Vergessenheit geraten.15 Becker macht auch darauf aufmerksam, dass Erlebnisse „von der Punktualität der Gegenwart dominiert [werden; M.R.]“ (ebd.), was – in der Zukunft liegende – pädagogische Wünsche ebenfalls tendenziell exkludiert (vgl. ebd.).
Die von Becker aufgeführten Kritikpunkte legen nahe, dass dem Erlebnis keine unumstößliche Fokussierung im pädagogischen Kontext zugestanden werden sollte, da unter der Prämisse einer methodisch zu erreichenden, pädagogischen Zielsetzung Erlebnisse nicht garantiert werden können – sie sind nicht mechanisch herbeiführbar, was übrigens bereits durch Neubert auf den Punkt gebracht wurde, denn: „Die Methode [kann; M.R.] nur ‚Hilfe zum Erlebnis‘ [sein; M.R.]“ (Neubert, 1932/1990, S. 71).
Dennoch steht außer Zweifel, dass „Erlebnisse bildende Wirkung besitzen“ (Witte, 2002, S. 19), sodass ihre Fertilität für pädagogische Prozesse unbestritten ist und ein pädagogisches Arbeiten mit ihnen trotz der berechtigten Kritik lohnend erscheint. Becker kommt diesem Umstand entgegen, indem er mit seiner Abenteuerpädagogik die Handlungsebene in den Fokus der Betrachtung rückt und diesem die Bewusstseinsebene von Erleben und Erlebnis unterordnet. Wie genau das Abenteuer konturiert ist und welche vielversprechenden Anschlussmöglichkeiten sich durch die von Becker vorgenommene divergente Fokussierung ergeben, wird daher im nächsten Kapitel thematisiert.
3 Das Abenteuer
Für die vorliegende Fragestellung ist der Begriff des Abenteuers hochgradig interessant und anschlussfähig, da mit der Handlungspraxis von Bilbos Reise abenteuerliches Unterwegssein in den Mittelpunkt der zu rezipierenden Narration gestellt wird. Bevor die bildsame Ontogenese des kleinen Hobbits allerdings unter dem Aspekt des Abenteuers nachvollzogen werden kann, ist es zunächst erforderlich, den Begriff des Abenteuers als manifeste Kategorie in seinen Einzelheiten zu diskutieren. So verrät beispielsweise der Duden, dass ein Abenteuer eine „mit einem außergewöhnlichen, erregenden Geschehen verbundene gefahrvolle Situation [ist; M.R.], die jemand zu bestehen hat“ (Duden, 2019a). Weiterhin wird in dem bekannten Wörterbuch ausgeführt, dass Abenteuer ein Synonym für ein „außergewöhnliches, erregendes Erlebnis“ (ebd.) sei.16 Die dritte Bedeutung schließlich definiert das Abenteuer als ein „riskantes Unternehmen“ (ebd.).
Aus dieser Betrachtung wird deutlich, dass der Abenteuerbegriff in der Alltagssprache einer relativ weit gefassten Definition unterliegt und ein mitunter diffuses Wortfeld inkludiert.17 So gefasst läge in allen drei folgenden Beispielen ein Abenteuer vor: Ein längeres Unterwegssein in der Fremde, unter bewusster Inkaufnahme von potenziellen Unsicherheiten und Handlungszwängen. Weiterhin in zeitlich eher kurzen Handlungen wie einem Abfaller vom Dreimeterbrett (vgl. Warwitz, 2016, S. 150f.) genauso wie in sogenannten Liebesabenteuern.18
Diese semantische Komplexität legt nahe, zunächst einige Begriffsabgrenzungen vorzunehmen. Es ist also im ersten Schritt der Abenteuerbegriff selbst zu beschreiben und weiterhin ist eine Abgrenzung zu den eng an sein Wortfeld angebundenen Begriffen des Risikos und des Wagnisses vorzunehmen, um Trennschärfe zu gewinnen (1). Daraufhin gerät das (reale) Abenteuer in den Fokus und zwar dergestalt, dass es als Handlungsmodell mitsamt seiner konstitutiven Facetten beschrieben wird, um anschließend die Problematik seiner Pädagogisierung thematisieren zu können. In Anlehnung an den weitgefassten Abenteuerbegriff des Dudens ist außerdem darzustellen, inwiefern abenteuerliche Handlungspraxen ihren Weg in die Schule bereits gefunden haben (2). Um daran anschließend wieder an die vorliegende Fragestellung anknüpfen zu können, ist in einem weiteren Schritt auf fiktive Abenteuer und das ihnen inhärente Bildungspotenzial einzugehen. Wird der von Nerlich (1997) aufgestellten These gefolgt, dass es sich beim Abenteuer um den Schlüsselbegriff der Moderne handelt, dann darf sich eine Institution wie die Schule – wird sie ihrem Selbstanspruch gerecht und nimmt sie ihren Bildungsauftrag ernst – diesem nicht kategorisch entsagen (3).
[...]
1 Diese Aussage bezieht sich vor allem auf den deutschsprachigen Raum. Historische Übersichten zur Erlebnispädagogik finden sich u. a. bei Witte (2002, S. 23ff.); Stübig (2007, S. 99ff.) sowie Fischer & Ziegenspeck (2008). Sine ira et studio sei allerdings angemerkt, dass eine Inthronisierung Platons als eine Art Urvater der modernen Erlebnispädagogik, wie sie sich in der Fachliteratur passim finden lässt (vgl. bspw. Witte, 2002, S. 23), dann doch etwas weit hergeholt wirkt.
2 Innerhalb dieser Arbeit wird mit dem Untersuchungsgegenstand Der kleine Hobbit von J.R.R. Tolkien (vgl. DkH) mit dem Terminus Literatur vor allem auf das Buch als Medium verwiesen. Diese Auswahl ist exemplarisch, allerdings nicht willkürlich, sondern eher pragmatisch: Im Horizont einer häufig als mangelhaft attestierten technischen Ausstattung von deutschen Schulen (vgl. bspw. Mauss Research, 2018) erscheint die primäre Diskussion am Beispiel des Buches plausibel, denn der Umsetzbarkeit im Praxisfeld Schule werden somit aktuell vorhandene finanzielle und strukturelle Widerstände bereits im Vorfeld entzogen. Außerdem ist das Lesen als Kulturtechnik in der Schule tradiert. Gleichwohl zeichnet sich Tolkiens Werk durch einen hohen Grad an intermedialer Vermarktung aus, welche ein umfangreicheres Bild seiner Inhalte und Charaktere zeichnet: Das Tolkien-Universum kann längst auch in Form von beispielsweise Computerspielen und Filmen rezipiert werden. Da auch Filme mittlerweile tradierte Unterrichtsmedien sind, wird sich die Konturierung von Bilbos Ontogenese auch auf die audiovisuellen Adaptionen stützen. Durch den Ansatz von Aarseth (1997) könnten sogar Computerspiele dezidiert als Literatur ausgewiesen werden. Interessant erscheint hierbei vor allem der gesteigerte Grad an Interaktivität und Immersion der Rezipienten. Anschlussmöglichkeiten für die vorliegende Diskussion an Computerspieladaptionen seien daher ausdrücklich benannt. Mit zunehmender Digitalisierung auch des Schulalltags wird sich zukünftig potenziell eine Passfähigkeit auch für die Schule herausbilden (vgl. hierzu bspw. Piniek, 2009) und mit steigender Verbreitung und Erschwinglichkeit von Virtual Reality ist überdies eine völlig andersartige Eingebundenheit (Immersion) in Erzählstrukturen zu erwarten. Dies ist allerdings noch Zukunftsmusik und sei daher hier nur angedeutet. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang außerdem auf die körperlichen Aspekte des eSports, der nach Froböse mit seinen besonderen Anforderungen an (Fein-)Motorik und Stressresistenz der Spieler mitnichten als körperlos denunziert werden kann (vgl. Schütz, 2016).
3 Aus Gründen des besseren Textverständnisses und der Begünstigung des Leseflusses des Rezipienten wird in dieser Arbeit auf eine genderpolitische Nennung beider Geschlechter, mit Verweis auf das generische Maskulinum, verzichtet (vgl. hierzu auch Granzow-Emden, 2013, S. 2). Jegliche, in dieser Arbeit Verwendung findende Form des generischen Maskulinums schließt ausdrücklich beide Geschlechter mit ein. Die Distinktion von grammatikalischem und natürlichem Geschlecht sei an dieser Stelle explizit betont (vgl. Eisenberg, 2017). Die irreführenden Kunstformen einer vermeintlich geschlechtssensiblen Sprache, die mit dem Sprachgefühl ebenso wenig wie mit dem grammatischen System kompatibel sind, werden abgelehnt. Sprachwandel kann nur natürlich erfolgen. Wohin eine politische Verordnung von selbigem führen kann, ist bspw. in Orwells 1984 literarisch abgebildet.
4 Nach Hartmut von Hentig (1989, S. 77) fehlt es der Kulturinstitution Schule an authentischen und genuinen Lebensweltbezügen: „Wenn das Leben eine Tätigkeit nicht mehr braucht und also nicht mehr lehrt, wird sie zum Gegenstand von Schule. … Stets verliert die Tätigkeit dabei ihr Maß. … In der Schule singt man nicht, weil es Freude macht, sondern weil Musik auf dem Lehrplan steht.“ Dies führt auch zu dem, was Jürgen Baumert diagnostiziert hat: Demnach unterliegt die hiesige Schullandschaft einem Primat des Kognitiven (vgl. Baumert, 2002, S. 105), was als Indiz für die schulinterne Geringschätzung handlungsorientierter Praxen ausgelegt werden kann. Der Ansatz der vorliegenden Arbeit diskutiert die Bildungskategorie des Abenteuers theoretisch auch als kognitive Komponente, womit dem Abenteuer ein Weg in die Schule gebahnt werden könnte und woraus im Endeffekt eine gesellschaftliche Höherachtung abenteuerlicher Handlungspraxen im (außer-)schulischen Bereich erwachsen könnte. Wird angenommen, dass in Schulen in der überwiegenden Mehrheit der Fälle theorielastig und hypothetisch gearbeitet wird, dann fügt sich das Abenteuer somit mimetisch in die kognitive Ausrichtung des aktuell wirkmächtigen Schulalltags ein. Ein strukturäquivalentes Beispiel mag dies verdeutlichen: Der Mathematikunterricht stellt in der Regel auch nur theoretische Lerngelegenheiten bereit. Durch ein entsprechendes Studium im Anschluss an die Schulzeit mögen dann die Kompetenzen ausgebildet werden, welche letztlich dazu befähigen, dass beispielsweise die Brücke, die mit ihren Druck- und Zuglasten theoretisch berechnet wird, dann auch praktisch umgesetzt – also gebaut – wird. So verstanden kann eine theoretische Auseinandersetzung mit der Bildungskategorie des Abenteuers – beispielsweise durch Literatur – in der Schule dazu führen, dass außerschulisch (nach der Schulzeit oder in der schulfreien Zeit der Ferien) ein authentisches, reales Abenteuer aufgesucht und ausgehalten wird, um die subjektive Ontogenese voranzutreiben. Beispiele dafür können vielfältig aufgezeigt werden: Von autonom gestalteten Trekkingtouren bis hin zu eigenverantwortlich geplanten Work-and-Travel-Reisen oder gar einer Handwerker-Wanderung für den langen Zeitraum von drei Jahren und einem Tag (Walz).
5 Vester deriviert Erlebnisse durch ihre enge Wahrnehmungsbindung überdies als „anthropologische Selbstverständlichkeit“ (2004, S. 10), worauf er eine deutliche Kritik am Erkenntniswert der Erlebnisgesellschaft Schulzes (2005) aufbaut. Ins Pejorative abgleitend konstatiert er: „Die Diagnose einer Erlebnisgesellschaft [sei; M.R.] trivial und … inhaltsleer“ (Vester, 2004, S. 10). Diesem Urteil soll an dieser Stelle nicht gefolgt werden, scheint es doch zu verkennen – mit Ralf Dahrendorf ausgedrückt –, dass „Soziologie … das Selbstverständliche zum Gegenstand der Reflexion [macht; M.R.]“ (Goffman, 2015, S. X).
6 Das Feld der Forschung wird auch an anderer Stelle als erlebnisreich und Wagnis erfordernd beschrieben: Warwitz (2016) versteht Forschen als einen aktiv suchenden „Vorstoß ins Unbekannte“ (ebd., S. 52f.). Forschen lässt sich mit Warwitz jedoch deutlich umfangreicher fassen – im Gegensatz zur Vester’schen Kategorisierung, welche die theoretische Komponente hervorhebt, exponiert sich bei Warwitz die praktische und mitunter leibgebundene Seite des Forschens (vgl. ebd.), welche theoretisch alle drei Erlebnisbereiche Vesters inkludieren kann.
7 Angemerkt sei: Die Gattungs- und Genrevielfalt in der Literatur ist immens, sodass es an dieser Stelle unmöglich erscheint, Lesen als Erlebnis für jegliche Literatur abzuleiten. Die vorliegende Arbeit nimmt mit Der kleine Hobbit explizit und exemplarisch ein literarisches Werk in den Fokus, welches obendrein abenteuerliches Unterwegssein thematisiert.
8 Aus dieser Erkenntnis leitet Becker die Schwerfälligkeit der Erlebnispädagogik ab, eine klare inhaltliche Rahmung ihrer Aktivitäten abzustecken (vgl. Becker, 2001, S. 9). Dies ist einer der Umstände, durch welche sich die Erlebnispädagogik kritisierbar macht, was in Kapitel 2.3 genauer thematisiert wird.
9 In Bezug auf die gebetsmühlenartige Repetition dieser Unmittelbarkeit verweist Thiersch (1993, S. 49) auf den Umstand, dass eine unkritische Apotheose selbiger dazu verführen kann, allein die exklusive „Unmittelbarkeit des [erlebnispädagogischen; M.R.] Geschehens schon als Erfolg zu buchen.“ Eine solche Überhöhung versperrt allerdings den Weg zur selbstreflexiven Wahrnehmung und überführt die gebotene sowie nötige Selbstkritik der pädagogischen Disziplin, aus welcher erst innovative Momente erwachsen können, in die Sphäre des Obsoleten. Auch Fragen nach Wirksamkeit und Transfer, wie sie bei Witte (2002) und Schnödlbauer (2000, S. 90ff.) gestellt werden, würden sich mit einem unkritischen Starkmachen des Unmittelbaren erübrigen, womit die Erlebnispädagogik Gefahr liefe, eine „black box“ (Thiersch, 1993, S. 38) zu sein.
10 Im Rahmen des SFB 447 Kulturen des Performativen ist von Wenzel & Lechtermann (2001) ein Untersuchungsansatz für Performanz in Bezug auf mittelalterlicher Literatur vorgelegt worden. Allerdings geht es hierbei nicht um das Lesen als performativen Akt im Sinne einer äußerlichen Bewegungsfolge des Rezipierenden aufgrund des Lesens, sondern um die Thematisierung performativer Sprechakte und damit den Bezug der sprachwissenschaftlichen Sprechakttheorie (diese Theorie besagt grob zusammengefasst, dass gesprochene Worte Handlungen gleichen können. Ein Beispiel: Mit dem Ausspruch „Ich taufe dich auf den Namen Max“ geht auch die Tauf handlung einher – dies wäre demnach ein performativer Sprechakt. Ein Artikel zur Thematik findet sich im selben Band, vgl. Krämer & Stahlhut, 2001; eine umfangreichere Einführung in den Themenkomplex leistet Meibauer, 2008, S. 84ff.) auf die mittelalterliche Konzeptualisierung von Lesen – denn Lesen war in dieser Zeit vor allem Vorlesen respektive laut Lesen. Wenzel und Lechtermann konstatieren: „Die Körperenergie der performativen Akte fördert auch auf seiten [sic!] der (literarischen) Beobachter [gemeint sind hiermit Vorleser sowie Zuhörer; M.R.] eine multisensorische Bewegung, die affektive Teilhabe des Körpers als eine Wahrnehmung im extensiven Sinne von ‚Partizipation‘“ (Wenzel & Lechtermann, 2001, S. 193) und zielen damit auf eine ausdifferenzierte Betrachtung der Wahrnehmungsweise von Literatur durch mittelalterliche Rezipienten und eben nicht auf einen lokomotorischen Folgereiz im Anschluss an (eigene) literarische Lektüre. Aus diesem Desiderat, welches innerhalb der vorliegenden Arbeit nicht ausgeräumt werden kann, ergibt sich jedoch eine äußerst spannende und in Kapitel 6 theoretisch zu diskutierende Folgefrage: Wenn Lesen als performativer Akt verstanden wird, kann dann auf der Grundlage abenteuerlicher Literaturrezeption in der Schule davon ausgegangen werden, dass ein lokomotorischer Folgereiz Schüler dazu verleitet, ein authentisches Abenteuer anzugehen? Es muss außerdem konkludiert werden, dass eine körpersoziologische Betrachtung, welche unter Lesen mehr als bloß das oszillierende Bewegen der Augen versteht, ebenfalls ein Forschungsdesiderat darstellt. Zu fragen wäre also: Wie viel Körperlichkeit steckt im Lesen?
11 Verwiesen sei an dieser Stelle nochmals auf den pragmatisch-enggeführten Literaturbegriff dieser Arbeit. Die Kategorie des Erlebnismodus würde im Horizont gesteigerter Interaktivität (z. B. im Computerspiel) wiederum eine völlig neue Perspektive auf Aktivität freisetzen und eine gesonderte Diskussion der Modus-Kategorie postulieren (vgl. Anmerkung 2).
12 Angemerkt sei, dass sich Verhaltensmodifikationen hochgradig diffizil gestalten (können) und durch die angeführte Argumentation nicht der Eindruck entstehen soll, dass selbige durch die unprätentiöse Lektüre spezifischer literarischer Werke ohne weiteres zu erreichen wären. Dies widerspricht allerdings auch ihrer prinzipiellen Kontingenz nicht.
13 Wird aufgrund eines (gesellschaftlich) diagnostizierten Mangels die Thematisierung einer Sache in der Schule angestrebt, dann rückt der Bildungsgehalt der jeweiligen Sache in den Hintergrund, weil er für die Kompensation eines vermeintlichen Defizits nicht weiter relevant erscheint. Ein Beispiel dafür ist die Defizithypothese, wonach ein angeblich deutlicher Rückgang der Bewegungsaktivitäten im Kindesalter vorliegt (vgl. Laging, 2017, S. 40ff.). Um gesundheitlichen Folgeschäden präventiv zu begegnen, sei der Schulsport als Kompensation legitimiert. Eine solche Engführung auf die Gesundheitsperspektive bedeutet gleichzeitig, den Sport nicht als bildungsrelevant anzuerkennen. Dem ist allerdings zu widersprechen: Erstens ist Sport nicht unisono gesund – vor allem leistungsmäßig betriebener Sport geht häufig mit somatischen Verschleiß- und Abnutzungserscheinungen einher – und zweitens ist Sport sehr viel mehr als kardiovaskuläres Training im Dienste eines missverstandenen Gesundheitswahns. In der Bewegungskultur und damit auch im Sport liegen mannigfaltige Bildungsmöglichkeiten, welche eine ungleich bedeutendere Legitimation für die schulische Auseinandersetzung mit Bewegung und Sport schaffen (vgl. ebd., S. 11ff.; vgl. außerdem Prohl & Scheid, 2017, S. 16ff.). Äquivalent dazu darf auch das Erlebnis nicht als Surrogat der vermeintlichen Defizite Ganzheitlichkeit und Unmittelbarkeit eine Legitimation in der Schule anstreben.
14 Es sei darauf hingewiesen, dass Thiersch in seiner Argumentation die mittlerweile vorliegende Trennschärfe zwischen den Begriffen Abenteuer- und Erlebnispädagogik mitunter vermissen lässt, was allerdings auf das Erscheinungsjahr der Publikation – 1993 – zurückzuführen ist. Die von Becker vorgenommene Zentralisierung und Stärkung des Abenteuerbegriffs für eine erlebnisträchtige Pädagogik war noch nicht existent. Für eine gesellschaftliche Momentaufnahme Anfang der 1990er-Jahre interessant ist außerdem die Feststellung Thierschs, dass „die besondere Form Abenteuer … erstaunlicherweise bei Schulze [s Erlebnisgesellschaft; M.R.] keine Rolle spielt“ (Thiersch, 1993, S. 43).
15 Was dann bleibt ist „Fun, Fun, Fun“ (Becker, 2001, S. 14), jedoch reicht Spaß als handlungslegitimierender Impuls im Kontext pädagogischer Auseinandersetzung natürlich nicht aus – es muss um einen angestrebten Mehrwert gehen. Für den Wagnisbereich umschreibt Warwitz dies, indem er „den reinen Reizsucher vom Sinnsucher im Wagnis“ (vgl. Warwitz, 2016, S. 269) distinguiert.
16 Mit Verweis auf den in Kapitel 2 diskutierten Erlebnisbegriff muss deutlich werden, wie rudimentär und schemenhaft die synonyme Verwendung der Begrifflichkeiten Erlebnis und Abenteuer im Duden ist.
17 Nerlich (1997, S. 19) konzediert, dass „der Begriff Abenteuer inzwischen zu einer trivial-kurrenten Münze geworden ist.“ Dennoch verweist er auf seine Wichtigkeit zum Verständnis moderner Gesellschaften, denn „die Kunstproduktion der Moderne seit dem 12. Jahrhundert [denkt; M.R.] in Abenteuer -Kategorien“ (ebd.), was auch von Wirtschaftsseite nutzbar gemacht wurde, in Form von joint venture und venture capitalism (vgl. ebd.). Der Lockerung des genuinen Abenteuerverständnisses hält er entgegen: „Einen [vermeintlichen; M.R.] Abenteuerurlaub in der Wüste oder anderswo hätte Chrétien de Troyes nicht für eine aventure, sondern für ein zweifelhaft-masochistisches Vergnügen gehalten“ (ebd.).
18 Das Beispiel des Liebesabenteuers führt im konkreten Fall des Dudens überdies die Anwendungslogik eines Wörterbuchs ad absurdum: Demnach verbirgt sich hinter dem Lemma Liebesabenteuer nämlich ein „kurzes, erotisches Abenteuer “ (Duden, 2019a). Der Begriff des Abenteuers wird hier also genutzt, um sich selbst zu erklären. Ein Abenteuer ist demnach: Ein Abenteuer. Dies könnte einerseits als nichtssagend ausgelegt werden. Es sei an dieser Stelle aber eine vielsagende Gegenthese aufgestellt: Der knappe Raum eines einzelnen Lemmas im Wörterbuch ist vielleicht schlichtweg nicht ausreichend, um das Abenteuer holistisch oder auch nur zufriedenstellend zu definieren.
- Arbeit zitieren
- Martin Reese (Autor:in), 2019, Abenteuer(-pädagogik) und Schule – ein unauflösbares Dilemma? Bilbo Beutlin als literarisches Übergangsobjekt juveniler Rezeption und die Bildungskategorie des Abenteuers im Horizont seines literarischen Lebens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1013012
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