Schleiermacher hat die Hermeneutik im 18. Jahrhundert als Kunst des Verstehens definiert und damit einen „Anspruch auf Wissenschaftlichkeit“ gestellt. Die zunehmende Bedeutung der Naturwissenschaften stellt dieses Verständnis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Frage. Für die Hermeneutik ergibt sich die Forderung nach einer verbindlichen Definition des Verstehensbegriffs, die ebenso wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften eine allgemeine Gültigkeit beziehungsweise Nachprüfbarkeit aufweist. Der Philosoph Wilhelm Dilthey stellt zu diesem Zweck in seinem Text "Die Entstehung der Hermeneutik" das Moment der psychologischen Ausdeutung ins Zentrum und konstituiert mittels einer erkenntnistheoretisch-logisch-methodologischen Verankerung der Geisteswissenschaften eine Neuinterpretation des Hermeneutikbegriffs.
Der Begriff des Verstehens und sein Anspruch auf Allgemeingültigkeit bei Schleiermacher und Dilthey
Schleiermacher hat die Hermeneutik im 18. Jahrhundert als Kunst des Verstehens definiert und damit einen „Anspruch auf Wissenschaftlichkeit“1 gestellt. In seiner Theorie befasst er sich mit der Technik der richtigen Auslegung, die auf dem Zusammenspiel der grammatischen und der psychologischen Ebene basiert. Dieses ergibt ein „Ineinandersein dieser beiden Momente“2, was für Schleiermacher die Definition des Verstehens ist. Die psychologische Ebene versucht die Motive des Verfassers zu erschließen, mit dem Anspruch, den Verfasser besser zu verstehen als er sich selbst. Verstehen heißt somit nicht mehr, den Text als Wahrheitsvermittler zu identifizieren, sondern ihn als Ausdruck der Psyche und der geschichtlichen Epoche des Verfassers zu begreifen. Das psychologische Moment unterteilt Schleiermacher weiterhin in die divinatorische und die komparative Komponente, wobei Divination das Einleben des Lesers in das Bewusstsein des Verfassers bedeutet. Für Schleiermacher sind sowohl Verfasser als auch Leser Ausdruck eines einzigen weltlichen Geistes, der sich durch die Weltgeschichte entwickelt und daher über das Individuum hinaus geht. Dennoch besteht eine grundlegende Differenz zwischen dem verstehenden Subjekt und dem zu Verstehenden.3 Die Überwindung dieser Differenz ist dabei die Aufgabe der Hermeneutik als „Kunst des Verstehens“4.
Die zunehmende Bedeutung der Naturwissenschaften stellt dieses Verständnis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Frage. Für die Hermeneutik ergibt sich die Forderung nach einer verbindlichen Definition des Verstehensbegriffs, die ebenso wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften eine allgemeine Gültigkeit beziehungsweise Nachprüfbarkeit aufweist.5 Der Philosoph Wilhelm Dilthey stellt zu diesem Zweck in seinem Text Die Entstehung der Hermeneutik das Moment der psychologischen Ausdeutung ins Zentrum und bewirkt damit eine Neuinterpretation der divinatorischen Komponente.6
Laut Schleiermacher gehe die „psychologische Auslegung […] von der Versetzung in den schöpferischen inneren Vorgang aus“7, die die „Erfassung der Einheit der Werke […] ihres Urhebers“8 bewirken soll. In seiner Theorie reduziert Dilthey die Grundlage der Hermeneutik rein auf die divinatorische Komponente als eine individuelle Kraft, die Ausleger und Autor verbindet:9
Die Auslegung ist ein Werk der persönlichen Kunst, und ihre vollkommenste Handhabung ist durch die Genialität des Auslegers bedingt; und zwar beruht sie auf Verwandtschaft, gesteigert durch eingehendes Leben mit dem Autor.10
Weil eine solche Genialität allerdings sehr selten ist, müssen die dazu fähigen Interpreten gewisse Regeln festhalten, um diese auch den weniger Begabten zugänglich zu machen.11 Dafür bedarf es einer sogfältigen Analyse des Prozesses des Verstehens, in der Dilthey das „erkenntnistheoretische[] Hauptproblem“12 der Geisteswissenschaften erkennt.
Das Verstehen menschlichen Handelns nennt er das „Nachfühlen fremder Seelenzustände“13, das sich aus dem jedem Menschen immanenten „historischen Bewußtsein“14 ergibt. Denn der Mensch hat - ähnlich wie bei Schleiermacher - „die ganze Vergangenheit der Menschheit in sich gegenwärtig“15, was ihn zu dieser Art des Nachempfindens überhaupt erst befähigt. Dieses „Nachverständnis des Singulären“16 will jetzt allerdings einen objektiven Anspruch erheben. Weil im Gegensatz zu den Naturwissenschaften die Wahrheit im Sinne einer Gültigkeit bei den Geisteswissenschaften aber auf der „inneren Erfahrung“17 beruht, stellt Dilthey die Frage, „ob das Verständnis des Singulären zur Allgemeingültigkeit erhoben werden kann“18.
Das Verstehen ergibt sich aus dem Vergleichen der eigenen inneren Erfahrung mit der Ergänzung um andere beziehungsweise fremde Erfahrungen, weil dieser Prozess zur „Erfahrung des Individuellen“19 in sich selbst führt:
Fremdes Dasein aber ist uns zunächst nur in Sinnestatsachen […] und Lauten von außen gegeben. Erst durch einen Vorgang der Nachbildung dessen, was so in einzelnen Zeichen in die Sinne fällt, ergänzen wir dies Innere.20
Verstehen ist laut Dilthey also der „Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches […] erkennen.“21
Um aus dem Begriff also eine „feste psychologische Terminologie“22 zu formen, muss man es anhand von gemeinsamen Merkmalen identifizieren können. Zwar ist das Verstehen - wie auch bei Schleiermacher - ein „kunstmäßige[r] Vorgang“23, doch dessen Objektivität wird nur dann erreicht, wenn sie sich auf Äußerungen beziehungsweise Zeichen bezieht, die sich eindeutig bestimmen lassen:
Solches kunstmäßige Verstehen von Lebensäußerungen nennen wir Auslegung oder Interpretation. […] Daher hat die Kunst des Verstehens ihren Mittelpunkt in der Auslegung oder Interpretation der in der Schrift enthaltenen Reste menschlichen Daseins.24
Diese Kunst der Interpretation bildet die Basis der hermeneutischen Wissenschaft, die Dilthey als die „Kunstlehre der Auslegung von Schriftdenkmalen“25 definiert. Er schließt an Schleiermacher an, wenn er die „Möglichkeit der allgemeingültigen Interpretation […] aus der Natur des Verstehens“26 ableitet:
[N]eben die Analyse der inneren Erfahrung tritt die des Verstehens, und beide zusammen geben für die Geisteswissenschaften den Nachweis von Möglichkeit und Grenzen allgemeingültiger Erkenntnis in ihnen27.
Dabei stehen sich „die Individualität des Auslegers und die [des] Autors nicht als zwei unvergleichbare Tatsachen gegenüber.“28 Die Unterschiede zwischen Verfasser und Leser ergeben sich für Dilthey nicht aufgrund „qualitative[r] Verschiedenheiten […] sondern nur durch Gradunterschiede ihrer Seelenvorgänge“29:
Indem nun aber der Ausleger seine eigene Lebendigkeit gleichsam probierend in ein historisches Milieu versetzt, vermag er von hier aus momentan die einen Seelenvorgänge zu betonen und zu verstärken, die anderen zurücktreten zu lassen und so eine Nachbildung fremden Lebens in sich herbeizuführen.30
Während in den Naturwissenschaften die Erkenntnis durch das Messbare und Zählbare zustande kommt, rechtfertigt sie sich in der Geisteswissenschaft durch die Beziehung zwischen abstrakten Sätzen und der „seelischen Lebendigkeit, wie sie im Erleben und Verstehen gegeben ist.“31
Die „erkenntnistheoretische, logische und methodische Analysis des Verstehens“32 ist also die zentrale Aufgabe für die Geisteswissenschaft, wenn sie den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben will. Doch dabei ergibt sich die Schwierigkeit, dass jeder „in sein individuelles Bewußtsein eingeschlossen“33 ist, was für Dilthey ein erkenntnistheoretisches Problem aufwirft. Für den Leser ist es daher äußerst schwierig, eine „sinnlich gegebene fremde individuelle Lebensäußerung“34 zur einer allgemeingültigen zu formen. Die Bedingung für ein solches objektives Verständnis ist dabei, „daß in keiner fremden individuellen Äußerung etwas auftreten kann, das nicht auch in der auffassenden Lebendigkeit enthalten“35 ist.
[...]
1 Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zu den Kulturwissenschaften, Darmstadt 2013, S. 47.
2 Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik, Suhrkamp 1959, S. 79.
3 Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zu den Kulturwissenschaften, Darmstadt 2013, S. 45.
4 Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik, Suhrkamp 1959, S. 75.
5 Vgl. Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zu den Kulturwissenschaften, Darmstadt 2013, S. 47.
6 Vgl. Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zu den Kulturwissenschaften, Darmstadt 2013, S. 47.
7 Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik, Stuttgart/Göttingen 1964, S. 331.
8 Ebd.
9 Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zu den Kulturwissenschaften, Darmstadt 2013, S. 48.
10 Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik, Stuttgart/Göttingen 1964, S. 332.
11 Vgl. Ebd.
12 Ebd., S. 334.
13 Ebd., S. 317.
14 Ebd.
15 Ebd.
16 Ebd.
17 Ebd., S. 318.
18 Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik, Stuttgart/Göttingen 1964, S. 317.
19 Ebd., S. 318.
20 Ebd.
21 Ebd.
22 Ebd.
23 Ebd., S. 319.
24 Ebd.
25 Ebd., S. 320.
26 Ebd., S. 329.
27 Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik, Stuttgart/Göttingen 1964, S. 320.
28 Ebd., S. 329.
29 Ebd., S. 329f.
30 Ebd., S. 330.
31 Ebd., S. 333.
32 Ebd.
33 Ebd.
34 Ebd., S. 334.
35 Ebd.
- Citation du texte
- Julia Hagelüken (Auteur), 2021, Der Begriff des Verstehens und sein Anspruch auf Allgemeingültigkeit bei Schleiermacher und Dilthey, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1008086
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