Diese Facharbeit beschäftigt sich mit dem Thema Pflegeberatung nach § 7a SGB XI. In Teil A geht es um den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und die gesetzlichen Vorgaben, in deren Rahmen Pflegeberatung stattfindet. In Teil C sollen unterschiedliche Beratungskonzepte betrachtet werden, die, obwohl sie sich in ihren Ansätzen – bspw. in Ressourcen-, Lösungs- und Lebensweltorientierung! – unterscheiden, eines miteinander verbindet: die Perspektive des Patienten! Warum das so wichtig ist, soll in Teil B erörtert werden. Warum das so wichtig ist und Beratung, so sie erfolgreich sein soll, gar nicht anders kann, als den Menschen in seine Selbstbestimmung zu führen!
Die Lebenserwartung der Menschen unseres Kulturkreises steigt immer weiter. Spätestens jetzt rächt sich die Personalpolitik des letzten Jahrzehnts, die immer darauf bedacht war, das Personal in den Pflegeberufen drastisch zu reduzieren. Nicht nur der private Sektor der Pflege erwirtschaftet seine Gewinne über die Minimierung der Personalkosten!
Eine Entlastung des Systems bietet das Engagement vieler Menschen, die ihre Angehörigen zuhause pflegen. Um die pflegenden Angehörigen – und damit auch das Gesundheitssystem! – zu entlasten, wurden die PflegeStärkungsGesetze I bis III von der Bundesregierung beschlossen. Mit diesen Maßnahmen ist das Angebot für Pflegebedürftige und deren Angehörige sehr viel breitgefächerter geworden. Nun braucht es Spezialisten, die im Dschungel des Sozialgesetzbuches XI nicht die Orientierung verlieren und den Betroffenen maßgeschneiderte Angebote machen können: die Pflegeberater*innen!
InhaltsVerzeichnis
InhaltsVerzeichnis
AbkürzungsVerzeichnis
Abbildungs- und TabellenVerzeichnis
Glossar
Einleitung
Teil A: Das Konkrete: Gesetze und Kompetenzen
I Gesetzlich verankerter Anspruch auf Beratung
a) Gesetzlicher Rahmen der PflegeBeratung
b) Ziele und Inhalte der PflegeBeratung
c) Der neue PflegeBedürftigkeitsBegriff
II Qualifikation und Kompetenzen der Pflegeberater*innen
a) Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes zur Qualifikation
b) Was ist HandlungsKompetenz?
Teil B: Das Abstrakte: Identität trotz unruhiger Zeiten
I UmbruchsErfahrugen in spätmodernen Gesellschaften
a) Modernisierung und die GrundAnnahmen der ausklingenden Moderne
b) Das ahistorische IndividualisierungsModell nach U. Beck
II Konstruktivismus und alltägliche IdentitätsArbeit
a) Die wichtigsten GrundAnnahmen des Konstruktivismus
b) Von der Notwendigkeit individueller, alltäglicher IdentitätsArbeit
Teil C: Das Notwendige: Beratung in der Pflege
I Grundlagen der PflegeBeratung
a) Der lange Weg zur PatientenOrientierung
b) Definition von Beratung
c) Der Beratungsprozess
II Psychologische BeratungsKonzepte
a) Zentrale PersönlichkeitsAnforderungen
b) BeratungsKonzepte
Teil D: Das Errungene: SelbstBestimmung
LiteraturVerzeichnis
AnhangsVerzeichnis
Anhang
Hinweise:
Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden auf eine geschlechtsneutrale Formulierung verzichtet. Es sind jedoch immer beide Geschlechter im Sinne der Gleichbehandlung angesprochen.
Alle Verzeichnisse – mit Ausnahme des AbkürzungsVerzeichnisses – wurden automatisch mit der Software Microsoft WORD 2010 erstellt.
AbkürzungsVerzeichnis
BI: Begutachtungs-Instrument
BMG: BundesMinisterium für Gesundheit
GKV: Gesetzliche KrankenVersicherung
GKV-Spitzenverband: Spitzenverband Bund der Pflegekassen
MDS: Med. Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen
NBA: Neues BegutachtungsAssessment (veraltet)
PFK: PflegeFachKraft
PSG: PflegeStärkungsGesetz
VE: VerordnungsErmächtigung
ZQP: Zentrum für Qualität in der Pflege
Abbildungs- und TabellenVerzeichnis
Abbildung 1: Mögliche BeratungsAnlässe aus unterschiedlichen Perspektiven
Abbildung 2: Elemente des neuen PflegeBedürftigkeitsBegriffs
Abbildung 3: Individuelle HandlungsKompetenz
Abbildung 4: Das Kanizsa-Dreieck
Abbildung 5: BeratungsProzess nach Petzold
Tabelle 1: Gesetzlicher Anspruch auf Beratung
Tabelle 2: Übersicht Kompetenzen
Tabelle 3: Definition der TeilKompetenzen n. SCHNEIDER 2005, S. 92f.
Tabelle 4: Die GrundAnnahmen des Konstruktivismus
Tabelle 5: Die Phasen des BeratungsProzesses n. Petzoldt
Tabelle 6: Definition, angewandtes Verhalten und Grundtechniken zur Umsetzung der drei BasisVariablen
Tabelle 7: Drei BeratungsKonzepte im Vergleich; mod. u. in Anlehnung an KERKMANN / STASCHEN
Glossar
Diagnosis-Related-Groups
„Diagnosebezogene Fallgruppen” bilden die Grundlage für ein leistungsorientiertes Vergütungssystem für die allgemeinen Krankenhausleistungen, in dem alle Behandlungsfälle nach pauschalierten Preisen vergütet werden. DRG’s erfüllen als administrierte Preise zugleich eine Benchmark-Funktion, indem sie den einzelnen Krankenhäusern Hinweise darauf geben, inwieweit die eigenen betriebliche Kostenstruktur vom Durchschnitt abweicht. Die erstmals in den 1980er-Jahren in den USA entwickelten DRG’s haben sich mittlerweile in verschiedenen Ausprägungen international als Vergütungssystem in Krankenhäusern durchgesetzt. (https://www.aok-bv.de/lexikon/d/index_00293.html; Abruf am 20.03.2020)
Entzauberung
Zweite Phase der Individualisierung. Siehe „Individualisierung“
Entwicklungstheorie nach Jean Piaget (1896-1980):
Drei Eigenschaften des menschlichen Geistes:
i. Kognitive Adaption (Assimilation/Akkomodation):
Durch Assimilation passt das Kind das, was es aus seiner Umwelt erfährt, in seine eigene Organisation ein. Durch Akkomodation passt das Kind seine mentalen Repräsentationen an die Anforderungen der Wirklichkeit an.
ii. Kognitive Organisation (Bildung von Assoziationen):
Unter Kognitiver Organisation versteht man „die Tendenz des menschlichen Geistes, das Leben nicht als zerhackte Folge unverbundener Einzelbilder wahrzunehmen, sondern Beziehungen herzustellen“: bedeutungsvolle Einheiten werden zu einem „Weltbild“ zusammengefügt, das mit der Entwicklung des Kindes immer kohärenter und strukturierter wird.
iii. Kognitive Äquilibration (Herstellung von Gleichgewicht):
„bezeichnet das Streben eines jeden Organismus nach einem Gleichgewichtszustand mit seiner Umwelt und mit sich selbst.“ (JANK/MEYER 2009, S. 192f.)
Figuration
„Mit dem Begriff der Figuration hat Norbert Elias (1986) ein Konzept entwickelt, das besonders sensibel Veränderungen im sozialen Zusammenleben zu erfassen vermag. Es rückt in einer dynamisch-offenen Form das Interaktionsgeflecht der Menschen untereinander ins Blickfeld. Es reduziert soziale Prozesse weder auf strukturelle Systemarrangements, noch führt es sie auf Personmerkmale zurück. Zudem erlaubt es gerade in dynamischen Veränderungskonstellationen die Suche nach gestalthaften sozialen Formationen: ‚Das Zusammenleben von Menschen in Gesellschaften hat immer, selbst im Chaos, im Zerfall, in der allergrößten sozialen Unordnung eine ganz bestimmte Gestalt. Das ist es, was der Begriff Figuration zum Ausdruck bringt‘ (S. 90).“ (KEUPP 2008, S. 45)
Freisetzung
Erste Phase der Individualisierung. Siehe „Individualisierung“
Globalisierung
„Globalisierung ist ein Prozess, in dem "Ereignisse in einem Teil der Welt zunehmend Gesellschaften und Problembereiche in anderen Teilen der Welt berühren". (Wichard Woyke) Die natürlichen Grenzen von Zeit und Raum spielen in vielen Bereichen eine immer geringere Rolle. Die Kosten für den Transport von Informationen, Menschen, Gütern und Kapital über den gesamten Erdball hinweg sind drastisch gesunken, und globale Kommunikationsmöglichkeiten können immer billiger und schneller genutzt werden. Mit grenzüberschreitend, international, global... meinen wir meist über staatliche Grenzen hinweg. Handlungsmacht und Handlungswirkung von Staaten sind unter den Bedingungen der Globalisierung immer weniger deckungsgleich. Der moderne Nationalstaat, seine Grenzen und seine Gültigkeit, sind Ausgangspunkt der Wahrnehmung von Globalisierungsprozessen. Denn innerhalb von Staaten verfügen wir schon lange über mehr oder weniger eingespielte Mehrebenensysteme lokaler, regionaler und gesamtstaatlicher Politik. Globale Finanzmärkte agieren jedoch zwischen nationalen Geldmärkten. Transnationale Unternehmen bzw. "Global Player", sind dadurch definiert, dass sie in mehreren Staaten Niederlassungen haben, produzieren und verkaufen. Globale Umweltprobleme sind solche, die sich nicht auf Staatsgebiete eingrenzen lassen. Und auch im Internet gibt es praktisch keine staatlichen Grenzen.“ (https://www.bpb.de/veranstaltungen/netzwerke/teamglobal/67277/was-ist-globalisierung; Abruf am 21.03.2020)
Individualisierung
„Zwang, einen unübersichtlich gewordenen sozialen Raum selbst zu strukturieren. (…) Das Individuum muss fortlaufend Entscheidungen treffen, deren Handlungsfolgen es in direkter Linie nicht weit abschätzen kann.“ (ABELS 2010, S. 228)
Laut Ulrich Beck (*1944) führt die Modernisierung „nicht nur zur Herausbildung einer zentralisierten Staatsgewalt, zu Kapitalkonzentrationen und zu einem immer feinkörnigeren Geflecht von Arbeitsteilungen und Marktbeziehungen, zu Mobilität, Massenkonsum usw., sondern eben auch ... zu einer dreifachen ‚Individualisierung’: Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (‚Freisetzungsdimension’), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (‚Entzauberungsdimension’) und – womit die Bedeutung des Begriffes gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird – eine neue Art der sozialen Einbindung (‚Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension’). Diese drei Momente – ... Freisetzung, Stabilitätsverlust, Wiedereinbindung – ... bilden ein allgemeines, ahistorisches Modell der Individualisierung.“ Dabei subsumiert er unter dem Begriff der Freisetzung ferner die Veränderung der Lage der Frauen, die Flexibilisierung der Erwerbsarbeitszeit und die Dezentralisierung des Arbeitsortes. (BECK 1986, S. 206; kursiv im Original; Hervorhebung durch U. F.)
Kohärenzgefühl
„Der amerikanisch-israelische Medizinsoziologe AARON ANTONOVSKY (1923-1994) hatte herausgefunden, dass manche Überlebende von Konzentrationslagern oft erstaunlich gesund waren und sich auch so fühlten. Aus diesem Befund leitete er die grundsätzliche Frage ab, warum Menschen gesund bleiben, warum sie sich nach Krankheit wieder erholen und warum Menschen selbst bei extremen Belastungen nicht krank werden. Seine Antwort war: Sie hatten das Gefühl, dass ihr Leben alles in allem Sinn machte und dass sie ihr Leben auch im Grunde im Griff hatten. Dieses Gefühl eines inneren Zusammenhangs von gesellschaftlichen Bedingungen und individuellen Handlungen nannte Antonovsky das ‚Gefühl der Kohärenz‘. Es setzt sich aus drei Komponenten zusammen: dem Gefühl von Verstehbarkeit, von Handhabbarkeit und dem Gefühl von Bedeutsamkeit.“ (ABELS 2010, S. 449)
Kontroll- bzw. Re-IntegrationsDimension
Dritte Phase der Individualisierung. Siehe „Individualisierung“.
Perturbation
„Bezeichnet Zustandsveränderungen in der Struktur eines Systems, die von Zuständen in dessen Umfeld ausgelöst (d. h. nicht verursacht) werden. Insofern ist die Übersetzung dieses Begriffs etwa mit Störeinwirkung oder Störung problematisch … Im Bereich sozialer Phänomene ist hierfür der Begriff ‚Verstörung‘ bereits eingeführt worden.“ (MATURANA/VARELA 2010, S. 27)
„Perturbation meint nicht Zer-Störung im Sinne einer Destruktion von Strukturen, sondern Ver-Störung im Sinne von Irritation, mit dem Ziel, eingefahrene Kommunikationsmuster zu unterbrechen und Anstöße für selbstbestimmtes Lernen zu bieten.“ (AMELN, F. v.: Konstruktivismus. Tübingen und Basel: A. Francke Verlag, 2004, S. 68)
Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung
„Identität ist das Thema des dänisch-amerikanischen Psychoanalytikers ERIK H. ERIKSON (1902-1994). (…) [Er] verbindet … die überaus populäre psychosexuelle Theorie Sigmund Freuds mit einer psychosozialen Entwicklungstheorie, öffnet also den Blick für die sozialen Bedingungen der Entwicklung von Identität.“ (ABELS 2010, S. 275)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Eigene Aufstellung in Anlehnung an ABELS 2010, S. 279-289)
Einleitung
Mit der Einführung der Diagnosis Related Groups (DRG’s) im Jahre 2004 hat sich die Arbeitsdichte in den Bereichen „Medizin und Pflege“ bundesweit drastisch erhöht. Weil viele Leistungen an Diagnostik und Therapie von den Kassen nicht leistungsgerecht vergütet werden, können die Institutionen der Leistungserbringer im Gesundheitswesen nur über die Senkung ihrer Kosten wirtschaftlich arbeiten. (Dass viele Patienten Leistungen erhalten, die sie gar nicht brauchen, wollen wir hier unberücksichtigt lassen.) Hierfür stehen ihnen zwei (sich gegenseitig ausschließende) Strategien zur Verfügung: zum einen haben die Verantwortlichen den Patientendurchlauf (Fallzahlen!) bis an die Grenzen der gegebenen Infrastruktur (z. Bsp. mittels Baumaßnahmen!) maximiert, zum anderen wurde vor allen Dingen das Pflegepersonal reduziert, um Personalkosten zu sparen. Diese Entwicklung kulminierte im Laufe von etwa zehn Jahren flächendeckend in kaum zu ertragenden Arbeitsbedingungen vor allem in Krankenhäusern, was einen kontinuierlichen Rückgang von Pflegefachkräften in Ausbildung und Berufstätigkeit (Schlagwort „Pflegenotstand“) zur Folge hatte. Kontinuierlich wachsende Anforderungen in Qualität und Quantität sollen/müssen jetzt von immer weniger Personal bewältigt werden!
Inzwischen hat sich die Lage so zugespitzt, dass alle Klinika und Pflegeheime um das Pflegepersonal miteinander konkurrieren. So werben Krankenhäuser bspw. mit höheren Gehältern das Pflegepersonal aus stationären Pflegeeinrichtungen und mittels Prämien aus anderen Kliniken ab. Spätestens jetzt ist die Krise in allen Bereichen und auf allen Ebenen des Gesundheitswesens angekommen.
Über diese strukturellen Missstände hinaus nimmt die Lebenserwartung der Menschen unseres Kulturkreises immer weiter zu. Unter dem Schlagwort „ Demographischer Wandel “ versteht man hauptsächlich den immer größer werdenden Anteil älterer Menschen in unserer Bevölkerung. Eine Entlastung des Systems bietet das Engagement vieler Menschen, die ihre Angehörigen zuhause pflegen. Die Zahl pflegebedürftiger Menschen (im Sinne des SGB XI) ist von rund 2,0 Millionen im Jahre 1999 auf ca. 3,4 Millionen im Jahre 2017 gestiegen. (vgl. Ratgeber Pflege 2019, S. 178) Laut Schätzungen des BundesMinisteriums für Gesundheit (BMG) könnte diese Zahl bis zum Jahr 2060 auf 4,7 Millionen ansteigen. (vgl. BENECKE 2017, S. 2)
Um die pflegenden Angehörigen – und damit auch das Gesundheitssystem! – zu entlasten, wurden die PflegeStärkungsGesetze I bis III (PSG I-III) von der Bundesregierung beschlossen.
Das PSG I trat am 01. Januar 2015 in Kraft. Neben der Anhebung fast aller Leistungsbeträge wurde Menschen mit Demenz ein leichterer Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung geebnet, bspw. zu teilstationärer Tages- bzw. Nachtpflege. Kurzzeit- und Verhinderungspflege können seitdem besser kombiniert werden. (vgl. Ratgeber Pflege 2019, S. 178ff.)
Grundlegende Verbesserungen im Pflegesystem und eine Abkehr vom Paradigma einer ausschließlich körperbetonten Pflegebedürftigkeit erreichte man durch den Beschluss des PSG II, das am 01. Januar 2016 in Kraft trat. Mit der Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, der gleichzeitig mit einem pflegewissenschaftlich fundierten Neuen BegutachtungsAssessment (NBA, jetzt Begutachtungs-Instrument: BI) korrespondiert, bekommen alle Pflegebedürftigen einen gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung, unabhängig davon, ob sie unter körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen leiden. Überhaupt orientiert sich das PSG II „stärker an den Bedürfnissen jedes einzelnen Menschen, an seiner individuellen Lebenssituation und an seinen individuellen Beeinträchtigungen und Fähigkeiten“. (ebd., S. 179) Mehr als vorher steht die Stärkung der Selbständigkeit und der Fähigkeiten im Vordergrund. In diesem Zusammenhang nimmt auch die Beratung nach § 7a SGB XI einen immer höheren Stellenwert ein. Das am 01. Januar 2017 in Kraft getretene PSG III bezieht sich nicht mehr direkt auf die Situation der Leistungsempfänger, sondern es regelt auf institutioneller Ebene Fragen der Qualitätssicherung, der Prävention von Abrechnungsbetrug u. v. a. m.
In dieser Facharbeit wollen wir uns mit dem Thema Pflegeberatung nach § 7a SGB XI beschäftigen. In Teil A geht es um den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und die gesetzlichen Vorgaben, in deren Rahmen Pflegeberatung stattfindet. In Teil C sollen unterschiedliche Beratungskonzepte betrachtet werden, die, obwohl sie sich in ihren Ansätzen – bspw. in Ressourcen-, Lösungs- und Lebensweltorientierung! – unterscheiden, eines miteinander verbindet: die Perspektive des Patienten! Warum das so wichtig ist, wollen wir in Teil B erörtern. Warum das so wichtig ist und Beratung, so sie erfolgreich sein soll, gar nicht anders kann, als den Menschen in seine Selbstbestimmung zu führen!
Teil A: Das Konkrete: Gesetze und Kompetenzen
I Gesetzlich verankerter Anspruch auf Beratung
Ca. 3,4 Millionen Menschen (Stand: Ende 2017) sind im Sinne des SGB XI pflegebedürftig. Etwa 2/3 von ihnen werden von Familienmitgliedern oder anderen Bezugspersonen versorgt. Wiederum 1/3 von jenen nimmt zusätzlich die Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes in Anspruch. Allen Verantwortlichen ist an einer Ausweitung der ambulanten Versorgung gelegen, damit stationäre Einrichtungen, die bundesweit unter Personalmangel leiden, (s.o.) entlastet werden. Aber die Pflege eines Familienmitglieds stellt die Angehörigen vor große Herausforderungen: erstens lässt sich der Verlauf der Pflegesituation nur bedingt vorhersagen. Das bedeutet, dass die pflegenden Angehörigen stets mit Veränderungen und neuen Aufgaben konfrontiert werden. Zweitens sind sie nicht nur durch ihren praktischen Einsatz gefordert, sondern auch mental: sie müssen „Entscheidungen über Inhalt, Ausmaß und Ausgestaltung der Pflege“ treffen. (ZQP 2016, S. 3) In dieser komplexen und belastenden Situation kommt „Beratung … eine wichtige Funktion zur Stabilisierung häuslicher Pflegearrangements zu“. (ebd.)
a) Gesetzlicher Rahmen der PflegeBeratung
Eine Pflegeberatung stärkt nicht nur die Kompetenz und das pflegefachliche Wissen der pflegenden Angehörigen, sondern sie trägt auch zur Prävention von Gesundheitsproblemen bei. Damit Pflegebedürftige und ihre Angehörigen mehr Unterstützung in der häuslichen Versorgung erfahren, sind in der Pflegeversicherung „verschiedene, gesetzlich definierte Beratungsansprüche und -anlässe geschaffen worden“. (ebd.)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Gesetzlicher Anspruch auf Beratung
Quelle: Eigene Aufstellung nach ZQP 2016, S. 3
Obwohl der Gesetzgeber versucht, den Menschen in seinen konkreten Lebensbezügen zu unterstützen, (siehe Anhänge 1-10) fällt die Beratung hinsichtlich ihres Gehalts sehr unterschiedlich aus. Das „Zentrum für Qualität in der Pflege“ (ZQP) spricht gar davon, dass „die Qualität der Beratung … vielfach vom Zufall abhängig“ sei. (2016, S. 4) So hat der Gesetzgeber den Verantwortungsträgern einen Handlungsspielraum gelassen, der vielerorts nicht professionell besetzt wurde. Erst die Stiftung ZQP und der „Spitzenverband Bund der Gesetzlichen Krankenversicherungen“ (GKV-Spitzenverband) haben mit ihren Publikationen „Qualitätsrahmen für Beratung in der Pflege“ bzw. „Richtlinien zur einheitlichen Durchführung der Pflegeberatung“ das Fundament der Beratung in einen qualitativ hochwertigen Rahmen gegossen. Inzwischen sind die „Pflegeberatungs-Richtlinien … für die Pflegeberater und Pflegeberaterinnen der Pflegekassen, der Beratungsstellen nach § 7b Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 sowie der Pflegestützpunkte nach § 7c unmittelbar verbindlich“. (§ 17 SGB XI, s. Anhang 6) Darüber hinaus haben der GKV-Spitzenverband und der „Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen“ (MDS) die Pflegeberatung evaluiert und mit einigen Modellprojekten zur Weiterentwicklung der Pflegeberatung innerhalb der Pflegeversicherung beigetragen.
b) Ziele und Inhalte der PflegeBeratung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Neben den übergeordneten Zielen, die der GKV-Spitzenverband formuliert hat (s. Definition), gibt es aber auch konkrete Ziele, die sich nach dem individuellen Bedarf der pflegebedürftigen Person und ihrer Angehörigen richtet; hierzu gehören bspw. „ pflegerische Hilfen (Sachleistungen, Kombinationsleistungen, körperbezogene Pflegemaßnahmen, Haushaltsführung, pflegerische Betreuungsmaßnahmen …), Rehabilitation (Information zu Zielen und Möglichkeiten einer Rehabilitation, Hilfe bei der Antragstellung, Aufzeigen von Lösungsmöglichkeiten bei Inanspruchnahme einer Rehabilitation …), (Pflege)Hilfsmittel (Beratung zu geeigneten Pflegehilfsmitteln, Information zur Antragstellung …), Prävention und Gesundheitsförderung (Befähigung zur Inanspruchnahme von Präventionsmaßnahmen, z. B. Gesundheitskurse, Pflegekurse, …) und Anpassung des Wohnumfeldes “. (MDK Bayern 2020, S. 43; Hervorhebung im Original)
Um die Komplexität der gesamten Beratungssituation vollständig zu erfassen, müssen sich Beratende im Klaren darüber sein, mit wem sie es eigentlich zu tun haben. Des Weiteren spielt die Perspektive, aus der der Pflegebedürftige und seine Angehörigen die Situation betrachten, eine wesentliche Rolle, weil sie im Fokus des Beratungsprozesses stehen sollte. Das ZQP hat in Anlehnung an die COMPASS Private Pflegeberatung vier Typen von Ratsuchenden identifiziert:
i. „Ratsuchende, bei denen Überforderung und Hilflosigkeit deutlich werden
ii. Aufgeklärte Ratsuchende mit konkreten Fragen auf der Suche nach realisierbaren Interventionen
iii. Ratsuchende mit Widerstandspotenzial, die einerseits über langjährige Erfahrung in der Pflege und Betreuung chronisch Kranker verfügen, das Gesundheitssystem gut kennen und konkrete Wünsche äußern, andererseits ihre Bedarfe erkennen und Änderungsbedarf identifizieren, zu Veränderungen jedoch nicht bereit sind
iv. Personen, die nicht realisiert haben, dass sie von Beratung profitieren könnten.“
(ZQP 2016, S. 12)
Außerdem findet man dort (ebd.) einen Überblick über mögliche Beratungsanlässe aus unterschiedlichen Perspektiven:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Mögliche BeratungsAnlässe aus unterschiedlichen Perspektiven
Es ist nun der Handlungskompetenz des Beratenden geschuldet, in einer komplexen Situation mit der nötigen Sorgfalt und Empathie auf die Ängste und Nöte der Hilfesuchenden einzugehen, um „individuelle und passende Lösungen für die Ausgestaltung ihrer Lebens- und Versorgungssituation zu finden“. (ebd.)
Die bestehenden Beratungsangebote der Pflegeversicherung decken einen großen Teil möglicher Beratungsanlässe ab. (s. Anhang 11) Dabei kommt dem Case-Management eine besondere Bedeutung im Rahmen des § 7a SGB XI zu: „Case-Manager*innen übernehmen Klienten bezogen eine
i. selektierende oder Türöffner-Funktion (als gate-Keeper), in der sie Menschen Zugang zu Hilfen, Unterstützung oder anderen Versorgungsleistungen verschaffen bzw. in einer Menge von Fällen eine Auswahl treffen und danach in eine (ggf. anderweitige) Unterstützung oder Versorgung überleiten,
ii. vermittelnde Funktion (als broker), in der sie als Agenten oder Makler handeln, die sich im Sozialleistungssystem bzw. in den Strukturen der sozialen und gesundheitlichen Versorgung auskennen und Klienten darin einer angemessenen Problembewältigung zuführen können,
iii. anwaltschaftliche Funktion (in advocacy), in der sie sich darum kümmern, dass Klienten eine bedarfsgerechte Versorgung erhalten, die auf ihre Lebenssituation abgestimmt ist, und dass ihre Interessen gewahrt werden,
iv. unterstützende Funktion (als supporter), in der sie ihren Klienten mit Rat und Tat zur Seite stehen, ihre Selbstbestimmung stärken, sie zur Einhaltung von Vereinbarungen bewegen usw.“
(WENDT 2018, S. 191; kursiv im Original; s. auch Anhang 12)
c) Der neue PflegeBedürftigkeitsBegriff
Wie bereits in der Einleitung erwähnt, wurde mit dem PSG II ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff in die Pflegeversicherung eingeführt (§ 14 SGB XI, s. Anhang 4), der direkt mit dem Begutachtungs-Instrument (BI) verzahnt ist (§ 15 SGB XI, s. Anhang 5). „Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff orientiert sich anhand eines umfassenden und differenzierten Kriterienkatalogs in sechs Lebensbereichen am Ausmaß der Selbständigkeit der Pflegebedürftigen und bezieht körperliche, kognitive und psychische Beeinträchtigungen anhand einer pflegewissenschaftlich begründeten Gewichtung in die Bewertung der Pflegebedürftigkeit ein.“ (Pflege-Report 2017, S. 14; s. Abb. 2) Damit wird allen Pflegebedürftigen – unabhängig von der Art der Beeinträchtigung! – ein gleichberechtigter Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung gewährt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Elemente des neuen PflegeBedürftigkeitsBegriffs
Quelle: Pflege-Report 2017, S. 14
II Qualifikation und Kompetenzen der Pflegeberater*innen
a) Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes zur Qualifikation
Gemäß § 7a Absatz 3 Satz 2 SGB XI werden „für die Pflegeberatung … insbesondere
i. Pflegefachkräfte (examinierte Altenpfleger*innen, Gesundheits- und Krankenpfleger*innen, Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger*innen),
ii. Sozialversicherungsfachangestellte oder
iii. Sozialpädagogen/-arbeiter*innen
eingesetzt. (…) Andere Berufe oder Studienabschlüsse sind geeignet, wenn die Ausbildungs-/Studieninhalte insbesondere einen pflegefachlichen, sozialrechtlichen, sozialpädagogischen oder heilpädagogischen Schwerpunkt haben oder eine mehrjährige Erfahrung in der Beratung zu gesundheitlichen, sozialrechtlichen oder pflegefachlichen Themen bei einem Sozialversicherungsträger vorliegt.“ (GKV-Spitzenverband 2018 b, S. 4) „Die Pflegeberatung ist von Pflegeberaterinnen und Pflegeberatern mit personaler Kompetenz und Fachkompetenz durchzuführen. Die personale Kompetenz zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass die Pflegeberaterin oder der Pflegeberater eine kooperative, respektvolle, empathische und kommunikative Beratungshaltung einnimmt. Die Fachkompetenz zeigt sich insbesondere dadurch, dass die Pflegeberaterin oder der Pflegeberater die/den Ratsuchenden ihren/seinen Bedürfnissen, Interessen und Werten entsprechend und mit einem umfassenden Wissen der die Beratung betreffenden Themenbereiche berät und die ratsuchende Person bei der Entscheidungsfindung unterstützt.“ (GKV-Spitzenverband 2018 a, S. 16; s. auch Anhang 13)
b) Was ist HandlungsKompetenz?
„Handlungskompetenz … dient auch innerhalb der Fort- und Weiterbildung als Bezugsbasis für Bildungsprozesse. (…) [Sie lässt sich] als ‚die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen [definieren], in beruflichen Situationen sach- und fachgerecht, persönlich durchdacht und in gesellschaftlicher Verantwortung zu handeln sowie seine Handlungsmöglichkeiten ständig weiterzuentwickeln‘.“ (SCHNEIDER 2005, S. 90)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Individuelle HandlungsKompetenz
Nach dem Modell von Ulrich wird Handlungskompetenz durch Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft bestimmt. (s. Abb. 3; Quelle: ebd., S. 91) Dabei entsteht Handlungsfähigkeit durch das Zusammenspiel von explizitem (Zahlen, Daten, Fakten) und implizitem Wissen. Unter implizitem Wissen, das wichtiger und wesentlicher für die Handlungsfähigkeit ist, versteht man „sowohl deklaratives (Wissen über Fakten und Begriffe = WAS?) als auch prozedurales Wissen (Wissen über Strategien und Vorgehensweisen = WIE?)“. (ebd.) Die Handlungsbereitschaft wird maßgeblich durch den Willen und die Werte des Handelnden bestimmt.
Damit wird durch Individuelle Handlungskompetenz situativ-adäquates Handeln sowohl im Beruf als auch im Alltag ermöglicht. (vgl. SCHNEIDER 2005, S. 90ff.) In der beruflichen Ausbildung hat sich der Qualifikationsbegriff neben dem Bildungsbegriff etabliert. Unter Qualifikation versteht man den „Lernerfolg in Bezug auf die Verwertbarkeit, d. h. aus der Sicht der Nachfrage in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen… (…) Kompetenzen [sind] im Gegensatz zu Qualifikationen Dispositionen (Anlagen, Fähigkeiten und Bereitschaften), die die Selbstorganisation von Handlungen eines Individuums bestimmen. (…) Die Kompetenz eines Menschen wird … durch Wissen und Erfahrung fundiert, durch Werte gebildet und getragen, als Fähigkeit angelegt und durch Willen verwirklicht.“ (ebd., S. 92)
Kompetenz lässt sich als eine Synthese aus Qualifikation und Bildung verstehen. (s. Anhang 14) Und an diesem Punkt ahnen wir, welche Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bildungsinhalte man braucht, um von Fachkompetenz bzw. von Personaler Kompetenz zu sprechen, so, wie es in den Richtlinien und Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes gefordert wird. (s. Anhang 16 u.17)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: Übersicht Kompetenzen
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an SCHNEIDER 2005, S. 92ff.
Anders definiert, kann man Handlungskompetenz auch als Summe von Basiskompetenzen und Instrumentellen Kompetenzen verstehen. Korreliert man Basis- und Instrumentelle Kompetenzen miteinander, so kann es zu synergetischen Effekten im Sinne übergeordneter Fähigkeiten, Handlungen oder auch Methoden kommen. (vgl. ebd., S. 94; s. Anhang 15)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 3: Definition der TeilKompetenzen n. SCHNEIDER 2005, S. 92f.
Teil B: Das Abstrakte: Identität trotz unruhiger Zeiten
Wenn Beratung in der Gegenwart erfolgreich sein soll, müssen wir uns zunächst mit der Frage beschäftigen, was die Menschen heutzutage umtreibt. Denn Prozesse der „Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung“, die charakteristisch für die neue Epoche der Postmoderne sind, haben am Anfang des neuen Jahrtausends zu einem gesellschaftlichen Umbruch geführt, der radikal und vielgestaltig verläuft, und „das Selbstverständnis der klassischen Moderne grundlegend in Frage stellt“. (KEUPP 2008, S. 30) „Es ist ein Umbruch mit weitreichenden technologischen, ökonomischen und ökologischen Konsequenzen. Aber er zeitigt auch eine tiefgreifende zivilisatorische Umgestaltung, die sich in der Alltagskultur, in unseren Werthaltungen und in unserem Handeln notwendigerweise auswirken muß.“ (ebd., S. 35)
So steht die Identitätstheorie Eriksons (1902-1994; Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung!), die in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt wurde, gemäß ihrer Definition exemplarisch für den Identitäts-Begriff der Moderne: Erikson spricht von „Gleichheit und Kontinuität in der Zeit“. (ebd. S. 28) Identität wird demnach als ein festes, dauerhaftes und unverrückbares Gehäuse voller Stabilität, Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit verstanden. „Identitätsarbeit“ (Keupp) kommt zu einem Ende, wenn das Individuum die Anforderungen der Außenwelt mit seiner inneren Bedürfnisstruktur in Einklang gebracht hat. Aber weil jene Anforderungen in der Gegenwart kontinuierlichen Veränderungen unterliegen, ist die Stabilität von Identität in Gefahr! Die gesellschaftliche Wirklichkeit scheint die Reichweite des modernen Identitätsbegriffes zu sprengen und fordert eine flexible Konstruktion von Identität ein. Diese Entwicklung muss integraler Bestandteil moderner Beratungskonzepte sein.
I UmbruchsErfahrugen in spätmodernen Gesellschaften
„Ähnlich wie im 19. Jahrhundert Modernisierung die ständisch verknöcherte Agrargesellschaft aufgelöst und das Strukturbild der Industriegesellschaft herausgeschält hat, löst Modernisierung heute die Konturen der Industriegesellschaft auf, und in der Kontinuität der Moderne entsteht eine andere gesellschaftliche Gestalt.“
Beck 1986, S. 14
a) Modernisierung und die GrundAnnahmen der ausklingenden Moderne
Nach Keupp führen die gesellschaftlichen Umbrüche der jüngsten Zeit in erster Linie zu Zerfallsdiagnosen: „Besorgte Diskurse gibt es vor allem zu zwei miteinander verknüpften Veränderungsprozessen: einen Diskurs zum Verlust von Gemeinschaft und einen Diskurs zur Zerspaltung einer in sich geschlossenen Identität.“ (KEUPP 2008, S. 34; kursiv durch U. F.)
Die Analyse gesellschaftlicher Umbauprozesse führt Ulrich Beck zu der Annahme, dass die „Basisprämissen der industriellen Moderne“ brüchig geworden sind und die o. g. Phänomene daraus resultieren. Unter Basisprämissen verstehen Soziologen zunächst „die mit hoher Selbstverständlichkeit angenommene Konstruktion raum-zeitlicher Koordination für kollektive Identitäten und Lebensmuster. Alle das gesellschaftliche Leben bestimmenden Prozesse der Politik, Wirtschaft und Verwaltung werden als ineinander verzahnte Prozesse betrachtet, die wie in einem Container deponiert und als gut geordnet angesehen werden. (…) Die für Identitätsbildung erforderliche soziale Anerkennung ist in klar strukturierten sozialen Figurationen von Familie, Nachbarschaft, lokalen Gruppen und Netzwerken gesichert. (...) In solchen Figurationen [Elias] kollektiver Identitäten und Lebensmuster sind die Folgen von Freisetzungs- und Individualisierungsschüben, die die Moderne begleiten, immer wieder aufgefangen worden.“ (ebd., S. 40f.; Hervorhebung und kursiv durch U. F.) Die gesellschaftlichen Veränderungen der Gegenwart stellen in ihrer Dimension und Fülle alle Grundprämissen der hinter uns liegenden gesellschaftlichen Epoche in Frage. Die o. g. Figurationen verblassen zunehmend und beginnen sich aufzulösen. In Anlehnung an Beck [Die Zukunft von Arbeit und Demokratie. F/Main: Suhrkamp: 1999] formuliert Keupp jene Grundannahmen, die sich bereits „zu Selbstverständlichkeiten in unseren Köpfen verdichtet“ (ebd., S. 44) hatten:
i. „Die ‚Vollbeschäftigungs-Gesellschaft’ und ihre Annahme, daß Erwerbsarbeit den für alle Gesellschaftsmitglieder zentralen Prozeß gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Identität begründet.
ii. Die Annahme einer immer weiter perfektionierbaren Rationalität und Kontrollierbarkeit gesellschaftlicher Abläufe. Jede Krise, die zu Zweifeln am Anspruch der technischen Bewältigung führt (zum Beispiel die atomaren Unfälle von Harrisburg oder Tschernobyl), wurde mit der Formel ‚mehr vom selben’ beantwortet: mehr Sicherheit durch perfektionierte technische Sicherungssysteme. (…)
iii. Die Annahme einer industriellen Reichtumsdynamik durch die Unterwerfung und Ausbeutung der Natur.
iv. Kollektive Identitäten und Lebensmuster sicherten die soziale Verortung und Zugehörigkeit in erster Linie durch den Rückgriff auf ständische Muster.
v. Der Grundriß der Moderne baut auf einer Halbierung auf: Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung verschafft Männern den privilegierten Zugang zu Macht und Arbeit.“
(KEUPP 2008, S. 44f.)
Nach Keupp sind „keine der genannten Basisprämissen … vom aktuellen gesellschaftlichen Umbruch unberührt geblieben“. (KEUPP 2008, S. 45)
Weil diese Veränderungen aber viel zu abstrakt sind, als dass wir sie spüren könnten , müssen wir die Subjektebene ins Blickfeld unserer Untersuchung rücken und uns fragen, wie sich eigentlich der Alltag der Menschen in den letzten Jahrzehnten konkret verändert hat?! Nach Keupp et al. führt „die wachsende Komplexität von Lebensverhältnissen … zu einer Fülle von Erlebnis- und Erfahrungsbezügen, die sich aber in kein Gesamtbild mehr“ fügten (Fragmentierung). (ebd., S. 48) Das Subjekt fühle sich „entbettet“, weil nicht zuletzt die „Erwerbsarbeit als Basis von Identität brüchig“ (ebd., 47) geworden ist. Es komme zu einer „Entgrenzung der individuellen und kollektiven Lebensmuster“, weil „die Tugend des klugen Arrangements mit den vorgegebenen Normen … in einer ‚multioptionalen Gesellschaft‘ an Normalitätswert“ verliert. (ebd., S. 47) Insgesamt würden „multiphrene Situationen“ (Gergen) zur Normalerfahrung werden. Es seien „hohe psychische Spaltungskompetenzen gefordert, um nicht verrückt zu werden“. (ebd., S. 48) Das Zeitgefühl erfahre eine „Gegenwarts-Schrumpfung“, weil die „Halbwertszeit“ des aktuell geltenden Wissens durch das Phänomen der „Innovationsverdichtung“ immer geringer wird. (ebd., S. 49) Außerdem komme es zu einer „Pluralisierung der Lebensformen“, die mit einer dramatischen „Veränderung der Geschlechter-Rollen“ einhergeht. Im Gegensatz zu den traditionellen, kollektiven „Lebensstilen und Lebenslagen“ (Beck) führe „Individualisierung“ (s. u.) zu individuellen Formen der Sinnsuche, weil „die traditionellen Instanzen der Sinnvermittlung … an Bedeutung“ verlieren. (ebd. S. 52) Das Phänomen der Individualisierung verändere „das Verhältnis vom einzelnen zur Gemeinschaft“ total. (ebd.)
(vgl. KEUPP 2008, passim, insbes. S. 45-53)
Modernisierung am Ende des 20. Jahrhunderts führt laut Beck „nicht nur zur Herausbildung einer zentralisierten Staatsgewalt, zu Kapitalkonzentrationen und zu einem immer feinkörnigeren Geflecht von Arbeitsteilungen und Marktbeziehungen, zu Mobilität, Massenkonsum usw., sondern eben auch … zu einer dreifachen ‚Individualisierung‘“. (BECK 1986, S. 206)
b) Das ahistorische IndividualisierungsModell nach U. Beck
Laut Beck ist Individualisierung „keine Erscheinung, keine Erfindung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, sondern sie lasse sich auch „in der Renaissance (Burckhardt) … [und] in der innerweltlichen Askese des Protestantismus (Max Weber) … [finden]. In diesem allgemeinen Sinne meint ‚Individualisierung‘ bestimmte subjektiv-biographische Aspekte des Zivilisationsprozesses (im Sinne von N. Elias), insbesondere in seiner letzten Stufe von Industrialisierung und Modernisierung …“. (BECK 1986, S. 206) In dieser Stufe komme es „zu einer dreifachen ‚Individualisierung’: Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (‚Freisetzungsdimension’), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (‚Entzauberungsdimension’) und – womit die Bedeutung des Begriffes gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird – eine neue Art der sozialen Einbindung (‚Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension’). Diese drei Momente – ... Freisetzung, Stabilitätsverlust, Wiedereinbindung – ... bilden ein allgemeines, ahistorisches Modell der Individualisierung.“ (ebd.; kursiv im Original; Hervorhebung durch U. F.) Dabei subsumiert er unter dem Begriff der Freisetzung ferner die Veränderung der Lage der Frauen, die Flexibilisierung der Erwerbsarbeitszeit und die Dezentralisierung des Arbeitsortes.
Zur weiterführenden Frage, welcher Modus der Re-Integration und Kontrolle mit den entstehenden Individuallagen verbunden sei, stellt Beck drei Thesen auf:
i. Der Individualisierungsschub habe – besonders in der BRD – folgende Konsequenzen: „An die Stelle von Ständen treten nicht mehr soziale Klassen, an die Stelle von sozialen Klassenbindungen tritt nicht mehr der stabile Bezugsrahmen der Familie. Der oder die einzelne selbst wird zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen.“ (ebd., S. 209; kursiv im Original)
ii. „Diese Ausdifferenzierung von ‚Individuallagen’ geht aber gleichzeitig mit einer hochgradigen Standardisierung einher. Genauer gesagt: Eben die Medien, die eine Individualisierung bewirken, bewirken auch eine Standardisierung. Dies gilt für Markt, Geld, Recht, Mobilität, Bildung usw. in jeweils unterschiedlicher Weise. Die entstehenden Individuallagen sind durch und durch (arbeits-) marktabhängig.“ (ebd., S. 210; kursiv im Original)
iii. „Die Gleichzeitigkeit von Individualisierung, Institutionalisierung und Standardisierung faßt die entstehenden Individuallagen noch nicht zureichend. Sie weisen nämlich einen neuartigen Zuschnitt auf. Sie übergreifen die getrennten Bereiche des Privaten und die verschiedenen Sphären des Öffentlichen. (...) Sie haben das widersprüchliche Doppelgesicht institutionen-abhängiger Individuallagen. (…) Die freigesetzten Individuen werden arbeitsmarktabhängig und deshalb bildungsabhängig, konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen, von Verkehrsplanungen, Konsumangeboten, Möglichkeiten und Moden in der medizinischen, psychologischen und pädagogischen Beratung und Betreuung. Dies alles verweist auf die institutionenabhängige Kontrollstruktur von Individuallagen. “ (ebd., S. 210; kursiv im Original; Hervorhebung durch U. F.)
Zusammengefasst bedeutet das: Auf der einen Seite fordern die jüngsten gesellschaftlichen Veränderungen einen Identitäts-Begriff, mit dem sich das Individuum geschmeidig an die Veränderungen seiner Außenwelt anpassen kann; ein festes, stabiles Identitätsgehäuse würde gleich eines Korsetts nur das menschliche Wesen erdrücken. Auf der anderen Seite sind die Lebensläufe in unserer Gesellschaft standardisiert, die Biographie-Muster institutionalisiert. „Die Individualisierung greift also gerade unter gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die eine individuelle verselbständigte Existenzführung weniger denn je zulassen.“ (BECK 1986, S. 211) Das Individuum ist also gehalten, aus seiner individuellen Lage die Entscheidungen seines eigenen Lebens selbst zu treffen , aber es sieht sich von Institutionen und Regelungen, von Moden und Erwartungen umstellt, die seine individuellen Entscheidungen in eine bestimmte Richtung lenken oder Standardentscheidungen sogar erzwingen. Das meint Beck, wenn er von einem neuen Modus der Re-Integration und Kontrolle spricht, der mit den entstehenden Individuallagen verbunden ist. Das Private wie das Öffentliche geraten unter den Druck von Moden und Konjunkturen, von Institutionen und Standards.
II Konstruktivismus und alltägliche IdentitätsArbeit
a) Die wichtigsten GrundAnnahmen des Konstruktivismus
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Das Kanizsa-Dreieck
Die Frage, was Konstruktivismus ist, steckt in der Antwort auf die Frage, was wir in nebenstehender Grafik erkennen ! Es gibt einen Unterschied zwischen nur „sehen“ und „erkennen“. Denn zu sehen sind tatsächlich nur 2x3 unterschiedliche Elemente. Unser auf Formen-Erkennung trainiertes Gehirn aber konstruiert Sinnzusammenhänge: es ergänzt die fehlenden Linien zu zwei Dreiecken! Das Kanizsa-Dreieck macht auf anschauliche Art und Weise deutlich, was Konstruktivismus heißt. Und ohne Konstruktivismus wäre das Modell der alltäglichen Identitätsarbeit nach Keupp et al. nicht denkbar.
Wie andere Theorien auch kennt der Konstruktivismus Axiome oder Grundannahmen, die sich weder beweisen noch widerlegen lassen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 4: Die GrundAnnahmen des Konstruktivismus
Quelle: Eigene Darstellung nach JANK/MEYER 2009, S. 289-293
[...]
- Quote paper
- H.-Udo Fröhlich (Author), 2020, Von der Fremd- zur Selbstbestimmung. Über den Paradigmenwechsel in der Pflegeberatung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1009715
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.