Der Essay erklärt mithilfe von Durkheims Theorie anhand des Beispiels des Schamanen Alexander Gabyschew, weshalb alle Religionen untereinander im Grunde flache Hierarchien zeigen und denselben menschlichen innerlichen Drang als Ursprung vorweisen.
„Schamane will Putin angeblich den Teufel austreiben“. Derartige Schlagzeile im 21. Jahrhundert in den öffentlichen Medien zu lesen ruft beim Leser sofort große Verwunderung hervor. Es stellt sich unweigerlich die Frage, wer sich hinter solch einem Vorhaben verbirgt und welche Mechanismen diejenige Person dazu verleiteten oder gar unterstützten, den Plan in die Tat umzusetzen und dabei Anhänger zu finden, zunächst in einer begrenzten Anzahl: 12. Diese zahl ruft Assoziationen hervor: Auch Jesus von Nazareth begleiteten 12 Jünger auf seinem Weg. Möchte der Schamane sich auf eine Ebene mit dem Menschensohn stellen? Der Soziologe Emile Durkheim liefert in seinem Text "Die elementaren Formen des religiösen Lebens" aus dem Jahre 1912 mögliche Antworten auf diese Frage. Aus soziologischer Perspektive wird analysiert, wie derartigen Personen, unabhängig von der zugehörigen Religion, derartige Legitimation zuteil wird.
Schlagzeilen zum jakutischen Schamanen
Am 20. September 2019 machten große Schlagzeilen auf sich aufmerksam: „Schamane will Putin angeblich den Teufel austreiben“, „Zauberei gegen Zauberei: Schamane wollte „Dämon“ Putin aus Moskau vertreiben“, „Schamane mit politischer Agenda“1. Derartige Schlagzeilen im 21. Jahrhundert zu lesen, ruft erstmal Erstaunen und Verwunderung beim Leser hervor. Es stellt sich sofort die Frage, wer und was sich hinter diesem außergewöhnlichen und gewagten Vorhaben verbirgt. Es handelt sich in der Tat um einen einfachen Mann namens Alexander Gabyschew, ein Schamane aus dem sibirischen Jakutien. Im Jahre 2019 organisierte er eine Protestaktion in Form eines Fußmarsches von Jakutien bis in die Hauptstadt Russlands, Moskau. Zahlreiche Menschen schlossen sich diesem Marsch an und unterstützten den Schamanen materiell meist in Form von Finanzen oder leisteten ihm „mentalen Beistand“. Dieser zunächst einfache Mann aus Jakutien scheint eine Menge an öffentlich sichtbaren und weniger sichtbaren Anhängern gewonnen zu haben. Laut einem kurzen Dokumentationsvideo der BBC Russia war die dabei von ihm erwünschte Anhängerzahl die mystische Zahl 12. Dieser Umstand ruft Assoziationen mit dem im Christentum angebeteten „Jesus von Nazareth“ hervor, welchen ebenfalls 12 auserwählte Jünger begleiteten. Auch hatte der Schamane ein klares Ziel vor Augen- er wollte Putin aus dem Kreml vertreiben, genauer gesagt den „Dämon aus ihm vertreiben“. Dabei taucht unweigerlich die Frage auf, weshalb der Schamane sich traut, solche Äußerungen von sich zu geben und welche Mechanismen seine Handlungen anleiten oder in den Augen seiner Glaubensgemeinschaft legitimieren. Im Rahmen des Kultursoziologieseminars behandelten und erfuhren wir einige wichtige Kulturbegriffe, die in der Lage wären, solche sozialen Phänomene aus soziologischer Perspektive zu erklären. Schlussfolgerung war, dass der Kulturbegriff äußerst diffus und schwer erfassbar ist, weshalb eine Vielzahl an Definitionen und Theorien existiert.
Am geeignetsten für zuvor dargestelltes Ereignis erscheint der im Seminar behandelte Grundlagentext von Emile Durkheim aus dem Jahre 1912 „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“. In diesem Text stellt Durkheim von den Anfängen des religiösen Lebens des Menschen bis zu seiner Zeit anschaulich dar, inwiefern das dem Menschen innewohnende Bedürfnis nach der Schaffung und Verehrung von göttlichen Figuren sein Denken und Handeln stets lenkte. Anschaulich analysiert er hierfür zunächst die möglichen Ursprünge menschlicher Religion, weshalb er solche archaische Glaubensformen wie die der Aborigines Australiens detailliert beschreibt und analysiert. Durchaus interessant erscheint Durkheims Gegenüberstellung, genauer gesagt, Gleichstellung der archaischen Religionen und der heutigen modernen Gesellschaftsform. Letztere sei auch eine Form von Religion. Dabei könne keine hierarchische Ordnung unter diesen bestehen, da jegliche Religionsausprägung dieselben Mechanismen vorweist und gleichermaßen von dem Glauben ihrer Anhänger abhängt. In diesem kurzen Essay werde ich mithilfe von Durkheims Religionstheorie den noch heute gegenwärtigen Schamanismus in Sibirien analysieren anhand des prägenden Ereignisses von Seiten des Sibirischen Schamanen, Alexander Gabyschew.
Schamane Alexander Gabyschew
Der sich selbst ernannte „Krieger Schamane“ ist laut dem russischen Artikel von Andrej Satirko „Jakutischer Schamane läuft zu Fuß nach Moskau, um Putin zu vertreiben“ 1968 in Jakutien geboren und hat an der Staatlichen Universität Jakutien Geschichte studiert, jedoch als Schweißer und Hausmeister gearbeitet. Im Jahre 2019 erfasste ihn das Vorhaben, in einem Protestmarsch, lediglich mit einem kleinen Wägelchen und überlebensnotwendigen Gegenständen ausgestattet, von Jakutien nach Moskau den angeblich von dämonischen Kräften besessenen Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, aus dem Kreml zu vertreiben. Sein Ziel war, im Jahre 2021 in Moskau anzukommen. Auf seinem Weg schlossen sich ihm zahlreiche Menschen an, was der zuvor erwähnte Autor Andrej Satirko leiblich beobachtete. Alexander Gabyschew wurde dabei von vielen in Jakutien und den umliegenden Regionen befindlichen Menschen, die seine Meinung teilten, auf unterschiedliche Arten unterstützt. Laut eigenen Worten war er drei Jahre lang „verrückt“ nach dem Tod seiner geliebten Frau, weshalb seine Mutter ihn zum Leben in den Wald schickte. Nach seinem Aufenthalt dort und der sogenannten „Schamanenkrankheit“ wurde er von der Natur zum Schamanen erwählt2. Seine ersten ausgestrahlten Worte im BBC Russia Film waren folgende: „Gott hat mir befohlen, den Putin Dämon zu vertreiben, ich gehe ihn vertreiben. Nur ein Schamane ist dazu in der Lage, mit einem Dämon zu kämpfen“3.
Spiegel Panorama fasst seine Mission folgendermaßen zusammen: „Vor Hunderten Menschen soll er etwa gerufen haben: "Putin ist kein Mensch, sondern ein Dämon." Der Politiker müsse aus dem Kreml verbannt werden. Er wolle dies mit Protesten versuchen, scheue sich aber nicht, auch Magie einzusetzen, sagte der Schamane demzufolge“4. Allein an zuvor zitierten Aussagen lässt sich erkennen, welche Sonderstellung und Privilegierung in bestimmten Tätigkeitsausübungen einem Schamanen laut seinen eigenen Worten vorliegen. Letzen Endes gelang ihm sein Vorhaben leider nicht. Alexander Gabyschew wurde in Ulan-Ude angehalten und von den Behörden nach Jakutien zurückgebracht, wo er in eine Irrenanstalt gebracht wurde.
Schamanismus in Sibirien
Um die zuvor erwähnten Informationen einordnen zu können, wird nun allgemein der noch heute praktizierte Schamanismus in Sibirien skizziert. Aus religionsphänomenologischer Sicht lässt sich der Schamanismus als eine religiöse Erscheinung betrachten, die aus religiösen, magischen und kultischen Komponenten besteht. Diese lässt sich überwiegend im nordeurasiatischen und zirkumpolaren Raum wie Sibirien beobachten. Über den Ursprung des Wortlauts herrschen Uneinigkeiten. Es besteht unter anderem die Annahme, dass das Wort aus dem Sanskrit stammt und übersetzt „Bettelmönch“ bedeutet. Die Aufgabe eines Schamanen besteht darin, als Mittler zwischen Übernatürlichen und Irdischen Kräften zu fungieren mithilfe von „ritualisierten visionär-ekstatischen“ Techniken5. Durch diese spezifische Komponente sollen sich die Schamanen von einfachen „Magiern“ unterscheiden, welche lediglich auf ein rein „äußerlich- magisches Zauberverfahren“ aufbauen. Durch derartige Sonderstellung seinesgleichen in seiner Gemeinschaft erfüllt der Schamane wichtige Aufgaben in seiner Gemeinschaft, zu welchen andere Gemeinschaftsmitglieder nicht befähigt sind. Laut Ivar Paulson agiert der Schamane dabei als „psychomentales Sicherheitsventil“, welches Ungewissheiten auflöst und vor Gefahren im Diesseits und im Jenseits schützt. Nicht jedes Gemeinschaftsmitglied kann problemlos zum Schamanen werden. Wer dazu auserwählt wird, entscheidet lediglich der Wille der Geister. Dabei handelt es sich größtenteils um spezifische „Schamanengeister“, welche im Körper eines (vorherigen) Schamanen leben und zur gesamten Sippe gehören. Stirbt dieser, so begeben sich die Sippengeister auf die Suche nach einem neuen Sippenmitglied. In dieser Zeit der „Kandidatensuche“ überkommen die Sippenmitglieder schreckliche Krankheiten, bis die Geister sich endgültig in einem auserwählten Mitglied niedergelassen haben. Im Anschluss daran überkommt diesen die sogenannte „Schamanenkrankheit“, welche von starken körperlichen Schmerzen begleitet wird, die er ausschließlich in einem Zustand der Ekstase durch Trommeln überwinden kann. Währenddessen wird dessen Fleisch von den Sippengeistern „zerstückelt“ und anschließend wiederhergestellt. Nach dieser Wiedergeburt gilt der Schamane als „übernatürliches Wesen“6. Diese Geister fungieren wiederum als seine künftigen Beschützer und Gehilfen, die während des Schamanisierens gerufen werden können. Währenddessen können sich die Geister in seine Kleidung, insbesondere auch in seine Schamanentrommel oder gar in seinen Körper begeben. Dabei werden die übernatürlichen Eigenschaften der Geister, auch von den Totemtieren, auf ihn selbst übertragen. In der Schamanismuskultur spielen Totemtiere eine große Rolle, da laut Paulson besagte Völker durch die „wildbeuterische Wirtschaftsform“ eine nahe Verbundenheit zur Tierwelt verspüren7. Es kann deshalb vorkommen, dass der Geist des Schamanen in Trance exemplarisch die Eigenschaften eines Fischs aufnehmen und in die Unterwelt durch unterirdische Gewässer ins Totenreich gelangen kann8. Der Schamane wurde deshalb oftmals dann zu Rate gezogen, wenn die Hilfe des Geisterreichs unabdingbar war. Beispiele hierfür sind die Jagd (die Seelen der zu tötenden Tiere wurden vorher in einem Behälter aufgefangen, um diese erfolgreich zu erlegen), der Sterbeprozess, bei dem der Schamane als „Seelenleiter“ fungiert, oder vorher schon die Krankenheilung. Der Ursprung jeglicher Krankheit wurde nämlich in der Geisterwelt gesehen. Die Seele sei „geraubt“ und gefangen genommen worden von den in der Unterwelt lebenden dämonischen Geistern. Aufgabe des Schamanen sei, die Seele wieder einzufangen, meist durch spezifische Exorzismuspraktiken9.
Durkheims Erklärung zur Schaffung von Göttern
Zu Beginn seines Aufsatzes behauptet Emile Durkheim, Sinn und Zweck seiner Abhandlung wäre, „die primitivste und einfachste Religion zu studieren, die bis jetzt bekannt ist, sie zu analysieren und eine Erklärung zu versuchen“10. Hierbei stellt sich die Frage, welche Kriterien eine „einfache Religion“ erfüllen soll. Erste Bedingung nach Durkheim sei: Die Organisation der Gesellschaft solle äußerst einfach strukturiert sein. Zweite Bedingung wäre: Sie solle gut erklärbar sein auch ohne Bezug zu Konzepten vorangegangener Religionen. Als einsichtiges Beispiel wählt Durkheim in seiner Abhandlung unter anderem die Darstellung der Religion der Ureinwohner Australiens.
Auch in diesem Essay dargestellten Falle des Schamanismus in Sibirien müssten diese beiden Bedingungen zutreffen: Die Lebensformen im Norden Russlands sind nahezu archaisch: Das Überleben der dort lebenden Menschen hängt in vielen Fällen nach wie vor von der sie umgebenden Flora und Fauna ab. Insbesondere Rentiere bestimmen das Überleben unter solch harten, meist winterlichen Bedingungen. Auf der Suche nach geeigneten Weideflächen sind die dort Lebenden gezwungen, umherzuziehen. Die zweite erwähnte Bedingung Durkheims scheint ebenfalls erfüllt zu sein. Der Schamanismus stellt eine der ursprünglichsten Glaubensarten des Menschen in diesen von der Natur abhängigen Gebieten dar, weshalb die Erklärung dieses Phänomens keine Elemente vorangegangener Religionen benötigt. In seinem Buch betont Durkheim jedoch, dass in seiner soziologischen Untersuchung primär nicht die archaische Religionsform mit ihren Besonderheiten an sich im Fokus steht, sondern die religiöse Natur des Menschen11. Durch die Untersuchung dieser ließe sich nämlich auch das Verständnis über den christlichen Glauben schärfen, jedoch ohne vorauszusetzen, dass beide Glaubensarten der gleichen Mentalität entstammen12. Laut Durkheim befänden sich demnach alle Religionen auf einer Stufe- Alle beinhalten zwei wichtige Komponenten: spezifische Glaubensüberzeugungen (Meinungen), sowie bestimmte Riten (Handlungsweisen). Im Beispiel des Schamanismus herrscht der Glaube an bestimmte Geister, die jeder Sippe zuteil sind. Diese helfen den Sippenmitgliedern in schwierigen alltäglichen Situationen. Mithilfe von spezifischen traditionellen Riten müssen diese besänftigt werden in Form von Opfergaben, um anschließend um Hilfe gebeten werden zu können. Meist handelt es sich um so genannte Nahrungsgaben, die ausschließlich an heiligen Orten kollektiv gesammelt und anschließend vom Schamanen verbrannt werden. Auch in der christlichen Tradition lässt sich die Besänftigung von Jahve zu Zeiten des Alten Testaments erkennen, ebenfalls in Form von tierischen Opfergaben und anderen Nahrungsmitteln.
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1 vgl. Art. Spiegel Panorama, Art. Epochtimes, Art. Taz
2 vgl. Art. Satirko
3 vgl. Film BBC Russia
4 vgl. Art. Spiegel Panorama
5 vgl. Paulson 1965, S. 91.
6 vgl. Paulson 1965, S. 93.
7 vgl. Paulson 1965, S. 94.
8 Vgl. Paulson 1965, S.94.
9 Vgl. Paulson 1965, S. 97-98.
10 vgl. Durkheim 1912, S. 84.
11 vgl. Durkheim 1912, S. 84.
12 vgl. Durkheim 1912, S. 85.
- Citation du texte
- Regina Gajnanow (Auteur), 2021, "Sibirischer Exorzismus" im 21. Jahrhundert. Durkheims Erklärungen zur Schaffung und Verehrung von Göttern, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1012544
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