In Franz Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“ beschreibt ein Affe namens Rotpeter seinen Prozess der Wandlung vom Affen in ein Wesen mit menschlichen Zügen. Er entwickelt sich im Laufe einiger Jahre zu einem gebildeten, rasch lernenden, wissbegierigen Individuum, versucht dabei, seine Affennatur zu unterdrücken. Die erste zentrale Frage lautet: Ist dieser Text tatsächlich ein Bericht, so wie es der Titel und der Rahmen (Textanfang und -ende) vorgeben? Beginnt man zu lesen, so merkt man schnell, dass es sich um einen längeren Monolog handelt, in dem Rotpeter aus menschlicher Perspektive ‚erzählt‘, was er erlebt hat. Daraus ergeben sich die nächsten Fragen: Welche Textart liegt dann vor? Hat es nur den Anschein als sei dieser Text ein Bericht? Und warum wurde gerade dieser Titel gewählt? Schließlich soll im Folgenden auch noch näher beleuchtet werden, wie Bericht und Erzählung strukturell in diesem Text interagieren. Lügt der Affe womöglich, weil das, was er ‚berichtet‘ nur in Form einer Erzählung dargestellt werden kann?
In Franz Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“1 beschreibt ein Affe namens Rotpeter seinen Prozess der Wandlung vom Affen in ein Wesen mit menschlichen Zügen. Er entwickelt sich im Laufe einiger Jahre zu einem gebildeten, rasch lernenden, wissbegierigen Individuum, versucht dabei, seine Affennatur zu unterdrücken. Die erste zentrale Frage lautet: Ist dieser Text tatsächlich ein Bericht, so wie es der Titel und der Rahmen (Textanfang und -ende) vorgeben? Beginnt man zu lesen, so merkt man schnell, dass es sich um einen längeren Monolog handelt, in dem Rotpeter aus menschlicher Perspektive ‚erzählt‘, was er erlebt hat. Daraus ergeben sich die nächsten Fragen: Welche Textart liegt dann vor? Hat es nur den Anschein als sei dieser Text ein Bericht? Und warum wurde gerade dieser Titel gewählt? Schließlich soll im Folgenden auch noch näher beleuchtet werden, wie Bericht und Erzählung strukturell in diesem Text interagieren. Lügt der Affe womöglich, weil das, was er ‚berichtet‘ nur in Form einer Erzählung dargestellt werden kann?
Wie wird ein Bericht definiert? Durchsucht man das Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft 2 nach diesem Begriff, findet man ihn nicht in einem eigenen Artikel. Dies allein ist bereits ein interessanter Befund: Ein Bericht scheint also keine literarische Textgattung zu sein. Berichte findet man vielmehr in Prozessakten, in denen juristische Aussagen festgehalten werden, oder in Zeitungsartikeln, in denen ein Hergang, etwa ein Unfall, sachlich geschildert wird. Eine kurze Definition findet sich jedoch im Sachwörterbuch der Literatur. Ein Bericht sei eine „kurze, sachlich-nüchterne, folgerichtige Darstellung e. Handlungsablaufs ohne ausschmückende Abschweifungen und deutende Reflexionen“3, heißt es dort.
Dies trifft jedoch auf den Kafka-Text nicht zu, denn Rotpeter erzählt nicht sachlich-nüchtern, sondern er ist dabei vielmehr emotional aufgewühlt, beispielsweise wenn er sagt: „Dem Kerl sollte jedes Fingerchen seiner schreibenden Hand einzeln weggeknallt werden. Ich, ich darf meine Hosen ausziehen, vor wem es mir beliebt“ (S. 149). Außerdem spricht er von dem großen „Gefühl der Freiheit nach allen Seiten“ (S. 150), welches er als Affe vielleicht gekannt zu haben glaubt. Ein Bericht kommt laut obiger Definition ohne ausschmückende Abschweifungen und deutende Definitionen aus. Der Affe Rotpeter deutet in seinem Monolog jedoch ständig, zum Beispiel als er kommentiert „Nebenbei: mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzu oft“ (S. 150). Auch schweift er oft ab. Gleich zu Beginn des Textes etwa erzählt er ausführlich davon, dass er keine Erinnerung an sein „Affentum“ (S. 147) habe. Er lässt seinen innersten Gedanken freien Lauf, erzählt von den vielen Personen, die an seinem Käfig vorübergehen: „Ich sah diese Menschen auf und ab gehen […] die angehäuften Beobachtungen drängten mich erst in die bestimmte Richtung.“ (S. 151–152). All diese Beispiele zeigen, dass es sich nicht um einen Bericht handeln kann.
Was die „folgerichtige Darstellung e. Handlungsablaufs“4 in der Definition des Begriffs ‚Bericht‘ nach Wilpert betrifft, gibt es im Kafka-Text ebenfalls keine Übereinstimmung. Dort nämlich ist die zeitliche Darstellung nicht folgerichtig, der Ablauf wird immer wieder durch Zwischenbemerkungen des monologisierenden Tieres und durch Zeitsprünge unterbrochen. Einen solchen findet man beispielsweise an der Stelle, als Rotpeter in seiner Rede an die Herren von der Akademie plötzlich sagt: „Heute sehe ich klar“ (S. 150). Während er davor noch weit ausholend über seine lange bisherige Suche nach einem Ausweg aus dem Dilemma des Gefangensein sinniert, befindet er sich plötzlich im Hier und jetzt, sieht alles deutlich vor Augen. Immer wieder gibt es solche Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Beispielsweise auch dieser: Mit seinen heutigen Zähnen müsse er schon beim gewöhnlichen Nüsseknacken vorsichtig sein, erzählt Rotpeter, während er damals das Türschloss seines Käfigs nach und nach hätte durchbeißen können. (Vgl. S. 151)
„Ein Bericht für eine Akademie“ erfüllt also nicht die Kriterien eines Berichts. Vielmehr wird hier erzählt. Die Frage welche Textart vorliegt, wenn es kein Bericht ist, kann daher mit ‚eine Erzählung‘ beantwortet werden. Was genau ist eine Erzählung im literarischen Sinn? Nach Manfred Schmeling und Kerst Walstra ist ‚Erzählung‘ der „Oberbegriff für die Textsorten-Klasse ‚Darstellung von tatsächlichen oder fiktiven Ereignissen bzw. Handlungen in mündlicher, schriftlicher oder visueller Form‘.“5 Der Affe Rotpeter präsentiert in der Tat in seinem Monolog Ereignisse. Diese sind für den Leser natürlich fiktiver Art, für das Tier und seine Zuhörer von der Akademie stellen sie jedoch faktuale Sachverhalte dar. Für den Leser und die Zuhörer ist die Rede des Affen also eine Erzählung, da sowohl erdachte als auch reale Ereignisse laut Definition von Schmeling / Walstra als Material einer Erzählung in Frage kommen. Der Befund, dass „Ein Bericht für eine Akademie“ ein erzählender bzw. narrativer Text ist, steht zunächst nicht im Widerspruch zum Titel. Denn auch ein Bericht entspricht obigen Kriterien für eine Erzählung. Wie bereits gezeigt, erfüllt der Text jedoch nicht die Bedingung der Sachlichkeit und der linearen Zeitstruktur.
Für die Gattungsbestimmung liefern die beiden Wissenschaftler im Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft noch eine zweite wichtige Definition des Begriffs ‚Erzählung‘: „Narrativer literarischer Text kürzeren bis mittleren Umfangs“6. In diesem Artikel wird der Gattungsbegriff ‚Erzählung‘ erklärt und als „Neutraler Sammelbegriff für literarische Erzähltexte […] (z. B. Kurzgeschichte, Novelle usw.) in Abgrenzung zu Großformen wie dem Roman “7 bezeichnet. „Ein Bericht für eine Akademie“ ist also eine Erzählung sowohl in einem weiten als auch engeren Sinn, also ebenso für die „Herren von der Akademie“ wie auch für den Leser.
Zur Frage, warum es nur den Anschein hat als handle es sich um einen Bericht, ist zu sagen, dass darin eine gewisse Ironie mitschwingt. Wenngleich die Geschichte erfunden ist, soll ihr durch die Bezeichnung ‚Bericht‘, der, wie oben erwähnt, eine sachlich-nüchterne Darstellung eines Handlungsablaufs wiedergibt, Seriosität und Glaubwürdigkeit verliehen werden. Der Affe stellt seine Erzählung durch das Wort ‚berichten‘ in einen Rahmen, der sachliche Richtigkeit suggeriert. So beginnt er seine Rede damit, aufgefordert zu sein, einen Bericht über sein äffisches Vorleben einzureichen (vgl. S. 147). Und am Schluss seiner Rede beteuert er noch einmal, er habe „nur berichtet“ (S. 155). Alles, was der Ich-Erzähler Rotpeter äußert, soll so aussehen, als habe es sich wirklich zugetragen.
Dass die Rede an die Herren einer Akademie, einer Lehr- und (Aus-)Bildungseinrichtung gerichtet ist, will möglicherweise hervorheben, wie bedeutsam für die Wissenschaft die Geschichte des Affen ist, der sich immer mehr in seinem Wesen dem Menschen annähert: Rotpeter imitiert dessen Gewohnheiten und erreicht schließlich sogar „die Durchschnittsbildung eines Europäers“ (S. 154). Die Wahl des Titels „Ein Bericht an eine Akademie“ birgt also einen Widerspruch in sich, da es sich, wie gezeigt, nicht um einen Bericht handelt. Der Affe kann der Aufforderung, einen Bericht über sein äffisches Vorleben einzureichen, nicht nachkommen, denn seine Erinnerungen daran sind vermutlich so schrecklich, er ist so traumatisiert, dass er keinen Zugang mehr zu ihnen hat.
Dies führt zur Frage, warum der Affe ‚erzählt‘. Dem Tier bleibt quasi nichts anderes übrig als zu erzählen, denn ein sachlicher Bericht der Geschehnisse ist ihm nicht möglich. In dem Monolog steht in vielen Passagen das reflektierende Ich im Vordergrund. Wie bereits genauer erörtert und an einigen Textstellen gezeigt, kommentiert Rotpeter und lässt mitunter seinen Gedanken freien Lauf. Es liegt der Verdacht nahe, dass er – innerhalb der erdachten Geschichte – lügt, da er auch keine Markierungen für die Fiktionalität seiner Erzählung setzt, im Gegenteil sogar noch auf deren Faktualität beharrt. Am Schluss des Texts gesteht Rotpeter, er wolle keines Menschen Urteil, sondern nur Kenntnisse verbreiten, nur berichten (vgl. S. 155). Genau in diesem Moment sagt er nicht die Wahrheit, denn er hat nicht berichtet. Ob ihm dies selbst bewusst ist, sei dahingestellt. Dieser Befund soll jedoch nicht bedeuten, dass die Ereignisse, die in der fiktiven Welt dargestellt werden, nicht so stattgefunden haben, schließlich sind Teile der Erzählung innerhalb der fiktionalen Situation wahr, ja müssen sogar wahr sein. Rotpeter hat mit der Zeit gelernt zu sprechen („Hört nur, er spricht!“ S. 153); ohne diese Fähigkeit wäre er gar nicht in der Lage dazu, überhaupt zu berichten oder zu erzählen.
Das Springen in der Zeit, der Wechsel vom Präteritum zum Präsens, der eine Verbindung zwischen dem erlebenden und erzählenden bzw. kommentierenden Ich herstellt, zeigt die Kohärenz von wirklich Erlebtem und Reflektieren innerhalb des fiktiven Rahmens. In der zentralen Szene des Stücks8 nimmt Rotpeter während seines Monologs völlig unvermittelt einen Tempuswechsel vor: „nachdem die Flasche entkorkt war, hob er sie zum Mund; […] er nickt, zufrieden mit mir, und setzt die Flasche an die Lippen“ (S. 152). Das Trinken von Alkohol stellt den Höhepunkt der Darstellung der Erzählung Rotpeters dar. An dieser Stelle beginnt der Affe, menschlich zu werden, erst nach dem Alkoholgenuss fängt er an zu sprechen. Ein solcher Moment kann nur erzählt werden, denn in einer Erzählung ist es möglich, in eine andere Zeit zu wechseln, nicht jedoch im Bericht.
Dass der Text mit ‚Bericht‘ betitelt wird, die Kriterien dafür allerdings nicht erfüllt, erklärt sich so: Die imaginierten Adressaten, also die Herren von der Akademie wie auch die Leser, sollen die Geschichte der Verwandlung des Affen Rotpeter glauben. Aus dem Spannungsverhältnis von Bericht und Erzählung ergibt sich der Befund, dass man ein Leben bzw. eine Verwandlung nicht berichten, sondern nur erzählen kann. Der Geburtsmoment eines Menschen beispielsweise kann in einer Akte eingesehen und dann davon erzählt werden, jedoch ist es nicht möglich, davon in der Ich-Perspektive zu berichten. Genauso verhält es sich mit Rotpeters Verwandlung. Er könnte nicht über die Ungeheuerlichkeit seiner eigenen Existenz berichten, denn er hat das Trauma der Geburt erlebt. Ein Trauma wird, solange es die Seele nicht verarbeitet hat, vom Betroffenen immer wieder nacherlebt. Und dies kann nur im Präsens und nur durch erzählerische Rahmung geschehen.
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1 Kafka, Franz: „Ein Bericht für eine Akademie“. In: Sämtliche Erzählungen. Hrsg. von Paul Raabe, Frankfurt a. Main 1970. S. 147–155. Zitate und Textverweise aus diesem Werk werden im Folgenden stets mit der in Klammern stehenden Seitenzahl angegeben.
2 Müller, Jan-Dirk (Hrsg.): Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. B. I – III, Walter de Gruyter, Berlin 2007.
3 Von Wilpert, Gero: Sachwörterbuch der Literatur. Sonderausgabe der 8. Auflage, Kröner, Stuttgart 2013. S. 79.
4 Von Wilpert, Gero: Sachwörterbuch der Literatur. S. 79.
5 Schmeling, Manfred und Walstra, Kerst: Artikel „Erzählung1“. In: Müller, Jan-Dirk (Hrsg.): Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. Bd. I, A – G, Walter de Gruyter, Berlin 2007. S. 517.
6 Schmeling, Manfred und Walstra, Kerst: Artikel „Erzählung2“. In: Müller, Jan-Dirk (Hrsg.): Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. B. I, A – G, Walter de Gruyter, Berlin 2007. S. 519.
7 Ebd.
8 Da „Ein Bericht für eine Akademie“ häufig im Theater als dramatisches Bühnenstück inszeniert wird, kann der Text auch als ‚Stück‘ bezeichnet werden.
- Quote paper
- Birgit Kaltenthaler (Author), 2021, Kafkas "Ein Bericht für eine Akademie" - (k)ein Bericht?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1010277
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