Diese Arbeit befasst sich mit der Biographie einer Frau, die den Spagat zwischen Pflege der Mutter, Ehe, Karriere und dem eigenen Wohlergehen zu bewältigen versuchte – doch letztendlich opferte sie ihre psychische Gesundheit und musste sich auf den langen Weg der Genesung begeben. Der Titel dieser Arbeit „Ich bin verrückt“ bezieht sich auf ihren Weg, der von einer „Normalbiographie“ abweicht. Um nicht mehr verrückt zu sein, begab sie sich in psychiatrische Behandlung und versuchte zu verstehen, wie es zu ihrem Zusammenbruch kommen konnte. Durch eine Veränderung ihrer Lebensweise konnte sie sich wieder in die Spur rücken. Mithilfe eines biographisch narrativen Interviews soll die Vergangenheit dieser Frau beleuchtet und verstanden werden. Dabei soll die Frage geklärt werden, wie die in der Biographie entstandene Unordnung wieder geordnet werden konnte und welche Faktoren dabei krankheits- und gesundheitsfördernd waren, wird das Salutogenesemodell von dem israelisch-amerikanischen Soziologen Aaron Antonovsky (1923-1994) zurate gezogen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Methodisches Vorgehen - Die qualitative Sozialforschung
2.1 Die Geschichte der Biographieforschung
2.2 Das biographisch narrative Interview
2.3 Die Analysemethode des narrativen Interviews nach Glinka
2.3.1 Strukturelle Beschreibung und Gesamtformung der Erzählung
2.3.2 Weitere Analyseschritte
2.3.3 Das Konzept der Verlaufskurve
3. Vorstellung des Interviewpartners
3.1 Die Tagesstätte als Einrichtung für psychisch kranke Menschen
3.2 Psychische Störungen - Die Depression
3.3 Diagnose
3.4 Der Integrierte Behandlungs-/Rehabilitationsplan
4. Vorbereitung und Durchführung des biographisch narrativen Interviews
5. Auswertung des Interviews nach Glinka
5.1 Textoberfläche und formal/inhaltliche Aspekte
5.2 Die Gesamtformung der Erzählung
6. Resümee/Ausblick
An hangsve rzeichnis
a) Biographisch narratives Interview mit Corinna
b) Nachfrageteil zweiter Termin
c) Integrierter Behandlungs-/Rehabilitationsplan (IBRP)
d) Primäre Verlaufskurve der Biographieträgerin
e) Sekundäre Verlaufskurve der Biographieträgerin
Literaturverzeichnis
Alle in diesem Bericht genannten Namen wurden aus datenschutztechnischen Gründen geändert. Außerdem wird im Folgenden aus Gründen der leichteren Lesbarkeit auf die Nennung beider Personensubstantive und -pronomina verzichtet. Selbstverständlich sind stets beide Geschlechter gemeint.
1. Einleitung
Neben Muskel-Skelett-Erkrankungen und Atemwegserkrankungen, sind Probleme mit der psychischen Gesundheit laut dem DAK-Gesundheitsreport die Hauptgründe für Krankmeldungen 2015. Rund 16,2% der Krankmeldungen durch Arbeitnehmer wurden mit psychischen Erkrankungen begründet, Tendenz steigend (vgl. Rebscher (Hrsg.) Gesundheitsreport 2016:XI). Die heutige Arbeitswelt setzt sowohl Komplexität und Flexibilität, als auch die Kenntnis über neue Technologien und ständige Veränderung voraus. Auch der Zeit- und Leistungsdruck steigt stetig an, was für den Arbeitnehmer Folgen nach sich zieht (vgl. Neuner 2015:1). Ist er diesen Anforderungen gewachsen? Ist Karriere überhaupt noch möglich? Wie kann der Arbeitnehmer seine psychische Gesundheit unter diesen Faktoren stabilisieren?
Diese Arbeit befasst sich mit der Biographie einer Frau, die den Spagat zwischen Pflege der Mutter, Ehe, Karriere und dem eigenen Wohlergehen zu bewältigen versuchte - doch letztendlich opferte sie ihre psychische Gesundheit und musste sich auf den langen Weg der Genesung begeben. Der Titel dieser Arbeit „Ich bin ver-rückt" bezieht sich auf ihren Weg, der von einer „Normalbiographie" abweicht. Um nicht mehr ver-rückt zu sein, begab sie sich in psychiatrische Behandlung und versuchte zu verstehen, wie es zu ihrem Zusammenbruch kommen konnte. Durch eine Veränderung ihrer Lebensweise konnte sie sich wieder in die Spur rücken. Mithilfe eines biographisch narrativen Interviews soll die Vergangenheit dieser Frau beleuchtet und verstanden werden. Dabei soll die Frage geklärt werden, wie die in der Biographie entstandene Unordnung wieder geordnet werden konnte und welche Faktoren dabei krankheits- und gesundheitsfördernd waren, wird das Salutoge- nesemodell von dem israelisch-amerikanischen Soziologen Aaron Antonovsky (1923-1994) zurate gezogen.
Das Salutogenesemodell bietet sich an, um den Zusammenhang von Gesundheit und Krankheit herauszufinden. Antonovsky beschäftigte sich mit der Frage, wie ein Mensch trotz belastenden und ungünstigen Lebensumständen gesund bleiben kann und welche Faktoren dafür vorhanden sein sollten. Während sich die Pathogenese mit der Entstehung von Krankheiten befasst, entwickelte der Forscher ein Gegenmodell - das salutogenetische Denkmodell. Um gesund zu bleiben, benötigt der Mensch förderliche Widerstandsressourcen, wie beispielsweise körperliche Resistenz und psychische, materielle und psychosoziale Ressourcen. Der „Kohärenzsinn", also einen Sinn im Leben zu finden, bietet dabei die Basis, um körperliche und psychische Gesundheit zu erhalten (vgl. Dorlöch- ter/Stiller 2006:344).
Im gesamten Leben wird der Mensch mit belastenden Situationen konfrontiert. Um mit diesen Situationen umgehen zu können, begegnet der Mensch ihnen mit Stressoren, die „einen erhöhten
Spannungszustand, der pathologische, neutrale oder gesunde Folgen haben kann, je nachdem, wie mit dieser Spannung umgegangen wird" (Dorlöchter/Stiller 2006:344). Um diese belastenden Lebenssituationen nachvollziehen zu können, wurde ein biographisch narratives Interview, mit anschließender Verschriftlichung, systematisch erarbeitet und strukturell beschrieben.
Zu Beginn wird das methodische Vorgehen erläutert, indem auf die qualitative Sozialforschung und anschließend die Geschichte der Biographieforschung eingegangen wird. Der darauf folgende Punkt beschreibt das Konzept des biographisch narrativen Interviews und erläutert, woher es kommt und wofür es in der Forschung verwendet wird. Neben einigen anderen angesprochenen, aber aufgrund des Umfangs der Arbeit nicht näher dargestellten Methoden, wird die Analysemethode des Interviews nach Hans-Jürgen Glinka dargestellt. Um den Kontext der Erzählerin besser verstehen zu können, folgt eine Vorstellung der Tagesstätte für psychisch Kranke, die die interviewte Person besuchte und das Krankheitsbild wird beschrieben. Zum Krankheitsbild gehört auch die Diagnose der Person nach dem ICD-10 und dem Integrierten Behandlungs- und Rehabilitationsplan. Das 4. Kapitel befasst sich mit der Vorbereitung und der Durchführung des Interviews. Es folgt die Auswertung des biographisch narrativen Interviews nach der Methode von Glinka. Die Arbeit schließt mit einem Resümee bzw. Ausblick ab. Im Anhang ist das vollständig verschriftlichte Interview sowie weitere genutzte Quellen vorhanden.
2. Methodisches Vorgehen - Die qualitative Sozialforschung
Die Biographieforschung zählt zu den Methoden der qualitativen Sozialforschung. Dieser Forschungsbereich umfasst eine Reihe von Methoden und Ansätzen, die vielfältig und sehr unterschiedlich sind. Im Gegensatz zu quantitativen Methoden ist die qualitative Forschung „weit entfernt von einem einheitlichen Verständnis sowohl des Vorgehens in einer qualitativen Untersuchung als auch der zugrunde liegenden methodologischen Grundannahmen" (Rosenthal 2015:13). Die quantitative Forschung untersucht bereits vorliegende Hypothesen, um die methodischen Instrumente zu standardisieren, während die qualitative Forschung ihre Hypothesen erst im Untersuchungsverlauf generiert, überprüft und verallgemeinert. Die verschiedenen Ansätze der qualitativen Methoden tragen, je nach Position und Vorgehen, unterschiedliche Bezeichnungen: Während bei Schütze (1976) von der kommunikativen und bei Bohnsack (1991/2003) von der rekonstruktiven Sozialforschung die Rede ist, sprechen andere von der sozialwissenschaftlichen oder wissenssoziologischen Hermeneutik (Hans-Georg Soeffner 1989; Ronald Hitzler und Anne Honer 1997; Jo Rei- chertz 1994). Wieder andere fassen die Begriffe unter dem Titel der interpretativen Sozialforschung (Schröer 1994) zusammen. Weitere dieser Bezeichnungen werden komprimiert in die Grounded Theory (Barney Glaser und Anselm Strauss 1967), die Objektive Hermeneutik (Ulrich Oevermann 1979), die ethnomethodologische Forschung (Harold Garfinkel 1986 und Aaron Cicourel 1970) und die ethnomethodologische Konversationsanalyse (Harvey Sacks 1992; Jörg Bergmann 1994; 2000). Im Folgenden wird der Begriff der interpretativen Sozialforschung verwendet. Diese Bezeichnung lässt sich auf Thomas Wilson (1970/1973) zurückführen, der zwischen einem normativen und einem interpretativen Muster unterscheidet: „Während nach Wilson die VertreterInnen des normativen Paradigmas den Menschen eher als einen auf ein gemeinsames Symbolsystem reagierenden Organismus begreifen, wird der Mensch im interpretativen Paradigma als ein handelnder und erkennender Organismus verstanden. Er steht der Welt nicht gegenüber und reagiert auf sie, sondern das Individuum erzeugt vielmehr in Interaktion mit anderen die soziale Welt" (Rosenthal 2015:15). Dadurch gibt es keine Stagnation des Individuums und seiner Welt, sondern einen fortlaufenden interaktiven Prozess (vgl. ebd.:13ff.).
Obwohl die qualitative Sozialforschung viele unterschiedliche Richtungen und Positionen beinhaltet, haben sie alle eins gemeinsam: Jedes Verfahren ist mehr oder weniger offen, d.h. die Verfahren unterliegen keinem festgelegten Fragebogen oder anderen standardisierten Instrumenten, sondern sie geben der Person Spielraum für die eigene individuelle Gestaltung der Situation und der Kommunikation (vgl. Hopf 1979:14, zit. n. Rosenthal 2015:15). Neben offenen Interviews und der Feldforschung, gelten Tonband- oder Videoaufnahmen ebenfalls zu den Erhebungsverfahren, um eine Analysegrundlage zu schaffen. Dabei liegt der Fokus auf der handelnden Person in ihrer Alltagswelt und das soziale Handeln im alltäglichen Kontext wird untersucht. Durch die Analyse soll ein Verständnis dafür entstehen, wie Menschen ihre Welt deuten, verstehen und interaktiv herstellen.
Diese Arbeit beschäftigt sich ausschließlich mit der Methode des narrativen Interviews (Kapitel 2.2) und dessen Auswertung nach Glinka (Kapitel 4). Das folgende Kapitel erläutert zunächst die Geschichte der Biographieforschung und deren Mehrwert für die heutige Sozialforschung.
2.1 Die Geschichte der Biographieforschung
Die Biographieforschung widmet sich der Genese und der Aufrechterhaltung einer „konkreten sozialen Ordnung, für die biographische (Selbst-)Beschreibungen konstitutiv sind" (Fischer-Rosent- hal/Rosenthal 1997:405). Diese soziale Ordnung wird sowohl in familiären Settings und Milieus, als auch in Laufbahn- und Karriere mustern deutlich. Durch die Biographieforschung können diese Bereiche erforscht werden. Auch bei Integrationsproblemen bietet die Biographieforschung einen guten Ansatz. Das Individuum kann sich durch die Methode der lebensgeschichtlichen Forschung selbst bilden und besser in die Gesellschaft integriert werden bzw. sich integrieren. Die in der Vergangenheit erfolgte Auflösung von Hierarchien, eine veränderte Weltanschauung und eine neue politische Ordnung, löste ein Streben nach mehr Individualität und modifizierten gesellschaftlichen Ebenen aus. Dadurch gewann in den letzten Jahren die soziologische Biographieforschung in Form der sprachverstehenden Methoden an Bedeutung (vgl. Fischer-Rosenthal 1995b, zit. n. Fischer-Ro- senthal/Rosenthal 1997:406f.). Die bis ins 16. Jahrhundert reichende soziale Gliederung entwickelte sich durch eine Übergangsphase hin zu einer neuen Gliederung, die die alte zunächst überlagerte und schlussendlich ablöste. In der Zeit der Aufklärung fand dann eine Teilung der Gesellschaft mit dem Subjekt statt. Der Mensch wurde als Individuum angesehen und war nicht länger nur ein Teil der Gesellschaft. Demnach wurde auch das Interesse an einzelnen individuellen Lebensläufen und Biographien stärker. In dem Prozess der lebensweltlichen Dissoziation bildete sich die klassische Soziologie (vgl. ebd.:407). Tagebücher, geschriebene Autobiographien und weitere biographische Quellen werden seitdem als Datenbasis für die Gewinnung an Methoden für die Biographieforschung genutzt. Auch die Selbstpräsentation in Interviews gehört zu diesen Methoden, diese wurde in den 1970er Jahren von Fritz Schütze entwickelt. Der Erzähler der Lebensgeschichte (Biographieträger) kann sich im Interview selbst präsentieren und die Erzählung selbst strukturieren. Aus den Informationen können anschließend sowohl Handlungsabläufe als auch Handlungsgeschichten sowie verschiedene Bewertungen analysiert werden. Ein besonderes Interesse besteht dabei an Gefühlen und Motiven, die in Handlungsgeschichten eingebettet sind (vgl. ebd.:413). Die Analyse des Interviews zielt auf eine möglichst ganzheitliche Rekonstruktion der Erlebnisse und Handlungen des Erzählers ab. Außerdem spielt es eine Rolle, wie der Informant mit seiner Vergangenheit umgeht und wie diese gegebenenfalls Einfluss auf das heutige Leben der Person hat. Erinnerungsprozesse werden in Gang gesetzt und sprachlich ausgedrückt, wodurch eine Einordnung in den Kontrast der heutigen Sicht auf die vergangenen Erlebnisse möglich ist (vgl. ebd.:414). Wie wichtig Interviews sind und welchen Nutzen diese haben, wird im nächsten Kapitel dargestellt.
2.2 Das biographisch narrative Interview
Bereits 1986 schätzte der Anthropologe Charles Briggs, dass circa 90% der bisherigen Untersuchungen auf Formen von Interviews zurück zu führen sind. In den Sozialwissenschaften ist dies somit eine der am häufigsten verwendeten Erhebungsmethoden. Auch in der Gesellschaft und den Medien werden Informationen häufig durch Befragungen aller Art eingeholt, hier sind beispielsweise Interviews mit Stars oder Befragungen bei der Polizei zu nennen. In der traditionellen Sozialforschung können Interviews dazu genutzt werden, später standardisierte Fragebögen zu entwickeln.
Die interpretative Sozialforschung hingegen hat ein Interesse an der Person selbst und seiner Lebensgeschichte, die anhand eines Fragebogens nicht ausreichend dargestellt werden könnte. Bei dem biographisch narrativen Interview möchte der Forscher bestimmte Themen besser verstehen können und legt dabei viel Wert auf die Informationen zwischen den Zeilen, beispielsweise auf welche Art und Weise und mit welcher Wertung und Betonung die interviewte Person etwas erzählt (vgl. Rosenthal 2015:150f.).
In den 1970er Jahren bildete sich eine Arbeitsgruppe von Bielefelder Soziologen, stellvertretend zu nennen sind Christel Hopf und Martin Kohli, die sich für offene Interviews in der Sozialforschung aussprachen. Auch Fritz Schütze, an dessen Ergebnissen sich heute alle weiteren Verfahren der Biographieforschung anlehnen, gehörte zu der Arbeitsgruppe, setzte sich für diese Art der Interviewführung ein und stellte die Technik des narrativen Interviews vor. Diese Methode konnte sich sowohl in Deutschland als auch international in der interpretativen Sozialforschung und der soziologischen Biographieforschung etablieren. Schütze vertritt das Prinzip der Offenheit, das sowohl während der Gesprächsführung als auch bei der Auswertung bedacht werden sollte (vgl. ebd.:151). Demnach wird dem Erzähler im Interview eine aktive Rolle zugeschrieben, die er selbst regulieren und ausbauen kann, und beantwortet keinen standardisierten Fragebogen. Zu Beginn des narrativen, also erzählenden, Interviews stellt der Interviewer eine offene Frage, die den Erzähler dazu anregen soll, seine Lebensgeschichte möglichst umfangreich darzustellen. Der Interviewer nimmt dabei eine eher „stumme" Position ein und reagiert lediglich durch Gestik und Mimik bzw. Zwischenlaute (bspw. „mhhm“). Erst im Nachfrageteil geht dann der Interviewer konkret auf die Äußerungen des Biographieträgers ein und stellt gezielte Rückfragen. Gemeinsam wird eine „soziale Produktion sozialer Wirklichkeiten" (ebd.:152) hergestellt und der Prozess zwischen den Gesprächsführenden wird transparent. Christel Hopf fasst dies wie folgt zusammen: „Durch die Möglichkeit, Situationsdeutungen und Handlungsmotive in offener Form zu erfragen, Alltagstheorien und Selbstinterpretationen differenziert und offen zu erheben, und durch die Möglichkeit der diskursiven Verständigung über Interpretationen sind mit offenen und teilstandardisierten Interviews wichtige Chancen einer empirischen Umsetzung handlungstheoretischer Konzeptionen in Soziologie und Psychologie ergeben" (Hopf 2000a:350). Das Prinzip der Offenheit führt dazu, dass bei jedem geführten biographisch narrativen Interview mit verschiedenen Personen, jedoch zum gleichen Thema, ein individueller Verlauf zu vermerken ist. Bei Leitfragen-Interviews müssten jeder Person die gleichen Fragen mit derselben Betonung gestellt werden. Dabei kommt es vor, dass die interviewten Personen jeweils ein anderes Verständnis bekämen oder eine andere Deutung der Frage vornehmen würden. Außerdem setzt diese Art von Interview eine genaue Kenntnis über das zu untersuchende Feld und einige theoretische Vorüberlegungen voraus (vgl. ebd.:153).
In einem biographisch narrativen Interview erzählt der Biographieträger seine Lebensgeschichte ausführlich. Für die spätere Analyse (Kapitel 4) wird eine Tonbandaufnahme der Erzählung gemacht. Nach der Erzählaufforderung durch den Forscher kann der Erzähler seine Lebensgeschichte erzählen und wird nicht durch Detailfragen seitens des Forschers unterbrochen. Alle aufkommenden Fragen werden für den Nachfragenteil notiert. Durch die späteren Fragen kann der Biographieträger zu weiteren Geschichten in seinem Leben motiviert werden. Abschließend findet ein Interviewabschluss statt (vgl. Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997:414).
Für die Auswertung des Interviews und für einen möglichst allumfassenden Blick über die interviewte Person, können neben dem Interview selbst auch weitere Quellen, beispielsweise Arztberichte, Akten, sonstige Erzählungen der Person etc. Verwendung finden. Für diese Auswertungsmethode der Biographieforschung im qualitativen Bereich werden Ergebnisse stets als vorläufige Hypothesen und Annahmen formuliert, da so jederzeit eine Veränderung des theoretisch formulierten Charakters der interviewten Person und seiner Lebensgeschichte vorgenommen werden kann. Alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten können in Betracht gezogen werden, müssen es jedoch nicht (vgl. Flick/von Kardorff/Steinke 2013:460f.). Diese Arbeit befasst sich mit der Analyse und Auswertungsmethode nach Hans-Jürgen Glinka, die im folgenden Kapitel näher erläutert wird.
2.3 Die Analysemethode des narrativen Interviews nach Glinka
Dr. rer. pol. Hans-Jürgen Glinka (1949) ist ein Sozialwissenschaftler, der in der Lehre und Forschung an mehreren Universitäten tätig ist. Aktuell arbeitet er als Dozent für besondere Aufgaben an der Universität Kassel. Die Biographie-, die Milieu- und die Interaktionsanalyse sind seine Arbeitsschwerpunkte in der Lehre. In den letzten Jahren befasste er sich hauptsächlich mit der Bewältigung von Krisen in Biographien. Glinka fokussiert sich dabei auf die Biographieanalyse mithilfe qualitativ- interpretativen Methoden. Im Folgenden werden die Analyseschritte des narrativen Interviews genauer beschrieben und erläutert.
2.3.1 Strukturelle Beschreibung und Gesamtformung der Erzählung
Die Stehgreiferzählung ist eine Textsorte, die ohne großen Aufwand vom Erzähler präsentiert wird und dabei Bilder der Erinnerung beim Erzählenden freisetzt. Diese Art der Erzählung sollte vor dem Interview nicht verschriftlicht oder auf eine andere Art und Weise systematisch geplant werden. Durch die Freisetzung der Erinnerungen wird die Dynamik des Erzählens beeinflusst und er erlebt die bereits vergangenen Handlungs- und Erlebnissituationen in der aktualisierten Retrospektive erneut (vgl. Glinka 2008:11). Um einen ersten Überblick über das transkribierte Interview zu bekommen, findet eine Textsortenanalyse statt. Die strukturelle (inhaltliche und formale) Beschreibung des Interviews stellt die Ausgangsbasis für alle weiteren Arbeitsschritte dar. Als erstes wird die Textoberfläche untersucht, die sich in Erzählen, Beschreiben und Argumentieren unterteilt. Das biographische Erzählen löst in dem Erzählenden einen Erinnerungsstrom aus und „er erlebt noch einmal, wie sich im Laufe der Zeit die inneren und äußeren Rahmenbedingungen und Befindlichkeiten verändern" (Glinka 2008:11). Diese Konstellation wird im Interview als Beschreibung deutlich. Die Erzählung ist in einem biographisch narrativen Interview jedoch die dominante Form der Textoberfläche, wodurch Zugzwänge entstehen können. Das bedeutet, dass der Erzählende seine Erzählung so plausibel wie möglich gestalten möchte und so in die Argumentation abgleitet, indem er einem imaginären Interaktionspartner gegenüber eine Behauptung aufstellt, die begründet wird und ggf. durch Erzählungen belegt werden muss (vgl. ebd.:11f.). Manche dieser Textsorten sind über Seiten hinweg vorzufinden und deuten darauf hin, dass der Erzähler die damaligen Ereignisse noch nicht richtig bearbeitet hat und sie auch heute noch eine Problematik darstellen, mit der er sich im Interview auseinandersetzt. Innerhalb des Interviews taucht eine sogenannte suprasegmentale Ebene auf, die die Segmente des Textes zu verschiedenen Darstellungseinheiten einteilt und Gliederungszusammenhänge verdeutlicht. Diese werden durch Rahmenschaltelemente (z.B. „Also...", „Dann..." oder Jahreszahlen) eingeleitet. Greifen diese suprasegmentalen Darstellungszusammenhänge ineinander ein, entsteht eine textliche Gesamtgestalt, wodurch der Gesamtablauf der Geschichte zu erkennen ist. In der Haupterzählung kann der Erzähler Einschübe machen und bisher verdrängte oder heikle Themen als Nebenerzähllinie schildern. Diese Hintergrundkonstruktionen sind meist eine Ausnahme, verweisen jedoch auf eine Unordnung in der Erfahrungsaufschichtung des Erzählenden, die er im Nachhinein nun zu reparieren versucht. Es ist dem Erzähler dabei immer möglich, wieder auf seine Haupterzähllinie zurück zu gelangen.
Dieser erste Arbeitsschritt dient dazu, die verschiedenen Darstellungsweisen des Erzählers sowie die Mittel, die er dazu nutzt, zu verstehen und um erahnen zu können, welche inneren Unruhen der Erzähler noch nicht hinreichend verarbeitet hat (vgl. ebd.:13). Durch das Herausarbeiten der Rahmenschaltelemente kann das Interview in verschiedenen Segmente unterteilt werden, die jeweils für sich eigenen Darstellungseinheiten bilden. Der Erzähler hat seine Erzählung bereits selbst unbewusst in ein Schema gepackt, in dem eine Darstellungsstruktur zu erkennen ist. Diese Einheiten sind durch eine Eröffnung und eine Schließung voneinander getrennt (Indikatoren). Neben „Und dann", „Danach", „Zum Schluss" oder einer Jahreszahl kann ein solcher Indikator auch eine Erzählpräambel sein, bei der der Erzähler den Zuhörer auf die Art der folgenden Geschichte hinweist (traurig, ernst, lustig, „normal", etc). Diese Art der Markierung ist jedoch selten und meist argumentativ angelegt. Der Präkoda-Kommentar hingegen verwendet der Erzähler dazu, „dass er eine ganz besondere Arbeit auf die erzählerische Gestaltung seines bisherigen Lebens verwendet hat und was das Wesentliche an dieser Arbeit ist" (ebd.:15). Außerdem wird die Haltung zum Leben des Erzählers durch Kommentare präsentiert, bevor er mit der Koda seine Geschichte abschließt.
Die Stehgreiferzählung wird nicht vom Interviewer unterbrochen und der Erzähler gibt seine Lebensgeschichte selbstläufig wieder. Zusammenhänge und Prozesse können vom Erzähler rekonstruiert werden (vgl. Glinka 2008:14f.).
Neben der Textoberfläche wird das Interview in einzelne Segmente unterteilt, die der Forscher anschließend untersucht (strukturelle Beschreibung). Dafür wird das transkribierte Interview in Segmente unterteilt, das Segment für Segment untersucht wird. Die Reihenfolge der Segmente und der dazugehörigen Analyse richtet sich nach der erzählten Lebensgeschichte und muss nicht chronologisch verlaufen. Der Forscher unternimmt dabei erste Interpretationen und gibt die Erzählung in seinen Worten wieder. Die strukturelle Beschreibung findet in der Regel nur in der Haupterzählung statt. Nur wenn Lücken in der Darstellung auftreten wird auf den Nachfrageteil zurückgegriffen (vgl. Glinka 2016:34).
Als nächster Arbeitsschritt folgt die biographische Gesamtformung der Erzählung. Während die strukturelle Beschreibung auf die einzelnen Segmente fokussiert war, findet nun eine „analytische Abstraktion" (Glinka 2008:131) statt. Es geht bei diesem Schritt weniger um jedes Detail der Lebensgeschichte, sondern um die Darstellung des Ereignisablaufs als Zusammenschnitt der einzelnen großen Prozessstrukturen und den dazugehörigen Beziehungen zueinander. Dieser Arbeitsschritt greift auch die zentralen Forschungsfragen auf, die in der Gesamtformung der Erzählung erörtert werden (vgl. ebd.).
Für diese Arbeit ist es von Bedeutung, wie die Erzählerin ihre biographische Unordnung wieder ordnen kann und wie biographische Zukunftsperspektiven entwickelt werden können. Mithilfe des Sa- lutogenesemodells von Aaron Antonovsky sollen krankheits- und gesundheitsfördernde Faktoren herausgefunden werden.
Die weiteren Arbeitsschritte werden im Folgenden zwar dargestellt, aber nicht weiter ausgeführt, da der Umfang für diese Arbeit zu groß wäre. Der Vollständigkeit halber sollen sie aber trotzdem erwähnt werden.
2.3.2 Weitere Analyseschritte
Bei der Differenzierung und Verdichtung vorläufiger Kategorien werden besonders bemerkenswerte Merkmalsausprägungen in der Lebensgeschichte untersucht. Im Sinne eines maximalen Vergleichs mit anderen Lebensgeschichten sollen fallübergreifende Merkmale oder Prozesse herausgearbeitet werden. Auch gleiche Spezifika, die in unterschiedlichen Fällen aufzufinden sind, werden vor dem Hintergrund ähnlicher soziobiographischer Prozesse untersucht und verglichen. Dadurch entstehen Verallgemeinerungen, die hypothetisch zusammengefasst werden können. Diese Zusammenfassungen der vorläufigen Hypothesen werden in Kategorien unterteilt und können bei jeder neuen Analyse einer Lebensgeschichte kombiniert oder erweitert werden. Durch den Vergleich in mehreren Fällen, mit weiteren Merkmalsausprägungen, Dimensionen und Differenzierungen entstehen immer spezifischere und präzisere Kategorien (vgl. Glinka 2008:150).
Die Grundlage für die generalisierenden Aussagen hat der Erzähler meist schon unbewusst in seiner Erzählung preisgegeben. So ist beispielsweise die Sprache ein zentrales Symbolsystem1 in dem soziale Realität entsteht. Markierer, wie sie weiter oben bereits für die Analyse der Textoberfläche erwähnt wurden, lassen ebenfalls auf allgemeine Merkmale und gesellschaftliche Mechanismen schließen. Die Differenzierung und Verdichtung vorläufiger Kategorien sollen grundlegende und allgemeine Theorien hervorbringen, die soziobiographische Prozesse erklären und Wirkmechanismen herausarbeiten. Es geht darum, zu verstehen, wieso eine Biographie so verlaufen ist und nicht anders. Für diesen theoretisch-empirischen Vergleich ist es besonders wichtig, dass nur Primärdatenmaterial, die unverfälschte Transkription des Interviews, verwendet wird - ansonsten kommt der Forscher auf verfälschte Ergebnisse und die Prozessstrukturen sowie die Wirkmechanismen können nicht authentisch überprüft werden (vgl. ebd.:150f.).
Für den kontrastiven Vergleich benötigt der Forscher die zuvor gesammelten Kategorien. Die theorierelevanten Gesichtspunkte werden nun in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt und der Forscher löst sich von der Betrachtung der Einzelfälle. Die analytische Abstraktion soll dabei helfen, der Beantwortung der Forschungsfrage näher zu kommen. Bereits bei der Auswahl der möglichen Informanten wurde darauf Rücksicht genommen, dass sich die Lebensgeschichten sowohl in den Verlaufskurven (nähere Erläuterung Kapitel 2.3.3) als auch in ihren Bearbeitungsprozessen ähneln. Das Entdecken der Unterschiede in den augenscheinlich gleichen soziobiographischen Prozessen ist der Sinn des kontrastiven Vergleichs. Die zugrundeliegenden Merkmalsdimensionen dieser Prozesse werden herausgearbeitet und lassen eine konkretere thematische Theoriebildung in Bezug auf die Forschungsfrage zu. Da dem Forscher seine Interviews bekannt sind, wird eine Auswahl an Eckfällen getroffen, die auf ihre zentrale Bearbeitungspriorität untersucht und eingeschätzt werden. Dabei werden die soziobiographischen Prozesse und die Merkmalsdimensionen berücksichtigt. Entweder passen die Fälle in das Schema des kontrastiven Vergleichs oder sie werden als besondere Fälle eingestuft. Die bisherigen Kategorien wurden jeweils an den Einzelfällen generiert. Bei diesem Arbeitsschritt werden die prozessanalytischen Kategorien nun mit anderen Einzelfällen verglichen und es entstehen mehrdimensionale Kategorien, sodass eine Kategorie mehrere Varianten bzw. Unterkategorien enthalten können. Dieser Schritt setzt beim Forscher theoretische Phantasie voraus, da er sich vom konkreten Datenmaterial lösen und sich auf eine zusätzliche Reflexionsebene begeben muss. Auf dieser Ebene können ebenfalls Kategorien entworfen werden, die im bisher erhobenen Datenmaterial untersucht werden oder aber es wird eine gezielte Nacherhebung gefordert, die ebenfalls auf diese Kategorien untersucht werden. So wirkt der kontrastive Vergleich korrektiv, d.h. er zeigt dem Forscher Lücken in der Varianz auf, die im Idealfall geschlossen werden sollen, um eine möglichst allumfassende Untersuchung vorzuweisen. Als Voraussetzung zum kontrastiven Vergleich verweist Glinka auf die Zusammenarbeit einer Forscher-Gruppe, damit „die dafür notwendige offene und äußerst umsichtige perspektivische Einstellung" (Glinka 2008:155) garantiert ist.
2.3.3 Das Konzept der Verlaufskurve
Bereits vor 40 Jahren beschäftigten sich Anselm Strauss und andere in den USA mit der Biographieforschung und der damit einhergehenden systematischen Erforschung von Erleidensprozessen. Der Fokus der Arbeit lag zunächst auf der Entstehung und Behandlung von Krankheiten, daraus entstand jedoch später ein grundlagentheoretisches Konzept, um einen analytischen Blick auf die „Entwicklungsprozesse des Erleidens und ihre identitätsverändernden Wirkungsmechanismen" (ebd.:159) erfassen zu können. Die Kategorie der „Verlaufskurve" wurde so erstmals konzeptionell entwickelt. Gemeinsam mit Fritz Schütze hat Anselm Strauss in seinen letzten 20 Lebensjahren weiter an seinem Konzept gearbeitet (vgl. ebd.).
Im Alltagserleben werden Menschen stets vor Situationen gestellt, die durchaus schmerzhafte Erfahrungen mit sich bringen. Wenn sich diese Erfahrungen ansammeln wirken sie wie eine unüberwindbare Mauer. So erscheint der betroffenen Person die eigene Situation immer auswegloser und sie ist nicht mehr zum selbstbestimmten Handeln in der Lage, sondern wird durch äußere Rahmenbedingungen gesteuert. Das intentionale Handeln wird destruiert und die Person hat keinen Einfluss auf die über sie hereinstürzenden Situationen. Sie kann lediglich auf die Ereignisse reagieren, nicht aber auf die vorangegangenen Prozesse und erlebt sich so als fremdbestimmt. Für den Betroffenen erweckt seine Lage den Anschein, als ob das eine Ereignis das nächste bedingt, was einen Rückzug aus seinem sozialen Umfeld mit sich ziehen könnte. Die Person wird sich selbst fremd und die eigene Identität leidet. Für die betroffene Person wird die Welt zunehmend fremd und das eigene Verhalten kann nicht mehr nachvollzogen werden, außerdem wird die Beziehung zu Familienmitgliedern und dem sozialen Netz brüchiger. Durch irrationales Handeln wird in Alltagssituationen meist unerwartet und unkontrolliert gehandelt. Die Situation des Betroffenen wird zum Selbstläufer (vgl. ebd.:159f.).
Das Konzept der Verlaufskurve wurde von Schütze und seinen Mitarbeitern für die Biographieforschung übertragen und die Schütz'sche Schule arbeitete wirksame Mechanismen für die Entfaltung der Verlaufskurve heraus. Das Konzept lässt sich besonders gut in der Krisenintervention anwenden, da dort eine analytische Erklärung für das von anderen nicht nachvollziehbare Verhalten gesucht wird. Trotz des Wissens über die Gesamtbiographie der betroffenen Person lassen sich durch das Konzept der Verlaufskurve grundlegende Fragen zur Problematik generieren. So können beispielsweise auslösende Wirkmechanismen herausgefiltert oder die Wirkung durch eingreifende Instanzen untersucht werden. Der Betroffene gibt während des Interviews zu seiner Lebensgeschichte preis, wie er diese Instanzen erlebt hat und wie kooperativ er im Umgang mit ihnen war/ist. Durch die Biographieforschung und die durch den Forscher erstellte Verlaufskurve wird deutlich, auf welche Art und Weise die betroffene Person mit ihrer Situation umgegangen ist und wie sie an ihrer biographischen Zukunft und der Rückgewinnung ihrer Selbstidentität arbeitet (Glinka 2008:160f.). Glinka fasst dies wie folgt zusammen: „Die Einbeziehung des Verlaufskurvenkonzepts in die handlungsorientierende Perspektive einer professionell betriebenen Krisenintervention bekommt damit die Funktion einer analytischen Erkenntnis; sie richtet den diagnostischen Blick auf die biographischen Entwicklungsprozesse, in die die Problematik und das Erleiden des Klienten eingebettet sind" (ebd.:161). Auf die Verlaufskurve der interviewten Person wird in einem späteren Kapitel Bezug genommen.
Die für diese Arbeit interviewte Person ist die zurzeit 57-jährige Corinna aus einem kleinen Ort nahe Dillenburg in Hessen. Im folgenden Kapitel soll ein Überblick zu ihrer Person stattfinden, um die spätere Auswertung des Interviews besser nachvollziehen zu können.
3. Vorstellung des Interviewpartners
Corinna stellte sich als potenzielle Informantin für das Interview heraus, da sie das Kriterium des Forschers erfüllte. Sie ist bereits auf dem Weg der Genesung und erklärte sich für das Interview bereit. Im Kapitel 3.1 erfolgt eine Weitergabe von Hintergrundwissen zum Kontext der interviewten Person. Dafür wird die Einrichtung für psychisch Kranke vorgestellt und eine Definition zum Krankheitsbild der Depression wird genannt. Die Diagnose der Informantin und die Beschreibung der im Integrierten Behandlungs-/Rehabilitationsplans (kurz IBRP) aufgelisteten krankheitsbedingten Problematiken werden erläutert.
3.1 Die Tagesstätte als Einrichtung für psychisch kranke Menschen
Die Tagesstätte befindet sich im nördlichen Lahn-Dill-Kreis und ist entsprechend der Richtlinien des Landeswohlfahrtsverbands eine Einrichtung für psychisch kranke Menschen im Alter von 18-65 Jahren. Diese Menschen benötigen aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung, mehrfachen Aufenthalten in einem Psychiatrischen Krankenhaus und Folgeerscheinungen dauerhafte Unterstützung bei der Alltagsbewältigung und der Strukturierung ihres Lebens. Die Einrichtung, deren Eröffnung am 01.07.2002 war, gehört zum Diakonischen Werk Dillenburg-Herborn, Dekanatsstelle des Diakoni- schen Werkes in Hessen und Nassau. In der teilstationären Einrichtung ist Platz für bis zu 20 Klienten, die Unterstützung bei der Bewältigung und dem Ausgleich krankheitsbedingter Einschränkungen erhalten. Ziel der Tagesstätte ist es, den Klienten ein möglichst selbstständiges Leben zu ermöglichen und dadurch deren Lebensqualität zu steigern. Außerdem spielen die Wiederentdeckung und Stärkung der persönlichen Ressourcen eine große Rolle. Jeder Klient hat einen Bezugsmitarbeiter, mit dem er gemeinsam eigene Bedürfnisse, Ziele und deren Umsetzung formuliert. Der Besuch der Einrichtung basiert auf Freiwilligkeit, Kooperation und einer minimalen Bündnisfähigkeit seitens des Klienten.
Im sozialen Miteinander in der Tagesstätte ist ein wichtiger Bereich das Üben der Lebenspraxis, die beispielsweise bei der gemeinsamen Zubereitung und dem Verzehr des Mittagessens zum Ausdruck kommt. Auch das Planen des Einkaufs oder die Aufräumarbeiten in der Küche gehören dazu, die Koch- und Küchendienste wechseln täglich. Die Reinigung und Instanthaltung der Einrichtung wird teilweise auch von Klienten übernommen. Die lebenspraktischen Tätigkeiten, die im gemeinsamen Ablauf anfallen, sind ein wesentlicher Teil der Tagesstruktur in der Tagesstätte. Ziel davon ist ein höchstmögliches Maß an Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Neben der Lebenspraxis besteht auch eine freizeitpädagogische Förderung. Diese findet in Kooperation mit unterschiedlichen Vereinen und Einrichtungen statt, beispielsweise der Kegelstube oder dem Schwimmbad. Die Teilnahme an diesen Aktivitäten ist freiwillig und soll den Klienten eine neue Form der Freizeitgestaltung aufzeigen.
Auch die interviewte Corinna besucht die Tagesstätte. Bevor auf ihre Lebensgeschichte eingegangen wird, findet eine kurze Vorstellung ihrer Diagnose und dem Integrierten Behandlungs-/Rehabi- litationsplanes (kurz IBRP) statt.
3.2 Psychische Störungen - Die Depression
In dieser Arbeit ist die Rede von psychisch kranken Menschen, in der Fachliteratur hingegen konnte sich der Begriff der psychischen Störung als übergeordnetes Paradigma durchsetzen. Dieser Oberbegriff schließt viele verschiedene Arten von Störungen und Krankheiten mit ein. Der ICD-10 („International Classification of Diseases") und andere Klassifikationssysteme haben den Begriff der psychischen Störung übernommen, daher wird im Folgenden der Begriff der Störung anstatt der Krankheit benutzt (vgl. Stemmer-Lück 2009:23).
Bei Steigerungen oder Hemmungen „normaler" psychischer Prozesse kommt die Vermutung einer psychischen Störung auf. Um eine Person als psychisch gestört einordnen zu können, müssen einige Anhaltspunkte geklärt werden. So spielen beispielsweise sowohl das Alter und Geschlecht als auch der kulturelle und soziale Hintergrund eine Rolle. Auch das eigene Empfinden der betroffenen Person ist nicht außer Acht zu lassen. Unter einer Vielzahl von Definitionen, was eine psychische Störung ist und was sie ausmacht, lassen sich gemeinsame Merkmale auffinden: „Devianz, Leidensdruck, Beeinträchtigung und Gefährdung" (ebd.:24). In dieser Arbeit steht die Depression im Mittelpunkt. Der Psychologe Martin Hautzinger schrieb zu dieser psychischen Störung: „Depressionen sind psychische Störungen, bei denen die Beeinträchtigung der Stimmung, Niedergeschlagenheit, Verlust der Freude, emotionale Leere, Antriebslosigkeit, Interessenverlust und zahlreiche körperliche Beschwerden wesentliche Merkmale sind. Neben den Depressionen sind Manien, Persönlichkeitsauffälligkeiten, Ängste, Furcht- und Trauerreaktionen Störungen bei denen auch das affektive Erleben beeinträchtigt ist und im Mittelpunkt der Symptomatik steht." (Hautzinger 1998:3). Nicht immer können die zuvor genannten Symptome als das direkte pathogene Ausmaß einer Depression eingestuft werden, da diese Merkmale in einem gewissen zeitlichen Rahmen als gesunde Reaktionen, beispielsweise bei der Trauerbewältigung oder temporären Belastungen, im alltäglichen Leben von Menschen vorzufinden sind. Lassen diese Symptome jedoch über einen längeren Zeitraum nicht nach oder intensivieren sich, wird zum Aufsuchen von Ärzten geraten. Durch ausführliche Befragungen, z.B. anhand eines Anamnesebogens, und Gesprächen mit Fachpersonal kann dann eine Depression diagnostiziert und behandelt werden (vgl. ebd.:3).
3.3 Diagnose
Bevor Corinna die Tagesstätte besuchte hatte sie einige Aufenthalte im Psychiatrischen Krankenhaus zu verzeichnen. Neben der Depression traten auch einige Folgesymptome und mit einhergehende Beschwerden auf. Diese können mit Hilfe des ICD-10 zugeordnet und beschrieben werden. Dieses Diagnosesystem ist ein verbindliches kategoriales System und findet weltweit Verwendung.
Corinnas Diagnose steht in ihrer Akte der Tagesstätte als „bipolare affektive Störung, gegenwärtig leichte oder mittelgradig depressive Episode". Die Kodierung lässt sich unterteilen in bipolare affektive Störung und der depressiven Episode mit unterschiedlichem Schweregrad. Bei der bipolaren affektiven Störung handelt es sich um ein Krankheitsbild, das durch mindestens zwei Episoden charakterisiert ist. Das Stimmungs- und Aktivitätsniveau ist bei der betroffenen Person deutlich gestört. Dies äußert sich in einer sehr gehobenen Stimmung und einer gesteigerten Aktivität (Manie), gefolgt von einer Stimmungssenkung und dem vermindertem Bedürfnis von Antrieb (Depression). Die sich wiederholenden abwechselnden Episoden sind ebenfalls als bipolar einzustufen (vgl. ICD-10 2005:214). Corinnas Diagnose ist als F31.3 klassifiziert und verbindet die bipolare affektive Störung mit einer gegenwärtig leichten oder mittelgradigen depressiven Episode, d.h. sie ist momentan in einer depressiven Episode und hatte in ihrer Anamnese mindestens eine eindeutig diagnostizierte Manie oder gemischte Episode. Die depressive Episode ist als F32 klassifiziert und unterteilt in leichte (F32.0), mittelgradige (F32.1) oder schweren (F32.2 und F32.3) Episode. Auch hier sind verminderter Antrieb und eine gedrückte Stimmung vorzufinden. Somatische Symptome wie Freude, Interesse und Konzentration sind gestört und es tritt schnell eine ausgeprägte Müdigkeit auf, die durch einen gestörten Schlaf verschlimmert wird. Außerdem ist der Appetit vermindert und das Selbstwertgefühl sowie die Selbstwahrnehmung sind miteinhergehend beeinträchtigt. Gedanken über die eigene Wertlosigkeit oder Schuldgefühle kommen häufiger auf. Bei einer leichten depressiven Episode (F32.0) sind normalerweise zwei oder drei der angegebenen Symptome vorhanden. Trotz Einschränkungen kann der Patient seinen Alltag bewältigen. Die mittelgradige depressive Episode (F32.1) bringen vier oder mehr der oben genannten Symptome mit sich und der Patient hat große Probleme seinen Alltag und die dazugehörigen Aktivitäten zu bewältigen (vgl. ebd.:215f).
3.4 Der Integrierte Behandlungs-/Rehabilitationsplan
Der Integrierte Behandlungs-/Rehabilitationsplan, im Folgenden als IBRP abgekürzt, gehört zur sozialen Arbeit mit psychisch kranken Menschen und stellt eine der Hauptaufgaben dar. Die für einen bestimmten Zeitraum festgelegte Erreichung von Wünschen und Zielen des Klienten wird darin festgelegt. Für das betreute Wohnen oder eben den Besuch einer Tagesstätte ist der IBRP eine Grundvoraussetzung, da er neben der ärztlichen Betreuung auch weitere Unterstützung garantiert. Im IBRP sind Sozialdaten und der erste Ansprechpartner neben dem Klienten selbst angegeben. Außerdem sind dort bisherige und aktuelle Behandlungs- und Betreuungssituationen vermerkt. Neben dem persönlichen Befinden wird dort auch über festgelegte Ziele und die Zeit der Umsetzung dieser informiert. Festgelegt werden diese Ziele in Hilfeplankonferenzen (HPK), bei denen neben dem Klienten und seinem Betreuer auch Vertreter der psychiatrischen Einrichtungen, beispielsweise der Tagesstätte und dem psychiatrischen Krankenhaus, anwesend sind. Der Klient kann bei der HPK seine Wünsche, Ziele und Probleme äußern, über die Lösung dieser wird gemeinsam beratschlagt. Bei der HPK werden die Hilfen, wie eben der Besuch der Tagesstätte, beantragt, da die Kosten für ein halbes, ein ganzes oder maximal zwei Jahre übernommen werden. Die Kostenübernahme ist im 8. Sozialgesetzbuch (SGB XIII) geregelt und festgelegt. Bei der HPK kann der IBRP geändert, abgelehnt oder angenommen werden, findet eine Annahme statt, so wird dies dem Leistungsträger, von dem auch ein Vertreter anwesend ist, mittgeteilt.
Der Leistungsträger ist in Corinnas Fall der Landeswohlfahrtsverband Hessen. In Corinnas IBRP von 2015 (siehe Anhang S. 85-90) sind ebenfalls ihre Sozialdaten festgehalten. Als ihr Angehöriger bzw. ihre Bezugsperson ist ihr Mann eingetragen. Des Weiteren sind bisherige und aktuelle Behandlungsund Betreuungssituationen herauszulesen, wie beispielsweise dass sie die Tagesstätte, einen Psychiater und ihren Hausarzt in letzter Zeit in Anspruch genommen hat. Es folgt eine Übersicht über ihre Wohnsituation und ihre aktuelle Situation bzw. Problemlage und die dazugehörigen Ziele. Demnach wohnt sie mit ihrem Mann zusammen und sie ist momentan antriebsgemindert, angespannt und ängstlich. Ein Klinikaufenthalt konnte in letzter Zeit nicht verzeichnet werden, da Corinna stabil war. Das Ziel ist es, weiterhin Klinikaufenthalte zu vermeiden, ihre Medikamente zu nehmen und regelmäßig den Facharzt aufsuchen. Corinna neigt zum Perfektionismus und hat hohe Ansprüche an sich selbst. Sie ist in ihrem Arbeits- und Lebensumfeld eingeschränkt, was sie nur schwer akzeptieren kann. Ihre Antriebslosigkeit ist noch ausgeprägt, aber Existenzängste stehen nicht mehr in ihrem Lebensmittelpunkt. Es fällt ihr schwer, ihre Erkrankung zu akzeptieren. Ihr Ziel in diesem Bereich ist es, besser mit Stresssituationen umgehen zu können. Das Zusammenleben mit ihrem Mann im eigenen Haus ist belastet, da sie noch Probleme mit der Haushaltsführung hat, bei der ihr Mann sie unterstützen muss. Corinnas Ziel für diese Problematik ist es, eine sinnvolle Tagesstruktur zu finden und ihren Haushalt selbstständig führen zu können. Es mangelt ihr noch an Durchsetzungsvermögen und ihre Belastbarkeit muss gesteigert werden. Durch ihren Perfektionismus setzt sich Corinna selbst unter Druck, durch ihr geringes Selbstbewusstsein traut sie sich jedoch nur wenig zu. Ihr Selbstbewusstsein, ihr Vertrauen in sich selbst und ihr Selbstwertgefühl müssen zielorientiert gesteigert werden. Für Aktivitäten fehlt Corinna häufig der Antrieb. Sie beschäftigt sich gerne im Garten, benötigt anschließend jedoch viel Ruhe. Ihre letzte Diagnose ist ebenfalls im IBRP verzeichnet: F31.3 Bipolare affektive Störung, gegenwärtig leichte oder mittelgradig depressive Episode. Dieses Krankheitsbild wurde unter Punkt 3.3 bereits näher erläutert. Ein weiterer Übersichtsbogen listet eine Reihe an möglichen nichtpsychiatrischen Hilfen und therapeutischen Maßnahmen mit den jeweiligen Ansprechpartnern auf. Dazu gehören in Corinnas Fall die ambulante psychiatrische Grundversorgung mit regelmäßigen Gesprächen und Medikamenteneinstellung, die allgemeinmedizinische Versorgung, die Regelung für den Besuch der Tagesstätte (fünf Mal wöchentlich zu je vier Stunden), die allgemeine Unterstützung ihres Mannes in Form von Begleitung zu Ärzten, Ämtern und Terminen, der Unterstützung im Haushalt und beim Einkaufen und die Freizeit- bzw. Urlaubsgestaltung. Regelmäßige Besuche sind durch Corinnas Freundin und ihren Bruder angedacht.
Nach dieser umfangreichen Beschreibung der interviewten Person folgt in Kapitel 4 die nötigen Vorbereitungen für das Interview und dessen Durchführung.
4. Vorbereitung und Durchführung des biographisch narrativen Interviews
Bevor der Schritt der Durchführung für ein biographisch narratives Interview gegangen werden kann, müssen einige Dinge beachtet werden. Die erste Überlegung ist dabei eine wage formulierte Forschungsfrage, um den in Frage kommenden Personenkreis eingrenzen zu können. Der nächste Schritt besteht darin, einen geeigneten Weg zur Kontaktaufnahme im gewünschten Personenkreis zu finden. Dieser könnte beispielsweise so aussehen, dass Anzeigen in Lokalzeitungen geschaltet oder an bestimmten Orten ausgehängt werden (vgl. Hildebrand 1999a:21). Die für diese Arbeit befragte Person besucht eine Tagesstätte für psychisch Kranke. Da sich die Fragestellung damit befasst, welche Faktoren in der Biographie krankheits- bzw. gesundheitsfördernd im Hinblick auf die psychische Gesundheit sind, stellt sich die Einrichtung als idealer Ort für potenzielle Informanten heraus. Die erste Kontaktaufnahme ist durch E-Mails, Telefonate oder persönlich möglich. Wichtig ist, dass der Kontext der befragten Person vor dem Gespräch in groben Zügen bekannt ist, um einen passenden Interviewpartner finden zu können. Um den Personenkreis für potenzielle Informanten verkleinern zu können, wurden für diese Arbeit die Mitarbeiter der Tagesstätte zu Klienten befragt und die zu erfüllenden Kriterien wurden genannt, u.a. sollte sich der zukünftige Interviewpartner auf dem Weg der Genesung befinden. In der Einrichtung erklärte sich Corinna für das Interview bereit, sie konnte alle Kriterien erfüllen und schien interessiert am Forschungsvorhaben. Im ersten Gespräch wurde das Anliegen des Forschers vorgestellt und erklärt, wieso Corinna für das Interview in Frage kommt. Der Forscher muss hierbei so vorgehen, dass sich der potenzielle Informant nicht unter Druck gesetzt fühlt. Der Informant sollte das Gefühl bekommen, dass seine Geschichte wichtig und interessant ist. Außerdem sollte vermittelt werden, dass der Forscher dankbar für die Zeit ist, die der Informant „opfert", für seine Erinnerungsarbeit und für das Teilen von Wissen. Der Forscher ist im Idealfall selbst authentisch und offen, geht also auf Fragen des Informanten ein und beantwortet diese wahrheitsgemäß. Diese Aspekte schaffen eine Vertrauensgrundlage zwischen Forscher und der zu interviewenden Person (vgl. Glinka 2016:135). Sollte eine Person Interesse an einem narrativen Interview zeigen ist eine Aufklärung über die Forschung, den Kontext, sowie den Ablauf und die Verpflichtungen zum Datenschutz notwendig. Für die Sicherstellung der Einwilligung zum geplanten Verlauf ist eine Unterschrift der zu interviewten Person vonnöten. Dieses Schreiben muss vor dem Beginn des Interviews unterschrieben werden und kann entweder zugesandt oder vor dem Interview ausgehändigt werden. Neben der Einwilligung zur Tonbandaufnahme klärt es über den institutionellen Rahmen und das Ziel des Forschungsvorhabens auf (vgl. Hildebrand 1999a:21). Um das Interview ungestört führen zu können ist es wichtig, dass ein geeigneter Ort dafür ausgewählt wird. Ebenso sollten sich Interviewer und Erzähler genügend Zeit einplanen. Im Regelfall fühlt sich der Biographieträger in seiner Wohnung am vertrautesten, daher ist dieser Ort am besten geeignet. Es sollte sichergestellt werden, dass während des Interviews keine Störungen durch andere Personen stattfinden und sich sowohl der Interviewer als auch der Informant auf das Interview konzentrieren können (vgl. Glinka 2016:137).
Vor dem Beginn des Interviews sollte das Tonbandgerät eingeschaltet werden, damit das Interview von Anfang an aufgenommen wird. In der Aushandlungsphase gibt der Forscher den Erzählstimulus und gibt die Rollenverteilung vor. Der Forscher ist in diesem Fall der aufmerksame Zuhörer, der sich Notizen für den Nachfrageteil macht und der Biographieträger erzählt seine (Lebens-)Geschichte. Der Forscher nimmt dabei keine andere Rolle an, beispielsweise die eines Therapeuten. Außerdem stellt der Forscher das Handlungsschema vor, das zum Erzählen motiviert und nicht zu theorielastig sein sollte. Der Erzähler ratifiziert das Vorhaben und beginnt mit der Haupterzählung. Diese wird vom Interviewer nicht durch Fragen unterbrochen, da diese im zweiten Teil des Interviews gestellt werden. Der Erzähler beendet die Phase der Haupterzählung durch eine Redeübergabe an den Interviewer. In der zweiten Phase findet der Nachfrageteil statt. Zuerst stellt der Interviewer Fragen, die das volle Erzählpotential des Biographieträgers ausschöpfen sollen, um so weitere Geschichten zu erfahren, die eventuell Logiklücken schließen. Danach folgen theoretisch-argumentative Fragen (vgl. ebd.:147-150).
Als nächster Schritt muss das Interview verschriftlicht, also transkribiert werden. Dieser Schritt ist sehr zeitaufwändig, aber ohne die Transkription ist eine Auswertung des Interviews nicht möglich. Alles, was der Erzähler und der Forscher von sich gegeben haben, muss nun wortwörtlich verschriftlicht werden. Dabei werden auch alle Pausen, Abbrüche und Versprecher vermerkt. Optisch fällt bei der Transkription auf, dass die Zeilen auf jeder Seite nummeriert sind. Dies dient zur schnelleren Orientierung im Text und als Zitierhilfe. Die Sprecher werden am linken Textrand durch Kürzel markiert. Bei dem Interview für diese Arbeit steht „C" für Corinna, die Erzählerin, und „I" für den Forscher als Interviewer. Planungsmarkierer sind in diesem Interview als „eh..." und „ehm..." markiert. Hierbei handelt es sich um kurze Sprechpausen, die der Interviewer zur Weitererzählung seiner Geschichte benötigt. Die in Klammern gesetzten Zahlen geben die Sekunden der Pausen an. Die Transkriptionszeichen sind nicht standardisiert, sondern können nach eigenem Ermessen erweitert oder verkürzt werden. Der Hintergrund des Forschers und sein Forschungsziel wirken sich auf die Detailliertheit der Transkriptionszeichen aus. Auf alle Fälle muss am Ende der Transkription die Anonymisierung stattfinden, die der Forscher dem Erzähler zugesichert hat. Für dieses Verfahren werden alle Eigennamen, Zeit- und Ortsangaben sowie jegliche Hinweise auf die Identität des Erzählers durch Decknamen maskiert. Die Entfremdung vom Originaltext sollte jedoch nicht so weit reichen, dass beispielsweise Dialekte komplett verändert werden oder die Berufe der Informanten plötzlich aus einem ganz anderen Bereich stammen. Der Kontext und die Gesamtgestalt des Textes sollten größtmöglich beibehalten werden (vgl. Glinka 2016:21-27).
Die Auswertung eines transkribierten Interviews ist ein größerer Aufwand als beispielsweise die Analyse von Beobachtungsprotokollen (vgl. Rosenthal 2015:94) und erfolgt im nächsten Kapitel.
5. Auswertung des Interviews nach Glinka
Die nun folgende Auswertung soll eine Annäherung an die Analyse nach der Methode von Glinka darstellen, wie bereits weiter oben beschrieben, können aufgrund fehlender Interviews und dem zeitlich begrenzten Rahmen nicht alle Arbeitsschritte realisiert werden. Die folgende Textsortenanalyse, sowie das Betrachten der formalen und inhaltlichen Gesichtspunkte beziehen sich zunächst nicht auf die Forschungsfrage, sondern sollen das Interview zusammenfassen und eine erste Einschätzung ermöglichen. In Kapitel 5.2 findet die Untersuchung im Hinblick auf die Forschungsfrage statt.
5.1 Textoberfläche und formal/inhaltliche Aspekte
Die Auswertung des transkribierten Interviews beginnt mit der Textsortenanalyse. Dazu wird zunächst der Blick auf die Textoberfläche geworfen und die formalen wie inhaltlichen Aspekte untersucht.
Das Interview beginnt mit einem vom Forscher gesetzten Erzählstimulus, der ganz deutlich auf das Handlungsschema Erzählen fokussiert und die zentrale Darstellung der erwarteten Geschichte andeutet. Die Aufforderung zur Erzählung lässt der Informantin einen eigenen Spielraum, wie sie ihre Geschichte präsentiert, welche Prioritäten sie setzt und wo sie die Geschichte kondensiert preisgibt. Sobald die Stehgreiferzählung der Informantin ihre Zugzwänge entfaltet, beginnt die Eigendy- namik der Geschichte (vgl. Glinka 2008:29). In Zeile 6 findet die Redeübernahme durch die Informantin Corinna statt. Sie ratifiziert das vom Forscher vorgegebene Handlungsschema zwar nicht, beginnt aber direkt mit ihrer Erzählung und gibt keine Einwände gegen das Vorhaben von sich.
Auf Seite 48 (siehe Anhang) in Zeile 7 (48/7)2 wird dies als Beginn des 1. Segments gekennzeichnet, das bei (48/17) endet. Corinna beginnt mit der Erzählung über ihre Geburt und ihre Herkunftsfamilie bzw. das Milieu, in das sie hinein geboren wurde. Die Erzählung wird durch ein Rahmenschaltelement („Also") eingeleitet. Die Erzählerin gibt dem Zuhörer somit einen ersten Einblick in ihr dörfliches Milieu, die nächste Stadt ist circa 14 Kilometer entfernt, und über ihre Familienkonstellation im Mehrgenerationenhaus. Außerdem gibt sie den Hinweis darauf, dass sie mit zwei Cousins aufgewachsen ist und erläutert diese Situation im folgenden Satz. Am Ende des Segments macht Corinna eine Pause von vier Sekunden. Dies deutet darauf hin, dass sie überlegt, wo sie weitererzählen könnte.
Corinna erzählt im 2. Segment (48/17-27) von ihrer Grundschulzeit und dem Schulwechsel auf die Realschule und endet mit: „Das war dann irgendwo so 1970 rum" (48/27). Corinna argumentiert, wieso sie im Dezember eingeschult wurde und was es mit dem Kurzschuljahr auf sich hatte. Der Zuhörer erhält außerdem die Information, dass es damals noch keinen Kindergarten im Dorf gab. Da es im Ort keine Realschule gab, musste Corinna mit dem Bus in die Stadt fahren, um dort die weiterführende Schule zu besuchen. Als sie den Wechsel auf die Realschule erwähnt, erfolgt eine Pause von vier Sekunden, bevor Corinna erläutert, dass „... die anderen aus der Klasse die konnten teilweise die haben noch zwei Jahre länger hier Schule gemacht..." (48/25-26). Dadurch wird deutlich, dass sie für den besseren Schulabschluss das Dorf verlassen und die Schule in der Stadt besuchen musste. Nachdem ihre Erzählung in diesem Segment endet, fällt eine Pause von fünf Sekunden auf, in denen Corinna über die weitere Erzählung nachdenkt.
Es folgt das 3. Segment (48/28-49/7). In Zeile 28 beginnt das 3. Segment, das mit dem Rahmenschaltelement „Jo" markiert ist. In diesem Segment wird sowohl die Krankheit des Großvaters als auch die des Vaters beschrieben und das Verhältnis zwischen Tochter und Vater wird thematisiert. Die genaue Problematik wird dabei nicht detailliert beschrieben. Dieses Segment endet mit dem Kommentar „... hat sich das wieder normalisiert" (49/7). Die Textoberfläche ist der Erzählung zuzuordnen. Größere Sprechpausen fallen nicht auf.
Das 4. Segment (49/7-13) wird wieder mit einem Rahmenschaltelement eingeleitet („Jo.") und Corinna erzählt von ihren Eltern, die bei ihrer Geburt nicht mehr die jüngsten waren. Sie argumentiert, dass dieses Alter zu damaligen Zeiten sehr spät für die Gründung einer Familie war und ihre Mutter oft kränkelte („Meine Mutter war halt immer ziemlich kränklich..." (49/10-11)). Es folgt eine Sprechpause von vier Sekunden, bevor Corinna die Erzählung mit der Information, dass ihre Mutter das Haus nicht viel verlassen hat, fortsetzt. Außerdem gibt sie die Information preis, dass ihre Tante mütterlicherseits mit im Haus gewohnt hat.
Im 5. Segment (49/13-16) findet ein Zeitsprung statt („... 1976 war ich mit der Realschule fertig..." (49/14)) und die Informantin gibt eine knappe geraffte Auskunft über ihren Ausbildungsverlauf und ihrer späteren Festanstellung. In der Erzählung wird auf die Ausbildung nicht näher eingegangen. Wieso die Erzählerin bis 2003 dort gearbeitet hat und wie es dazu kam, dass sie dort nicht mehr arbeitet, wird nicht beschrieben oder erläutert. Allerdings wird die Erzählung an dieser Stelle von einer kurzen Sprechpause unterbrochen, was darauf deuten lässt, dass Corinna nicht freiwillig aufgehört hat dort zu arbeiten.
Im 6. Segment (49/17) gibt die Informantin kondensiert eine ergebnissichernde Information einer biographischen Veränderung: „Dazwischen habe ich geheiratet in 1987..." (49/17). Im vorigen Segment wurde demnach ebenfalls ergebnissichernd dargelegt, dass Corinna ihren Schulabschluss und auch ihre Ausbildung abgeschlossen hat. Mit nur einem Satz wird die Hochzeit thematisiert.
Im folgenden 7. Segment (49/17-50/17) folgt die Krankheitsgeschichte der Eltern. In den ersten Zeilen beschreibt Corinna, welche Krankheiten und damit einhergehende Folgen ihren Vater belasteten. Nach einer Pause von vier Sekunden und dem Rahmenschaltelement „ Jo" folgt eine detaillierte Beschreibung des Oberschenkelbruchs ihrer Mutter und zwei Geschichten über ihre beginnende Demenz.
Das 8. Segment (50/17-51/11) beginnt mit der Erzählung über die Alkoholprobleme ihres Mannes. Es folgt eine Geschichte über seinen Krankenhausaufenthalt und Corinna beschreibt, wie ihr Mann „trocken" (51/6) geworden ist und dass er nicht solche Probleme wie andere Alkoholiker hat („... das ist bei Fred Gott sei Dank net so" (51/10)). In ihrer Erzählung stockt sie häufig, was für eine belastende bzw. einschneidende Lebenssituation spricht. Um sich an das Datum zurückzuerinnern legt Corinna eine Sprechpause von vier Sekunden ein. Ergebnissichernd gibt sie noch einmal von sich, dass ihr Mann „Ende 2007 im Krankenhaus war" (51/11).
Im folgenden 9. Segment (51/11-15) erzählt Corinna, wie ihre Mutter erneut gefallen ist und gepflegt werden musste. Sie kommentiert diese Zeit als „ein bisschen schwierig" (51/15).
Im 10. Segment (51/15-51/25) springt Corinna in der Zeit zurück und erzählt, dass sie 2003 bei der Bank gekündigt wurde. Die lange Pause von fünf Sekunden lässt erahnen, dass diese Situation für Corinna damals nicht akzeptabel war. Sie argumentiert, wie es zu dem Aufhebungsvertrag kam („... nachdem die Bank ja (4) Personal reduzieren wollte und sich von älteren, net so verkaufsstarken Mitarbeitern trennen wollte" (51/16-17)) und erzählt von einem Seminar, dass sie besuchte, um sich umzuschulen. Dort wird ihr jedoch von einem Berufseinstieg im sozialen Bereich abgeraten. Ihr abschließender Kommentar dazu ist „ Und ich war mir gar net so richtig schlüssig..." (51/24-25).
In diesem 11. Segment (51/25-52/15) erzählt Corinna davon, wie sie zum Bereich der Hausverwaltung kam. In einer Nebenstrangerzählung beschreibt die Erzählerin, was sich das Arbeitsamt von ihr wünschte und wieso sie diesem Wunsch nicht nachkam. Es folgt eine Beschreibung über den Hausverwalter und wie er zu seinem Beruf gekommen ist. Corinna hatte sich mit ihm auf ein Jahrespraktikum in seiner Firma geeinigt und nach einem Jahr übernahm sie den Posten ihres Chefs und machte sich 2004 selbstständig. Dazu kommentiert sie „... ich hatte keine Ahnung was ich hier mache und wie und wo überhaupt..." (51/35-52/1) aber sie entschließt sich trotzdem für das Praktikum und später für die Selbstständigkeit.
Das 12. Segment (52/15-34) beginnt direkt mit einer Beschreibung zur Eigentümerversammlung und der Wahl zum Hausverwalter. Corinna erzählt außerdem, dass ihr Chef eine eher technische Ausbildung hatte und sie aus dem kaufmännischen Bereich stammte. Dieses, in ihren Augen, Defizit behob sie, indem sie häufig zu Einsätzen mitfuhr und vor Ort von ihrem (ehemaligen) Chef lernte. Nachdem sich dieser immer weiter zurückzog, übernahm Corinna die Firma und war durch eine Rufnummernumleitung und ihrem Laptop stets für die Kunden erreichbar. Als Vorteil davon erläutert sie, „... man konnte sich teilweise seine Arbeitszeit einteilen" (52/30). Daraufhin erzählt Corinna, dass ihre Mutter krank wurde und sie durch die Pflege oft von zuhause aus bis spät abends arbeitete. Wie belastend diese Situation für sie war, wird durch vier Sekunden Sprechpause verdeutlicht.
Im 13. Segment (52/35-53/8) wird ergebnissichernd eingeleitet („... war dann die erste Erkrankung von ihr wie gesagt 2008" (52/35)) und beginnt mit einem Rahmenschaltelement („Jo"). Corinna erzählt von der Reha ihres Mannes und wie sie zwischen Beruf, Ehemann und Mutter pendelte. Auch diese Situation belastete sie, das wird in einer längeren Sprechpause deutlich.
[...]
1 Siehe Ausführungen zur Sprache und Sprechen innerhalb gesellschaftlicher Prozesse bei Durkheim und Mead.
2 Die Angabe (48/7) bezieht sich auf die Seite (erste Ziffer) und die Zeile (zweite Ziffer) im vorliegenden Interview.
- Arbeit zitieren
- M.A. Erziehungswissenschaften Melissa Winkler (Autor:in), 2017, "Ich bin verrückt". Eine biographieanalytische Auseinandersetzung mit psychischen Erkrankungen dargestellt anhand einer an Depression erkrankten Frau, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1005970
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