Das Ziel dieser Arbeit ist es, die relevanten Einflussfaktoren einer wahrzunehmenden Eltern-Kind-Entfremdung in Deutschland zu ermitteln, um daraus Präventions- und Interventionsansätze für die beratende Praxis abzuleiten. Zudem soll diese Studie trennungs- und scheidungsbegleitende Berufsgruppen, die Politik sowie die allgemeine Öffentlichkeit für das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung sensibilisieren.
Dazu wird folgende Hauptforschungsfrage gestellt: Welche Einflussfaktoren sind für eine durch langfristige Kontaktabbrüche und Ablehnung der Kinder gegenüber einem Elternteil gekennzeichnete Eltern-Kind-Entfremdung in Deutschland relevant?
Um diese Frage zu beantworten, werden zunächst Begrifflichkeiten und Abgrenzungen sowie unterschiedliche, fachprofessionelle Sichtweisen der recherchierten, deutschsprachigen Fachliteratur beleuchtet, die familieninterne sowie externe Einflussfaktoren des Phänomens einer Eltern-Kind-Entfremdung analysieren. Für den empirischen Teil dieser Arbeit wurde ein Interviewleitfaden entwickelt und es wurden 12 Elternteile befragt, die subjektiv von einer Eltern-Kind-Entfremdung betroffen sind. Anhand der zusammenfassenden Inhaltsanalyse konnten die Ergebnisse aus den Befragungen ausgewertet und in ein Kategorienschema überführt werden, welches hinsichtlich der Forschungsfragen im Anschluss interpretiert wurde.
Es wird deutlich, dass die vorhandenen Hilfs- und Interventionsangebote aktuell nicht ausreichen, um Lösungen für konflikthafte Eltern und die davon betroffenen Kinder zu schaffen, sodass sich aus den Erkenntnissen dieser Forschung der Anlass für neue Präventions- und Interventionskonzepte als auch für weitere Forschung ergibt.
Impressum
1.4. Methodologie, Erhebungs- und Auswertungsmethoden
2 Phänomen Eltern-Kind-Entfremdung
2.1. Begriffsabgrenzungen und Erläuterungen
2.1.2. Parental Alienation Syndrome – PAS
2.1.3 Unterschied Parental Alienation Syndrome und Eltern-Kind-Entfremdung
3 Häufigkeit und Vorkommen der Eltern-Kind-Entfremdung
3.1. Eltern-Kind-Entfremdung aus fachprofessioneller Sicht
3.2. Hochstrittigkeit und Eltern-Kind-Entfremdung
4 Relevante Einflussfaktoren
4.1. Familieninterne Einflussfaktoren
4.1.1. Der Familien-Transitions-Ansatz
4.1.2. Die Ausprägung der Elternpersönlichkeiten
4.1.3. Die emotionale Bindung zwischen den Eltern
4.1.4. Der ungelöste Paarkonflikt
4.1.5. Die gestörte Kommunikation
4.1.6. Beteiligung anderer Familienmitglieder & familiennaher Personen
4.2. Externe Einflussfaktoren
4.2.1. Juristische Fachprofessionen
4.2.2. Gerichtliche Einflussnahmen
4.2.3. Das Jugendamt
4.2.4. Psychologische Sachverständige
4.2.5. Verfahrensbeistand
5 Beantwortung der theoretischen Subforschungsfragen
5.1. Welche familieninternen Einflussfaktoren sind für eine wahrzunehmende Eltern-Kind-Entfremdung relevant?
5.2. Welche externen Einflussfaktoren sind für eine wahrzunehmende Eltern-Kind-Entfremdung relevant?
6 Empirische Arbeit
6.1. Erhebungs- und Auswertungsmethode
6.1.1. Begründung des Forschungsdesigns und der Methodenwahl
6.1.2. Sampling, Zielgruppe
6.1.3. Interviewleitfaden und Interviews
6.2. Darstellung der Ergebnisse und Auswertung
6.2.1. Ergebnisse aus den Interviews
6.2.2. Trennungszeiträume, Alter der Kinder, Sorgerecht, Umgang
6.2.3. Familieninterne Einflüsse – Wahrgenommenes Verhalten des manipulierenden Elternteils
6.2.4. Familieninterne Einflüsse – Wahrgenommene Kindesmanipulation
6.2.5. Familieninterne Einflüsse – Elternbeziehung, Trennungsmotive, Persönlichkeitsmerkmale
6.2.6. Familieninterne Einflüsse – Kindliche Reaktion auf die Trennung
6.2.7. Familieninterne Einflüsse – Beteiligung naher Verwandter/der Herkunftsfamilien
6.2.8. Familieninterne Einflüsse – Vorgebrachte Vorwürfe bei Gericht
6.2.9. Familieninterne Einflüsse – Beteiligung von Dritten
6.3. Wahrgenommene externe Einflussfaktoren – Jugendamt
6.3.1. Wahrgenommene externe Einflussfaktoren – Richter und Richterinnen
6.3.2. Wahrgenommene externe Einflussfaktoren – Rechtsanwälte/Rechtsanwältinnen
6.3.3. Wahrgenommene externe Einflussfaktoren – psychologische Sachverständige
6.3.4. Wahrgenommene externe Einflussfaktoren – Verfahrensbeistand
6.4. Wahrgenommene Hilfen und Eigeninitiative
6.5. Wunsch nach Hilfen und Lösungen
6.6. Wahrgenommene Auswirkungen und Reaktionen bei den Kindern
6.7. Einschätzung der zukünftigen Beziehung mit dem Kind/den Kindern und der Situation
7 Beantwortung der empirischen Subforschungsfragen – Verknüpfung von Theorie und Empirie
7.1. Welche Einflussfaktoren sind für eine wahrzunehmende Eltern-Kind-Entfremdung aus Elternsicht relevant?
7.2. Welche Aspekte sind für die Prävention einer Eltern-Kind-Entfremdung aus Elternsicht relevant?
8 Beantwortung der Hauptforschungsfrage, Limitationen, Fazit und Ausblick
8.1. Beantwortung der Hauptforschungsfrage
8.2. Limitationen
8.3. Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Anhang 2: Kategoriensystem
Abstract
Das Ziel dieser qualitativen Forschung ist es, die relevanten Einflussfaktoren einer wahrzunehmenden Eltern-Kind-Entfremdung in Deutschland zu ermitteln, um daraus Präventions- und Interventionsansätze für die beratende Praxis abzuleiten. Zudem soll diese Arbeit trennungs- und scheidungsbegleitende Berufsgruppen, die Politik sowie die allgemeine Öffentlichkeit für das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung sensibilisieren. Dazu wird folgende Hauptforschungsfrage gestellt: Welche Einflussfaktoren sind für eine durch langfristige Kontaktabbrüche und Ablehnung der Kinder gegenüber einem Elternteil gekennzeichnete Eltern-Kind-Entfremdung in Deutschland relevant?
Um die Hauptforschungsfrage zu beantworten, werden zunächst im Theorieteil Begrifflichkeiten und Abgrenzungen sowie unterschiedliche, fachprofessionelle Sichtweisen der recherchierten, deutschsprachigen Fachliteratur beleuchtet, die familieninterne sowie externe Einflussfaktoren des Phänomens einer Eltern-Kind-Entfremdung analysieren. Für den empirischen Teil dieser Arbeit wurde zunächst ein Interviewleitfaden entwickelt und es wurden 12 Elternteile in jeweils ca. einstündigen Interviews befragt, die subjektiv von einer Eltern-Kind-Entfremdung betroffen sind. Anhand der zusammenfassenden Inhaltsanalyse konnten die Ergebnisse aus den Befragungen ausgewertet und in ein Kategorienschema überführt werden, welches hinsichtlich der Forschungsfragen im Anschluss interpretiert wurde.
Die Ergebnisse aus dem theoretischen und empirischen Teil haben gezeigt, dass sowohl familieninterne als auch externe Einflussfaktoren für die Entstehung des Phänomens einer Eltern-Kind-Entfremdung relevant sind. Insbesondere spielen die Bindungs- und Beziehungsqualität der Eltern vor und nach einer Trennung bzw. Scheidung als familieninterne Einflussfaktoren eine Rolle, die hochstrittige Konflikte zur Folge haben können. Die beteiligten Fachprofessionen und Institutionen werden als relevante externe Einflussfaktoren wahrgenommen, wobei sie sich in ihrer eingeschätzten Gewichtung deutlich unterscheiden.
Es wird deutlich, dass die vorhandenen Hilfs- und Interventionsangebote aktuell nicht ausreichen, um Lösungen für konflikthafte Eltern und die davon betroffenen Kinder zu schaffen, sodass sich aus den Erkenntnissen dieser Forschung der Anlass für neue Präventions- und Interventionskonzepte als auch für weitere Forschung ergibt.
1 Einleitung
Das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung wird in Deutschland in den letzten Jahren verstärkt sowohl öffentlich als auch wissenschaftlich diskutiert und nimmt durch die mediale Berichterstattung auch innerhalb der Gesellschaft Raum ein. Eine Eltern-Kind-Entfremdung beschreibt allgemein einen „Kontakt- bzw. Beziehungsabbruch zwischen Kindern und einem Elternteil nach Trennung/Scheidung“ (von Boch-Galhau, o. J., S. 1). Die genaue Anzahl der in Deutschland von Eltern-Kind-Entfremdung betroffenen Familien ist wissenschaftlich nicht belegt. In der Fachserie Rechtspflege Familiengerichte (Statistisches Bundesamt, 2019) können Daten zu Scheidungen, Umgangs- und Sorgerechtsverfahren nachgeschlagen werden, die jedoch keinen Aufschluss über die tatsächlichen Zahlen von durch Eltern-Kind-Entfremdung betroffener Eltern und Kinder geben. Die KiMiss-Studie (2016/2017) beschreibt 9 % „Betroffene[n], die [von] eine[r] vollständige[n] Eltern-Kind-Entfremdung berichten“ (S. 9).
Obwohl es keine Angaben über die genaue Anzahl der von diesem Phänomen betroffenen Familien, Eltern und Kinder gibt, sind die Auswirkungen laut von Boch-Galhau (o. J.) für Eltern und Kinder massiv und „traumatisch“ (S. 1). Dies bestätigen auch andere Fachpublikationen, auf die im Rahmen dieser Arbeit noch eingegangen wird.
Die unterschiedlichen Einflussfaktoren sowie die professionellen Sichtweisen einer wahrnehmbaren Eltern-Kind-Entfremdung werden im theoretischen Teil dieser Arbeit beleuchtet, um sie im empirischen Teil weiter zu überprüfen. Aus dem theoretischen sowie empirischen Teil sollen Erkenntnisse über relevante Einflussfaktoren einer wahrzunehmenden Eltern-Kind-Entfremdung gewonnen und Lösungsansätze für die Praxis abgeleitet werden.
Viele Fachprofessionen sind sich einig, dass „Kinder im Kontext wie auch infolge hoch konflikthafter Trennungs- und Scheidungsprozesse [...] psychische Störungen entwickeln können[.]“ (Kadkhodaey & Heubrock, 2015, S. 147), die wiederum als erwachsene Menschen die Gesellschaft beeinflussen werden. Deshalb soll diese Arbeit dem gesellschaftlichen und fachprofessionellen Erkenntnisgewinn sowie daraus folgend, dem Wohle der von Trennung und Scheidung betroffenen Kindern dienen.
1.1. Problemstellung
Wie bereits im ersten Teil der Einleitung beschrieben, können Trennungen und Scheidungen für Kinder negative psychische Auswirkungen haben (Kadkhodaey & Heubrock, 2015). Entsprechend wichtig ist es, die Konfliktdynamik und die Entstehungsursachen von Elternkonflikten zu beleuchten, die teilweise eine Eltern-Kind-Entfremdung nach sich ziehen, welche Johnston (1999, zit. nach Institut für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung (IFK), 2007) als „Sabotage der Beziehung gemeinsamer Kinder zum anderen Elternteil“ (S. 25) beschreibt. Viele Fachprofessionen sehen die Hochstrittigkeit von Eltern als wesentlichen Faktor für eine Eltern-Kind-Entfremdung bzw. für eine gestörte Beziehung zwischen Eltern und Kindern an, wobei nicht alle Publikationen explizit den Begriff Eltern-Kind-Entfremdung aufgreifen. Das IFK (2007) beschreibt ein Merkmal hochstrittiger Elternschaft wie folgt: „[die] Eltern [beziehen] ihre Kinder in die Paarkonflikte [ein] und [belasten] die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil [...], wodurch Kinder potenziell emotionale und physische Schäden davontragen“ (S. 26). Auch Weber und Schilling (Hrsg., 2012) beschreiben indirekt das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung anhand des von Alberstötter (2004, zit. nach Weber & Schilling (Hrsg.), 2012) entwickelten dreistufigen Konfliktmodells auf Stufe 3: „Kinder werden zu Objekten degradiert und instrumentalisiert; [...], bewusste und unbewusste Programmierung[en] gegen den anderen Elternteil [...] sind auf dieser Stufe nicht ungewöhnlich“ (S. 23).
Wichtig für funktionierende Lösungsansätze ist demnach die Analyse unterschiedlicher Einflussfaktoren für die Hochstrittigkeit von Eltern in Verbindung mit Eltern-Kind-Entfremdung, um betroffene Kinder möglichst frühzeitig durch Interventionen schützen zu können und die Eltern vor den beiden letzten Eskalationsstufen (Alberstötter, 2004, zit. nach Weber & Schilling (Hrsg.), 2012) zu bewahren.
Der aktuelle Forschungsstand bezieht sich größtenteils auf individuelle Verhaltensstrukturen von hochkonflikthaften Eltern als auch auf die Auswirkungen der davon betroffenen Kinder und dem in vielen Publikationen beschriebenen Parental Alienation Syndrome, welches erstmals bei Gardner (1985, zit. nach von Boch-Galhau, Hrsg., 2010) Erwähnung fand.
Die Recherche im deutschsprachigen Raum hat ergeben, dass sich nur eine geringe Anzahl von Autoren konkret zu dem Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung äußert. Dies belegt den Forschungsbedarf und spiegelt sich auch in dem Umfang zitierter wissenschaftlicher Autoren und Institutionen in dieser Arbeit wider.
1.2. Zielsetzung
Die Zielsetzung dieser Arbeit besteht in der qualitativen Untersuchung einer wahrzunehmenden Eltern-Kind-Entfremdung in Deutschland durch die Betrachtung relevanter Einflussfaktoren, um daraus mögliche Präventions-und Interventionsansätze abzuleiten. Die Beleuchtung der unterschiedlichen Einflussfaktoren auf Basis der bereits vorhandenen Fachliteratur sowie mithilfe der empirischen Untersuchung durch die Befragung betroffener Eltern soll dem gesellschaftlichen Erkenntnisgewinn dienen und trennungs- bzw. scheidungsbegleitende Professionen sowie Politik und Öffentlichkeit sensibilisieren. Eine Verbesserung der Elternsituation nach Trennung und Scheidung, insbesondere bei hochstrittigen Eltern zum Wohle der beteiligten Kinder, stellt den Bezugsrahmen für die hier beschriebene Zielsetzung dar.
1.3. Forschungsfrage
Die in dieser Masterarbeit zu beantwortende Hauptforschungsfrage lautet:
Welche Einflussfaktoren sind für eine durch langfristige Kontaktabbrüche und Ablehnung der Kinder gegenüber einem Elternteil gekennzeichnete Eltern-Kind-Entfremdung in Deutschland relevant?
Um die Hauptforschungsfrage zu beantworten, werden zunächst zwei theoretische Subforschungsfragen auf Basis der ausgewerteten Fachliteratur beantwortet:
Welche familieninternen Einflussfaktoren sind für eine durch Kontaktabbruch und Ablehnung des Kindes gegenüber einem Elternteil gekennzeichnete Eltern-Kind-Entfremdung in Deutschland relevant?
Welche externen Einflussfaktoren sind für eine durch Kontaktabbruch und Ablehnung des Kindes gegenüber einem Elternteil gekennzeichnete Eltern-Kind-Entfremdung in Deutschland relevant?
Die empirischen Subforschungsfragen leiten sich aus dem theoretischen Teil der Arbeit sowie aus der vorausgegangenen Literaturrecherche ab und ermöglichen die qualitative Untersuchung der beschriebenen Problemstellung. Sie lauten:
Welche Einflussfaktoren sind für eine wahrzunehmende Eltern-Kind-Entfremdung aus Elternsicht relevant?
Welche Aspekte sind für die Prävention einer Eltern-Kind-Entfremdung aus Elternsicht relevant?
1.4. Methodologie, Erhebungs- und Auswertungsmethoden
Für die Beantwortung der Hauptforschungsfrage sowie der Subforschungsfragen wurde zunächst die deutschsprachige Fachliteratur analysiert und in Bezug auf die Zielsetzung theoretisch ausgewertet. Die theoretische Auswertung soll einen interdisziplinären Überblick über relevante Faktoren einer wahrzunehmenden Eltern-Kind-Entfremdung vermitteln. Auf dieser Basis wurde ein mündliches Leitfaden-Interview mit Einzelpersonen nach Döring & Bortz (2016) entwickelt und durchgeführt, um die Ergebnisse qualitativ mit der zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach Mayring (2016) auszuwerten. Das gewählte Verfahren ist induktiv, sodass die Kategorien mithilfe von Generalisierungen und Reduktion direkt aus dem Material gebildet werden, ohne sich zuvor auf Theoriekonzepte zu beziehen. Durch das induktive Vorgehen ergeben sich Kategorien, die Aufschluss über die verschiedenen Einflussfaktoren und deren Gewichtung hinsichtlich einer wahrzunehmenden Eltern-Kind-Entfremdung sowie über mögliche Aspekte für die Prävention und Intervention von Eltern-Kind-Entfremdung aus Elternsicht geben sollen.
1.5. Zielgruppe
Aufgrund der zuvor dargestellten Problemstellung und Zielsetzung ergibt sich eine Zielgruppe bestehend aus verschiedenen Fachprofessionen, die mit dem Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung und Hochstrittigkeit von Elternpaaren im Arbeitsleben konfrontiert sind. Diese Arbeit soll sowohl den scheidungs- und trennungsbegleitenden Fachprofessionen als auch der Politik und interessierten Öffentlichkeit einen analytischen Überblick und Hinweise auf relevante Einflussfaktoren liefern, um hieraus interdisziplinäre Handlungs- bzw. Lösungsansätze ableiten zu können.
1.6. Aufbau der Arbeit
Im theoretischen Teil der Arbeit werden aufgrund der vorhandenen, deutschsprachigen Fachliteratur zunächst in Kapitel 2 die Begrifflichkeiten und Differenzierungen des Phänomens Eltern-Kind-Entfremdung dargestellt. Kapitel 3 betrachtet die Häufigkeit und das Vorkommen von Eltern-Kind-Entfremdung in Deutschland und legt die Sichtweisen unterschiedlicher Fachprofessionen sowie den möglichen Zusammenhang des Phänomens Hochstrittigkeit von Elternpaaren mit der Eltern-Kind-Entfremdung anhand der recherchierten Literatur dar. Kapitel 4 widmet sich den für diese Arbeit und der zu beantwortenden Hauptforschungsfrage relevanten familieninternen sowie externen Einflussfaktoren einer wahrzunehmenden Eltern-Kind-Entfremdung in Deutschland. Das 5. Kapitel dient der Beantwortung der beiden theoretischen Subforschungsfragen und schließt den theoretischen Teil dieser Arbeit ab.
Im empirischen Teil, dem 6. Kapitel, werden zunächst das Forschungsdesign, die Zielgruppen- sowie die Methodenwahl begründet sowie das qualitative Vorgehen beschrieben. Kapitel 6 widmet sich zudem der Darstellung und Interpretation der empirischen Ergebnisse und geht auf die wahrgenommenen Einflussfaktoren, Auswirkungen und Interventionsansätze aus Elternsicht ein. In Kapitel 7 werden die theoretischen und empirischen Erkenntnisse logisch miteinander verbunden und die empirischen Subforschungsfragen beantwortet.
Die Arbeit schließt in Kapitel 8 mit der Beantwortung der Hauptforschungsfrage, an die sich eine Diskussion der Ergebnisse mit Handlungsableitungen anschließt. Zudem werden Limitationen der Arbeit aufgezeigt, und es wird ein Ausblick gegeben, um die aus dieser Arbeit resultierenden neuen bzw. offenen Fragestellungen weiter zu verfolgen.
Die in dieser Arbeit vorgestellte Fachliteratur wurde über Google Scholar und über die ZPID PSYNDEX Literaturdatenbank Psychologie recherchiert. Zudem wurden Fachbücher aus der beratenden Berufspraxis zu den relevanten Themen hinzugezogen sowie Studien, Expertisen und Berichte aus Fachzeitschriften, die sich direkt oder indirekt wissenschaftlich mit der Entfremdung von Kindern und Eltern nach Trennung und Scheidung befassen. Die Recherchekriterien mussten aufgrund der zu geringen Ergebnisse neben dem Hauptbegriff Eltern-Kind-Entfremdung um Hochstrittigkeit, Scheidung, Trennung, Konflikte, Bindung, PAS Parental Alienation Syndrome ergänzt werden, um ausreichend differenzierte Informationen für die Beantwortung der Subforschungsfragen zu erhalten.
2 Phänomen Eltern-Kind-Entfremdung
Das Kapitel 2 widmet sich dem Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung aus wissenschaftlicher Sicht und nähert sich der Thematik zunächst unter Betrachtung der Begrifflichkeiten an, die in diesem Zusammenhang in der Fachliteratur beschrieben sind. Zudem stellt es die Differenzierung zwischen der Eltern-Kind-Entfremdung und dem von Gardner (1985, zit. nach von Boch-Galhau (Hrsg.), 2010) geprägten Begriff „Parental Alienation Syndrome“ (S. 8) sowie dem von Andritzky (2003) beschriebenen „Besuchsrechtssyndroms“ heraus.
2.1. Begriffsabgrenzungen und Erläuterungen
In vielen deutschsprachigen Fachpublikationen werden im Zusammenhang mit dem Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung verschiedene Begrifflichkeiten verwendet. Wie bereits in der Einleitung beschrieben, verwenden nicht alle Autoren den Begriff Eltern-Kind-Entfremdung in ihren schriftlichen Ausführungen, sondern beschreiben dieses Phänomen durch unterschiedliche Begrifflichkeiten indirekt. So wird in der KiMiss-Studie (2016/2017) der Begriff „Eltern-Kind-Entfremdung“ verwendet (S. 9), während von Boch-Galhau (o. J.) als Facharzt u. a. für psychotherapeutische Medizin von der „induzierte[n] Eltern-Kind-Entfremdung“ berichtet (S. 1). Laut des IFK (2007) liegt die „[e]mpirische Evidenz durch die systematische Untersuchung solcher Bedingungen [...] in Deutschland kaum vor“ (S. 9), was die z. T. unterschiedlichen Begrifflichkeiten erklärt. So beschreibt Johnston (1999, zit. nach IFK, 2007) „eine Reihe von interagierenden Merkmalen, die das destruktive Verhalten dieser Scheidungspaare charakterisieren“ (S. 25). Als ein typisches Merkmal für das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung gilt die Manipulation des Kindes, die durch einen oder beide Elternteile erfolgt, um eine Ablehnungshaltung gegenüber dem anderen Elternteil zu erzeugen. Denn laut Staub (2018) „ist diese Ablehnung ohne die Manipulation bzw. Induktion einer Bezugsperson nicht denkbar.“ (S.103). Von diversen Autoren wird das Phänomen im Zusammenhang mit einer hochstrittigen Elternschaft beschrieben, auf die diese Arbeit im weiteren Verlauf gesondert eingeht.
Laut von Boch-Galhau (2018) wird „[d]as Phänomen der induzierten Eltern-Kind-Entfremdung (Parental Alienation) [...] seit mindestens 60 Jahren in der psychiatrischen Fachliteratur beschrieben, aber erst in den 1980-er bis 1990-er Jahren als solches benannt“ (S. 134). Es fällt auf, dass sich in der deutschen Fachliteratur bis auf wenige Beiträge keine wissenschaftlichen Publikationen zum Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung finden lassen, wohingegen in den USA bereits seit über 20 Jahren zu hochstrittigen Konflikten nach Trennung und Scheidung geforscht wird. (Deutsches Jugendinstitut e.V., 2010).
Wie von Boch-Galhau (2018) beschreibt, wird aktuell in der klinischen Literatur „zwischen Parental Alienation (ungerechtfertigte Ablehnung eines Elternteils aufgrund von Manipulation und Indoktrination des Kindes) und Estrangement (gerechtfertigte Ablehnung eines Elternteils [...])“ (S. 135) unterschieden.
In dieser Arbeit wird der Begriff Eltern-Kind-Entfremdung verwendet, der zunächst allgemein das Phänomen eines nachhaltigen „Kontakt- bzw. Beziehungsabbruchs eines Kindes zu einem Elternteil beschreibt“ (von Boch-Galhau, o. J., S. 1) , der auf bewusste „Manipulation oder Programmierung durch einen oder auch beide Elternteile“ zurückgeführt werden kann (von Boch-Galhau, o. J., S. 6). Ein induziert entfremdetes Kind weist typische ablehnende Verhaltensweisen und teilweise extrem negative Gefühle gegenüber einem Elternteil auf, die keinen realen Bezug zu seinen tatsächlich erlebten Erfahrungen mit diesem Elternteil haben (Staub, 2018, S. 103).
Die Betrachtungsweise der dieser Arbeit zugrundeliegenden Aspekte beleuchtet eine absichtliche Entfremdung eines Kindes durch einen Elternteil nach einer Trennung oder Scheidung und schließt andere Entfremdungsgeschehen, die innerhalb einer Familie vorkommen können, aus. Als wichtige Merkmale für den hier verwendeten Begriff sind „Kontaktunterbrechung und Abwertung des außerhalb lebenden Elternteils“ zu nennen (von Boch-Galhau, o. J., S. 7) sowie die „Instrumentalisierung des Kindes für eigene Bedürfnisse“ (Homrich, Muenzenmeyer, Glover & Blackwell White (2004, zit. nach Walper, Fichtner & Normann (Hrsg.), 2013, 2. Aufl., S. 20).
2.1.1. Besuchsrechtssyndrom
Andritzky (2003) unterscheidet das „Besuchsrechtssyndrom“ (S. 81) vom „Entfremdungssyndrom“ bei Kindern. Dieses Syndrom beschreibt, wie sich Kinder nach Trennungen und Scheidungen häufig verhalten, wenn sie zwischen den Haushalten ihrer Elternteile im Rahmen des Umgangskontaktes wechseln. „Das Kind kehrt weinerlich und widerstrebend zum betreuenden Elternteil zurück. Nach den Besuchen verhält es sich einige Tage lang überdreht, verschlossen oder mürrisch, [...], bis es schließlich wieder normal wird“ (Andritzky, 2003, S. 81). Und auch vor den Besuchen beim nichtbetreuenden Elternteil zeigen sich laut Andritzky (2003) Kinder teilweise als „fahrig, gereizt und unwillig“ (S. 81), wobei der Besuchskontakt dann selbst „nach kurzer Eingewöhnung ohne Konflikte und in freudiger Atmosphäre [verläuft]“ (S. 81). Beide Elternteile ziehen laut Andritzky (2003) „entgegengesetzte Schlüsse“ (S. 81). Der betreuende Elternteil „sieht keinen Sinn in den Besuchen, sondern eher Schaden“ (S. 81). Der andere Elternteil stellt sich laut Andritzky (2003) die Frage, ob das Kind bei dem anderen Elternteil gut aufgehoben sei, „da es in einem so bemitleidenswerten Zustand zu ihm kommt“ (S. 81).
Andritzky (2003) betont, dass „[d]iesem Besuchsrechtssyndrom [...] im Gegensatz zu einem Entfremdungssyndrom keine Entfremdungsabsichten zugrunde [liegen]. Die Ursachen können in Trennungsängsten, psychodynamischen Loyalitätskonflikten, [...], auf Elternebene in Kränkungen, [...] oder in Problemen mit einem neuen Partner liegen“ (S. 81).
2.1.2. Parental Alienation Syndrome – PAS
Der von dem Kinderpsychiater Gardner bereits 1985 erstmals eingeführte Begriff „Parental Alienation Syndrome“ (zit. nach von Boch-Galhau, (Hrsg.), 2010, S. 8) beschreibt das bei einem von Eltern-Kind-Entfremdung betroffenen Kind mögliche „Syndrom der Elternentfremdung“ (von Boch-Galhau, 2012, S. 17). Nach der Definition von Gardner (1985, zit. nach von Boch-Galhau, 2012) zeigt sich dieses Syndrom „hauptsächlich in der Ablehnungshaltung des Kindes gegenüber einem Elternteil, die in keiner Weise nachvollziehbar ist“ (S. 17). Laut von Boch-Galhau (2012) lässt sich das Parental Alienation Syndrome nur durch das Vorliegen von „drei Elemente[n]“ feststellen (S. 17). Zunächst muss die nachhaltige „Ablehnung oder Verunglimpfung eines Elternteils“ (von Boch-Galhau, 2012, S. 17) gegeben sein und die „feindselige Ablehnungshaltung [des Kindes]“ darf nicht rational begründbar sein (von Boch-Galhau, 2012, S. 17). Als drittes Element ist die Ablehnung des Kindes „Teilresultat des Einflusses des entfremdenden Elternteils“ (von Boch-Galhau, 2012, S. 18).
Gardner hat „8 Hauptsymptome“ (Gardner, 2001, zit. nach von Boch-Galhau, 2010, S. 27) für die Feststellung des Parental Alienation Syndrome PAS beschrieben und unterteilt in seinem Konzept „3 Typen von PAS“ nach unterschiedlichem Schweregrad (Gardner, 2001, zit. nach von Boch-Galhau, 2010, S. 27). Die „Diagnose über den Schweregrad von PAS [soll] anhand des kindlichen Verhaltens gestellt [werden]“ (Gardner, 2001, zit. nach von Boch-Galhau, 2010, S. 27).
Das Parental Alienation Syndrome stellt ein Diagnosekonzept für die Feststellung einer Entfremdungssymptomatik bei Kindern dar, die jedoch nicht bei allen entfremdeten Kindern vorkommen muss. Denn laut Gardner (2001, zit. nach von Boch-Galhau, 2010, S. 28) „ist es möglich, daß Eltern, obwohl sie schwerwiegend entfremden, nur insoweit erfolgreich sind, als sie bei ihren Kindern lediglich ein leichtes oder mittelstarkes Entfremdungssyndrom hervorrufen, da hier eine starke, gesunde Bindung mit dem entfremdeten Elternteil [...] entgegenwirkt.“
Die „primäre Symptomatik“ (Gardner, 2001, zit. nach von Boch-Galhau, 2010, S. 28-29) für das Parental Alienation Syndrome PAS beinhaltet folgende Merkmale:
Verunglimpfungskampagne; schwache, leichtfertige oder absurde Rationalisierungen der Verunglimpfung; fehlende Ambivalenz; Phänomen eigenständiges Denken, reflexartige Unterstützung des entfremdenden Elternteils in der elterlichen Auseinandersetzung; fehlende Schuldgefühle; entliehene Szenarien; Ausweitung der Feindseligkeiten auf erweiterte Familie des entfremdeten Elternteils.
Das hier vorgestellte Konzept ist wissenschaftlich nicht bestätigt. Gardner wies selbst im Rahmen seiner „Verlaufsstudie mit 99 entfremdeten Scheidungskindern“ (2001, zit. nach von Boch-Galhau, 2010, S. 11) auf die „wissenschaftlichen Einschränkungen seiner Studie“ hin. Unter Betrachtung der von ihm dargelegten Symptome, die bei von Eltern-Kind-Entfremdung betroffenen Kinder teilweise feststellbar sind, kommt diesem Konzept für die Arbeit mit strittigen Eltern und Kindern gerade für Fachprofessionen eine Bedeutung zu, über die die verschiedenen Professionen diskutieren. Laut Simoni (2005) „[gründet] PAS in erster Linie auf Erfahrungen mit Einzelfällen. Systematische Untersuchungen zum elterlichen Entfremdungssyndrom sind nur einzelne verfügbar“ (S. 785). Die Sozialarbeiterin Kodjoe und der Rechtsanwalt Köppel sorgten in Deutschland laut Simoni (2005) für die Bekanntmachung von PAS. „Stationen auf der Entwicklung von PAS seien Umgangsstörung, Umgangsvereitelung, Kontaktabbruch. Das PAS betreffe Kinder ab zwei Jahren bis zur Volljährigkeit“ (Kodjoe & Kloeppel, 1998, zit. nach Simoni, 2005, S. 786).
Auch der Psychotherapeut Andritzky (2002) beschäftigt sich in seinen Publikationen mit dem Parental Alienation Syndrome und stellt fest, dass bei einem Entfremdungssyndrom alle fünf von Rogers definierten Typen des emotionalen Kindesmissbrauchs vorliegen, nämlich Zurückweisung, Terrorisieren, Ignorieren, Isolieren und Bestechen des Kindes (Andritzky, 2002, S. 2). Nach wie vor gibt es kontroverse Diskussionen zu PAS (Simoni, 2005), in der Fachliteratur ist jedoch festzustellen, dass sich verschiedene Wissenschaftler und an Trennungs- und Scheidungsverfahren beteiligte Professionen dem Thema und dem Konzept widmen, das in erster Linie der Feststellung einer Entfremdungssymptomatik beim Kind selbst dient, um entsprechende Interventionen einzuleiten. Denn bei einem „Verlust eines Elternteils wird das Selbst, die Struktur und der Kern eines Kindes tiefgreifend erschüttert. [...] Es erlebt den Verlust eines Elternteils als gegen sich gerichtet“ (von Boch-Galhau, o. J., S. 6). Kinder verleugnen die Hälfte ihrer Identität, wenn sie aufgrund von Manipulation durch einen Elternteil die Beziehung zum anderen Elternteil verlieren. „[E]ine Seite des Wesens wird buchstäblich amputiert“ (von Boch-Galhau, o. J., S. 6), wodurch sich auch für die persönliche Entwicklung schädigende Folgen ergeben können.
Aufgrund der hier dargelegten Betrachtungen des Parental Alienation Syndromes lässt sich dieses als Folge einer beabsichtigten Eltern-Kind-Entfremdung durch einen manipulierenden Elternteil bei einigen Kindern feststellen und findet daher Berücksichtigung in wissenschaftlichen Abhandlungen, weshalb es für diese Arbeit als Anhaltspunkt dienen kann, um elterliches Verhalten und die kindlichen Reaktionen darauf einzuordnen.
2.1.3 Unterschied Parental Alienation Syndrome und Eltern-Kind-Entfremdung
Das zuvor beschriebene Konzept des Parental Alienation Syndrome muss von dem Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung insofern abgegrenzt werden, als es ein mögliches Verhalten von Kindern innerhalb einer Eltern-Kind-Entfremdung darstellt und Anhaltspunkte dafür liefert, welche Auswirkungen eine Eltern-Kind-Entfremdung auf die Kinder und deren Verhalten haben kann. So dient das Parental Alienation Syndrome mit den dazugehörigen Symptomen in erster Linie zur Feststellung von Auswirkungen bei den Kindern, die unter dem „Kontakt- bzw. Beziehungsabbruch“ (von Boch-Galhau, o. J., S. 1) zu einem Elternteil leiden und sich einer „meist uneingeschränkten Einfluss- und Verfügungsmacht“ (von Boch-Galhau, o. J., S. 7) eines manipulierenden Elternteils ausgesetzt sehen. Denn zum einen sind bei dem allgemeinen Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung die Folgen für die betroffenen Kinder und Eltern zu berücksichtigen, da das entfremdende Verhalten „deutlich missbräuchliche Qualität und schwerwiegende psychische Folgen für das Kind und für den entfremdenden Elternteil und dessen Angehörige“ (von Boch-Galhau, o. J., S. 7) haben kann. Zum anderen sind das manipulierende Verhalten eines entfremdenden Elternteils sowie weitere externe und familieninterne Faktoren zu beleuchten, die zu einer wahrnehmbaren Eltern-Kind-Entfremdung führen können. Kelly und Johnston (2001, zit. nach IFK, 2007) entwickelten beispielsweise ein Modell, welches die Entstehung von Entfremdung im Sinne einer Ablehnungshaltung des Kindes gegenüber einem Elternteil unter Berücksichtigung verschiedener interner und externer Faktoren erklärt. Hierbei konnte festgestellt werden, dass Entfremdung sowohl verhaltensbedingt durch die Eltern, als auch in der Verletzlichkeit des Kindes begründet sein kann.
Um die verschiedenen Einflussfaktoren und relevanten Aspekte einer Eltern-Kind-Entfremdung betrachten zu können, bezieht diese Arbeit im theoretischen Teil unterschiedliche Sichtweisen von Fachprofessionen ein. Der Begriff Eltern-Kind-Entfremdung wird dabei nicht wertend, sondern allgemein beschreibend für eine unterbrochene Beziehung zu einem Elternteil verwendet. Die möglichen Faktoren, die die Entstehung des Phänomens begünstigen oder sogar verursachen, werden im weiteren Verlauf der nächsten Kapitel betrachtet, um einen ganzheitlichen Blick auf die Thematik zu richten. Denn neben den Kindern und das durch sie feststellbare Verhalten einer massiven Ablehnung gegenüber einem Elternteil „bei gleichzeitiger starker Allianz zum anderen“ (Johnston, 2003, zit. nach IFK, 2007, S. 63) müssen auch das Verhalten inklusive der Auswirkungen des entfremdenden Elternteils sowie das Verhalten Dritter und des entfremdeten Elternteils beleuchtet werden. Durch die Analyse der verschiedenen Aspekte können für das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung im Verlauf dieser Arbeit entsprechende Lösungs- und Präventionsansätze abgeleitet werden.
In der deutschsprachigen Literatur wird das „Parental Alienation Syndrome“ (Gardner, 1985, zit. nach von Boch-Galhau, Hrsg., 2010) oftmals gleichbedeutend mit Eltern-Kind-Entfremdung beschrieben. Die Erläuterung der vorzunehmenden Differenzierung zwischen den beiden Begrifflichkeiten soll dem besseren Verständnis dieses komplexen Themas Rechnung tragen.
3 Häufigkeit und Vorkommen der Eltern-Kind-Entfremdung
Das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung wird mittlerweile öffentlich thematisiert. Offizielle und wissenschaftlich belegte Zahlen stehen jedoch für Deutschland derzeit nicht zur Verfügung. Vom Statistischen Bundesamt werden jährliche Berichte innerhalb der Fachserie Rechtspflege Familiengerichte (Statistisches Bundesamt, 2019) über verschiedene Verfahren am Familiengericht veröffentlicht. Hier können Verfahren zum Umgangs- und Sorgerecht eingesehen werden, jedoch geben diese Daten keinen Aufschluss darüber, ob bei den erfassten Fällen eine Eltern-Kind-Entfremdung vorliegt. „Das Ausmass von Entfremdungsprozessen zwischen Kindern und Eltern nach elterlicher Trennung und Scheidung exakt quantitativ zu fassen, ist allerdings nicht möglich“ (Simoni, 2005, S. 782).
In der KiMiss-Studie von 2016/17 wird das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung namentlich im Datenbericht erwähnt. Bei der Studie wurden Elternteile befragt, „die getrennt von ihren Kindern leben und weniger Kontakt zu ihnen haben, als sie sich wünschen. Im Erhebungszeitraum [...] wurden 474 Fragebögen ausgefüllt, davon 21 aus Nachbarländern“ (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 2). Diese Studie wurde mit der vorherigen KiMiss-Studie aus dem Jahr 2012 verglichen. Die Studie aus 2016/17 leitet die „Wahrscheinlichkeit einer Eltern-Kind-Entfremdung in Abhängigkeit der Beziehungszeit pro Jahr [...] aus den Angaben der Eltern“ zu zwei formulierten Fragen ab (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 7). Diese beiden Fragen lauten: „Wie stark ist ihr Kind von Ihnen entfremdet?“ und „Wieviel Prozent der Jahreszeit verbringen Sie mit Ihrem Kind?“ (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 7). Die Studie (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 7) kommt zu dem Ergebnis, dass eine Eltern-Kind-Entfremdung wahrscheinlicher wird, wenn die Beziehungszeit zwischen dem getrenntlebenden Elternteil und dem Kind/den Kindern unter 16 % liegt, „was ein inakzeptables Risiko darstellt“ (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 7). Hier wird das Phänomen in direkten Zusammenhang zu den tatsächlichen Kontaktzeiten zwischen getrenntlebenden Elternteilen und Kindern gesetzt.
Aus der Studie geht hervor, dass die übliche Umgangsregelung mit 14-täglichen Beziehungszeiten eine „Beziehungszeit von ca. 30 % der Jahreszeit“ darstellt, die „mit einer Entfremdungs-Wahrscheinlichkeit von (ebenfalls) 30 % assoziiert“ (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 7). Dieser Umfang an Beziehungszeit stellt daher nach wie vor ein erhebliches Risiko dar (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 7). Das Risiko einer Eltern-Kind-Entfremdung bei der gleichwertigen Betreuung von Kindern durch beide Elternteile, beispielsweise im Wechselmodell, bewertet die Studie mit „eine[r] Art Basis-Risiko von 10 %“ (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 8).
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass beispielsweise die „Erhöhung der Beziehungszeit um 10 % pro Jahr [...] eine Reduktion der Entfremdungs-Wahrscheinlichkeit um ca. 16 % erwarten [lässt]“ (Kimiss-Studie, 2016/17, S. 8). Entsprechend sinkt das Risiko einer Eltern-Kind-Entfremdung nach Trennung und Scheidung, wenn die Beziehungszeit gewährleistet ist. Laut dieser Studie lässt sich ein Zusammenhang zwischen gelebter Betreuungszeit von dem getrenntlebenden Elternteil mit dem Kind/mit den Kindern und dem Phänomen Eltern-Kind-Entfremdung feststellen.
Das Ergebnis einer wahrgenommenen vollständigen Eltern-Kind-Entfremdung hat sich bei den befragten Elternteilen von 19 % im Jahr 2012 auf 9 % im Jahr 2016/17 reduziert (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 9). Jedoch ist der „Anteil von Betroffenen, die keine oder nur eine geringfügige Entfremdung von weniger als 10 % berichten, [...] von 12 % der Fälle in 2012 auf 16 % der Fälle in 2017 gestiegen“ (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 9).
In der Studie wird zwischen Eltern-Kind-Entfremdung und Kindesentzug unterschieden, „dessen prozentuale Häufigkeit stark angestiegen ist“ (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 9). Von Kindesentzug wird laut Studie dann gesprochen, wenn ein „Elternteil [...] ohne nachvollziehbare Gründe mit dem Kind von einem Zuhause geflohen [ist], welches das Kind zu diesem Zeitpunkt mit dem anderen Elternteil teilte, mit dem Ergebnis, dass das Kind derzeit einen anderen Wohnsitz hat und seine Beziehung zum anderen Elternteil [...] beeinträchtigt ist“ (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 10). Die stark gestiegene Anzahl von Fällen des Kindesentzugs lässt sich innerhalb der Studie auf die geringere Teilnehmerzahl der Befragungen und das dadurch verschobene Verhältnis zwischen Fällen mit und ohne Kindesentzug zurückführen (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 10).
Inwiefern zwischen Kindesentzug und Eltern-Kind-Entfremdung konkret unterschieden werden kann, geht aus anderen Unterlagen nicht hervor. Jedoch kann abgeleitet werden, dass es sich bei einem unbegründeten Kindesentzug unweigerlich um eine Eltern-Kind-Entfremdung handelt, weil hier ein beabsichtigter Kontaktabbruch zu einem Elternteil durch einen anderen Elternteil vorgenommen wird.
Die Studie geht zusätzlich noch auf die Thematik „Umgangsprobleme“ (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 11) ein, die laut ihrer Interpretation als „die neuen Probleme des Sorgerechts in den Bereich von Eltern-Kind-Kontakten entfallen.“
Laut der Studie haben die Fälle zugenommen, bei denen es sich um „Nicht-Einhaltung von gerichtlichen oder einvernehmlichen Umgangsregelungen handelt. Hier ist „die deutlichste Zunahme, mit einem Anstieg von 54,8 % in 2012 auf 71,4 % in 2017“ zu verzeichnen (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 11). Unter den verbliebenen Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern konzentrieren sich insbesondere „hochstrittige Fälle“ (KiMiss-Studie, 2016/17, S. 11). Auf den Zusammenhang von Hochstrittigkeit bei Elternpaaren und Eltern-Kind-Entfremdung wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit gesondert eingegangen.
Anhand der hier beschriebenen Studie und der in der Fachliteratur nicht weiter feststellbaren Zahlen von Eltern-Kind-Entfremdung in Deutschland wird der aktuelle Forschungsbedarf deutlich, um dieses Phänomen deutschlandweit bei getrennten Eltern evaluieren zu können und wissenschaftlich belegbare Daten zu erhalten, in welcher Größenordnung dieses Phänomen in unserer Gesellschaft auftritt.
In Publikationen, die als nicht wissenschaftlich belegt gelten, werden Größenordnungen von ca. 10 % aller Fälle von Trennungen und Scheidungen benannt, bei denen es im Verlauf der Trennungsprozesse zu einer Eltern-Kind-Entfremdung kommt. Wenn von 167.836 Scheidungsverfahren im Jahr 2018 ausgegangen wird (Statistisches Bundesamt (Destatis), 2019, S. 13), wären daher ca. 16.783 Familien von Eltern-Kind-Entfremdung betroffen. Da die Gesellschaft zunehmend auch von unehelichen Elternpaaren, die sich trennen, geprägt ist, werden diese in den Daten der Scheidungsverfahren nicht erfasst und somit in der Kalkulation nicht berücksichtigt. Hier können Zahlen von eheunabhängigen Verfahren zum Umgangs- und Sorgerecht helfen, einen möglichen Zusammenhang zu dem Phänomen Eltern-Kind-Entfremdung herzustellen. Insgesamt wurden 148.230 Fälle von „vor dem Amtsgericht 2018 erledigte[n] Familiensachen“ zur elterlichen Sorge gezählt, Verfahren zum Umgangsrecht betrugen in 2018 54.860 Fälle (Statistisches Bundesamt (Destatis), 2019, S. 18). Die Anzahl der Verfahren lässt die Überlegung zu, dass es in diesen Fällen keine einvernehmliche Lösung zwischen den Eltern bezüglich des Umgangs und der elterlichen Sorge gegeben hat, sodass dies von einem Gericht entschieden werden musste.
Abschließend wird deutlich, dass aktuell keine verlässlichen Zahlen für das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung in Deutschland vorliegen und man dem Phänomen bisher nur anhand von Schätzungen wissenschaftlich begegnen kann bzw. durch die Befragung von Elternteilen, die wahrnehmbar von Eltern-Kind-Entfremdung betroffen sind.
3.1. Eltern-Kind-Entfremdung aus fachprofessioneller Sicht
Das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung wird von verschiedenen trennungs- und scheidungsbegleitenden Professionen thematisiert und analysiert. In diesem Kapitel wird sowohl auf die psychologische als auch auf die juristische Sicht näher eingegangen, um ein ganzheitliches Verständnis des Phänomens zu ermöglichen.
Betrachtet man die trennungs- und scheidungsbegleitenden Professionen, sind hier Rechtsanwälte/Rechtsanwältinnen, Richter/Richterinnen, Verfahrensbeistände, Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen des Jugendamtes, Psychologinnen/Psychologen und Sozialpädagoginnen/Sozialpädagogen zu nennen, die teilweise an familienrechtlichen Verfahren direkt und indirekt beteiligt sind. Roland Proksch betrachtet „das Kind im Trennungs- und Scheidungskonflikt seiner Eltern“ (2008, S. 1) als Jurist und Mediator und lässt keinen Zweifel daran, dass „Krisen der Eltern bei Trennung und Scheidung [...] vor allem auch Krisen für ihre Kinder [sind]“ (Proksch, 2008, S. 1). Unabhängig davon, wie eine Scheidung letztlich abläuft, wird die elterliche Scheidung für das Kind als „gravierende Veränderung der individuellen Lebensbahn“ beschrieben (Wallerstein, Lewis, & Blakeslee, 2002, S. 30, zit. nach Proksch, 2008, S. 2). Proksch weist in seiner Rede auf dem 1. Landeskongress zum Projekt Elternkonsens darauf hin, dass „Scheidungen von Eltern minderjähriger Kinder [...] ein sozial-psychologisches Konfliktfeld [sind], in dem die Gefühle der Eltern, ein subjektives Recht auf ihr Kind zu besitzen, am stärksten formuliert und aktualisiert werden“ (Proksch, 2008, S. 3). Der Ausdruck „mein Kind gehört mir“, den Proksch (2008, S. 3) erwähnt, deutet bereits auf das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung hin, welches sich aus diesen Konflikten entwickeln kann. Er beschreibt, dass dieses vermeintliche Recht eines Elternteils auf sein Kind „oft auch verdeckt als elterliche oder auch sachverständige, juristische, psychologische Interpretation kindlicher Bedürfnisse und Interessen“ (Proksch, 2008, S. 3) durchzusetzen versucht wird. Er weist zudem auf die Unterschiede der Sichtweisen hin. Denn aus juristischer Sicht „ist die Scheidung ein Ereignis. Aus psychologischer Sicht handelt es sich jedoch um einen komplexen, mehrdimensionalen und dynamischen längerfristigen Prozess, der verschiedene Phasen durchläuft“ (Proksch, 2008, S. 4).
Proksch (2008) betont, dass Kinder durchaus mit ihren „Ängste[n] und Befürchtungen“ im Rahmen einer Trennung und Scheidung ihrer Eltern fertig werden können, wenn ihnen weiterhin „Kontakt zum abwesenden Elternteil“ ermöglicht wird (S. 6). Am meisten leiden Kinder demnach unter Scheidungen, „wenn sie selbst zum Objekt erbitterter Kämpfe zwischen Mutter und Vater werden“ (Proksch, 2008, S. 8). Auch dies gibt einen Hinweis auf das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung, dem oft ein hochstrittiger Elternkonflikt zugrunde liegt, der zu Lasten des Kindes/der Kinder ausgetragen wird. Wer es laut Proksch (2008) nicht schafft, seine Trennung bzw. Scheidung als Elternteil „konstruktiv zu bewältigen“ (S. 9), wird mit den Folgen konfrontiert. Denn „Kinder [werden] psycho-sozial auffällig (bleiben), deren Eltern Kontakte zueinander ablehnen bzw. feindselig gestalten“ (Proksch, 2008, S. 9).
Yasar Kadkhodaey und Dietmar Heubrock widmen sich dem Thema „hochkonflikthafter Scheidungen“ und deren psychische Auswirkungen auf die Kinder im Rahmen der Rechtspsychologie (Kadkhodaey & Heubrock, 2015, S. 147). Laut den beiden Wissenschaftlern „ist unbestritten und in der familienrechtlichen Praxis immer wieder beobachtbar, dass Kinder in solchen massiven Konfliktkonstellationen von ihren getrennt lebenden Eltern instrumentalisiert und in Loyalitätskonflikte verstrickt werden“ (Kadkhodaey & Heubrock, 2015, S. 147). Diese Sichtweise gibt einen Hinweis auf das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung, bei dem im hier vorliegenden Kontext von einer bewussten Instrumentalisierung eines Kindes durch einen oder beide Elternteile ausgegangen werden muss, um die wahrzunehmende Entfremdung und den Kontaktabbruch zu analysieren. Kadkhodaey und Heubrock (2015) führen auf, dass „[i]n der Aussagepsychologie, insbesondere bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit kindlicher Zeugenaussagen, [...] die Möglichkeit suggestiver Beeinflussungen durch erwachsene Bezugspersonen als eine häufig vorkommende Aussageverfälschung schon seit langem bekannt [ist]“ (S. 148). Beide Autoren setzen Entfremdung nicht mit dem daraus möglicherweise resultierenden Parental Alienation Syndrome gleich, welches bei betroffenen Kindern vorkommen kann, aber nicht vorkommen muss. Dies entspricht der in dieser Arbeit erfolgten Differenzierung zwischen den Begrifflichkeiten, die in Kapitel 2.1 ff. vorgenommen wurde. „Ein gewisses Ausmaß an Entfremdung zwischen einem Kind und dem nicht sorgeberechtigten Elternteil ist nach einer Trennung der Eltern normal und darf nicht mit einem PAS verwechselt werden“ (Bernet et al., 2010, zit. nach Kadkhodaey & Heubrock, 2015, S. 151). In ihrer Fachpublikation befassen sich die beiden Rechtspsychologen mit dem Phänomen aus verschiedenen Blickwinkeln. Denn laut Kadkhodaey & Heubrock (2015) ist „[j]edem familienpsychologischen Sachverständigen [...] die Erfahrung vertraut, dass derjenige Elternteil sich im Vorteil befindet, der einen alleinigen Zugang zum Kind hat“ und „in vielen Fällen bestehende und vereinbarte Umgangskontakte von sorgeberechtigten Elternteilen ausgesetzt und unterbunden werden“ (S. 157).
In der psychologischen Dissertation von Behrend (2009) beschreibt diese eine „[k]indliche Kontaktverweigerung nach Trennung der Eltern aus psychologischer Sicht.“ Im Typ 2 ihrer entworfenen Typologie benennt sie die „instrumentalisierte Loyalität“. „Typ 2 steht für die auf Instrumentalisierung zurückgehende Ablehnung des nicht betreuenden Elternteils“ (Behrend, 2009, S. 173). Laut Behrend (2009) spielen besonders die Bewertungen und Einstellungen des betreuenden Elternteils gegenüber dem Ex-Partner bzw. der Ex-Partnerin eine wichtige Rolle bei der Ablehnungshaltung des Kindes gegenüber einem Elternteil (S. 174). Behrend (2009) schlussfolgert in ihrer Untersuchung, dass die Manipulation nicht immer bewusst und absichtlich geschehen müsse, sondern dass der manipulierende Elternteil seine Beurteilung und Bewertung in einigen Fällen als „objektiv wahr“ empfinde (S. 174). Behrend (2009) betont, dass „[n]ur bei der – eher seltenen – aktiven Instrumentalisierung – [...] der Betreuende dagegen ganz bewusst das Ziel [verfolgt], das Bild des Kindes vom anderen Elternteil bedingungslos ins Negative umzupolen und die einst positive emotionale Beziehung zu ihm zu zerstören“ (S. 175).
Aus der Sicht von Fachpsychologin Heidi Simoni (2005) „ist das Thema Entfremdung nach Trennung und Scheidung weder in der Praxis noch in der Forschung neu“ (Simoni, 2005, S. 772). Sie betont die „Bindungsgeschichte“ als „die Summe aller bindungsrelevanten Erfahrungen“ die „sowohl in der Psyche [...] wie im Verhalten [...] ihren Niederschlag [finden]“ (Simoni, 2005, S. 776). „Beziehungen, die ein Kind zu verschiedenen Personen, also etwa zur Mutter, zum Vater [...] hat, können sich bereits früh deutlich unterscheiden und auch eine andere Bindungsqualität aufweisen“ (Simoni, 2005, S. 776). Sie nähert sich der Thematik „Beziehung und Entfremdung“ in ihrem Fachaufsatz über den Begriff „Triadische Kapazität“ an, die „die psychische Flexibilität der Eltern [bezeichnet], verschiedene wichtige Beziehungen des Kindes innerlich zuzulassen, ohne sich selbst oder eine/n der anderen Beteiligten auszuschließen, zu entwerten oder zu idealisieren“ (Simoni, 2005, S. 777). Diese Kapazität eines Menschen, die laut Simoni (2005) als „mentale Ressource“ (S. 777) angesehen werden muss, bestimmt entsprechend dieser Sichtweise auch, ob ein Elternteil einen anderen Elternteil ausschließt und somit das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung begünstigt. Ist die „Triadische Kapazität“ nur gering vorhanden, kann laut Simoni (2005) entweder ein bewusster „Ausschluss“ eines Elternteils entstehen oder ein bewusster „Rückzug“ eines Elternteils stattfinden (S. 777). Nach Ansicht der Fachpsychologin für Psychotherapie ist es wichtig, dass ein Kind von beiden Eltern die emotionale Stabilität nach Trennung und Scheidung spürt. „Hat ein Kind eine lebendige Beziehung zum Vater und zur Mutter, so braucht es den Rückhalt von beiden [...].“ (Simoni, 2005, S. 778). Die Ressource „Triadische Kapazität“ (Simoni, 2005, S. 778) ermöglicht es den beteiligten Personen, flexibel auf Situationen zu reagieren und „beinhaltet [...] explizit die mentale Fähigkeit zur Aufrechterhaltung von Beziehungen in Abwesenheit“ (Simoni 2005, S. 778). Auf das konkrete Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung eingehend, betont Simoni (2005), dass „Kontaktabbrüche oder Kontaktverweigerung zu einem Elternteil [...] ernst zu nehmende Phänomene“ darstellen, „die in erster Linie besonders Kinder mit geschiedenen Eltern betreffen“ (Simoni, 2005, S. 782). Sie beschreibt die Symptome von Entfremdungsgeschehen als „unspezifisch“ und schlussfolgert, dass aufgrund einer vorhandenen Entfremdung nicht unmittelbar auf ihre Entstehungsursachen geschlossen werden kann. (Simoni, 2005, S. 783). Es sei genau zu prüfen, „ob es sich bei fehlendem oder spärlichem Kontakt zwischen einem Kind und einem Elternteil tatsächlich um eine Entfremdung handelt, oder ob gar nie eine gelebte Beziehung bestanden hat“ (Simoni, 2005, S. 783).
Das Institut für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung (IFK) der Universität Potsdam geht in seiner Expertise A auf die „Genese, Formen und Folgen Hochstrittiger Elternschaft“ ein. Laut Johnston (1994, zit. nach IFK, 2007) kann durch eine Reihe von Studien belegt werden, „dass eine feindselige Haltung und Aggressivität eines Elternteils gegenüber dem Ex-Partner vor allem indirekt auf die Kinder einwirken. Konflikte wirken zum Beispiel über eine Verschlechterung der Eltern-Kind-Beziehungen“ (S. 53). Die Expertise geht auf die Erkenntnisse von Johnston (1994, zit. nach IFK, 2007) ein, die eine deutliche Verschlechterung des Erziehungsverhaltens von Eltern in Konflikten als wesentliches Problem bezeichnet (S. 53). „[D]a die Eltern sich nicht mehr in der Erziehung der Kinder gegenseitig unterstützen, [...] und keine gemeinsame Autorität mehr darstellen“ (Johnston, 1994, zit. nach IFK, 2007, S. 53,) leidet ihr positives Erziehungsverhalten. Laut IFK (2007) stellt dieses Erziehungsverhalten „einen starken Prädiktor [...] für distanzierte Eltern-Kind-Beziehungen [dar]“ (S. 53). Hier wird das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung folglich im Hinblick auf die Veränderung des Erziehungsverhaltens der Eltern nach einer Trennung bzw. Scheidung beleuchtet. Das IFK (2007) geht wie viele Autoren ebenso auf den Zusammenhang zwischen der Hochstrittigkeit und der Eltern-Kind-Entfremdung in der Expertise ein, der in dieser Arbeit in Kapitel 3.2 weiter ausgeführt wird. Es sei hier noch erwähnt, dass laut IFK (2007) Kinder, die von Elternkonflikten betroffen sind, oft Teil des elterlichen Konfliktgeschehens werden und dass „anhaltende Auseinandersetzungen der Elternteile über Erziehungspraktiken, eine hohe Feindseligkeit, verbale Attacken“ (S. 57) hochstrittige Elternkonflikte charakterisieren, die das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung im Hinblick auf die in Kapitel 2.1 beschriebenen Kriterien begünstigen.
3.2. Hochstrittigkeit und Eltern-Kind-Entfremdung
Weber und Schilling (Hrsg., 2012) haben in ihrem Fachbuch „Eskalierte Elternkonflikte“ hochstrittige Elternsysteme beleuchtet, um die Beratungsarbeit zu erleichtern und die entsprechenden Fachprofessionen mit dieser Thematik vertraut zu machen. Laut dieser beiden Autoren kann von „Hochstrittigkeit“ bei Elternpaaren gesprochen werden, wenn „das Konfliktniveau [...] über Jahre konstant hoch [bleibt] und [...] gerichtliche wie außergerichtliche Interventionen (Beratung oder Mediation) keine Effekte [zeigen]“ (Weber & Schilling, Hrsg., 2012, S. 14). Sie beschreiben die elterlichen Konflikte als eskalierend und chronifizierend, die über unbestimmte Zeit anhalten (Weber & Schilling, 2012, S. 14). In der für diese Arbeit recherchierten Fachliteratur wird, wie bereits in den vorherigen Kapiteln beschrieben, immer wieder über hochstrittige Elternpaare berichtet. Laut Weber und Schilling (Hrsg., 2012) „mehren sich [...] die Verweise, dass bei einem Drittel der dauerhaft konfliktträchtigen Paare eindeutig ein Partner als der hoch Strittige identifiziert werden kann“ (S. 15). Ein Elternteil „verwickelt den anderen [...] in kontinuierliche rechtliche Auseinandersetzungen und provoziert dessen emotionale und finanzielle Überlastung“ (Kelly 2003; Friedmann, 2004; zit. nach Weber & Schilling (Hrsg.), 2012, S. 15).
Dass Hochstrittigkeit mit einer wahrzunehmenden Eltern-Kind-Entfremdung in Zusammenhang gebracht werden kann, lässt sich durch die sogenannten „Attributionsmuster“ erläutern, die Weber und Schilling (Hrsg., 2012, S. 19) wie folgt erklären:
- Arbeit zitieren
- Julia Bleser (Autor:in), 2021, Eltern-Kind-Entfremdung in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1011574
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